Hypolepsis von Schangia (One Shot Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: So tun, als ob (Itachi & Sasuke) ------------------------------------------- ›Jeder Mann hat seine geheime Sorgen, die die Welt nicht kennt;‹ Wie gut kann ein Mensch sein, der in einen Krieg hineingeboren wurde? Wie wirkt sich der ewige Kampf gegen den Tod auf die Seele eines Menschen aus? Wird er in seinem Leben nach dem Muster des Krieges leben, den er als Kind durchlebt hat? Oder wird sich das Leben selbst für ihn wie ein Krieg anfühlen? Der 3. Shinobi-Weltkrieg hat unzählige Leben auf grausame Weise ausgelöscht, hat tausende Familien auseinander gerissen. Hi no Kunis Feuer war erstickt worden von der Flut aus Blut und vergossenem Leben. Erst die Zerstörung der Kannabi Brücke hinderte Konoha-Gakures Kampfgeist daran zu verkümmern wie die Armeen der anderen Länder, und letzten Endes gelang es dem Dorf versteck unter den Blättern siegreich aus der Schlacht hervorzugehen. Doch auf dem Höhepunkt des Krieges wurde ein Kind geboren, das nicht den Wiegenliedern seiner Mutter, sondern dem Aufheulen der Schwertklingen lauschen musste; das die Melodie von Verderben und Leichtsinn verinnerlichte, anstatt der beruhigenden Worte seiner Eltern. Als würde er den Schmerz der Gefallenen spüren schrie der Junge immer lauter, je mehr Bewohner seines Dorfes auf dem Schlachtfeld umkamen. Obwohl er jung und unerfahren war, schien er die Geschehnisse um ihn herum zu verstehen. So verstand er, dass der Krieg bald enden würde, als er im Alter von fünf Jahren das erste Mal seinen kleinen Bruder in den Armen hielt. Und nachdem all das sinnlose Blutvergießen endlich beendet worden war konnte er sich auf seine Ausbildung konzentrieren, schaffte es im zarten Alter von dreizehn Mitglied der ANBU zu werden. Doch ungeachtet der unzähligen Leben, die er im Laufe seines Lebens ausgelöscht hatte, blieb Uchiha Itachi ein Pazifist. Ein Pazifist, dessen Verlangen nach Frieden beizeiten seine Sinne betäubte und seine Seele zu verschlingen drohte. Ein Pazifist, der morden würde, um Frieden zu erlangen, nur damit er niemals mehr die Grauen des Krieges erleben musste, die sein Leben so sehr geprägt hatten. Ein Pazifist, der seinen eigenen Clan bereitwillig als Schachfigur einsetzen würde, wenn es die Menschen vom Kämpfen abhielt. Ein Pazifist, dem nur eines wichtiger war als das Wohl seines Dorfes oder gar der Frieden. »Nii-san, wo bleibst du denn?« Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Da hatte Sasuke schon all seine fragwürdigen Überredungskünste aufgebracht, damit sein Bruder nach der Akademie mit ihm trainierte, und Itachi schlurfte nur desinteressiert hinter ihm her anstatt voller Elan voranzustürmen. Gut, er war erst diesen Vormittag von einer schweren Mission zurückgekehrt und hatte seines Wissens nach bisher kein Auge zugetan, aber war das denn wirklich Grund genug so wenig Begeisterung für die vor ihnen liegenden Stunden zu zeigen? Natürlich nicht, und das würde Sasuke seinem Bruder auch klarmachen. Grinsend drehte er sich um, lief einige Meter zurück und verlangsamte sein Tempo, bis er schließlich auf gleicher Höhe mit Itachi war. Dieser wandte ihm nur träge den Kopf zu und lächelte matt. Sasuke runzelte die Stirn. »Bist du müde?« Langsam schüttelte Itachi den Kopf. »Nur etwas erschöpft. Aber das soll dich nicht um dein Training bringen.« Als sich das Gesicht seines kleinen Bruders aufhellte hoben sich Itachis Mundwinkel minimal. Und als der Kleine seine warme Hand um seine eigenen kalten Finger schloss und ihn zum Übungsplatz zog, kostete es Itachi viel Selbstbeherrschung dieses Lächeln aufrechtzuerhalten. Denn er hatte etwas Schreckliches getan, und jedes Mal wenn er Sasuke sah, spürte er ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust. Fakt war, dass er weder auf einer gefährlichen Mission gewesen war, noch das Dorf verlassen hatte. Itachi hatte ein unerfreuliches, aber notwendiges Gespräch mit dem Hokage geführt. Die Auslöschung seines, ihres Clans stand unmittelbar bevor, würde in genau einer Woche vollzogen sein. Aber das wollte er nicht wahrhaben, als Sasuke ihn voll freudiger Erwartung ansah. Er zwang sich zu einem Lächeln, gab sich alle Mühe, mit seinem aufgeregten Bruder Schritt zu halten. »Lass uns mit dem Training beginnen.« »Wollen wir eine Pause machen?« Obwohl Itachi diese Frage nur aus Sorge und Rücksichtnahme gestellt hatte, sah Sasuke ihn geschockt und auch ein wenig entrüstet an. »Aber ich bin doch noch gar nicht erschöpft!«, protestierte er so laut es ihm zwischen seinen heftigen Atemstößen möglich war. Schmunzelnd glitt Itachi an dem breiten Baumstamm hinab, an dem er zuvor gelehnt hatte und klopfte auffordern auf den Boden zu seiner Linken. Sasuke schien erst ein wenig unschlüssig, ob er weiter über die verlorene Trainingszeit schmollen oder sich ausruhen sollte, entschied sich dann aber grinsend für Letzteres. Schwer atmend ließ er sich neben seinem Bruder zu Boden fallen, schloss die Augen und lehnte sich an die harte Baumrinde. Während sich seine Atmung langsam wieder normalisierte, beobachtete Itachi ihn aufmerksam. »Wenn das deine Bestform ist, will ich gar nicht wissen, wie du erschöpft aussiehst«, kommentierte er spöttisch. Neben ihm schnappte Sasuke empört nach Luft und schreckte so schnell hoch, dass er fast vornüber gekippt wäre. »Gar nicht wahr, ich bin nicht müde! Siehst du«, hastig drehte er sich zu Itachi, schnappte dessen Hand und drückte sie auf seine Brust, »mein Atem geht ganz flach!« Er gab sich wirklich alle Mühe, seine Atmung richtig zu regulieren, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, doch Itachi kicherte nur leise, befreite seine Hand aus dem Griff seines Bruders und sah ihn belustigt an. »Und wer hat dir erzählt, dass eine flache Atmung gut ist?« Sasuke: null, Itachi: schon seit Jahren in Führung. Frustriert seufzte Sasuke und wandte sich theatralisch von Itachi ab. »Du willst es einfach nur nicht verstehen, oder?« Leise murmelnd lehnte er sich an die Schulter seines Bruders, verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und beschäftigte sich damit, Selbstgespräche über seine unglaublich gut trainierte Kondition zu führen. Itachi schloss die Augen und blendete seine Umgebung fast komplett aus. Er genoss es, die leichte Brise auf seinem Gesicht zu spüren, mochte es, wie der Wind mit den losen Strähnen seines Zopfes spielten; bedauerte, dass dieses zarte Gefühl der Freiheit allzu trügerisch und irreal war. Nach einer Weile verstummte auch Sasuke, und so war das einzige, das Itachi versichert, dass der Kleine noch da war die Wärme seines Körpers an seiner rechten Schulter. Er hätte ewig so dasitze können, aber unglücklicherweise hatte Sasuke schon immer ein gutes Gespür dafür gehabt, die wenigen ›perfekten‹ Momenten in Itachis Leben zu zerstören. »Weißt du, welcher Tag morgen ist?« Die Wärme floh von seiner Schulter, seine Augen öffneten sich träge und blickten erstaunt zu Sasuke, der mittlerweile vor ihm hockte. Dieser fixierte ihn mit einem erwartungsvollen Blick, so als würde er ihn rügen müssen, falls er die Antwort nicht kannte. Doch er kannte sie, zuckte nur kurz mit den Schultern und antwortete monoton: »Irgendein Feiertag in Iwa-Gakure. Ich glaube, es hatte etwas mit einem Gott in den Steinbrüchen zu tun.« Darauf war Sasuke nicht vorbereitet gewesen. Natürlich war selbst ihm klar, dass Itachi niemals auf Anhieb mit der richtigen Antwort herausrücken würde, aber das übertraf selbst seine schlimmsten Befürchtungen. Verwirrt blinzelte er, brauchte einige Augenblicke, bis er das Gesagt vollkommen verstanden hatte. »...was?«, fragte er unsicher. »Nein, also-...« »Ich weiß, dass du morgen Geburtstag hast«, unterbrach Itachi ihn, während er ihn amüsiert beobachtete. Der entsetzte Blick belustigte ihn zwar, warf tief in ihm allerdings die Frage auf, ob Sasuke ihm wirklich zugetraut hätte, seinen Geburtstag zu vergessen. Lange konnte er darüber jedoch nicht nachdenken, weil der Schock auf dem Gesicht seines Bruders schnell durch Neugierde und Aufregung ersetzt wurde. »Und?« Itachi kam das Bild eines winzigen Welpen in den Sinn, der wild mit dem Schwanz wedelnd vor seinem Herrchen stand und erwartete, dass man mit ihm spielte. »Was schenkst du mir?« Kichernd streckte er sich und widerstand nur knapp dem Drang, Sasuke durch die Haare zu wuscheln. »Neben meiner brüderlichen Liebe?« Schwarze Augen begannen vor Vorfreude zu glänzen, der imaginäre Schwanz des Welpen wedelte noch heftiger. Sasuke sah seinen Bruder beinahe flehend an und nickte eifrig, verfluchte ihn dafür, dass er sich mit seiner Antwort so viel Zeit ließ. »Nichts.« Zumindest nichts von Bedeutung. Es schmerzte ihn mit anzusehen, wie Sasukes Fröhlichkeit von Enttäuschung übermannt wurde und er sichtlich mit den Tränen kämpfen musste. Selbst an Empörung war nicht mehr zu denken. »A-aber...«, stammelte er hilflos und hätte vermutlich wirklich angefangen zu weinen, hätte Itachi ihm nicht sanft gegen die Stirn getippt. »Natürlich schenke ich dir was«, beruhigte er ihn leise, »aber es wäre doch langweilig, wenn ich dir jetzt schon verraten würde, was es ist.« Die Sonne hatte ihren tiefsten Punkt erreicht und würde wohl bald hinterm Horizont versinken. Itachi stand auf, sammelte ein paar verlorene Kunai und Shuriken ein, bevor er sich wieder zu Sasuke wand, der immer noch fassungslos am Boden saß. »Na los, Kleiner«, lächelnd ging er ein paar Schritte voraus, »Mutter und Vater warten sicher schon auf uns.« Schwach fiel das morgendliche Sonnenlicht durch die Fensterscheiben, füllte den spärlich eingerichteten Raum mit Wärme. Ein leises Rascheln war aus der Ecke, in der das Bett stand, zu vernehmen. Mit dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen beobachtete Itachi, wie Sasuke sich immer häufiger in den weichen Laken wand und unverständliche Worte murmelte. Bis das Geburtstagskind aufwachte würde noch einige Zeit vergehen, also lehnte er sich zurück und machte es sich auf dem Stuhl neben dem Bett seines Bruders so bequem wie möglich. In der Tat brauchte Sasuke eine weitere halbe Stunde, bevor er allmählich wach wurde. Wohlig seufzend schlug er die Augen auf, begab sich gemächlich in eine aufrechte Position, gähnte ausgiebig... »Auch endlich wach?« ... und fiel vor Schreck fast aus dem Bett. Itachi gab sich die größte Mühe, nicht laut loszulachen, konnte ein kurzes Auflachen aber dennoch nicht unterdrücken. »Ich werte das mal als ein Ja«, schmunzelnd beugte er sich nach vorne, um zu sehen, ob Sasuke den Schock mittlerweile überwunden hatte, »alles in Ordnung?« Sasuke atmete einmal tief durch. »Nein«, presste er zwischen den Zähnen hervor, während er versuchte, Itachi böse anzufunkeln. »Was machst du überhaupt hier?« Gespielt erschüttert sah der Angesprochene seinen Bruder an. »Seit wann darf ich mich denn nicht mehr im Zimmer meines Bruders aufhalten?« Wissend, dass er diese Diskussion nie und nimmer gewinnen würde, seufzte Sasuke frustriert und drehte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, sah nicht mehr, wie Itachi ihn warm anlächelte. »Jetzt sei doch nicht immer so ein Miesepeter«, raunte er seinem kleinen Bruder zu, bevor er ihm liebevoll durch die Haare fuhr. »Alles Gute, Sasuke« »So geht das nicht weiter, Nii-san!« Verwirrt blieb Itachi stehen, sobald er Sasukes Stimme hinter sich hörte. Kam es ihm nur so vor, oder verhielt sich sein ab heute achtjähriger Bruder tatsächlich wie eine zickige Ehefrau? Schnell schüttelte er diesen absurden Gedanken ab und blinzelte stattdessen mehr oder weniger hilflos. Sasuke jedoch hatte die Arme vor der Brust verschränkt und stampfte fordernd mit seinem Fuß auf den Boden (so wie gekränkte Ehefrauen es immer taten, aber Itachi hatte ja bereits von diesem Gedanken abgelassen). »Was meinst du damit genau?«, fragte er vorsichtig. Noch fixierte Itachi den Sonnenuntergang hinter seinem Gegenüber, doch sobald Sasuke zu einer Antwort ansetzte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf ihn. »Wir haben heute den ganzen Tag gefeiert«, maulte er. Zwar konnte Itachi den Grund für Sasukes Unmut nicht erkennen, aber angesichts der Tatsache, dass dieser mit seinem Fuß imaginäre Linien auf den Holzdielen zog und verlegen gen Boden starrte, musste ihn irgendetwas ziemlich beschämen oder stören. Da Sasuke wohl nicht von sich aus fortfahren würde, erleichterte er ihm das weitere Gespräch: »Und was ist daran so schlimm?« Ruckartig riss sein Gegenüber die Augen hoch und starrte ihn teils trotzig, teils gekränkt an. »Du hast mir noch gar nichts geschenkt!« Oh, dieses Drama! Dass Itachi sein Kichern nicht mehr rechtzeitig zurückhalten konnte, schien Sasuke gar nicht zu gefallen. »Das ist nicht witzig«, protestierte er genervt, »immerhin hast du es mir versprochen.« Ich habe dir schon so Vieles versprochen, das ist nicht halten kann. Immer noch leicht kichernd hob er abwehrend die Hände, um seinen Bruder eventuell zurückzuhalten, falls dieser das Verlangen verspürte, ihm an die Gurgel zu springen. »Ist ja gut«, versuchte Itachi ihn zu besänftigen, »du bekommst dein Geschenk sofort.« Geschwind zog er ein kleines Päckchen hinter seinem Rücken hervor, und Sasuke brauchte einen Moment um zu begreifen, dass ihm das nur möglich war, weil er ein meisterhafter Ninja war. Viel Zeit verschwendete er aber ohnehin nicht an diesen Gedanken; er war viel zu sehr mit dem Geschenk beschäftigt, welches er freudestrahlend von seinem großen Bruder entgegennahm. »Was ist denn da drin?«, fragte er mehr sich selbst als sein Gegenüber, während er das simple schwarze Päckchen neugierig von allen Seiten betrachtete. Itachi schüttelte nur den Kopf. »Wieso packst du es nicht aus?« Das tat Sasuke schließlich auch. Ohne auch nur den Anschein von Geduld zu wahren riss er das Papier auf, wühlte sich durch die dünnen Schichten, bis er den Inhalt in den Händen hielt: ein gerahmtes Foto, dass ihn mit seinem Bruder zeigte. Ich hoffe, es gefällt dir. Das hätte er gerne gesagt, doch Itachi fürchtete sich vor der Antwort. Sasukes angespanntes Schweigen machte seine Nervosität noch schlimmer, aber er ließ sich nichts davon anmerken. »Danke.« Ihm fiel ein unsagbar schwerer Stein vom Herzen, als Sasuke den Kopf hob und ihn mit einem leichten, aber dennoch warmen und verklärten Lächeln ansah. Zögernd kam er ein paar Schritte auf Itachi zu, schien zu überlegen und seine Möglichkeiten abzuwägen. Schließlich schlang Sasuke seine Arme um den warmen Körper und drückte sein Gesicht an Itachis Brust. »Das ist das schönste Geschenk, das ich heute bekommen habe«, wisperte er zufrieden und schloss seine Augen. Das Foto von ihnen bewies Sasuke, dass er seinem Bruder wichtig war und dieser ihn als vollwertiges Mitglied der Familie, als Mitglied ihres Clans ansah. Es symbolisierte die Anerkennung, den Stolz und den Halt, den Itachi ihm gab, und für diese Akzeptanz – die er von seinem Vater schon lange nicht mehr erwartete – war er unendlich dankbar. Es kostete Itachi einige Überwindung, Sasukes Umarmung zu erwidern, erinnerte sie ihn doch an die zahllosen Versprechen, die er noch brechen würde; und an die Nacht, die alles zerstören würde, was ihm heilig war, und die unaufhaltsam näher rückte. »Freut mich, dass es dir gefällt.« Betretenes Schweigen. Und der erste Moment, in dem sie sich wie richtige Brüder fühlen konnte. Die Sonne war schon vor einigen Stunden vom Mond abgelöst worden und sah nun den Sternen zu, die inmitten des tiefblauen Himmels umso heller strahlten. Itachi saß zum Garten gewandt, Sasuke neben ihm; beide schwiegen seit einiger Zeit, ihre Gedanken so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während Sasuke sich über die vergangenen Tage freute, in denen er sich seinem Bruder so nah gefühlt hatte wie lange nicht mehr, plagten Itachi Ängste und Vorwürfe. Nicht einmal mehr eine Woche, sondern lediglich sechs Tage durfte er diese Lüge leben. Sechs Tage blieben ihm um zu entscheiden, wie er Sasukes Leiden verringern konnte. Schweigend wandte er seinen Kopf und betrachtete seinen Bruder, der selbst tief in seine Gedanken versunken zu sein schien. Zuvor hatten sie über alles Mögliche geredet; über Itachis Missionen, Sasukes Fortschritte und Leistungen an der Akademie. Über ihren Clan. Als Sasuke meinte, er würde genauso werden wollen wie er, hatte Itachi kein Wort mehr gesagt. Bis schließlich: »Ich hoffe, dass meine Genjutsu eines Tages auch so stark sind wie deine.« Fast hätte Itachi laut aufgelacht. Stattdessen sah er Sasuke lange an, suchte in den unschuldigen Augen nach einem Hinweis auf Unehrlichkeit. Es frustrierte ihn, dass es ihm anscheinend ernst war. Schwer seufzend fixierte er den Boden zu seinen Füßen. »Weißt du überhaupt, was ein Genjutsu ist?« Die Frage kam harsch und anklagend aus seinem Mund, doch sie überraschte Sasuke wohl bei weitem nicht so sehr wie ihn selbst. Zögernd lehnte Sasuke sich ein wenig nach vorne. »Nein, das hast du mir nie erklärt«, meinte er gedehnt. Lange überlegte Itachi, ob er versuchen sollte, seinem Bruder seine Weltansicht zu erklären. Ihm von dem Krieg zu erzählen, den er miterleben musste, und von dem Fluch, den das Sharingan bedeuten konnte. Resigniert seufzend entschied er sich schließlich dafür, dass es wohl keinen Unterschied machen würde, ob er schwieg oder nicht. »Ein Genjutsu ist nichts als ein Trugbild, eine Lüge, die deinen Feind verwirren soll. Es benutzt die Wünsche, die Sehnsüchte und die Menschen, die deinem Gegner lieb sind, lassen ihn so seine schlimmsten Albträume erleben. Familienmitglieder, deren Tod er immer wieder mit ansehen muss, oder Erlebnisse aus seiner Vergangenheit, die ihn vor Angst erzittern lassen. Genjutsu sind hinterhältig, und die Nutzer dieser ›Kunst‹ verkommen mit jeder Anwendung mehr und mehr. Ich denke, dass ein Genjutsu zu benutzen die grausamste Art ist, gegen einen Feind zu kämpfen.« Er räusperte sich. »Deswegen bin ich nicht stolz auf viele Dinge, die unser Clan getan hat, vor allem im letzten Krieg.« Sasuke hing förmlich an seinen Lippen, konnte und wollte nicht wirklich glauben, was sein Bruder ihm offenbarte. »Krieg ist etwas Schreckliches. Er reißt Familien und Freunde auseinander, löscht Leben gnadenlos aus. Die überlebenden Krieger, die nicht an dieser Last zerbrechen, verkümmern so lange, bis sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Auch unser Clan hat an dem letzten großen Krieg teilgenommen, und mir wird übel bei dem Gedanken daran, dass sie alle stolz auf das sind, was sie erreicht haben.« Er verzog angewidert das Gesicht, traute sich aber nicht, Sasuke in die Augen zu sehen. Als sein Bruder weiterhin schwieg, das Gehörte verarbeiten musste, bedachte er ihn mit einem flüchtigen Blick. »Habe ich dir je erklärt, wie man sich aus den Fängen eines Genjutsu befreit?« Eine einfache Frage, auf die Sasuke nach kurzer Zeit mit einem schwachen Kopfschütteln antwortete. Bitter lächelnd fuhr Itachi fort. »Als erstes hat man immer die Chance, dass einer deiner Missionspartner deinen Chakrafluss kurzzeitig unterbricht, damit das Jutsu an Wirkung verliert.« Aber wenn du selbst deinen vermeintlich besten Freund tötest, ist es dir nicht gestattet an die Hilfe deiner Kameraden zu glauben. Falls du jemals jemanden hattest, den du ›Kamerad‹ hättest nennen können. Nach einer kurzen Pause begann Itachi, die verbliebenen Wege an seinen Fingern abzuzählen. »Man kann ein Genjutsu auch dadurch auflösen, dass man sich selbst oder der betroffenen Person physische Schmerzen zufügt.« Denn das Szenario unzählige Male durchzuspielen, macht letzten Endes alles nur noch schlimmer. Man stumpft ab, gewöhnt sich an die Schmerzen. Bis sie nicht mehr ausreichen, den Alptraum enden zu lassen und man ewig darin gefangen bleibt. Lautlos seufzend richtete er seinen Blick nach oben, bemerkte wie sehr seine stumpfen schwarzen Augen – den Ausdruck, den jedes Clanmitglied eines Tages in seinem Blick spüren würde – zu den endlosen Tiefen des dunklen Himmels über ihnen passte. »Der dritte Weg ist darauf zu hoffen, dass der Anwender seine Konzentration verliert, sein Jutsu so genügend Kraft einbüßt und man sich befreien kann.« Aber wenn ein ganzer Clan dich in einem Netz aus Lügen und Verrat gefangen hält, ist es töricht daran zu glauben, dass sie alle ihren Fokus und somit ihr Ziel aus den Augen verlieren. Hoffnung ist vergebens. Resignation dagegen alles, was dir bleibt. Danach schwiegen sie beide für eine lange Zeit. Während Itachi gesprochen hatte, hatte Sasuke irgendwann begonnen, seine Hand zu halten und sie bis jetzt auch noch nicht losgelassen. Diese Geste spendete ihm mehr Trost, als alle Worte seines Vaters und des Hokage zusammen. Sechs Tage, bis er seinen verhassten Clan eliminieren würde. Ein einsames Lächeln stahl sich auf seine Züge; es war traurig, leer, weil er sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Unbewusst drückte er Sasuke etwas an sich, während sein Blick zum Mond wanderte. Der letzte Akt seiner Lüge würde vom Vollmond erleuchtet sein. Angewidert schloss er die Augen, trug den Hauch eines Lächelns in der Stimme, als er eine letzte Frage stellte: »Wie viel bedeutet dir der Frieden, Sasuke?« Doch sein Bruder war bereits eingeschlafen. Itachis erster Weg würde ihn morgen früh direkt zum Hokage führen. Er wollte mit ihm verhandeln, ihn inständig bitten und wenn all das nichts nützte würde er ihn auf Knien anflehen, ihm noch etwas mehr Zeit zu gewähren. Auch wenn ihm bewusst war, dass jegliche Anstrengung nur Zeitverschwendung war. Er wollte noch eine Weile seine Rolle als großer Bruder spielen. Und er würde noch eine Weile warten, bevor er das Leben seines kleinen Bruders auf ewig zerstörte. ›und oft bezeichnen wir einen Mann als kalt, obwohl er einfach nur traurig ist.‹ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)