Sechzehn Augen von AnnaBlume (Ein Schulprojekt) ================================================================================ Kapitel 1 --------- „Ist er nicht traumhaft?“ Ich könnte ihn stundenlang so beobachten. Wie er zum Fenster hinausschaut und diesen abwesenden Blick auf hat. Er ist einfach der perfekte Mann. Meine beste Freundin schaut mich etwas verunsichert an: „Äh, Mira, dir ist schon bewusst, dass du so von dem Bruder deines Verlobten sprichst??“. Ach ja, ich bin verlobt. Unsere Eltern haben dies vor vielen Jahren entschieden, hatte wohl etwas mit der Firma meines Vaters zu tun. Übertrieben traditionell. Dabei ist sein Bruder Leon doch viiiiiel süsser!! Hach…das Schicksal hatte es wohl nicht gut mit mir gemeint. Aber dann darf ich doch wenigstens meinen richtigen Schwarm anhimmeln, oder?! Aber schon wieder zieht mich Flavia aus den rosa Wolken: „Sag mal, meinst du, es gibt einen triftigen Grund für das Zuspätkommen vom alten Nussbaum?“ Stimmt! Unser Lehrer ist schon über zehn Minuten zu spät. Das ist mir gar nicht aufgefallen, so verliebt wie ich bin. Ob Herr Nussbaum krank ist? Das wäre natürlich schön für uns, aber es täte mir leid für den armen Kerl. Der war neulich schon etwas verschnupft. „Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um ihn, oder??“, Flavia starrt mich entgeistert an. Sie spricht immer schlecht von unseren Lehrern und der Schule allgemein. Sie hat diesen typischen Bildungshass, der in der Pubertät bei den meisten Jugendlichen auftritt. „Nein, natürlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, ob wir nun wegen des Ausfalls weniger Schule haben, und ich Leon weniger lange ansehen kann“, lüge ich glaubwürdig. Aber von wegen Ausfall! Im selben Moment springt die Zimmertür auf und Herr Nussbaum weht herein – das Hemd immer noch halb aus der Hose hängend. Ich spüre wie ich rot werde. Weshalb hatte er heute keine Zeit, sich ordentlich anzuziehen? Sonst sitzt immer alles picobello und kein Haar steht irgendwie falsch vom Kopf ab. Während ich mir den Kopf über das seltsame Auftreten unseres Lehrers zerbreche, beginnt dieser sich zu entschuldigen und den regulären Unterricht anzufangen. „Vielen Dank!“ Der Würstchenverkäufer lächelt mir noch nach, ehe Flavia und ich um die nächste Ecke biegen. So eine Fleischkost ist zwar nicht gerade das Beste für meine Figur, aber mein Magen liebt sie umso mehr. Immer wenn wir heisse Würstchen zu Mittag essen, gehen wir nachher in den Park und beobachten Jungs. Flavia gefallen meistens die eher schlanken, die, die über ihren dünnen Beinchen Röhrenjeans tragen, damit die steckenartige Figur noch besser zur Geltung kommt. Ich kann das bis heute nicht verstehen, ich mag viel lieber die kräftigen Männer, die stark gebauten – eben die Schränke. Leon gehört auch zu dieser Sorte, man kann die Muskeln unter seinen Hemden förmlich spüren! Er hat bestimmt einen Waschbrettbauch. Schon wieder werde ich rot, doch bevor ich mich von meiner Freundin abdrehen kann, greift diese meinen Arm und zeigt in eine Richtung. Verwirrt folge ich dem ausgestreckten Finger und sehe gerade noch eine unerkennbare Gestalt hinter einem Haus verschwinden. „Wer war das?“, will ich natürlich sofort wissen, so aufgeregt wie Flavia wirkt. „Das…muss Leon gewesen sein!“ „Leon??“ „Ja, es war ganz bestimmt seine Mütze!“ Aber weshalb war er noch hier? Wir hatten doch bereits schulfrei, und normalerweise geht er sofort nach Hause. Wie es wohl bei ihm zu Hause aussieht? Ob er Haustiere hat? Vielleicht eine Katze. Oder einen Hund! Jungs mögen doch Hunde! Flavia meint, wir können doch etwas in dieselbe Richtung gehen, vielleicht sähen wir ja mein ‚Schatzi‘ nochmals. Die hat echt Nerven. Aber sie hat ja recht, ich könnte bei dem Angebot nicht nein sagen! „Hilfe!! Haltet den Dieb! Die Tasche – mein Handy, Hilfe!“ In dem Moment wird Flavia von einer vermummten Person überrannt und stürzt zu Boden. Der offenbare Dieb gerät ins Schwanken, kann sich aber wieder fangen und spurtet weiter – eine rote Handtasche in der Hand. Fluchend rappelt sich Flavia wieder auf, doch kaum steht sie wieder gerade, düst ein kleiner Dackel zwischen ihren Beinen hindurch und geradewegs dem Dieb hinterher. „Was war das denn gerade?“, fragt sie baff, während ich der Dame, deren Handtasche so eben gestohlen wurde, zu Hilfe eile. Diese wirkt etwas verwirrt und faselt unverständlich von ihrem Handy. Ich will gerade antworten, da steht Flavia kerzengerade und blickt gespannt in eine Richtung. Was hat sie nur? Unwohl blicke ich an denselben Punkt, aber ich kann nichts erkennen. Ich will den Mund öffnen und sie fragen, was los sei, da lässt sie meine Frage im Hals steckenbleiben, indem sie kurz angebunden meint: „Da war schon wieder Leon.“ Leon? Was hat dieser Kerl nur am Laufen? Er sollte lieber etwas für die Schule pauken, ich glaube, es steht im Moment nicht so gut für ihn… Aber…wenn es gar nicht Leon war? Wenn Flavia mich nur aufziehen will?? Ich greife nach ihrem Shirt, um sie darauf anzusprechen, doch sie reisst sich sofort los und rennt plötzlich davon. Ich höre sie noch rufen: „Geh du schon mal in den Park, ich versuche herauszufinden, was mit Leon los ist!“ und fühle mich plötzlich ganz leer. Weshalb will sie das herausfinden? Sie weiss doch, dass ich in ihn verliebt bin. Dass ich darauf empfindlich reagieren könnte. Warum tut sie dann sowas? Ich verstehe es nicht. Trübsal blasend setze ich mich auf unsere Bank und beginne endlich, mein Würsten anzuknabbern. Aber es schmeckt nach gar nichts, richtig fad. Irgendwie dreht sich alles. Hätte ich niemals die Liebe zu Leon entdecken dürfen? Ich bin ja schliesslich mit seinem Bruder verlobt. Aber gegen Gefühle kann man doch nichts machen! Beunruhigt blicke ich zur Kirche, die gleich ein paar Meter weiter hinter ein paar Bäumen steht. Ob ich beichten soll? Dann entdecke ich auf meiner Bluse auch noch einen Fleck von der Barbequesauce aus meinem Würstchen! Dieses Mittagessen hätte echt nicht besser kommen können. Doch weiter komme ich mit meinen Gedanken nicht, denn plötzlich höre ich schnelle Schritte und genau im Moment meines Umdrehens sehe ich einen schwarzen Schatten unmittelbar über mir genau auf mich zuspringen und ich schreie. Kapitel 2 --------- Ich fass‘ es nicht. Wie kann sie so von diesem auch noch idiotischen Typen schwärmen, wenn sie doch eigentlich seinen Bruder heiraten muss?? Die hat echt Nerven. Okay, ich mag sie. Sie ist ja auch meine beste Freundin. Aber weshalb das so ist, rafft eh keiner. Wir sind so ziemlich die unterschiedlichsten Mädchen an unserer gesamten Schule. Aber dennoch, wir verstehen uns prächtig. Normalerweise. Nur dieses rosa Brillen-Zeugs geht mir manchmal tierisch auf den Keks. „Äh, Mira, dir ist schon bewusst, dass du so von dem Bruder deines Verlobten sprichst??“ Sie schaut mich vorwurfsvoll an und zieht eine Schnute. War ja klar, dass das einen verletzlichen Punkt treffen würde. Aber es soll ja auch mal in ihren Kopf gehen, wie soll sich denn ihr Verlobter fühlen, wenn sie dauernd von ihrem Bruder spricht? Ich blicke auf die Uhr. Schon 8:46 Uhr. Der Nussbaum ist aber schon reichlich spät dran! Ob die Stunde ganz ausfällt? Dann könnte ich noch die neuen Lieder hören, die ich mir gestern Abend noch hastig auf den iPod geladen habe. Ich sehe Mira immer noch den Jungen anstarren und beschliesse, sie auf andere Gedanken zu bringen: „Sag mal, meinst du, es gibt einen triftigen Grund für das Zuspätkommen vom alten Nussbaum?“ Sie guckt mich wortlos an und scheint nachzudenken. Ihr Gesicht bekommt einen leicht traurigen Ton. Ne, oder?? „Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um ihn, oder??“, frage ich ziemlich entsetzt. Das ist doch wohl nicht ihr Ernst! „Nein, natürlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, ob wir nun wegen des Ausfalls weniger Schule haben, und ich Leon weniger lange ansehen kann“ Sie lügt. Das Ding hat sich tatsächlich Sorgen um unseren Mathelehrer gemacht. Ich meine – MATHE! Das verdient doch noch nicht einmal einen kleinen Gedanken der Sorge! Doch weiteraufregen kann ich mich nicht, denn im selben Moment springt die Tür auf und der Nussbaum stolpert ins Zimmer. Das Haar zerzaust, das Hemd aus der Hose hängend – was war da los?? Hatte er etwa…eine Freundin zu Hause? Wie peinlich! Ich grinse. Ich warte noch darauf, dass Mira ihr Würstchen erhält – dieser Verkäufer braucht ja wirklich lange dafür, ein Würstchen auszuhändigen -, da sehe ich gegenüber unserem Platz eine Person in eine Gasse huschen. Eine mir sehr vertraute Person. Rasch packe ich meine Freundin am Arm, sie muss es doch auch sehen! Doch die guckt nur verwirrt dahin, wo ich eben diesen Jungen verschwinden sah. Sie will wissen, was ich denn habe, und ich offenbare ihr das Unglaubliche: Das war Leon! Der Junge, der immer sofort nach Hause geht, der nichts von den anderen aus der Klasse wissen will, der meine beste Freundin bestimmt abblitzen liesse! Was hat er in einer schmutzigen Gasse wie dieser zu suchen? Da ist doch irgendwas am Laufen. Ich überrede Mira, ein Stück in diese Richtung zu gehen, sie kann ja nicht nein sagen, schliesslich steht sie total auf den Typen. Ich will mehr wissen, ich überlege schon, ihm ganz nachzugehen, doch plötzlich höre ich eine Frau rufen, irgendwas mit Hilfe, und dann werde ich unsanft zu Boden gestossen – ich kann mich gerade noch auf Händen und Knien abfangen. Schnell reisse ich den Kopf hoch, um zu sehen, wer mich gerade umgeworfen hat, und blicke einer vermummten Gestalt nach, die wegen unseres Zusammenstosses humpelnd davon rennt. Mit Schmerzen richte ich mich auf und frage Mira: „Was war das denn gerade?“ Doch sie scheint es nicht gehört zu haben, denn sie hilft gerade der Dame, die geschrien hat. Vermutlich hat diese irgendetwas verloren. Aber kaum habe ich mich ganz aufgerichtet, huscht zwischen meinen Beinen auch noch ein kleiner Rauhaardackel hindurch und springt wild bellend dem Dieb nach. Ein wahrer Gesetzeshüter! Aber mein Grinsen vergeht mir schnell. Da steht schon wieder dieser Leon. Er verbirgt sich hinter einer Mauer und blinzelt um die Ecke, als ob er etwas beobachtete. Schnell leite ich es an Mira weiter. Nun bin ich aber doch interessiert an der ganzen Geschichte. Und als Leon plötzlich hinter der Mauer hervorkommt und in eine Strasse abbiegt, kann ich nicht anders als loszulaufen und meiner Freundin gerade noch ein „Geh du schon mal in den Park! Ich versuche herauszufinden, was mit Leon los ist“ hinterherzurufen. So schnell ich kann, eile ich diesem obskuren Typen hinterher. Immer kurz vor einer Abbiegung bremse ich so leise wie möglich ab und spähe um die Ecke. Aber Leon ist dann schon viel weiter und ich komme kaum noch nach. Ich ringe stärker mit dem Atem, ich muss keuchen – aber ich darf nicht laut sein. Doch dann sehe ich etwas am Boden, das mich abrupt innehalten lässt. Rote Flecken, überall – eine ganze Spur. Eine Blutspur. Hat das mit Leon zu tun?? Oh, nein! Hoffentlich ist ihm nichts passiert! Nicht, dass er mir leid tun würde…doch, eigentlich schon. Ich bin ja nicht unmenschlich! Aber besonders Mira wäre bis an ihr Lebensende unglücklich, und das darf doch nicht sein! Jetzt achte ich nicht mehr gross auf meine Geräusche, ich spurte einfach, so schnell ich kann. Meine Beine kann ich nicht mehr spüren, ich keuche nun ziemlich laut, es ist fast schon ein Husten. Aber die Blutspur hört nicht auf, sie führt mich zwischen vielen engen Gassen hindurch, an modrigen Abfalleimern vorbei und über zersplitterte Bierflaschen. Wo bin ich hier bloss gelandet?? Dann, ich kann Stimmen hören, eine letzte Ecke, und – Kapitel 3 --------- Uh… Was ist los? Alles ist so weich und flauschig…und warm… Ich blinzle. Am Morgen kann ich kaum etwas sehen, einerseits, da ich eine Brille trage und die beim Schlafen nicht aufhabe, und andererseits, weil ich meistens noch ziemlich verschlafen bin. Also reibe ich mir meine Augen, richte mich auf und schaue auf die andere Bettseite. Da liegt sie – mein Engel in Menschengestalt, meine Liebe des Lebens – Ella. Gestern habe ich mich endlich dazu überwunden, sie auf ein Date – oder wie man das eben heute nennt – einzuladen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als sie sofort darauf einging. Ich bin schon eine ganze Weile in diese Frau verliebt, wir sehen uns nämlich jeden Morgen im Tram. Seit ein paar Wochen sitzen wir auch immer nebeneinander und reden über alles Mögliche. So als Lehrer hab ich natürlich viel zu erzählen: Wie meine Schüler so sind, was wir gerade im Unterricht durchnehmen, ob sie sich auch für Mathematik interessiert, und, und, und. Aber auch sie hat kaum geschwiegen, von ihrem Hund erzählt, den sie sich vor kurzem zugelegt habe, dass sie eigentlich neu in der Gegend sei und sich noch nicht so richtig auskenne (und das, obwohl sie nun schon über zwei Monate im gleichen Tram wie ich sitzt!!) und ob ich ihr nicht etwas die Stadt zeigen könne. Hätte ich natürlich sofort getan, wenn ich damals nicht diesen plötzlichen Kloss im Hals gehabt hätte und kein Wort mehr herausbrachte. Und die Tage darauf war ich einfach zu schüchtern, sie nochmals darauf anzusprechen. Bis auf gestern. Allerdings hab ich ihr weder die Stadt noch sonst was zeigen können, kaum stand ich vor ihrer Haustür, um sie abzuholen, da ist sie mir um den Hals gefallen und hat begonnen, mich zu küssen! Einfach so! Danach sind wir dann nicht viel weiter gekommen als bis zu meinem Haus, wo wir nach ein paar Glas Wein nach oben…. „WAAAAAAAAAAS??? Schon SO spät?? Ach du meine Güte, ich bin viel zu spät, in sechs Minuten müsste ich in der Schule sein und Unterricht geben! Hilfe, ich bin viel zu spät!!!“ So gestresst wie noch nie springe ich aus dem Bett, falle beinahe über den Hund, der sich auf dem Fussboden zusammengerollt hatte, greife im Schrank nach irgendwelchen Hosen und versuche mit Lichtgeschwindigkeit hineinzuschlüpfen. Was ordentlich schief geht. Zuerst hab ich sie falsch herum an, dann falle ich beinahe wegen mangelnder Balance um und reisse schlussendlich auch noch eine Halterung für den Gürtel ab. So ein Mist. Da raschelt es plötzlich im Bett und Ella dreht sich zu mir um „Schatz, was hast du denn? Komm doch wieder ins Bett.“ „Ich kann nicht! Ich muss zur Arbeit und bin viel zu spät, ich hätte schon längst dort sein müssen!“, drücke ich mühsam zwischen dem ungetoasteten Toastbrot und meinen Zähnen hindurch. Ich schaue auf die Uhr, 8:36 Uhr. Die Klasse sitzt schon im Zimmer. Sollte sie zumindest. Und ich bin immer noch hier. Die werden nun bestimmt das Gefühl haben, auch jeden Tag zu spät kommen zu dürfen! So ein Mist, so – ein – Mist! Noch schnell meine Jacke überziehen, die Tasche schnappen und weg bin ich. Keine Zeit für einen Abschiedskuss. Wie schade. Zum Glück erwische ich gerade noch das 8:40Uhr Tram und bin vier Minuten später unten am Schulhaus. Obwohl es noch recht kühl ist, schwitze ich vor lauter Treppenlaufen, weshalb mein Klassenzimmer auch ausgerechnet im obersten Stock sein?? Dann, endlich, um 8:47Uhr reisse ich die Tür auf und die Klasse glotzt mich resignierend an. Die haben wohl gedacht, die Stunde falle aus! Etwas verunsichert und mit hochrotem Kopf schliesse ich die Tür hinter mir und trete an meinen rechtmässigen Platz vor der Wandtafel. Eine gute Viertelstunde zu spät. Endlich fertig. Erschöpft von diesem turbulenten Morgen mache ich mich am Mittag auf zum Würstchenstand. Da gehe ich eigentlich jeden Mittwoch hin, wenn ich nachher keinen Unterricht mehr zu geben habe. Der Verkäufer kennt mich mittlerweile schon und ist ein sehr freundlicher Mann. Und seine Würstchen sind einfach köstlich. Ich schicke gerade noch eine SMS an Ella, um ihr zu beschreiben, wo das Museum ist, in der wie uns heute Nachmittag treffen wollen, da sehe ich etwas sehr Unerfreuliches. Der Würstchenstand steht zwar an seinem Platz wie sonst auch, doch leicht verschoben und ziemlich schwarz überall. Die Plache, die normalerweise über dem Stand aufgehängt ist, liegt mit Löchern im Gras daneben, und der Verkäufer sammelt ein paar Würstchen vom Boden auf. „Was ist denn hier passiert?“, frage ich entsetzt und beginne, dem Mann beim Einsammeln zu helfen. Etwas bedrückt antwortet dieser: „Da kam dieser Junge, der ein Würstchen umsonst haben wollte. Ich hab ihm natürlich keins gegeben, Sie wissen ja, wie knapp ich bei Kasse bin. Dann hat der einfach meinen Gasherd getreten und gewütet, bis der ganze Stand gebrannt hat! Natürlich ist er dann sofort weggelaufen. Aber gleich darauf kam ein anderer Junge, der mir beim Löschen des Feuers half, als hätte er das Ganze beobachtet. Leider hat er sich dabei verbrannt. Und danken konnte ich ihm auch nicht, denn er ging gleich darauf wieder weiter.“ Das scheint ja so, als wäre ich nicht der einzige, dem ein ziemlich ungemütlicher Morgen beschert worden ist! Wobei mir eine Viertelstunde weniger Arbeit doch etwas angenehmer zu sein scheint als ein brennender Herd. Als die ganze Fleischkost aneinander gereiht und kohlenschwarz auf dem nun wohl defekten Herd liegt, verabschiede ich mich hungrig vom Verkäufer und mache mich auf zum Museum. Um etwas anderes essen zu können, reicht meine Zeit nicht mehr aus. Dort angekommen, warte ich auf Ella. Minuten vergehen, der abgemachte Zeitpunkt kommt, weitere Minuten vergehen. Ella kommt einfach nicht. Hat sie etwa die SMS nicht gelesen? Ich lehne mich mittlerweile am Eingangstor an, meine Beine sind noch etwas müde vom morgendlichen in-die-Schule-Sprinten. Doch plötzlich – Ella hätte schon vor einer halben Stunde hier eintreffen müssen – höre ich schnelle Schritte, irgendwo hinter dem Gebäude. Es scheint, als wären da in unterschiedlichen Zeitabschnitten drei Personen an denselben Ort gerannt, ganz in meiner Nähe. Aber als chronischer Angsthase traue ich mich nicht nachzusehen und lausche einfach weiter. Ich strenge meine Ohren an und kann tatsächlich noch ein Geräusch wahrnehmen. Es hört sich an wie das Aufklatschen eines Gegenstandes. Was das wohl sein mochte? Ich bemerke meine Geliebte erst, als sie komplett ausser Atem und unmittelbar neben mir steht und mich geradewegs anbrüllt: „Sören! Hast du meinen Dackel gesehen??“ Kapitel 4 --------- Nach dem entsetzten Schrei von der anderen Seite des Bettes bin ich natürlich hellwach. Eigentlich. Aber ich glaube, gestern habe ich etwas zu viel getrunken, denn ich spüre eine unangenehme Übelkeit und Lustlosigkeit und möchte nicht wirklich meine Augen öffnen. Aber als ich ein Jaulen meines Hundes und ein späteres Fluchen des Mannes höre, den ich, schon seit ich ihn das erste Mal gesehen habe, liebe, wälze ich mich leicht widerwellig auf die andere Seite und frage ihn, ob er nicht wieder ins Bett kommen wolle. Aber er scheint keine Zeit zu haben, er faselt etwas von zu spät und Schule. Zum Glück ist heute Mittwoch – das glaube ich zumindest -, da hab ich immer frei. So eine 75%-Stelle hat schon ihre Vorteile. Vermutlich bin ich wieder eingeschlafen, denn als ich endgültig aufstehen will, ist Sören nicht mehr da und Fido steht schwanzwedelnd an meinem Bett und sabbert. Das macht er immer, wenn er Hunger hat. Also erbarme ich mich seiner und öffne eine Dose Hundefutter, noch bevor ich mich anziehe. Ich hab immer eine dabei, da ich meinen Hund auch immer dabei hab. Weshalb ist eigentlich der Hund auch hier? Ich kann mich nicht so genau an den vergangenen Abend erinnern. Aber vermutlich habe ich ihn mit zum Date nehmen wollen. Als dann allerdings Sören vor meiner Tür stand, konnte ich einfach nicht widerstehen. Ach, mein Sören! Er ist ja so zum Anbeissen! Nach einem kurzen Frühstück und einer erfrischenden Dusche nehme ich mein Hundchen an die Leine und gehe nach draussen. Da schon fast Mittag ist (ich habe wohl ziemlich lange geschlafen), nehme ich gleich alles für den späteren Museumsbesuch mit meinem Schatz mit: Meine Handtasche mit dem Handy, weil Sören mir den Weg noch beschreiben sollte, und Geld für die Eintrittskarte. Und natürlich eine Packung Hundeleckerli. Ich bin schon sehr gespannt, Sören hat nämlich schon lange von diesem Museum geschwärmt. Immer am Morgen im Tram. Oh, er war immer so süss, wenn er jeweils rot wurde, sobald ich an meiner Haltestelle einstieg. Nicht weit von der Wohnung entfernt entdecke ich einen Park, der meinem Fido gut gefallen könnte. Wir schlendern an einem kleinen Teich mit Enten vorbei, machen kurze Rast auf einer Bank und gehen dann weiter in Richtung der Kirche. Auf dem Weg dahin entdecke ich einen Würstchenstand und da ich nur ein Brötchen in mich gedrückt habe, knurrt sogleich mein Magen. Auch mein Dackel scheint den Geruch dieser Köstlichkeiten wahrgenommen zu haben und zerrt mich wie wild zum Stand. Der Verkäufer scheint sehr offen zu sein, er beginnt gleich ein Gespräch: „Oh, was für ein nettes Hundchen Sie da haben. Was ist denn das für eine Rasse? Darf er ein Bissen von einem Würstchen haben?“ So viele Fragen, ich versuche, ihm die Rassenfrage zu beantworten, eine Mischung aus Rauhaardackel und Zwergrehpinscher. Aber er hat viel mehr von seiner Rauhaarmutter, weswegen viele ihn als normalen Dachshund ansehen. Und ja, er dürfe einen Bissen, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist. Ich hab ja immer das richtige Hundefutter dabei. Aber ich kann diesem Kerl diese Bitte nicht abschlagen, er guckt ja selbst wie ein Hund! Also bekommt Fido ein ganzes Würstchen (ich hätte vielleicht doch besser abgelehnt) und freut sich wie ein Schnitzel. Ich bedanke mich überschwänglich bei dem Verkäufer, scheinbar etwas zu gekünstelt, denn er bekommt einen leicht unsympathischen Blick, und gehe weiter. Auf einmal spüre ich mein Handy in der Tasche vibrieren. Ah, mein Sören hat mir wohl geschrieben, wie ich das Museum finde! Ich will soeben das Telefon ergreifen, da reisst mir urplötzlich jemand mit enormer Kraft die Tasche aus der Hand. Ich stehe erst nur blöd da und verstehe nicht, aber dann merke ich, was eben passiert ist. Meine Geldbörse – weg. Mein Handy – auch weg. Ich werde nie das Museum finden! Und auch das Hundefutter ist dahin! Endlich rufe ich, so laut ich kann, um Hilfe. Weiter vorne kracht der Dieb plötzlich mit einem von zwei Mädchen zusammen, bleibt aber nicht stehen und humpelt weiter. Dann zieht Fido mit aller Kraft an der Leine und kann sich losreissen. Vor Schreck gehe ich auch ihm nicht nach, doch dafür wäre es nun auch schon zu spät. Mein Hund sprintet zwischen den Beinen des gefallenen Mädchens hindurch und geradewegs dem Dieb hinterher. Ich muss wohl etwas verstört aussehen, denn das andere Mädchen kommt auf mich zu und fragt, ob sie mir helfen könne. „Mein Handy…ich brauche die Tasche! Und Fido ist auch weg!“ Etwas hilflos guckt sie mich an. Als ob sie mir helfen könnte. Ich bedanke mich für die angebotene Hilfe und mache mich auf in die Richtung, in die der Dieb verschwand. Laufend wäre ich nicht schnell genug, da kann ich genauso gut gehen. Aber wie soll ich meinen Hund wieder finden? Geschweige denn die Tasche? Was ist das nur für ein Tag, dabei hat er so gut angefangen! Etwas verloren fühle ich mich an einer Kreuzung wieder. Wo soll ich nun durchgehen? Ich entschliesse mich für rechts, aber ob das der richtige Entscheid war? Ich habe keine Ahnung mehr, wo ich bin, ich wandere alleine durch Gassen und meinen Dackel kann ich auch schon lange nicht mehr hören. So ein Desaster. Doch plötzlich, ich habe kurz von meinem resignierten Kopfhängenlassen aufgeblickt, entdecke ich etwas Rotes keine zehn Meter mehr von mir entfernt am Boden liegen. Ist denn das die Möglichkeit? Das sieht ja fast so aus wie meine Tasche!! So schnell mich meine fast schon eingerosteten Beine von null auf hundert beschleunigt tragen, düse ich auf den Findling zu. Und tatsächlich, ich gucke geschwind den Inhalt an und stutze. Alles ist noch drin! Ob der Dieb irgendwelche Probleme bekam? Aber Fido…ist ja immer noch weg! Hoffentlich finde ich ihn wieder…er ist noch so jung. Nur – wie soll ich das anstellen? Ich weiss ja nicht einmal mehr, wo ich selbst bin! Doch dann höre ich etwas und sehe, was fast noch unmöglicher ist als die Tasche vorhin. Sören. Natürlich laufe ich sofort auf ihn zu und würde ihn am liebsten umarmen. Aber weil mir Fido viel wichtiger ist, frage ich gleich hoffnungsvoll: „Sören! Hast du meinen Dackel gesehen??“ Aber Sören, etwas beleidigt, weil ich offenbar zu spät bin, verneint. Ich will ihm natürlich sofort meine abenteuerliche Geschichte erzählen, da ertönen plötzlich von weit her ein lauter Schrei und gleich darauf ein unaufhörliches Gebell. Kapitel 5 --------- Ich gucke auf die Uhr – ach nein, jetzt ist meine kurze Mittagspause schon vorbei. Dabei ist erst elf Uhr, ich werde in zwei Stunden schon wieder Hunger haben. Aber wenn man einen Beruf hat, der vom Hunger der Kunden abhängt, kann man eben nicht auf den eigenen schauen. Ich erhebe mich also von der kleinen Bank neben der Kirche und werfe die vom Sandwich übriggebliebene Klarsichtfolie in den Abfalleimer und beginne, meinen Würstchenstand aufzubauen. Jap, ich bin Würstchenverkäufer. Das ist keineswegs ein schlechter Beruf, oder einer, bei dem man nichts verdient. Hier im Park läuft das Geschäft sehr gut, alle mögen meine Würstchen und wissen, dass ich immer da bin. Ich habe sozusagen meine Stammgäste. Ein gutes Beispiel bilden die zwei jungen Mädchen, die jeden Mittwoch zu mir kommen und auch jetzt wieder schon vor meinem Stand stehen, beide mit hungrigen Gesichtern. Sie bekommen jedes Mal dasselbe, die Blonde ein Würstchen mit Barbequesauce, die Schwarzhaarige eines mit normalem Ketchup. Es ist immer schön, so den Arbeitstag anfangen zu können! Ich packe also gerade meine restliche Ware aus ihren Plastiktüten aus und lege sie auf den Grill, da kommt eine junge Frau mit einem Dachshund herbeigelaufen. Sie sehen beide etwas hungrig aus – besonders der Hund macht grosse Stilaugen. Der soll was von mir kriegen, aber erst will ich mit seinem Frauchen plaudern. „Oh, was für ein nettes Hundchen Sie da haben. Was ist denn das für eine Rasse? Darf er einen Bissen von einem Würstchen haben?“ So. Erst mal mit Fragen überhäufen. Dann bleiben die Leute auch und kaufen später mit Garantie ein Würstchen. Die Dame sieht etwas überrumpelt aus, erklärt mir, dass der Hund eine Mischung aus Rauhaardackel und Zwergrehpinscher sei, und bejaht meine Würstchenfrage. Ich strecke dem Hund also ein ganzes Würstchen vor die Nase, welches er sogleich schnappt und mit schnellen Bissen vertilgt. Sein Frauchen wirkt davon nicht sehr begeistert, vielleicht wäre ein halbes besser gewesen. Die Frau bedankt sich einige Male und…geht? Kein Würstchen von Reiner? Das macht mich wütend, ganz ehrlich! Das gibt es doch nicht! Jetzt war ich so grosszügig mit ihrem Hund und diese Person kauft nicht mal ein eigenes Würstchen? Auch das von ihrem Tier hat sie nicht bezahlt! So eine Frechheit! Also die wird bei mir bestimmt keine Stammkundin, dafür sorgte ich schon! Ich verdränge gerade die letzten bösen Gedanken – als Warenanbieter sollte man ja schliesslich freundlich aussehen – da kommt ein Junge direkt auf meinen Stand zu. Er scheint ein wenig gestresst zu sein, als hätte er es eilig. Und er stiert richtig auf meine Würstchen. Der sabbert ja schon fast! Unglaublich, so lecker haben sie noch nie auf jemanden gewirkt. Ich will also gerade fragen, ob er denn eines haben möchte, da kommt er mir zuvor: „Hey, Kumpel, kann ich eins deiner Würstchen haben?“ Kumpel. Ich hasse dieses Wort. Ich bin doch niemandes Kumpel! Schon gar nicht der eines hungrigen Jungen. Aber bitte, ich kann ja nur davon profitieren. „Klar, eins kostet vier fünfzig“ Ich bemerke, wie sich das Gesicht des Typen verfinstert. Scheinbar habe ich mit meinem Ton seinen Geschmack verfehlt. „Nein, Mann. Ich meinte umsonst. Ich hab gerade nichts Bares dabei und bin eh knapp bei Kasse“ Das gibt mir den Rest. Erst diese Frau und nun das? Einfach so? Ich hab schon ein Würstchen verschenkt; An den Hund, der dort drüben läuft. Kannst es dir ja holen! Beinahe hätte ich das laut gedacht. Aber ich kann mich etwas zusammenreissen und meine höflich: „Umsonst gibt es bei mir nicht. Nur bei süssen Hunden. Such dir lieber einen Job, damit du dir deine Würstchen verdienen kannst“ Doch das hätte ich besser nicht gesagt, denn nun wird der Typ mächtig sauer. Erst beleidigt er mich und dann beginnt er, auf meinen Stand einzutreten. Mit den Füssen direkt in den Ofen, die Würstchen fallen nacheinander ins Gras, mein Wagen wird immer verbeulter, der Junge immer wütender. Ich stehe einfach nur stockstill da und verstehe nicht, was da abläuft. Plötzlich fängt mein Grill Feuer, wir beide erschrecken und der Junge rennt davon. Dann realisiere ich, was da gerade vor mir passiert, und versuche so schnell wie möglich mit der Plache vom Stand die Flammen zu bedecken und zu löschen. Es ist heiss und ich schaffe es nicht, das Tuch über die ganze Flamme zu werfen. Wie gerufen taucht plötzlich ein anderer Junge neben mir auf und hilft mir. Er greift nach der Plache und hievt sie über das Feuer und drückt sie fest nach unten, bis es erlischt. Wie von einem Engel gerettet starre ich ihn an, ich will mich bei ihm bedanken, doch ich erstarre. Schmerzverzerrt presst er die eine Hand auf den anderen Arm. Er muss sich verbrannt haben! Ich muss mich entschuldigen! Vielleicht habe ich irgendwo noch Verbandszeugs, doch er lässt mich nicht suchen. „Entschuldigen Sie bitte“ Was war das denn gerade? Perplex glotze ich ihn an. Weshalb entschuldigt er sich? Ich bin doch eigentlich der Grund für seine Schmerzen! Aber weiter denken lässt er mich nicht, indem er auf einmal wieder davonläuft. Genauso unscheinbar, wie er gekommen ist. Gerade sammle ich noch die letzten Würstchen auf, da kommt Herr Nussbaum vorbei. Er ist auch einer meiner treuen Stammkunden, aber ich denke, heute werde ich ihn enttäuschen müssen. Schliesslich liegt ja das ganze Fleisch auf dem Boden. Etwas verwirrt kniet er sich neben mich und hilft mir beim Einsammeln. Die Güte in Person! Natürlich will er gleich wissen, was geschehen ist. Ich berichte ihm von meiner seltsamen und zugleich gefährlichen Geschichte. Der Mann scheint es nicht glauben zu können. Ich ja ebenso nicht! Als er dann erfährt, dass ich leider keine weiteren Würstchen auf Lager habe und er scheinbar verzichten müsse, verabschiedet er sich etwas enttäuscht. Ich lasse meine Kunden nur ungerne mit leerem Magen wieder gehen. Was soll ich nun tun? Einfach alles zusammenpacken und nach Hause fahren? Bleibt mir ja eigentlich nichts anderes übrig. Eben will ich den Wagen wegfahren, da entdecke ich unter dem Gefährt noch ein letztes, durchgebratenes, rostbraunes Würstchen. „Das sieht ja perfekt aus!“ Voller Glück setze ich mich auf den Boden, hebe den Retter meines Tages auf und beisse zufrieden hinein. Kapitel 6 --------- Dämmerung. Ich bin noch müde. Nicht aufstehen. Nun ist da mehr Licht, also die Augen auf. Aber es ist hell! Mama soll auch aufwachen, ich hab Hunger. Jetzt! Mal da reinbeissen. Das ist flauschig. Ziehen! Nützt nichts. Sie hat genug warm ohne. Einfach warten? Will nicht. Los jetzt. Aufstehen! Hat keinen Sinn. Also nochmals hinlegen. Meinetwegen. Au! Was ist das? Es bewegt sich! Schnell! Und sieht so…zum Anknabbern aus! Soll ich? Lieber nicht, Mama wollte es nicht. Denke ich. Aber lecker! Ich hab ja Hunger! Mama? Mama mach! Endlich. Das andere Ding ist auch weg. Zum Glück! Sonst hätte ich doch davon probiert. Das ist lecker! Richtig lecker! Viel besser, als das andere. Vermutlich! Wann gehen wir raus, Mama? Jetzt? Bitte! Au ja, es ist offen! Schneller, Mama! Das riecht gut. Wirklich gut! Davon will ich was. Ob Mama das zulässt? Wäre schön! Mal brav hinsetzen und Ohren schräg stellen. Das hilft immer. Mama lässt es zu! Ich bekomme was davon. So viel! Wow! Das gab es noch nie. Heute ist ein schöner Tag! Schade. Schon fertig. Ob wir nochmals zurückkönnen? Sieht nicht so aus. Da scheint es heiss zu sein! Ich will nicht zurück. Da kommt wer. Direkt auf mich zu! Knurren! Geh weg! Mama, siehst du ihn nicht? Mama!! Mama, der hat was genommen! Mama, geh ihm nach! Mach doch, Mama! Tut mir leid, dann geh ich! Schnell, schnell, schnell! Wo ist er? Er soll bezahlen. Hier? Nein. Da vielleicht! Auch nicht. Gleich dort drüben? Ah! Da ist einer. Ob es derselbe ist? Weiss nicht. Vielleicht? Egal! Einfach drauf los! Festbeissen und dranbleiben. Jawohl! Es fliesst! Ich mag es nicht. Aber es wirkt! Er will nicht mehr, schlägt aus. Das tut weh! Ich muss loslassen. Tut mir leid, Mama. Ich hab es nicht gefunden. Aber er hat das verdient. Und auch bekommen! Ich bin gut. Da riecht es schon wieder lecker! Den Geruch kenne ich irgendwie. Einfach mal nachgehen! Hier auch…und da…und dort…wieder hier…einen Bogen machen…ich komme näher! Gleich bin ich da! Ich kann es spüren. Da vorn? Ich meine ja! Drauf los! Drei, zwei, eins… JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!! Mhh, ist das lecker. Noch mehr, mehr! Es scheint zu kitzeln. Das macht Spass! In der Nähe läutet es, bestimmt wegen meines Triumphes! Mnjam! Da klebt auch noch was. Und hier – das ist ja fantastisch! Das Gleiche, wie ich heute schon mal bekommen habe. Welch ein Glück! Schnell runter damit. Oh, da kommt Mama! Und das Ding von heute Morgen, ob ich jetzt probieren darf? Wir gehen? Das ist traurig! Dabei hab ich noch nicht alles aufgeleckt. Bis zum nächsten Mal, schmackhaftes etwas! Was für ein aufregender Tag! Kapitel 7 --------- Heute ist es. Heute muss ich’s tun. Ich habe mich so lange darauf vorbereitet – körperlich und psychisch. Aber verdammt nochmal, weshalb hab ich solche Angst?? Es ist doch nichts wirklich Schlimmes, niemand wird zu Schaden kommen! Aber trotzdem mache ich mir fast in die Hosen. Und ausserdem ist es ganz schön kalt, so früh am Morgen. Normalerweise braucht der auch nicht so lange. Was ist nur los? Ob ich mal ins Fenster schauen soll? Nee, dann müsste ich das Rohr, das zur Dachrinne führt, hochklettern, was ja nicht ganz ungefährlich ist. Also warten. Wie schon seit über einer Stunde. Ich friere mir bestimmt noch irgendwas ab, eine Zehe oder einen Finger zum Beispiel. Wenn der sich mal nicht beeilt! In diesem Augenblick höre ich eine Tür aufgehen. Das muss die Haustür gewesen sein! Leise pirsche ich mich um den Busch, hinter dem ich mich versteckt habe, und schaue dem Mann nach, der wild über die Strasse zur Tramhaltestelle hechtet. Der hat es anscheinend ganz schön eilig! Für mich heisst das nun: Es ist Zeit. Ich husche zum Eingang und zücke eine auseinandergezogene Büroklammer hervor. Ich weiss, dass das klappt, ich habe es schon vor ein paar Tagen ausprobiert. Also Klammer ins Türschloss, rumhantieren bis es ‚klick‘ macht, und rein ins Haus. Der Nussbaum wohnt im obersten Stock, das ist nicht schwierig herauszufinden, da der Kerl abends oft auf seinen Balkon geht und etwas liest. Schnell die Stufen hoch, nicht zu laut, damit die Nachbarn nicht aus ihren Wohnungen kommen und mich sehen. Gleich bin ich da, noch ein letzter Absatz, da – „Wuff!“ Ein Hund?! Seit wann hat der Nussbaum einen Hund?? Das hätte mir doch auffallen müssen, so, wie ich ihn die letzte Zeit intensiv beobachtet habe. Komisch…und vor allem ist es jetzt nicht mehr sicher für mich! Wenn da noch jemand drin ist? So ein Mist! Vorsichtig und auf Zehenspitzen nähere ich mich der Tür – da sehe ich sie: Zwei rotlackierte Stöckelschuhe gleich neben den anderen Männerschuhen. Der Alte hat doch tatsächlich eine abgeschleppt!! Aber das bedeutet für mich, dass ich noch länger warten muss. Bereits jetzt ist mir diese Frau bis aufs Äusserste unsympathisch. Also wieder nach draussen und frieren! Es ist bereits halb zwölf, und noch immer ist nichts passiert. Diese Frau macht mich wahnsinnig! Muss die nicht arbeiten?? Bald kommt bestimmt der Nussbaum zurück, es ist ja Mittwoch. Was soll ich tun? Diesen ganzen Stress halte ich keinen Tag mehr aus, es muss heute sein. Ausserdem hab ich auch kaum mehr Zeit, denn wenn das so weitergeht, dann…. Ich muss handeln!! Genau in dem Moment hat anscheinend die Liebhaberin des Lehrers gleich wie ich gedacht, denn plötzlich kommt sie aus dem Haus, den Hund – offensichtlich einen Dackel – an der Leine. Auf einmal kribbelt es überall in mir. Aufgeregt blicke ich auf meine Uhr. Zwei Minuten nach halb zwölf. Was soll ich jetzt tun? Trotzdem in die Wohnung einbrechen? Ich brauche schliesslich das Geld. Aber wenn der Nussbaum zurückkommt und mich erwischt, dann ist es aus, dann habe ich keine Zukunft mehr! Dieses Miststück von Weiblichkeit hat mir den ganzen Plan zur Sau gemacht! Sie und ihr Scheissköter! Die Wut steigt mir zu Kopf und ich beschliesse, der Frau nachzugehen. Warum? Weil sie büssen soll! Und ausserdem trägt sie eine rote Tasche in der Hand, da könnte auch etwas Geld drin sein. Hoffentlich genug. Schon eine Weile habe ich sie nun schon verfolgt, aber ich kann mich nicht dazu überwinden, etwas zu tun! Und damit meine ich etwas Richtiges. Etwas, das mich weiterbringt! Plötzlich sehe ich, wie die Frau an einem Würstchenstand Halt macht. Würstchen… Das ruft mir wieder den leeren Magen in Erinnerung, den ich seit gestern Abend mit mir herumschleppe! Oh, wie wäre das lecker, jetzt eines dieser Würstchen kauen zu können. Ja, nur ein Bissen wäre schon beinahe göttlich! Aber ich habe kein Geld. Nachdem Frau und Hund weitergegangen sind, gehe ich trotzdem auf den Stand zu – ich kann ja mal mein Glück versuchen. Ich frage den Verkäufer, ob ich nicht eines dieser Leckerlis haben könne. Aber als Antwort bekomme ich nur einen Preis – einen Preis, den ich wirklich nicht zahlen kann! Das macht mich wütend und ich bekomme offensichtlich einen unfreundlichen Ton: „Nein, Mann. Ich meinte umsonst. Ich hab gerade nichts Bares dabei und bin eh knapp bei Kasse“ Aber dieser Idiot wird einfach sauer und macht auf stur, dabei habe ich doch so Hunger! Ich kann es nicht fassen. Es wäre doch nur EIN Würstchen gewesen. Na, das kann er sich jetzt sonst wo hinstecken. Ich trete wild von der Wut geritten auf das Gefährt mit dem Grill ein, der Alte glotzt mich nur dumm an. Das hat er auch verdient! Doch plötzlich beginnt dieser verdammte Grill an zu brennen! Mit einem Mal ist es ganz heiss, und ich muss schauen, dass ich wegkomme. Für Krankenhaus oder Polizei habe ich weder Geld noch Zeit. Ausserdem hätte ich beinahe mein Opfer verloren! Die aber ist immer noch nichtsahnend ein paar Meter von mir entfernt. Doch jetzt ist Schluss. Ich hab meinen Entschluss gefasst, genug Mut gesammelt, und renne los – direkt auf sie zu. Mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, reisse ich ihr ihre blöde rote Tasche vom Arm und jage meine Beine quer über den Platz. Ich wage einen kurzen Blick zurück, die Tante hockt schreiend auf dem Boden. Gerade will ich mich selbst bejubeln – schliesslich habe ich es fast geschafft – da stosse ich mit jemandem zusammen, kann mich kaum noch aufrecht halten, torkle unsicher weiter. Doch ich muss mich beeilen! Ich darf nicht geschnappt werden! Gleich um die Ecke, dort führt eine unbelebte Gasse hinter das städtische Museum, dort wird mich niemand finden, da kann ich erst mal rasten. Immer noch im Eiltempo haste ich zwischen den Häusern vorbei, Kurve um Kurve, eine Ecke nach der anderen. Doch dann höre ich plötzlich schnelle Schritte, ja fast schon Schrittchen. Gerade will ich mich umdrehen, da durchfährt mich ein stechender Schmerz. „Aaahhh!“ Ich klappe zusammen. Was war das? Irgendetwas hat mich in die Wade gebissen! Ist mir dieser verfluchte Köter nachgelaufen? So ein Scheiss! Ich betrachte die Wunde – das Blut fliesst wie ein Wasserfall. Aber ich habe keine Zeit, mich zu verarzten, ich muss schnell weiter. Es ist gleich um die Ecke – endlich. Ich will mich gleich auf den Boden fallen lassen und durchatmen, da springt urplötzlich eine Person von einer der Kisten in meiner Nähe vor mir auf den Boden und ruft: „Gib die Tasche zurück!“ Kapitel 8 --------- Er ist spät dran. Aber doch nicht etwa wegen…? Bestimmt nicht. Gleich ist er da. Die Stimmung im Klassenzimmer ist laut, alle hoffen, dass unser Lehrer krank ist, und die Stunde ausfällt. Da werden sie bestimmt enttäuscht sein, wenn sie ihn gleich kommen sehen. Ich wende mich vom Fenster ab und setze mich an meinen Platz. Im nächsten Augenblick platzt Herr Nussbaum herein, das Hemd aus der Hose hängend und mit völlig verstrubbeltem Haar. Was für ein Anblick! Also wohl doch nicht deswegen. Alle sind bereits gegangen, auch Herr Nussbaum. Was Dennis wohl gerade macht? Als hätte ich damit zum Schicksal selbst gesprochen, sehe ich ihn. Was er bloss vorhat? Ich gehe ihm besser gleich nach. Da vorne sind Mira und Flavia. Die sollten mich lieber nicht sehen, wenn ich mich hier so geheimnistuerisch verstecke. Während die beiden beim Würstchenverkäufer ihr Mittagessen kaufen, kann ich Dennis gut beobachten. Er scheint auch zu schleichen, gleich hinter dem Baum in der Nähe der Kirche. Auch er sollte mich besser nicht sehen. Wovor versteckt er sich? Dann kommt eine Frau mit einem Dachshund und einer auffällig roten Tasche vorbei – auch sie geht zum Würstchenstand. Doch - was ist das? Dennis scheint sie zu verfolgen! Aber weswegen? Ich habe sie noch nie gesehen! Was ist nur los mit ihm? Ich sehe zu, wie die Frau weitergeht und er nun zum Würstchenverkäufer huscht. Er scheint etwas zu wollen. Ich verstehe das alles nicht! Ich kann mir gar keine Gedanken mehr dazu machen, denn plötzlich brennt der ganze Stand! Was ist da los?? Dennis rennt davon, der Verkäufer versucht offensichtlich, das Feuer mit der Plache zu löschen, aber es klappt nicht. Ich muss handeln. So schnell, wie ich kann, eile ich zum Feuer, nehme dem Mann das Tuch aus der Hand und lege es über die Flammen. Ohne Schmerzen geht es aber leider nicht, mein linker Arm scheint ordentlich was abbekommen zu haben. So ein Mist. Und das nur wegen dieses Dennis‘! Ich entschuldige mich hastig beim Verkäufer, der nicht versteht und mich nur dumm anglotzt – aber Zeit für Erklärungen habe ich keine. Ich muss Dennis wiederfinden! Ich blicke über den Platz und sehe die Frau von vorhin – ohne Hund und ohne Tasche. Oh, nein. Dummerweise stehen da auch noch die beiden Mädchen aus meiner Klasse, und in dem Moment schaut Flavia zu mir rüber. Schnell verschwinde ich mich hinter dem nächsten Baum. Das war ziemlich auffällig. Aber schon denkt es in meinem Kopf weiter. Wo könnte Dennis hingehen, wenn es brenzlig für ihn wird? Wenn er wirklich schon alles aufgegeben hat? Da fällt mir ein Ort ein, der sogar ziemlich in der Nähe liegt. Dennis hat mir einst davon erzählt, dass er sehr nützlich gewesen sei, als er sich nach einem kleinen Ladendiebstahl habe verstecken müssen. Man könne dort etwas ausschnaufen, weil sonst niemand dorthin kommt. Dort muss er sein. Ohne nochmals zu den Mädchen zu schauen, gehe ich in eine der kleinen Gassen am Rande des Platzes und suche mir einen Weg, der am schnellsten zum Museum führt. Ich jage meine Beine durch die dunklen Wege, mein Atem bleibt mir weg, ich keuche – aber ich muss ihn noch erwischen!! Hier ist der Platz. Aber Dennis ist nicht da. Ob er noch kommt? Wenn nicht, muss ich ihn unbedingt finden – er darf die Tasche nicht stehlen! Da höre ich plötzlich eilige Schritte und verstecke mich schnell hinter den Kisten, die hier zu Hauf rumstehen. Vermutlich alte Fossilien, die wegen Platzmangels gerade nicht ausgestellt werden können. Ob er es ist? Ich spähe zwischen den Kisten hindurch und, tatsächlich, da steht Dennis. Mit der roten Tasche in der Hand. Er sieht wirklich erschöpft aus und sein Bein…blutet! Doch ich muss einen klaren Kopf bewahren! Schnell springe ich über die Kisten und lande direkt vor ihm. „Gib die Tasche zurück!“ „Leon??“ Dennis schaut mich fassungslos an. Er scheint etwas sagen zu wollen, aber ihm fehlen die Worte. Ich ergreife die Gelegenheit beim Schopf und schnappe ihm die Tasche weg. „Weswegen hast du das gemacht, Bruder?!“ Bevor er etwas tun kann, werfe ich die Tasche um die Ecke. Mein Bruder ist stärker als ich – mir bleibt also nur die Möglichkeit, ihn zur Wahrheit zu stellen. Zuerst verwirrt, steht er nun doch schnell und entschlossen auf und meint wütend: „Du hast ja keine Ahnung! Weil du immer gut in der Schule bist und keine Verlobte hast, um die du dich einmal kümmern musst, weisst du nicht, wie schwer das für mich ist! Ist dir eigentlich klar, dass ich das alles für Mira mache?? Ist dir überhaupt klar, dass das Mädchen auf dich und nicht auf mich steht? So etwas zu verkraften ist echt hart. Immer muss ich zusehen, wie sie dich anlächelt! Da habe ich gedacht, ich muss etwas dagegen tun, damit ich ihr auch gefallen kann! Und dann ist mir die Idee für einen Ring gekommen…“ „Einen Ring?!“ „Jaaa, wir sind doch verlobt und so…und ein Mädchen freut sich doch über so etwas, oder nicht? Aber ich habe ja kein Geld, seit meine Noten in der Schule so schlecht sind, bekomme ich auch kein Taschengeld mehr und überhaupt…ich sah nur noch die eine Lösung…“ „Diebstahl ist keine Lös-“ „DENNIS!!!!“ Mein Bruder und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Schnell sehe ich mich nach der bekannten Stimme um und blicke direkt in die Augen von Flavia, der besten Freundin der Verlobten meines Bruders. Völlig baff standen wir drei da, hinter dem städtischen Museum neben ein paar Kisten und Gerümpel. Gerade will ich das Thema erneut aufgreifen und dann endlich mal die Tasche holen, da kommt mir Flavia zuvor: „Dennis, du bist der Dieb?? Und du hast all das nur für Mira getan?“ Sie scheint wirklich gerührt zu sein! Mein Bruder versteht nicht ganz – ich ebenso wenig, also starren wir sie weiterhin an. Sie setzt erneut an, dieses Mal klarer: „Wenn sie das wüsste, die würde dir um den Hals fallen, das kann ich dir sagen! Ein Mädchen wie Mira macht sich unglaublich viel um sowas!“ Verwirrt blicke ich zu Dennis. Aber der scheint einfach glücklich zu sein: Sein Gesicht wirkt sichtlich gesünder als zuvor und er strahlt von einem Mundwinkel zum anderen. Jetzt gibt es da nur noch ein Problem. „Das Geld hast du ja aber noch immer nicht!“, werfe ich enttäuschend ein. Doch Flavia ist nicht zu halten: „Mach dir darüber keinen Kopf! Wenn ich Mira erzähle, was hier los war, dann wird die Leon schon längst vergessen haben! Dennis wird für sie ein Held sein, da bin ich mir sicher! Dann braucht es auch keinen Ring mehr!“ Dennis schien es nie besser gegangen zu sein. Obwohl sein Plan ja offensichtlich völlig missglückt war, würde er nun bekommen, was er so ersehnte! Ich freute mich für meinen Bruder. Und das, obwohl er tatsächlich einer Frau die Tasche gestohlen hat! Apropos… Ich gehe schnell um die Ecke – die Tasche liegt nicht mehr da. Oh, nein, nicht das noch! Doch bevor ich mich richtig aufregen kann, sehe ich in der Ferne den Nussbaum mit einer Frau am Arm geradewegs in den Park laufen – mit einer roten Tasche. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich drehe mich um und sehe meinen Bruder an. Dieser ist erschöpft zu Boden gesunken und grinst nur dumm vor sich hin – vermutlich hat er seinen Fehler schon längst vergessen. Da greift Flavia nach seinem Arm und zieht ihn hoch: „Komm, lass uns gleich zu deiner Verlobten gehen, sie wartet drüben im Park!“ Etwas überrumpelt lässt sich Dennis von dem Mädchen in Richtung Park ziehen. Ich bleibe stehen und blicke nur hinterher. Da hat er doch nochmals die Kurve gekriegt. Etwas beruhigt schlendere ich ins Museum hinein. Der perfekte Ort, wenn man etwas Entspannung sucht! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)