Kleine Geschichten von Yosephia (Wieso wir tun, was wir tun...) ================================================================================ Opfer ----- Mai 1903, Central City Oberschule „Roy-kun, Roy-kun! Bitte mach’ mir auch eine!“ Umschwärmt von einem halben Dutzend junger Frauen saß er da: Mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, charmant lächelnd, wurde Roy Mustang von seinen Mitschülerinnen beinahe wie ein Gott verehrt. Genüsslich langsam zeichnete er einen Transmutationskreis auf ein Blatt Papier, konzentrierte sich einen Moment und legte dann seine Hände auf das Blatt. Blaue Blitze knisterten um seine Hände, das Papier zog sich zusammen und bildete eine unförmige Masse. Im nächsten Augenblick entstand eine filigrane Papierblume. Mit einem weiteren Lächeln überreichte der junge Mann diese Blume der Schülerin, die ihn eben noch angebettelt hatte und ihm nun ein hingebungvolles Lächeln schenkte. Sofort begannen drei andere junge Frauen, um Roys Aufmerksamkeit zu buhlen. Ehe sich jedoch eine von ihnen durchsetzen konnte, wurde Roy von hinten ein Buch gegen den Kopf geschlagen. Eine junge Frau mit hochgesteckten blonden Haaren und entschlossen blitzenden braunen Augen, deren Schuluniform perfekt saß, war die Übeltäterin. „Du hast dein Mathebuch vergessen, Roy“, erklärte sie streng und setzte sich mit missbilligender Miene neben Roy, nicht ohne zahlreiche eifersüchtige Blicke der anderen Schülerinnen zu ernten. „Wie gut, dass du nur zwei Straßen weiter wohnst“, lachte Roy unbekümmert und setzte sich aufrechter hin, um dem Disziplindrang seiner langjährigen Freundin genüge zu tun. Die jungen Bewunderinnen zogen sich empört murmelnd zurück, aber Riza machte sich nicht einmal die Mühe, von ihren sorgfältigen Unterlagen aufzublicken. Roy lächelte amüsiert in sich hinein und holte seine eigenen Unterlagen aus seiner Tasche. „Danke, ohne dich hätte ich wieder alle Mädchen mit Blumen versorgen müssen.“ „Du hättest gar nicht erst damit anfangen müssen. Otou-sama hat doch gesagt, dass man Alchemie nicht leichtfertig verwenden soll“, war Rizas strenge Erwiderung. „Touché“, gestand Roy grinsend und richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne, wo der Lehrer gerade an das Pult trat, um den Unterricht zu beginnen. Juli 1903, Central City Militärakademie „Roy! Hey Roy!“ Entnervt seufzend blieb Roy stehen und wartete, bis der junge Mann, der ihn gerufen hatte, zu ihm aufgeschlossen hatte. Maes Hughes, aus Gründen, die Roy auch nach Jahren nicht verstand, Roys bester Freund. „Roy, ist Gracia nicht wundervoll?“, trällerte Maes, wartete jedoch nicht einmal auf irgendeine Erwiderung, sondern fuhr gleich fort. „Ich war gestern mit ihr im Park und sie hat Apfelkuchen mitgebracht. Sie ist eine fantastische Köchin! Und so bescheiden. Sie wird sicher mal eine wunderbare Ehefrau und Mutter!“ „Wundervoll…“, brummte Roy und schritt forsch aus. Eilig folgte Maes seinem besten Freund und klopfte ihm auf den Rücken. „Frag’ doch endlich mal Riza nach einem Date!“ „Wieso sollte ich?“ „Ihr kennt euch doch schon so lange, also wieso nicht?“ In Maes’ Augen funkelte es wissend. Roys Interesse an Riza war für ihn unübersehbar – und genauso wenig, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Nur wollte keiner der Beiden das je zugeben. „Sie ist nur die Tochter meines Alchemielehrers und wohnt in der Nachbarschaft, mehr nicht.“ „Ja klar.“ Maes seufzte theatralisch, wurde jedoch sofort ernst, als das Gebäude der Militärakademie in Sicht kam. „Also… Kein Rückzug?“ „Kein Rückzug“, bestätigte Roy mit eiserner Miene und blickte zu der wuchtigen Fassade, deren Schmuck reinstem Pragmatismus gewichen war. Die beiden jungen Männer hatten nie richtig darüber gesprochen, aber sie wussten, dass sie dieselben Beweggründe für ihren Beitritt zur Armee hatten. Roys Sprüche, als Soldat würde er viel Geld verdienen und noch viel mehr Frauen rumkriegen können, waren seinem Hang geschuldet, Riza aus der Reserve locken zu wollen. Bislang war er damit jedoch gescheitert. Aufmunternd klopfte Maes seinem besten Freund auf die Schulter und setzte sich in Bewegung. Ohne das geringste Zögern folgte Roy ihm. Nicht aus Geldgier, nicht aus Blutlust, einzig und allein aus dem Wunsch, jene zu beschützen, die ihm wichtig waren… März 1908, Central City Platz Wortlos überprüfte Roy ein letztes Mal, ob er alles eingepackt hatte, ehe er sich den schweren Rucksack auf den Rücken schwang. Sein Gesicht war eine steinerne Maske. Er freute sich ganz und gar nicht, dass er befördert worden war. Wie sollte er das auch, wo ihm doch ein Krieg bevorstand? Jahre lang hatten die Auseinandersetzungen in Ishbar angedauert, bis sie schließlich vollends eskaliert waren. Vor sieben Jahren war schließlich der Krieg ausgebrochen, als ein Soldat von Amestris versehentlich ein Kind von Ishbar getötet hatte. Sieben lange Jahre Krieg und kein Ende in Sicht. Die Ishbarier waren ein zähes Volk. In den oberen Riegen des Militärs wurde man ungeduldig, daher hatte man nun beschlossen, die Staatsalchemisten ins Feld zu schicken. Also auch Roy. Maes war ebenfalls eingezogen worden. Dabei war er davon bisher noch befreit worden, weil er vor einem Jahr Gracia geheiratet hatte, aber jetzt wurden sogar schon zivile Ärzte und Ingenieure zwangsverpflichtet. Das hatte Maes allen Humor ausgetrieben. Roy konnte es nur zu gut verstehen. Immerhin hatte er auch ganz andere Pläne im Sinn gehabt… Seufzend rückte Roy seine Mütze zurecht und verließ seine kleine Wohnung, die er seit seinem Auszug aus dem elterlichen Haus vor drei Jahren bewohnte. Der Weg die Treppen hinunter zur Straße kam ihm unendlich lang vor. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber er zwang sich, mit ruhigen, raumgreifenden Schritten weiter durch die Straßen zum Militärgelände zu gehen. Am Rande des großen Vorplatzes konnte er Maes sehen, der Gracia umarmt hielt und offensichtlich noch nicht bereit war, sich von ihr zu trennen. In einen der bereitstehenden Laster stiegen gerade mehrere Staatsalchemisten. Roy erkannte Doktor Marco und Lieutenant Armstrong, aber auch Kimbley, einen jener Alchemisten, die in Roys Augen der Ehre dieses seltenen Talentes nicht würdig waren. „Roy…“ Der junge Mann musste aufpassen, dass er sich nicht zu schnell umdrehte, als er Rizas Stimme hinter sich hörte. Langsam wandte er sich zu ihr um. Auch nach ihrer Schulzeit waren sie immer in Kontakt geblieben. Riza studierte auf Lehramt an der Central City Universität. Ihr Vater war vor einiger Zeit spurlos verschwunden. Vieles um sie herum hatte sich geändert, aber zwischen ihnen hatte sich nicht das Geringste geändert. Auch Roys Gefühle nicht. Langsam ging er auf Riza zu und blieb direkt vor ihr stehen. Er zwang sich zu einem schelmischen Grinsen. „Ich wusste, dass du kommen würdest.“ „Natürlich“, erwiderte Riza ruhig und ernst. „Irgendjemand muss dir ja sagen, dass du auf dich aufpassen sollst.“ „Keine Sorge, in Ishbar ist gerade Trockenzeit“, ulkte Roy, verstummte jedoch sofort, als er die ernsthafte Verärgerung in Rizas Augen erkannte. Seufzend ließ er das krampfhafte Grinsen fallen und blickte Riza ernst an. „Wenn ich wieder komme, muss ich dir etwas Wichtiges sagen.“ Rizas Gesichtszüge wurden zu seiner Überraschung weicher, als sie sprach: „Ich werde auf dich warten… Also pass’ gut auf dich auf…“ „Das werde ich“, versprach Roy und ließ sich zu einem dankbaren Lächeln hinreißen, ehe er sich umdrehte und zu den Transporter der Staatsalchemisten ging. Respektvoll nickte er Armstrong und Doktor Marco zum Gruß zu, dann setzte er sich auf die unbequeme Bank. Seine Hand fuhr in seine Hosentasche und ertastete ein kleines Kästchen. Seine Geschichtszüge wurden härter, entschlossener. Er würde nicht in Ishbar sterben! Riza würde nicht lange warten müssen…! November 1908, Central City Avenue Ein leises Klopfen hallte durch die dämmrige Wohnung. Höflich, aber bestimmt. Ein Zeugnis der Entschlossenheit der Person, welche schon seit fünf Minuten vor der Tür stand. Müde strich Roy sich mit beiden Händen übers Gesicht und versuchte zum wiederholten Male, diese furchtbaren Bilder aus seinen Gedanken zu vertreiben. Bilder von Zerstörung und tausendfachem Tod. Bilder von panischen Gesichtern, von verzweifelten Müttern, die ihre Kinder schützen wollten, von entsetzlich verstümmelten Leichen, von brennenden Menschen, weinenden Kindern… Roy hatte Feuer immer als faszinierend empfunden, aber wenn er nun an Feuer dachte, tauchten die Bilder seiner eigenen Gräueltaten vor seinen inneren Augen wieder auf. „Roy, ich weiß, dass du da bist! Mach’ bitte endlich die Tür auf!“ Stockend schüttelte Roy den Kopf. Er wollte ihr so nicht gegenüber treten. Er wollte nicht, dass sie ihn so schwach sah. „Roy…“ Der junge Mann konnte sich nicht erinnern, wann sich diese Stimme jemals so weich wie jetzt angehört hatte. „Roy, ich mache mir Sorgen um dich…“ Roys Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er hörte, wie sich Schritte von der Wohnungstür entfernten. Er sprang auf die Füße. Nein! Er durfte nicht so weiter machen! Er durfte sie nicht schon wieder enttäuschen. Das hatte er seit seiner Heimkehr aus dem Krieg vor drei Wochen schon zu oft getan! Hektisch ging Roy zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie. Doch der Flur war leer. Riza war bereits fort… Dezember 1908, Central City Avenue Roy saß wie auf glühenden Kohlen. Er hatte das Gefühl, vor lauter Anspannung gleich zu platzen. Umso dankbarer war er, dass Maes nichts sagte, während er den Wagen durch die Straßen von Central City lenkte. Ohne Maes wäre Roy während der letzten Wochen eingegangen, aber nun hatte er ein neues Ziel. Es war ein schier unmöglicher Plan, aber Roy würde ihn möglich machen… „Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte Maes ernst, als er schließlich vor dem Ziel hielt. „Du könntest auch einfach austreten und dir ein friedliches Leben aufbauen.“ „Nein… Ich werde Führer werden und verhindern, dass es jemals wieder zu so einem Massaker wie in Ishbar kommt. Das ist der einzige Weg!“ Ein anerkennendes Lächeln schlich sich auf Maes Lippen. „Und dennoch willst du diesen einen Plan nicht aufgeben?“ „Ich habe sie schon viel zu lange warten lassen“, erwiderte Roy ruhig und stieg aus. „Na dann viel Erfolg.“ Maes tippte sich an die Mütze und legte wieder den Gang ein. Roy nickte ihm dankbar zu und ging dann festen Schrittes zum Haus. Auf sein Klopfen hin öffnete ihm eine ältere Dame, der sofort anzusehen war, dass sie Rizas Mutter war. Respektvoll deutete Roy eine Verbeugung an. „Hawkeye-san, dürfte ich mit Riza reden?“ „Sicher. Sie müsste gleich fertig sein, aber sie hat nicht viel Zeit.“ „Muss sie zur Universität?“, fragte Roy verwirrt. Wenn er sich richtig erinnerte, war die Universität zu dieser Zeit geschlossen, aber er traute Riza zu, dass sie freiwillig noch zu irgendwelchen Arbeitsgemeinschaften oder dergleichen ging. Auf seine Frage erntete er jedoch nur einen seltsamen Blick, den er sich nicht wirklich erklären konnte. Wortlos wurde er in den Salon geführt, wo er alleine zurück blieb, während die Hausherrin nach oben ging, um ihrer Tochter Bescheid zu sagen. Um Haltung bemüht, blieb Roy mitten im Raum stehen, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Hand in seine Tasche glitt und zum wiederholten Male das Kästchen ertastete. Als er leichte Schritte auf der Treppe hörte, spannte er sich an… Im nächsten Moment betrat Riza den Raum. Roy fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, als sie vor ihm stramm stand und salutierte. Sie trug die Uniform eines Kadetten und ihre Haare waren ordnungsgemäß gestutzt worden. Vor Roy stand keine Lehramtsstudentin, sondern eine Kadettin der Militärakademie! „Major Mustang?“ Roy rang um seine Fassung. Rizas formelle Begrüßung machte alles zunichte, was er sich für diesen Besuch eigentlich vorgenommen hatte. Riza würde seine Untergebene sein, wenn sie die Akademie abgeschlossen hätte – und er bezweifelte nicht, dass sie das mit Bestnote schaffen würde. Aber das hieß auch, dass es verboten war. Sie würden Vorgesetzter und Untergebene sein. Niemals mehr… „Major?“ „Ja…“ Mühsam rief Roy sich zur Ordnung und suchte schließlich Rizas Blick. „Wieso hast du das getan? Warum bist du der Akademie beigetreten?“ Ernst und entschlossen blickte Riza ihm in die Augen, während sie ihm antwortete: „Weil jemand auf dich aufpassen muss… Roy…“ „Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Roy und bemühte sich dabei, die Haltung zu wahren. „Das wird viele Opfer bedeuten…“ Für einen Moment blickte Riza ihm noch in die Augen. Für einen unbeschreiblichen Augenblick hatte er das Gefühl, es gäbe doch noch eine Chance. Dann straffte Riza die Schultern wieder und die altbekannte Entschlossenheit trat in ihren Blick. „Manchmal muss man Opfer bringen, um das zu tun, was einem wichtig ist, Major. In der Alchemie wird das doch äquivalenter Tausch genannt, oder?“ September 1914, East City Hauptquartier Äquivalenter Tausch… Bis heute war Roy sich nicht sicher, ob es das wirklich war. Es gab Tage, an denen er drauf und dran war, einfach aufzugeben, aber paradoxerweise war es dann ausgerechnet Rizas Beistand, der ihn davon abhielt. Sie passte wirklich auf ihn auf. Er fühlte sich sicherer und stärker mit ihr an seiner Seite. Auch an Tagen wie diesen… „Lieutenant Colonel Mustang, es ist Zeit zu gehen. Der Zug nach Central City fährt in einer halben Stunde.“ Wortlos erhob Roy sich und folgte First Lieutenant Hawkeye aus dem Büro, in welchem er mehrere Jahre lang die Geschickte in East City geleitet hatte. Nun war er zurück nach Central City beordert worden – und mit Rizas Hilfe würde er dort irgendwann Führer werden… Trauer ------ Die Welt war grau. Seine Welt war grau. Trostlos steckte sie vor ihm in der Erde und war dem Regen ausgesetzt. Dieses unendliche Grau verschlang alle Farben drum herum. Das Grün des Grases, das Weiß der Lilien, das Rot der Schleife, die die Blumen zusammen hielt - alles verblasste. Die Welt war kalt. Die Kälte in seiner Welt ließ sogar den Regen eisig erscheinen, obwohl es ein warmer Sommerregen war. Selbst sein Herz schien gefroren zu sein. Die Welt war stumm. Nichtssagend und doch zugleich schreiend stand ihm die Wahrheit seiner Welt vor Augen. Alles um ihn herum wurde von dieser Stummheit überlagert. Selbst das Prasseln des Regens war nicht zu hören… Trisha Elric *02.02.1922 †13.07.1925 Wie ließ sich jetzt noch die Idee des äquivalenten Tausches erklären? Gab es auch nur irgendeine Erklärung dafür, warum ein so reiner Mensch wie dieses Mädchen so früh sterben musste? Wo war da die Gerechtigkeit im Leben? „Ed… Du solltest endlich reinkommen.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter, drückte diese unnachgiebig, fordernd. Am liebsten hätte er sie fortgeschlagen, aber sein Körper war taub, sowohl durch die äußere als auch durch die innere Kälte. Er hatte das Gefühl, sich nie wieder von hier fortbewegen zu können. „Ed, Winry und Urey brauchen dich“, sagte Alphonse nun eindringlicher. Eine seltene Wut klang in seiner Stimme mit. Selbst in seinem Zustand wusste Edward, dass sein Bruder allmählich die Geduld verlor, was nur äußerst selten geschah. „Wie sollte ich ihnen schon helfen?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein tonloses Krächzen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie man lachte. Nicht einmal an Trishas Lachen konnte er sich erinnern. Dabei war es nur wenige Wochen her, dass er es zuletzt gehört hatte. Er wusste, dass sie gelacht hatte, aber er konnte sich nicht mehr an den Klang ihres Lachens erinnern. Er wusste, dass ihre Augen gestrahlt hatten, aber er hatte das Bild nicht mehr vor Augen. Alles, was er sah, war der graue, kalte, stumme Grabstein, der neben den Grabsteinen seiner Eltern stand. „So auf alle Fälle nicht!“, schnappte Alphonse und zerrte am Arm seines älteren Bruders. „Steh’ auf und geh’ rein, Edward! Kümmere dich gefälligst um deine Frau und deinen Sohn!“ Das Grau machte Blutrot Platz. Vor seinen inneren Augen sah er wieder, wie das Licht in Trishas Augen erlosch. Er sah, wie das Blut aus der Schusswunde in ihrer kleinen Brust sickerte und ihr Lieblingskleid verfärbte. Er sah diesen winzig kleinen Körper genau vor sich. Reglos. Leblos. Ermordet von einem Soldaten aus Drachma oder von einem Rebellen - was spielte das schon für eine Rolle? Edward wirbelte herum und wollte seinem Bruder die Faust ins Gesicht schmettern, aber Alphonse war schneller, drehte sich herum, packte Edwards Arm und schleuderte ihn durch dessen eigenen Schwung über seine Schulter zu Boden. Edward wollte wieder aufspringen, wollte um sich schlagen, wollte treten, beißen, kratzen, wollte die ganze Welt in Stücke reißen! Aber Alphonse setzte sich auf seinen Brustkorb und hielt seine Arme eisern fest. Der Ältere bekam nicht genug Schwung, um ihn abschütteln zu können. „Was verstehst du schon davon?!“, brüllte Edward. „Was weißt du denn schon, wie es sich anfühlt, die eigene Tochter sterben zu sehen?!“ „Sie war meine Nichte!“, schrie Alphonse zurück. „Ich habe sie genau wie du sterben sehen! Ich war genauso hilflos wie du! Aber ich will nicht auch noch dich oder Winry oder Urey verlieren!“ Wieder bäumte Edward sich auf, aber die Zeit, in der er seinen Bruder in dessen echten Körper besiegen konnte, war schon lange vorbei. Auch ohne Rüstung war Alphonse stärker. Vor allem jetzt, da Edward alle Techniken, die Izumi ihnen während des langwierigen Trainings beigebracht hatte, vergessen hatte und von reinem Selbsthass geleitet wurde. „Ich hätte sie festhalten müssen!“, rief Edward voller Qual. „Ich hätte sie festhalten müssen!“ „Keiner konnte es vorhersehen, Ed!“, hielt Alphonse dagegen. „Sie hat sich losgemacht, um ihre Puppe zu holen. Nicht du bist an ihrem Tod schuld, sondern derjenige, der diesen Schuss ausgelöst hat!“ „Ich hätte besser aufpassen müssen!“, krächzte Edward und seine Kehle wurde enger, seine Augen brannten. „Ich hätte sie hochnehmen müssen… Sie war doch noch so klein… So klein…“ Alphonse ließ seinen Bruder los und nahm ihn stattdessen in den Arm, als sein Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. All der Schmerz kam jetzt mit voller Brutalität an die Luft… Sie waren in Xing gewesen, um Ling einen Besuch abzustatten und in den dortigen Bibliotheken noch mehr über Rentanjutsu zu lernen. Winry und die Kinder hatten unbedingt mitkommen wollen, obwohl Edward sie lieber in Reesembool bei Pinako gelassen hätte, weil er die Wüstendurchquerung mit zwei Kindern für zu riskant gehalten hatte. Aber er hatte sich von den Bettelblicken seiner Kinder, die nach Winrys Vater und seiner Mutter benannt worden waren, erweichen lassen. Wie hätte er denn auch ahnen können, was sie auf dem Rückweg erwarten würde? Durch einen Sandsturm waren sie auf dem Heimweg von ihrer eigentlichen Route abgekommen und sehr viel weiter nördlich gelandet. Am Rande des Riesenreiches Drachma, genau in ein Gebiet, in dem sich gerade Rebellen und Drachma-Soldaten einen erbitterten Kampf geliefert hatten. Edward und Alphonse hatten alles getan, um Winry und die Kinder zu beschützen, aber dann hatte Trisha ihre geliebte Puppe verloren, hatte sich vom Griff ihres Vaters losgemacht und war zurück gelaufen. Als Edward sie eingeholt hatte, war sie bereits tot gewesen… Edward schwankte, als er an der Seite seines jüngeren Bruders den Friedhof von Reesembool verließ und zu Pinakos Haus ging, in welchem er in den letzten Jahren mit Winry und den Kindern gelebt hatte, wenn sie nicht gerade in Rush Valley, in Central City oder auf Reisen gewesen waren. Er fühlte sich schlapp, als hätte man jedweden Lebensfunken aus ihm herausgepresst. Wenn er auf dem matschigen Boden zu fallen drohte, fing Alphonse ihn auf. Seit Trishas Tod hatte er das immer wieder getan. Er war es gewesen, der Edward und Winry mit Trishas Leichnam fortgezerrt hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie aus Drachma raus und zum nächsten Militärposten von Amestris kamen. Er hatte die Zugfahrt nach Reesembool organisiert und er hatte sich auch um Trishas Beerdigung gekümmert. Am Esstisch saß Pinako, die hastig einige Bilder mit ihren Armen bedeckte, als sie herein kamen. Der Schmerz hatte sich tief in ihre alten Gesichtszüge gegraben, aber sie versuchte dennoch, dem Mann ihrer Enkelin ein zittriges Lächeln zu schenken. Wieder spürte Edward die Stiche in seinem Herzen, als er auf einem der hervorlugenden Bilder seine Tochter an ihrem ersten Geburtstag sehen konnte. Sie hatte einen riesigen Plüschbären von ihren Eltern bekommen, den sie auf dem Bild fest umarmte, während sie in die Kamera lachte. „Mei ist bei Winry“, erklärte Pinako mit belegter Stimme. Edward nickte matt und ließ sich von seinem Bruder weiter ins Badezimmer schieben. Er wehrte sich selbst dann nicht, als Alphonse ihn wie einen kleinen Jungen auszog, damit er duschen konnte. „Wie soll ich Winry helfen?“, murmelte Edward erschöpft und voller Gram. „Wie soll ich ihr diese Schmerzen nehmen?“ „Das kannst du nicht“, erwiderte Alphonse mit einem traurigen Lächeln. „Aber du kannst ihr zeigen, dass sie nicht alleine ist und dass es immer noch Dinge gibt, für die sich das Leben lohnt. Keiner von euch kann Trisha für den jeweils anderen ersetzen. Ihr werdet Trisha immer vermissen. Aber das heißt nicht, dass euer Leben vorbei ist. Ihr müsst euch um Urey kümmern. Er ist euch doch genauso wichtig wie Trisha, oder?“ „Natürlich!“ Der Gedanke an seinen Sohn zerriss Edward vor Schuldgefühlen. Urey hatte im Alter von fünf Jahren mitansehen müssen, wie seine Schwester erschossen wurde. Er hatte die Schreie seiner Eltern mitangehört. Er hatte Dinge erlebt, vor denen Edward ihn immer hatte beschützen wollen. Und ausgerechnet in so einer Zeit hatte Edward sich nicht um ihn gekümmert. Er hatte das Gefühl, auch als Ureys Vater versagt zu haben. „Kümmere dich zuerst um Winry. Ihr könnt euch dann zusammen um Urey kümmern und einander helfen“, unterbrach Alphonse sanft, aber eindringlich die selbstvernichtenden Gedanken seines Bruders. „Aber zuerst einmal solltest du dich aufwärmen!“ Winry weinte, als er das gemeinsame Schlafzimmer betrat. Sie hatte sich unter der Decke zusammen gekrümmt und schluchzte. Meis Versuche, ihr einen Beruhigungstee einzuflößen, waren offensichtlich gescheitert. Auf den Dielen war noch ein feuchter Fleck zu sehen und Mei hatte beim Aufräumen eine kleine Scherbe übersehen. Wortlos stieg Edward zu seiner Frau ins Bett und rutschte von hinten an sie heran. Sie verkrampfte sich, als er einen Arm um sie legte. Für einen Moment befürchtete er, sie würde ihn zurückweisen, weil sie ihm die Schuld für Trishas Tod gab. Aber nach einigen Sekunden drehte sie sich herum, drückte ihr Gesicht in sein Unterhemd und weinte sich das Elend von der Seele. Zitternd schlang er beide Arme um sie und zog sie fest an sich, während erneut Tränen in seine Augen traten… Ein leises Tappen auf den Dielen riss Edward aus seinem Erschöpfungsschlaf. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er eingeschlafen war. In seinen Armen schlief Winry. Als er sich bewegte, erzitterte sie, weshalb er sie wieder fester an sich zog und nur noch den Kopf verdrehte. Es war Urey, der auf das Bett seiner Eltern kletterte und dann zu ihnen kroch. Edward hob die Decke, damit Urey sich zwischen sie Beide legen konnte, dann strich er sanft über Ureys goldenen Haarschopf und zog seine kleine Familie fester an sich. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis er wieder vom ganzen Herzen lachen konnte, aber jetzt konnte er sich zum ersten Mal seit Trishas Tod überhaupt wieder vorstellen, jemals wieder zu lachen. Niemals würde er seine kleine Tochter vergessen können, aber er hatte noch Winry und Urey. Zwei Menschen, die sein Leben lebenswert machten… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)