Hollow Day von Umi ================================================================================ Kapitel 4: In Dependence ------------------------ "Heh! Bakura!" Um ein Haar hätte ich Mokuba, der mit einem breiten Lächeln zu mir aufholte, nicht erkannt, so sehr, wie er sich seit unserem letzten Treffen vor gut drei Jahren verändert hatte. Auch vor seinem Aufbruch in die Staaten hatte er seinen Bruder längst in Sachen Körpergröße nahezu eingeholt. Aber sein Teint war blasser gewesen, die Haare länger, sein Körper allgemein weniger muskulös. Am auffälligsten war jedoch sein wacher, aufmerksamer Blick. Er wirkte aufrichtig zufrieden mit sich; eine ungewohnte Kombination mit dem Nachnamen Kaiba. Ich erwiderte sein Lächeln und verlangsamte meine Schritte. "Mokuba! Ich wusste nicht, dass du wieder in Domino bist." Er zuckte mit den Schultern und grinste. "Bin auch erst gestern angekommen."   Ich sparte mir die Frage, warum er so viel eher als geplant zurückgekehrt war. Die Klatschblätter und sozialen Netzwerke waren überfüllt mit Artikeln über seinen Bruder und dessen, wie es schien, zunehmender Unfähigkeit die gemeinsame Firma weiter ordentlich zu führen. Sofern Mokuba noch etwas an der Kaiba Corporation lag, hatte er also keine andere Wahl gehabt, als heimzukommen. Auch wenn er nicht den Anschein erweckte, sich groß an seinem Schicksal zu stören, so tat er mir trotzdem irgendwo leid. Die Zeit im Ausland schien ihm gut getan zu haben. Ich bezweifelte, dass die Leitung der Kaiba Corporation in dem Ausmaß, wie sie zukünftig von ihm verlangt werden würde, das langfristig gesehen auch tun würde.   Lächelte trotzdem weiter. "Und? Wie ist es dir im Land der Freiheit so ergangen? Irgendwas Spannendes erlebt?" Sein Grinsen wurde breiter und ein stolzes Funkeln trat in seine Augen. Dann begann er, mir von seinen Abenteuern jenseits des Pazifiks zu berichten; von den teuren Hotels genauso wie von den Nächten auf dem Rücksitz eines alten Jeeps inmitten der Wüste von Arizona; von Besuchen in den Hauptquartieren einiger der mächtigsten Firmen des Planeten und vom Wiederaufbau von Siedlungen im Hurrikan geplagten, sumpfigen Südosten der Staaten, bei dem er selbst in der prallen Sonne den Hammer geschwungen und Baumaterial geschleppt hatte; von Vorlesungen, die er am berühmten MIT gehalten hatte und von mehreren Monaten, in denen er außer einer Hand voll Schlittenhunde und einem hungrigen Eisbären, der ab und an seine Hütte umkreiste, keine Gesellschaft in der Wildnis von Alaska gehabt hatte. Die Worte sprudelten nur so in jugendlicher Begeisterung aus ihm heraus, doch gleichzeitig ließ es sich nicht ignorieren, wie viel reifer er in der kurzen Zeit geworden. Wann immer das Thema Politik (meistens im Zusammenhang mit deren Versagen) aufkam, verlor seine Stimme keineswegs an Leidenschaft, aber es war deutlich zu spüren, dass er wusste, wovon er sprach.   Er war erwachsen geworden.   Ich freute mich, endlich mal wieder einen interessanten und ebenbürtigen Gesprächspartner zu haben, auch wenn seine Geschichten ein wenig Fernweh in mir auslösten. Aber wahrscheinlich würden wir in Zukunft ohnehin nur selten dazu kommen, uns zu treffen.   Vielleicht auch besser so.   Unsere Unterhaltung fand erst ein Ende, als wir an einem recht hochklassig wirkenden Fahrradladen vorbeikamen, der sich als Mokubas eigentliches Ziel seines Ausflugs in die Stadt herausstellte. Wir verabschiedeten uns, logen uns etwas davon vor, uns baldmöglichst mal wieder zu sehen, dann trennten unsere Wege sich.   Ich erwischte mich bei der Frage, in welche Ecken der Welt es Yoru wohl in den vergangenen Jahren so verschlagen hatte. Und schalt mich innerlich dafür. Ich würde einen Teufel tun und ihn danach fragen. Oder allgemein Interesse jedwelcher Art an ihm, seinem Leben, seinen kruden Gedanken oder auch nur seinem Kind bekunden. Nicht aus geheucheltem Mangel an Neugier, sondern weil er diese Aufmerksamkeit schlichtweg nicht verdient hatte.     Selbstverständlich liefen wir uns wenige Straßen weiter dann auch prompt über den Weg. So als hätten gerade meine Bemühungen, mich nicht mit ihm zu beschäftigen, ihn heraufbeschworen. Wie in den "guten alten Zeiten". Sogar ohne seine Tochter.   Etwas in mir verknotete sich unwillkürlich, als unsere Blicke sich begegneten - vermutlich weil ich erst kurz zuvor an ihn gedacht hatte. Vielleicht auch wegen dieses unheimlichen, ruhigen Lächeln, das über seine Lippen huschte, kaum dass er mich entdeckte. "Hallo, Ryou." Ich würde wohl mich nie daran gewöhnen, seine Stimme diesen Namen aussprechen zu hören. "Hallo, Yoru." Ich bemühte mich gar nicht erst, das Lächeln zu erwidern, und ärgerte mich ein wenig, dass ich nicht ebenfalls auf einen anderen, distanzierteren Namen für ihn zurückgreifen konnte. "Was verschlägt dich hierher? Wohnt ihr in der Nähe?" Die Frage war mir aller guten Vorsätze zum Trotz ganz automatisch herausgerutscht. Andererseits war sie nur fair, immerhin wusste er ja auch, wo ich wohnte. Er schmunzelte leicht und nickte. Dann trat er neben mich, schob sich so nahe an mich heran, dass sein Kopf beinahe meine Schulter berührte, und deutete die Straße hinunter. "Wir wohnen dahinten, da wo früher der Güterbahnhof war. Im alten Stellwerkhäuschen." Ich seufzte und brachte wieder etwas mehr Abstand zwischen uns. War ja klar, dass er selbst mit Kind nicht in einer ganz normalen Wohnung hausen konnte. Yoru war seit jeher unfähig gewesen, irgendetwas normal anzugehen. "Ich dachte, das wollten sie abreißen." "Zu teuer. Die Miete ist dafür umso billiger." Diesmal gelang es mir, mir weitere Fragen - wie in diesem Fall nach seinen Einkommensquellen - zu verkneifen. "Du bist herzlich eingeladen, mal vorbeizukommen. Akari würde sich freuen." Ich schnaubte. "Kann ich mir vorstellen. Vermutlich am meisten über den Inhalt meines Portemonnaies..." Yoru runzelte unzufrieden die Stirn. "Stell dich nicht so an. Wenn du knapp bei Kasse bist, kann ich dir das Geld auch wiedergeben." "Ich will kein Geld von dir. Ich will-" Ich stockte einen kurzen Moment lang, unsicher, wie ich fortfahren sollte. Dann schüttelte ich den Kopf und wandte mich mit einem "Ich will einfach nur wieder von dir in Ruhe gelassen werden" ab, ließ ihn einfach stehen und setzte meinen Weg zum Campus fort.   Er folgte mir nicht. Auch ohne mich noch einmal umzudrehen konnte ich regelrecht vor mir sehen, wie er bloß schweigend die Hände in den Hosentaschen vergrub und mir nachblickte. Vermutlich wieder schmunzelte.   Ich verfluchte ihn.   Weil er irgendwie noch genau derselbe und gleichzeitig ein völlig anderer war.   Weil ich langsam wieder begann, ihn zu vermissen. Zum ersten Mal seit Jahren.   Und allem voran: weil er so verdammt überzeugend darin war, so zu tun, als würde ihm all das - die Rückkehr in diese Stadt, unser Wiedersehen - nicht das Geringste ausmachen.   Zumindest hoffte ich, dass er nur so tat.     Früher fiel es mir leicht, ihn einzuschätzen. Ich konnte zum Beispiel recht gut voraussehen, wann er wieder einmal kurz davor war, etwas Dummes zu tun. Nicht dass ich eine andere Wahl gehabt hätte. Er hatte mir früh beigebracht, dass ich nicht der Herr über mein eigenes Leben war; das einzige was mir blieb, um mich davon abzuhalten komplett daran zu zerbrechen, war mich darauf einzustellen. Sobald ich es geschafft hatte, dass mich sein Auftauchen und seine gelegentlichen Übernahmen meines Körpers nicht mehr erschreckten, war es... nun, nicht unbedingt besser, aber zumindest auszuhalten.   Erst nachdem wir uns meinen Körper nicht mehr teilen mussten, wurde mir so wirklich bewusst, wie groß der Schaden war, den Yoru in mir verursacht hatte. Doch anstatt meine neue Freiheit zu genießen, fühlte ich mich leer und unvollkommen. Yugi vertraute mir einmal an, es wäre ihm ähnlich gegangen, dabei hatte er höchstens eine ansatzweise Vorstellung von dem, was in mir vorging. Wie lange hatten Atemu und er sich einen Körper geteilt? Eineinhalb Jahre? Zwei? Und den Großteil dieser Zeit hatten sie als gleichwertige Partner verbracht.   Yoru war zu dem Zeitpunkt, als ich Yugi kennenlernte, bereits mehr als 10 Jahre ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen und hatte die meisten dieser Jahre damit verbracht, mich emotional zu missbrauchen und unseren, nein, meinen Körper zunehmend respektloser zu behandeln und anderen Leuten regelrecht als Punchingball vor die Nase zu halten. Nachdem er seinen eigenen Körper erhalten hatte, wurde er dann auch selbst handgreiflich.     Bei der bloßen Erinnerung daran begannen meine Hände leicht zu zittern. Ich redete mir ein, es wäre der nass-kalte Herbstwind, und vergrub sie in meinen Manteltaschen.     Vermutlich wäre es das Beste für alle gewesen, wenn ich ihn damals in seiner heruntergekommenen Junkie-Bude hätte verrecken lassen. Aber da war diese dumme kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich an unsere Kindertage erinnerte und daran, wie sicher und, nun ja, geliebt ich mich damals gefühlt hatte, als er noch kaum mehr als ein halbtransparentes Spiegelbild von mir war, dessen einzige Mission es zu sein schien, herauszufinden, was mich zum Lachen brachte, wenn ich mich einsam und fehl am Platz fühlte. Natürlich machte das nicht automatisch alles, was später geschah, wieder gut. Es machte ihn nicht einmal zu jemandem, dem man so etwas wie einen "guten Kern" zusprechen konnte.   Aber es machte ihn zu allem was ich hatte.   Ich hatte keine Familie mehr, nachdem inzwischen auch meine Großeltern gestorben waren, und meine Freunde mochten liebe Menschen sein, aber sie lebten gefühlt in einer völlig anderen Welt als ich. Ich dachte nicht einmal darüber nach wie es überhaupt weitergehen würde, wenn Yoru erst einmal clean war, ich wusste nur, dass ich auf keinen Fall zulassen durfte, dass er mich ebenfalls verließ.   Ich war emotional abhängig von ihm. So wie er es auch von mir war, wie sich mit der Zeit herausstellte.   Vielleicht war es das, was es so leicht machte, zusammen zu bleiben, obwohl der gesunde Menschenverstand eigentlich das genaue Gegenteil nahe legte: Er war der einzige, der meine Abhängigkeit verstand. Mit der Zeit bekam ich sogar den Eindruck, wieder etwas von dem alten Yoru von früher zu sehen, von seinem Hunger nach meiner Zuneigung, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte es sich wieder so an, als wären wir einander ebenbürtig.   Trotzdem dauerte es lange, bis ich nachts nicht mehr von Alpträumen geplagt hochschreckte. Bis ich nicht mehr aus purer Gewohnheit viel zu oft Pflaster und Verbände und Desinfektionsmittel kaufte bis ich irgendwann dazu übergehen musste, das ganze Zeug im Keller zu lagern. Bis ich es überhaupt ertrug, von ihm berührt zu werden, selbst wenn es sich nur um beiläufiges Anstupsen oder das Entfernen einer Fussel aus meinen Haaren, an die ich allein nicht herankam, oder, zu guter Letzt, einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Stirn handelte. Ich vergaß jedoch nie, dass diese Zweisamkeit auf einem Fundament aus Missbrauch, Verzweiflung und Abhängigkeit errichtet worden war, und die Vorstellung, den Rest meines Lebens davon bestimmen zu lassen, mit ihm als einzigen Halt, machte mir einfach nur Angst.   Deshalb Amane.   Deshalb nicht mehr Amane, als die Möglichkeit, sie und er könnten mich eines Tages gemeinsam verlassen, immer wahrscheinlicher schien. Am Ende kam es dann trotzdem dazu.   Ich lernte, auf eigenen Beinen zu stehen und mir selbst genug zu sein.   Scheinbar tat er dasselbe.   Obwohl ich gehofft hatte, dass er der Kaputtere von uns beiden war, der, dem es nicht gelingen würde - oder zumindest der, den es mehr durcheinander brachte, sich plötzlich wieder gegenüber zu stehen. Auch wenn es selbstverständlich war, dass er damit besser klar kam, immerhin war er derjenige, der beschlossen hatte, nach Domino zurückzukehren, wer wusste vor wie vielen Wochen oder gar Monaten schon. Er hatte alle Zeit der Welt gehabt, sich darauf vorzubereiten, während ich von der Situation regelrecht vor den Kopf gestoßen wurde.     Ich seufzte leise und betrat das Universitätshauptgebäude, grüßte im Vorbeigehen ein paar Kollegen und Studenten, und steuerte auf mein Büro zu.     Ich kannte mich. Über kurz oder lang würde ich Yoru und seine Tochter besuchen. Und wenn es nur war um derjenige zu sein, der die Kontrolle über den Zeitpunkt unseres nächsten Treffens hatte. Vermutlich würde ich mir aber einreden, es wäre zum Wohle des Kindes; um sicherzugehen, dass er die Kleine besser behandelte als mich einst. Auch wenn es mir eigentlich egal war. Ich war kein guter Mensch.   Aber sonst hätte ich wohl auch nie so lange überlebt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)