Hollow Day von Umi ================================================================================ Kapitel 3: Twilight ------------------- Es war seltsam, ihn wieder auf 'unserer' Couch sitzen zu sehen, die ich vor ein paar Jahren bei meinem Umzug in die neue Wohnung mitgenommen hatte. Und noch seltsamer war der Anblick seiner Tochter, die an ihn gelehnt in einem meiner Bücher, einem Sherlock Holmes Sammelband, schmökerte und nicht einen Funken Reue für ihren inzwischen aufgedeckten Diebstahl meines Portemonnaies zu empfinden schien.   Yoru selbst hatte sich noch stärker verändert, als ich im ersten Moment realisiert hatte. Abgesehen von der neuen Frisur wirkten seine Gesichtszüge erwachsener, reifer... seine nach wie vor schlanken aber muskulösen Arme ließen auf einen kräftigen und drahtigen Körper schließen. Trainierter als der meine. Am befremdlichsten erschien mir jedoch der ruhige, beinahe schon sanfte Ausdruck in seinen Augen und hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte mich wohl dazu hinreißen lassen, es als einen Hauch von Seelenfrieden zu bezeichnen. Doch Seelenfrieden und Yoru waren zwei verschiedene Welten, die nichts miteinander gemein haben konnten - egal ob mit oder ohne Kind. "Du fragst mich überhaupt nicht über die Kleine aus. Wie kommt's?" Scherzkeks. "Sofern du nicht noch irgendwo eine glückliche Ehefrau und ein bereits abbezahltes Einfamilienhaus versteckt hast, gehe ich davon aus, dass die Geschichte nichts für Minderjährige ist. Du kannst sie mir später erzählen." Eines dieser für ihn typischen, abschätzigen Lächeln schlich sich auf seine Lippen. "Mein Mädchen weiß bereits alles über mich, was es wissen muss, und ihre eigene Geschichte gehört definitiv dazu." "So so... Gut, dann würde mich nun auch mal interessieren, woher du auf einmal eine Tochter hast. Wer ist ihre Mutter?" "Eine flüchtige Bekanntschaft. Ich weiß nicht genau, wann ich sie getroffen habe, aber rechnerisch gesehen müsste es vor ziemlich genau zwölf Jahren gewesen sein."   Vor zwölf Jahren...? Aber damals...   "Und da ich nach meinem Ausbruch von dir erst mal die Finger von diesem Drogenscheiß gelassen habe, schätze ich, dass sie und ich schon kurz vorher etwas miteinander hatten. Im Sommer, nachdem... du weißt schon."   Aber sicher wusste ich. Amane. Wie freundlich von ihm, zumindest diese pikante Geschichte nicht vor dem Kind auszurollen.   "Auf jeden Fall stand sie eines Tages plötzlich vor meiner Tür. Ich erinnere mich sogar noch ganz gut daran. Es war Herbst, fast schon Winter, und schweinekalt draußen. Mir ging's ziemlich beschissen, hatte am Vorabend zu viel getrunken und dann taucht wie aus dem Nichts eine Frau auf, die behauptet, irgendwann mal mit mir im Bett gewesen zu sein und dass das Kleinkind an ihrer Hand von mir wäre und so weiter." Ein kurzes Schmunzeln folgte. "Ich hab ihr einen Vogel gezeigt und die Tür vor der Nase zugeknallt, aber sie hat mich immer weiter genervt. Irgendwann war ich dann so angepisst, dass ich ihr gedroht hab. Richtig, meine ich. Aber sie hat bloß gelacht und gemeint, dass ihr das bloß recht wäre, immer noch besser als langsam zu krepieren. Am Ende kam raus, dass sie Aids oder so was in der Richtung hatte."   Nun war ich mir auch ziemlich sicher, welchem Beruf diese "flüchtige Bekanntschaft" wahrscheinlich nachgegangen war.   "Ich bin nicht so bescheuert, wie du vielleicht manchmal denkst. Ich hab dem Präsidenten ein Bündel Scheine, die er eh nicht braucht, und ein Paar Haare von der Kleinen und mir geschickt. Neunundneunzig Komma Bla Prozent. Als der Brief endlich kam, war die Frau weg - und das Kind noch immer da."   "Und du hast es einfach so behalten? Freiwillig?" Die Story kam mir eher wie ein hübsches Märchen vor und weniger wie ein wahrheitsgetreuer Tatsachenbericht. Dass "das Kind" uns beiden zuhörte, hatte ich inzwischen erfolgreich auszublenden geschafft.   "Erst wollte ich sie natürlich loswerden. Ich konnte und kann schreiende Bälger nicht ausstehen. Aber sie war mein Balg, mit meinem Blut in den Adern. Es klingt bescheuert, aber das ist tatsächlich was ganz anderes. Damals war es bloß ein komisches Gefühl, jetzt finde ich es irgendwie total klasse. Und wenn ich mir vorstelle, dass irgendwelchen verkappten Langweiler aus meinem Fleisch und Blut einen Spießer machen... oder dass sie Pech haben könnte und so werden würde wie du..."   Ich verkniff mir das gelangweilte Augenrollen.   "... da hab ich sie kurzer Hand selbst behalten. Da ich sowieso schon mal dabei war, mit dem Präsidenten Briefkontakt aufzubauen, hab ich gleich ein paar Papiere angefordert. Er musste nicht mal welche fälschen, sondern nur ein wenig rumforschen - vielleicht hat das auch seine Frau gemacht, keine Ahnung... Wer hätte gedacht, dass sich Kontakt zu so einem auch dann auszahlt, wenn man ihn nicht um Bargeld erleichtert?"   Das fragte ich mich auch gerade. Kaibas unverhofft soziale Aktion, Geburtsurkunden für Yoru und Atemu zu fälschen, war eine Sache, aber so viele Gefallen... und dann auch noch für mein ehemaliges zweites Ich... Irgendwas stimmte da nicht. Die Geschichte war zu glatt, alles lief zu rund und wieso erfuhr ich erst jetzt, dass Yoru Vater war, während Kaiba über die Angelegenheit bereits seit mindestens 10 Jahren im Bilde war?   "Ich war ziemlich am Arsch, bevor die Frau mit der Kleinen aufgetaucht ist." Yorus Blick, der eben noch auf seiner Tochter gelegen hatte, wandte sich plötzlich mir zu. "Die Kleine war und ist mein einziges Licht in der Dunkelheit, Ryou. Deshalb habe ich sie Akari genannt."     Das hatte gesessen.   Nicht, dass ich Wert darauf legte, sein Licht, sein Hikari zu sein, aber ein schmerzhaftes Stechen in der Brust erinnerte mich daran, dass diese Bezeichnung einmal Bedeutung für mich gehabt hatte. Für uns. Aber uns gab es nicht mehr, nur noch ihn und mich. Er hatte mich damals einfach so verlassen, obwohl ich drauf und dran gewesen war, ihm alles zu verzeihen. Wahrscheinlich erinnerte er sich nicht einmal mehr daran. Allgemein schien er negative Erfahrungen schnell zu vergessen. Dabei war es die Vergangenheit, die den Charakter eines Menschen, seine Denkweise und sein Handeln formte. Vermutlich war das auch der Grund, warum Yoru statt Würde und Charakter einfach nur ein übergroßes Ego besaß, dessen Ausmaße wahrscheinlich nicht einmal er selbst überblicken konnte. Immer dachte er nur an das Hier und Jetzt. Die Zukunft würde sicher toll werden, immerhin war er selbst ja auch ganz toll. Wen interessierten da noch Klimawandel, Energiekrise, Seuchen, Kriege, Überhand nehmender Kapitalismus oder die Gefühle anderer Menschen? Der Anblick dieses geisteskranken Optimisten und seines kleptomanischen Kindes bereitete mir langsam aber sicher Kopfschmerzen. Warum war er zurückgekehrt? Um mir auf der Nase herumzutanzen á là "Ätsch, mir geht es super und dir ganz sicher nicht!"?     Das Gespräch verebbte bald, ohne dass auch nur eine meiner Fragen zufriedenstellend beantwortet worden wäre. Die beiden verabschiedeten sich und ließen mich, genauso schlau wie vorher aber mit einer Lücke in meinem Bücherregal und unzähligen, wild in meinem Kopf umher schwirrenden Gedanken, allein zurück. Ich beobachtete sie vom Fenster aus noch eine Weile, wie sie erneut den Spielplatz aufsuchten, an dem ich sie auf meinem Heimweg getroffen hatte, und dort auf der Bank nun gemeinsam in dem mir entwendeten Buch herumblätterten. Diesmal glaubte ich trotz der Entfernung problemlos die schwarzen Strähnen in seinem einst makellos silbernen Haar ausmachen zu können, ebenso die ersten Ansätze kleiner Fältchen an seinen Augen- und Mundwinkeln. Sein konzentriertes Stirnrunzeln. Als er schließlich resigniert den Kopf schüttelte und aus der Brusttasche seiner Jeansjacke eine Brille hervorzog und aufsetzte, huschte unwillkürlich ein kleines Lächeln über meine Lippen und meine Fingerspitzen fuhren abwesend am Bügel meiner eigenen Sehhilfe entlang. So sehr er sich vielleicht auch zu verändern versuchte, unsere Körper waren und blieben die eineiiger Zwillinge. Wir teilten dasselbe Blut, dieselben Gene... Vor ein paar Jahren noch war ich sogar der Überzeugung gewesen, selbst unsere Seelen wären zwei Seiten derselben Medaille. Ein Gedanke, der mich heute nur noch ein bitteres Schmunzeln kostete. Yoru hatte mich verraten. Genauso, wie ich ihn seinerzeit verraten hatte, indem ich Amane zurück ins Leben gerufen hatte, um der Einsamkeit, die mich trotz seiner Anwesenheit nicht loslassen wollte, zu entfliehen. Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie sich mehr für ihn als für mich interessieren würde? Ich hatte sie aus meinen Erinnerungen erschaffen, sie hätte nur für mich da sein sollen... doch stattdessen war sie die ganze Zeit an seiner Seite gewesen und sorgte damit dafür, dass nicht nur sie sich mir entzog, sondern auch er sich immer weiter von mir entfernte. Also ließ ich sie wieder verschwinden. Doch in dem Moment, in dem ihre Knochen an den aus der stürmischen See ragenden Felsen zerschellten, zerbrach auch das letzte bisschen von dem, was Yoru und mich einst verbunden hatte. Er ging. Rückblickend betrachtet vermutlich das Beste, was mir je passieren konnte, aber damals... Damals hatte es sich grauenhaft angefühlt. Als wäre ein Teil meiner Selbst gestorben. Es dauerte lange, bis ich mich daran gewöhnt hatte, allein zu sein, und mich aufraffen konnte, umzuziehen, mir einen bezahlten Job zu suchen und mein Studium wie geplant fortzusetzen. Meine so genannten Freunde waren mir dabei keine große Hilfe gewesen, aber etwas anderes hatte ich auch gar nicht erwartet.   Sie waren viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen: Yugi mit seinen unerwiderten Gefühlen für Anzu, die eine Zeit lang fast ausschließlich schwarz trug und sich immer mehr von ihren Freunden zurückzog, nachdem ihr Traum, in den Vereinigten Staaten eine Karriere als Tänzerin aufzubauen, aufgrund eines schlecht verheilten Knochenbruchs geplatzt war. Atemu, der ohne die ständigen Duelle und die Suche nach seinen Erinnerungen - und vor allem ohne Yugis konstante Gesellschaft - orientierungslos einen Sinn in seinem neuen Leben zu finden versuchte. Jounouchi, der trotz seiner damaligen Anstellung als Lagerarbeiter nur mühsam das Geld aufbrachte, um die Suchttherapie seines Vaters bezahlen zu können. Honda mit seiner Fernbeziehung zu Shizuka, die zu jener Zeit ein Auslandssemester in Australien absolvierte und ihn um eine kleine Pause gebeten hatte, um entspannter "neue Erfahrungen" sammeln zu können. Die Kaibabrüder, die nie so wirklich zu unserem Kreis gehört hatten, trotz der gemeinsam erlebten Abenteuer, aber mit denen uns doch eine entspannte Bekanntschaft verband. Allerdings nichts, das ausreichte, um einander in schweren Zeiten aufsuchen und Halt oder Unterstützung erwarten zu können. Sie hatten ihren milliardenschweren Konzern zu leiten, ich hatte meinen Stolz.   Jeder Mensch trug eine Mauer in sich, die sein verletzliches Innerstes schützte.   Manche dieser Mauern hatten ein Tor und ihre Herren den Schlüssel, um dieses nach Belieben öffnen und wieder schließen zu können. Die Herren anderer Mauern besaßen diesen Schlüssel nicht, sondern verbrachten ihr gesamtes Leben damit, darauf zu warten, dass jemand Fremdes ihn zu ihnen brachte. Der eine hatte Glück, der andere nicht. Wie das Leben nun mal so spielte. Und dann gab es die, die ihren Schlüssel eigenhändig zerbrachen und die Überreste irgendwo verscharrten, weil sie ihn einfach nicht brauchten. So wie ich. Um mich herum existierten Menschen, denen ich wichtig war und die mich als ihren Freund sahen. Demnach war ich nicht allein. Wozu also meine Mauern öffnen, wenn ich einfach auf sie klettern und meinen Freunden von oben aus zuwinken und mit ihnen reden konnte, wo weder ich ihnen, noch sie mir weh tun konnten? Yoru und Amane waren die einzigen, die es je bis an mein Innerstes heran geschafft hatten. Dass heute keiner von ihnen auch nur in die Nähe meiner Mauern kam, war allein der Verdienst meiner ehemaligen zweiten Seele. Gut möglich, dass er sich dessen voll bewusst und auch noch stolz darauf war. Meinetwegen.   Inzwischen war ich ihm fast schon dankbar dafür. Ich wandte mich vom Fenster ab, um mir einen Tee aufzusetzen. Als ich einige Minuten später mit der wärmenden Tasse in meinen Händen zurückkehrte, war der Spielplatz leer und die Dämmerung hatte die Welt draußen in kühles Zwielicht gehüllt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)