Anokata von Luthien-Tasartir (Biographie einer Organisation) ================================================================================ Kapitel 2: Zweiunddreißig ------------------------- Fünf Jahre hatten das Johnson-Ehepaar die Adoption ihres Sohnes Ryo überlebt. Dann waren sie bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen und hatten dem gerade Volljährigen ihr gesamtes Vermögen vererbt. Dieser hatte ein Jahr zuvor seinen Bachelor in Betriebswissenschaften gemacht, nachdem er die Highschool bereits mit sechzehn Jahren und einem glatten Zeugnisdurchschnitt von 1,0 verlassen hatte. Somit war es nicht erstaunlich, dass ihm damals die Türen zu jeder angesehenen Universität Amerikas offen standen. Er entschied sich schließlich für die Colgate-University in New York, da diese relativ nahe dem Firmensitz seiner Zieheltern lag. Dort hatte er nach einem Jahr Biologie als zweites Studienfach gewählt. Ihm zu seinem zweiten Bachelor in diesem Fach zu gratulieren, waren die Johnsons zu der Universität gefahren. Ihre letzte Fahrt. Ein LKW nahm ihnen an einer Kreuzung die Vorfahrt und begrub sie unter sich, als er bei einem Ausweichmanöver, der den Unfall verhindern sollte, ins Wanken geriet. Ryo erfuhr von dem Unglück, als er gerade von dem Direktor für seinen außergewöhnlichen Erfolg beide Bachelor als bester Student absolviert zu haben, beglückwünscht wurde. Seine Reaktion erfolgte augenblicklich, in dem er auf die Möglichkeit eines Masters in den Fächern verzichtete und sich der hinterlassenen Firma widmete. Sein Vorwand, dass er so seinen Eltern gedenken wollte, stieß bei der Außenwelt auf völliges Verständnis. In Wirklichkeit verfolgte er jedoch gänzlich andere Pläne... „Schach!“ Ryo wandte sich wieder dem Schachbrett zu, vor dem er nun bereits eine geschlagene Stunde saß. Es brachte nichts, an die Vergangenheit zu denken, wenn vor ihm doch seine Zukunft lag. Lächelnd schaute er auf das junge Mädchen, das stolz vor ihm in einem der Sessel saß und strahlend auf eine Reaktion seinerseits wartet. Die Zukunft zeigte sich in diesem Kind. Der Tod seiner „Eltern“ war nun bereits elf Jahre her. In dieser Zeit war er keinesfalls untätig gewesen. Eigentlich hatte er bereits mit dem Beginn seines zweiten Studienjahres angefangen, seine damals neu gefundenen Ziele umzusetzen. Damals war er durch einige Artikel in Fachzeitschriften der Biologie auf ein Forscherehepaar gestoßen, dass sich mit der Thematik eines unsterblichen Menschen befasste. Er war neugierig geworden und hatte Kontakt mit ihnen aufgenommen. Bereits nach dem ersten Treffen war er so fasziniert von ihren Theorien gewesen, dass er sie kurzerhand aus der Kasse seiner Eltern heimlich unterstützte. Mehr noch. Er stellte ihnen seine Gene zur Forschung zu Verfügung. Das Ergebnis dieser saß nun vor ihm. Sie war bereits bei dem ersten Versuch ein voller Erfolg gewesen. Nun, fast. Noch war sie nicht unsterblich. „Noch“ nicht. Laut den Vineyards trug sie die Gene bereits in sich. Sie mussten nur aktiviert werden. Dann würde sie nicht mehr altern; unsterblich werden. „Na los! Du bist dran, Onkel!“ Die Vierzehnjährige rutschte etwas unruhig auf ihrer Sitzfläche hin und her, während sie auffordernd auf das Schachbrett deutete. „Nun gut.“ Lächelnd richtete der Ältere seinen Blick auf das Brett, bevor er ihren Läufer mit seinem Springer schlug. „Schachmatt“, meinte er schließlich noch immer lächelnd, bevor er aufstand und ihr sanft über das Haar strich. „So leicht lasse ich dich nicht gewinnen, Sharon“, flüsterte er ihr zwinkernd ins Ohr. Kurz schien die Angesprochene leicht beleidigt, legte dann jedoch ihren König um und zuckte mit den Schultern. „Das nächste Mal“, lachte sie und stand auf. „Mutter möchte dich übrigens um fünfzehn Uhr sprechen. Es geht um das Aktivierungsgift. Es sollen – wenn ich das richtig verstanden habe – Komplikationen aufgetreten sein. Vater hat gemeint, dass er ein neues Mittel entdeckt hat. Eine Art Gegengift zu dem ersten, nach der Struktur zu urteilen. Allerdings schafft er es nicht, das Erste überhaupt zu erstellen.“ Ein Lachen folgte ihrer letzten Aussage, das jedoch nicht erwidert wurde. Seufzend verstummte sie, fing jedoch gleich wieder an zu reden: „Zumindest zerstört es meine Zellen unter dem Mikroskop. Aber Mutter wird dir dies besser erklären können.“ Ein erneutes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Dann schulterte sie ihre Tasche und wandte sich in Richtung Eingang. „Ich muss jetzt zum Schauspielunterricht. Auf Wiedersehen, Onkel!“ Mit diesen Worten ließ sie den Mann mit ernstem Gesichtsausdruck zurück. Sharon war mit dem Wissen, dass sie nur ein Experiment war, aufgewachsen. Ein Prototyp. Trotzdem hatte dieses Bewusstsein sie nie zerbrochen. Im Gegenteil! Es hatte sie stark gemacht. Ab einem bestimmten Alter begann sie sich für die Forschungen an ihrem Organismus zu interessieren und durch ihre schnelle Auffassungsgabe konnte sie diese Informationen sogar zumindest in groben Zügen annähernd verstehen. Trotzdem wandte sie sich seit einem Jahr mehr der Schauspielerei als der Forschung zu. Ryo unterstützte sie dabei stark. Er gab ihr den bestmöglichen Unterricht, die qualifiziertesten Lehrer aus aller Welt, damit sie sich auf ihre Art entwickeln konnte. Ein weiterer positiver Nebeneffekt dazu war, dass sie bereits in diesem Alter mit mehreren Sprachen und Länderkulturen bekannt wurde. Auch ihre Schauspielkunst hatte sich in den letzten Jahren rasant verbessert. Trotzdem unterließ sie auf Wunsch ihrer Eltern bis jetzt, ihr Können der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da ihre Forschungen von der Wissenschaft nicht unterstützt wurden, wollten die Vineyards nicht riskieren, dass die Existenz eines potenziell unsterblichen Menschen bekannt wurde. Bestimmten Schrittes ging der junge Mann den weißen Korridor des ausgebauten Kellers seines Firmensitzes entlang. Sein Ziel war die große Doppeltür am Ende des Ganges, die den Raum dahinter hermetisch von der Außenwelt abschloss. Kein Keim durfte in das Innere des Labors kommen, so waren die Forderungen der Forscher gewesen. Schon im Vorraum hörte er, dass die Stimmung hinter den Türen keinesfalls der einer freundlichen Atmosphäre entsprach. Zumindest die Frau des Hauses schien mehr als nur schlecht gelaunt zu sein. Als er sich die geforderte Kleidung – einen Überanzug, sowie Handschuhe und Schutzbrille – endlich angezogen hatte und den Raum betrat, sah er seine Annahme auf den ersten Blick bestätigt. „Du bist der größte, der absolut dämlichste, hirnverbrannteste Vollidiot, der mir je über den Weg gelaufen ist!“ Es folgten weitere Flüche, die selbst Ryo leicht erröten ließ, während er – zwischen Fassungslosigkeit und latentem Amüsement schwankend – zuschaute, wie Frau Vineyard ihren Mann in charmanter Art und Weise zurecht wies. Dieser hörte stumm der Schimpftirade zu, wobei er etwas peinlich berührt bei Ryos Eintreten zu ihm schaute, sich dann jedoch wieder den sterilen Bodenfließen zuwandte. Je länger der junge Mann dem Ehepaar zuschaute, desto mehr erinnerte ihn der Ältere an ein Kind, das eine Standpauke seiner Erziehungsberechtigten über sich ergehen lassen musste. Als Mrs. Vineyard gerade dazu überlaufen wollte, auch seine Eltern und Verwandten mit in ihre Beleidigungen einzubinden, räusperte sich der Neuankömmling laut genug, dass die Frau mit wutverzerrtem Gesicht herumwirbelte, dann stockte und nach einer kurzen betretenen Pause ein leichtes Lächeln aufsetzte. Augenscheinlich hatte sie ihn im Eifer des Gefechts nicht einmal eintreten hören. Nachdenklich schaute der junge Firmenchef auf den vor ihm flimmernden Bildschirm. „Die Daten wurden also verfälscht?“ Ein knappes Nicken, das er aus den Augenwinkeln wahrnahm, war seine einzige Antwort. Verstehend nickte er, bevor er sich wieder den Mengendiagramme zuwandte. „Wie lange wird es dauern, bis ihr den Rückstand wieder aufgeholt habt?“ Erneut folgte Stille seinen Worten, bis die bessere Hälfte letztlich zögerlich antwortete, dass sie es nicht genau wüssten. „Zwanzig, dreißig Jahre vielleicht, bis wir den Wirkstoff gänzlich entwickelt haben. Zwei Jahre, bis wir es auf jegliche Risiken geprüft und Feinheiten verarbeitet haben. Es können jedoch auch mehr werden. Wir sind zu wenige, haben einfach nicht die nötigen Mittel...“ Ein Schulterzucken unterstrich ihre Erklärung, während sie etwas besorgt auf ihren Geldgeber schaute. Dieser zeigte bis auf seine leicht zitternde, zur Faust geballten Hand auf dem Schreibtisch keine Reaktion. „Wie viele Laboratorien braucht ihr? Ich werde sie euch zur Verfügung stellen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)