Der Neuschnee-key: Poison von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Hinweis: "Poison" spielt im Palast der Jahreszeiten, einem Keyfiction Setting das sich jederzeit über Interessenten und Mitleser/schreiber freut, und unter der folgenden Adresse zu finden ist: http://www.palast-der-jahreszeiten.co.cc Danke! Ein riesengroßes Dankeschön geht an Tsugumi, die Poison beta-liest und dabei die ganzen Verwirrungen und Ungereimtheiten enttarnt, die mir gar nicht mehr aufgefallen sind, die sich mit obskuren Rechtschreibfehlern und Wortwiederholungen auseinander setzt, und ohne die Poison sicher nur halb so gut klänge. :) Poison Your cruel device Your blood, like ice One look could kill My pain, your thrill I want to love you but I better not touch (Don't touch) I want to hold you but my senses tell me to stop I want to kiss you but I want it too much (Too much) I want to taste you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't want to break these chains Your mouth, so hot Your web, I'm caught Your skin, so wet Black lace on sweat I hear you calling and it's needles and pins (And pins) I want to hurt you just to hear you screaming my name Don't want to touch you but you're under my skin (Deep in) I want to kiss you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't wanna break these chains Poison ( aus: Alice Cooper - Poison) Kapitel 1 „Antoine. Du darfst die Anschreiben nicht vergessen, die du hoffentlich noch angefertigt hast.“ Antoine sah von dem Umschlag auf, dessen Inhalt – ein Ticket für die Dampfeisenbahn – er eben noch betrachtet hatte, und beobachtete seinen Vater, der an seinem Schreibtisch über einem Stapel Akten saß und seinen Sohn nicht ansah. „Natürlich nicht, Vater“, erwiderte er und steckte seinen Umschlag in seine Tasche, wo sich auch die Sendebestätigungen des Postamts befanden, die er am morgen ausgehändigt bekommen hatte, als er die besagten Anschreiben – wichtige Schriftstücke für die Anwaltssozietät in der er seit kurzem, seit Abschluss seines Studiums der Rechtskunde hier in Paris, arbeitete – bereits früh abgeliefert hatte. „Du denkst daran?“ Nur kurz sah sein Vater von seiner Arbeit auf. Antoine warf einen hilfesuchenden Blick zur holzgetäfelten Decke herauf. „Natürlich“, murmelte er und warf einen letzten Blick in die kleine lederne Reisetasche. Der Koffer mit seiner Kleidung, einigen Büchern in die er wohl zwischendurch einen Blick werfen sollte und Schal und Handschuhe - noch fiel ein grauer Nieselregen, der die Stadt einhüllte und den Blick auf den Eifelturm verdeckte, doch gut möglich, daß bald erster Schnee einsetzte – befand sich bereits in der Halle. In seiner Tasche trug er seine Geldbörse, Proviant, den die Haushälterin großzügig zusammen gestellt hatte, seine Bestätigungen, das Bahnticket – und eine Samtschatulle, die er sorgfältig tief unten in der Tasche verstaut hatte, unter einem Päckchen Schinkenbrote. „Wann fährt dein Zug?“ „Um zwölf Uhr sieben.“ Der Vater nickte knapp, setzte seine Unterschrift unter ein Dokument und schloss den Füllfederhalter sorgfältig. „Ich werde Gerard anweisen dich zum Bahnhof zu bringen.“ Antoine lächelte höflich. „Nicht nötig, ich danke dir. Es ist ja nicht weit.“ Eine steile Falte entstand auf der Stirn seines Vaters, die Antoine nur zu gut kannte. Statt zu erwidern zog er lediglich an einer zierlichen Klingenschnur an der Wand hinter ihm, die Gerard, den Butler und Kutscher, und sonstigen Bediensteten des Hauses verständigte. „Wirklich Vater, ich benötige kaum zehn Minuten zum Bahnhof. Ich werde zu Fuß gehen.“ Zum ersten Mal an diesen Vormittag schien Monsieur Rigot seinen Sohn tatsächlich wahrzunehmen. Über den Rand seiner Brille hinweg musterte er ihn abschätzend. Es gab Momente, in denen fragte Antoine sich, was er sah, wenn er seinen Sohn ansah. Am braunen, ordentlich geschnittenen Haar der Mode des Jahres 1890 war nichts zu rütteln, ebenso wenig an den dunkelblauen Augen, am höchst durchschnittlichen Gesicht mit der etwas zu markanten Nase oder dem vollkommen herkömmlichen Körper der allen Männern der Rigots zu eigen war. Nicht zu groß, nicht zu klein, nicht dick, aber auch nicht dünn. Antoine pflegte in der Masse unterzugehen, es gab kein Merkmal, mit dem er sonderlich hervorstäche. Doch ob sein Vater sah, daß sein Sohn nicht mehr der kleine Junge von früher war, der tollpatschig durch die Welt ging, dessen war er sich nicht sicher. Selbst die Tatsache, daß er das Angebot ausgeschlagen hatte, in der rennomierten Sozietät seines Vaters zu arbeiten, als er sein Studium abgeschlossen hatte, hatte hier nicht geholfen. Er hatte gehofft seine neue Selbstständigkeit, seit er die Anstellung in einer kleineren Kanzlei angenommen hatte, würde etwas daran ändern, doch mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob Monsieur Rigot jemals seinen Sohn als erwachsenen Mann sehen würde. „Ich wünsche nicht, daß du zu Fuß zum Bahnhof gehst, Antoine. Es ziemt sich nicht für meinen Sohn. Auch deine Mutter wird darüber nicht sehr erbaut sein.“ „Auch meine Stiefmutter wird einsehen, daß nichts dagegen spricht, wenn ein Mitarbeiter von Dupont und Rougier einen kurzen Weg den er des Morgens mit einigen Anschreiben in der Hand zurückgelegt hat, ein weiteres Mal mit einem Koffer in der Hand vollführt.“ Ob es der Widerspruch als solcher war oder die Betonung der Stiefmutter, die Monsieur Rigots Mund schmal werden ließ konnte Antoine schwer einschätzen. Das eine wie das andere, womöglich auch beides, konnte der Fall sein. Frau Sylvie Rigot, die er vor fünf Jahren geehelicht hatte, war ein Reizthema zwischen ihnen, obgleich Antoine seinen Widerstand gegen sie lang aufgegeben hatte. So wie er als erwachsen angesehen zu werden wünschte hatte er dies schließlich auch seinem Vater zuzugestehen, und so war es gänzlich dessen Entscheidung, mit wem er eine zweite Ehe einging, ob Antoine diese Frau nun sympathisch war oder nicht. Dennoch sorgte das Thema immer wieder für Spannungen, und es war ein Grund mehr, daß Antoine froh war, zumindest tagsüber andernorts zu sein als im ansehnlichen Stadthaus seines Vaters, in dessen Erdgeschoss die Büroräume untergebracht waren, in denen sie sich derzeit aufhielten. Es klopfte an der Tür. Auf das ‚Herein’ seines Vaters betrat Gerard den Raum, ein stets tadellos gekleideter, mittlerweile älterer Herr der seit langem in den Diensten des Hauses stand. Er kannte Antoine von kleinauf, und Antoine mochte den Butler, der stets freundlich zu ihm gewesen war. „Gerard. Spannen Sie an, mein Sohn wünscht zu zwölf am Bahnhof zu sein.“ Der Butler und Kutscher wollte erwidern, doch Antoines Antwort war schneller. „Danke Gerard, das wird nicht nötig sein. Ich werde die Strecke zu Fuß bewältigen. Es wäre ein unnötiger Aufwand, die Kutsche zu nehmen.“ Zwei finstere Blicke aus den gleichen dunkelblauen Augen trafen sich. Monsieur Rigos Lippen waren blass, um sein Kinn lag ein strenger Zug. Doch Debatten vor der Dienerschaft hatte er stets verabscheut. „Nun, du musst wissen was du tust“, presste er schließlich hervor. „Danke Gerard, dann können Sie sich wieder ihren anderen Aufgaben zuwenden.“ „Sehr wohl.“ Gerard verneigte sich und verließ leise den Raum. Monsieur Rigot schloss energisch eine Mappe und zog eine weitere heran, öffnete sie und Blätterte durch einige Papiere, vermerkte hier etwas, notierte dort und machte seinem Sohn unmissverständlich klar, daß er sein Verhalten missbilligte. Antoine fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, warf einen Blick auf die altmodische Standuhr und erhob sich. „Nun denn“, sagte er, und mühte sich darum, arglos zu klingen. „Ich werde mich fertig machen.“ Monsieur Rigot sah nicht auf. „Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt bei deinem früheren Kommilitonen.“ Vage nickte Antoine, setzte dazu an, noch etwas zu sagen und unterließ es doch. „Leb Wohl“, schloss er stattdessen kurz, erntete ein knappes Nicken und verließ den Raum. Er atmete tief durch, als er draußen in der Halle die Tür zum Büro hinter sich schloss. Neben der großen Bodenvase stand sein gepackter Koffer. Unter zunehmendem Schnaufen und Rumpeln setzte der Zug sich in Bewegung. Als sie den Pariser Hauptbahnhof hinter sich ließen, lehnte Antoine sich im Polster seines Sitzes zurück und beobachtete die graue Spätherbstlandschaft die an ihm vorbeizog. Kahle Baumgerippe und ein Horizont der sich nur durch den dunkleren Grauton vom Horizont abhob. Nach Süden ging die Fahrt. Nach Süden, nicht wie von seinem Vater angenommen nach Norden an die Küste, wo er Kommilitonen zu besuchen vorgab. Tatsächlich wohnte ein Studienkollege von ihm mittlerweile im Norden Frankreichs, doch weder hatten sie während des Studiums derart gute Kontakte gehabt, daß sie einen Besuch rechtfertigen würde, noch hätten andere Gründe Antoine in die Gegend gezogen. Aber er hatte eine Ausrede gebraucht, denn er hielt es für weiser, seinem Vater – oder sonst jemandem – nicht mitzuteilen, wohin die Reise stattdessen ging. Das dicke, wenn auch langweilige Buch voller Themen die relevant für seine Arbeit waren lag auf seinem Schoss, doch obwohl die Fahrt lang werden würde konnte er sich nicht dazu aufraffen, es aufzuschlagen. Er war froh, dem Alltag für ein paar Wochen zu entkommen – und ihm war bewusst, wie priviligiert er durch den Glücksfall war, der ihm seinem Reiseziel nun langsam aber sicher näher brachte: Die Sozietät für die er arbeitete mochte nicht halb so bedeutend sein wie jene seines Vaters, doch sie leistete solide Arbeit, und bald hatte Antoine festgestellt, daß man hochkarätige Persönlichkeiten zu den Klienten zählen konnte – solche Personen, die gute Arbeit ebenso zu schätzen wussten wie Diskretion. Niemand scherte sich um eine Kanzlei in einem guten, aber keineswegs berühmten Straßenzug von Paris, und so fühlten Adelige und Politiker sich sicher und unbeobachtet, wenn sie die Dienste der Rechtsgelehrten aufsuchten. Antoine hatte erst vor kurzem seinen ersten Fall an dem er maßgeblich beteiligt war erfolgreich abgeschlossen. Daß zufriedene Klienten hin und wieder großzügige Geschenke machten, war ihm bekannt gewesen, doch für sich selbst hatte er nicht damit gerechnet. Nichtsdestotrotz hatte man ihm beim Abschlussgespräch die samtene Schatulle mit dem filigranen Schlüssel aus geschwärztem Metall darin überreicht, in dem ein Bergkristall eingearbeitet worden war. Er hatte nicht viel damit anzufangen gewusst, doch sein Gegenüber hatte seine Verwirrung vielmehr als Unsicherheit gedeutet und ihm zugezwinkert: Er solle sich nicht scheuen, bald davon Gebrauch zu machen, es sei alles bezahlt, er könne jederzeit brieflich einen Termin vereinbaren. Drei Wochen seien es, und beste Erholung. Nein, nein, keine Sorge, er könne das Geschenk durchaus annehmen, er, der Kunde, habe es selbst geschenkt bekommen, sei aber doch im Grunde viel zu alt dafür, und wolle es nun jemandem zukommen lassen, der mehr damit anfangen könne, und obendrein habe Antoine es sich redlich verdient. Was es tatsächlich mit dem Schlüssel auf sich hatte, hatte Antoine erst im Verlauf der nächsten Tage, nach vorsichtiger Recherche, heraus gefunden, und sich einer gewissen peinlichen Betretenheit nicht erwehren können, welcher Art ‚bester Erholung’ dieses großzügige Geschenk tatsächlich war. So hatte er sich zunächst nicht weiter darum gekümmert, und die Schatulle hatte wohlbehütet in seinem Schreibsekretär gelegen. Jetzt allerdings hatte er befunden, dringend Urlaub zu brauchen. Ein eher unerfreulicher Fall, den er zwar erfolgreich, aber nur unter größten Anstrengungen hinter sich gebracht hatte und der ihn mehr zermürbt hatte, als er sich selbst eingestehen wollte, hatte ihn dazu gebracht, genauer über den Schlüssel nachzudenken – einen Schlüssel im Palast der Jahreszeiten, einem nahezu mystischen Ort, so schien es ihm zumindest, besucht von den renommiertesten Kunden, die dort einer ganz besonderen Art von Erholung nachgingen. Stoisch betrachtete Antoine das Kästchen als er eines seiner Schinkenbrote auspackte um seinen knurrenden Magen zu besänftigen. Urlaub zu bekommen war leichter gewesen als befürchtet, obgleich er, als ihm die drei Wochen bewilligt worden waren, zunächst über sich selbst erschrocken war. Unmöglich konnte er diesen Schlüssel nutzen, der ihm ganze drei Wochen lang – drei Wochen, die Zeitspanne war überwältigend – Zugang zu Dingen gewährte, die man gemeinhin nicht tat, jedenfalls nicht offiziell. Andererseits musste man seine Chancen nutzen, wenn sie sich ergaben. Und auch Luxus harmloserer Natur bot der Palast der Jahreszeiten an, und den wiederum konnte er diesen Winter gut gebrauchen, fand er. Sich drei Wochen lang um nichts weiter Gedanken zu machen war äußerst erstrebenswert. Keine ewigen Aufträge, nicht die stetige halbausgesprochene Kritik und latent versuchte Bevormundung durch seinen Vater – von dem er sich sicher war, daß er im Grunde nur besorgt um seinen einzigen Sohn war. Einfach nur ein freundliches Gesicht um sich herum. Die anderen Vorzüge der Person, die er mit seinem Schlüssel ebenso drei Wochen lang gemietet hatte wie die Suite, die dazu gehörte, plante er nicht in Anspruch nehmen. „Es ist alles bereit für den neuen Holder“, sagte das schüchterne Zimmermädchen und umging einmal mehr die schwierige Frage ob es ihn dutzen oder siezen sollte. Mit einem Arm voll zu waschender Bettbezüge stand sie unsicher im Wohnraum der Neuschnee-suite, den Blick auf Seveil fixiert, der am großen Eichentisch in der Mitte des Raumes über einem Buch saß. „Dank dir“, sagte Seveil kurz, nickte ihr aber freundlich zu. Lang konnte sie noch nicht im Palast arbeiten, er sah sie erst zum zweiten Mal, und sie konnte kaum älter als dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. War das das Alter, um im Palast Zimmermädchen zu sein? Andererseits wusste man mit vierzehn mehr vom Leben als so manches Benimmbuch gern hätte, und hier verdiente sie mit Sicherheit genügend Geld, um einmal ein gutes Leben führen zu können, wenn sie erst einen Mann fand – dem sie ihre heutige Anstellung hoffentlich zu verheimlichen wusste. Kurz wartete sie ab, doch als er sich wieder seinem Buch zuwandte, verließ sie rasch den weiten Raum, der an einen fürstlichen Salon erinnerte mit seinen Seidentapeten, den schweren Teppichen und Vorhängen, dem mächtigen Kamin mit den beiden Sesseln davor, der Sitzecke, dem Klavier und dem Schreibsekretär. So, ein neuer Holder. Seveil erhob sich, schob den Stuhl zurück an den Tisch und ging herüber zu den beiden Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins, um das Buch zurück an seinen Platz zu stellen. Wenn ein neuer Holder eintraf, hatte alles an Ort und Stelle zu sein, und auch so schätzte Seveil keine Unordnung. Der neue Holder, so hatte eine schriftliche Notiz ihn instruiert, war noch jung, eben sechsundzwanzig offenbar und kam aus Paris. Ein reiches Söhnchen aus wohlhabendem Hause, vermutete Seveil gelangweilt. Das übliche. Waren es keine ältlichen Herren die sich nochmal jung fühlen wollten, waren es Jüngelchen die versuchen sich größer darzustellen als sie waren. Immerhin hatten letztere den entschiedenen Vorteil, daß viele von ihnen ein doch zumindest halbwegs ansprechendes Äußeres hatten, und das machte ihren Aufenthalt für ihn angenehmer, auch wenn sie abseits dieses Vorzuges arrogante Schnösel sein mochten. Antoine Rigot hieß er. Immerhin kein von und zu. Aber die Suite für drei Wochen mieten zu können sprach von viel Geld. Viele Kunden konnten kaum länger als eine Nacht, vielleicht ein Wochenende verweilen. Es versprach interessant zu werden. Und die drei Wochen standen seinem Konto mit Sicherheit gut zu Gesicht. Unfreundlicher Schneeregen, gepeitscht von eisigem Wind, trieb die wenigen Passagiere die hier aussteigen wollten dem winzigen Bahnhofsgebäude entgegen, das, wäre es nicht so spät und folglich dunkel, vermutlich Blick auf das Zentralmassiv gehabt hätte. Antoine blickte sehnsüchtig auf seinen Koffer, in dessen Tiefen sein Schal unerreichbar lagerte, und folgte den anderen Menschen durch die Schwingtür ins Innere des Gebäudes, in dem sich nicht viel mehr als einige Wartebänke, ein Schalter und einige dekorative, weihnachtliche Tannenzweige in einer großen Bodenvase befanden. Auf der gegenüberliegenden styleSeite führte eine Tür auf den Vorplatz des Städtchens, zu dem der Bahnhof gehörte. Die schriftliche Buchungsbestätigung, die man Antoine zugesandt hatte, versprach Abholung am Bahnhof. Er hoffte inständig, daß diese Abholung bereits da war, und über einen Stapel Decken im Innenraum der Kutsche verfügte. Der Bahnhofsvorplatz war nicht groß. Eine städtische Droschke, wie sie in ganz Frankreich anzutreffen waren, stand vor dem Gebäude und wurde eben von einem Ehepaar zur Verwendung herangezogen. Auf der Straße näherte sich eine weitere Mietskutsche, entließ ihre Gäste und fuhr weiter. Ein junger Bursche radelte auf einem modernen Fahrrad daher. Doch ansonsten leerte sich der Platz vor dem Bahnhof rasch. Antoine stellte Tasche und Koffer ab, zog seinen Mantel enger um sich, und sah sich fröstelnd um. Welch ein grandioser Auftakt für seinen Urlaub. Er hatte sich so auf die Abholung verlassen, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, die Adresse dieses ominösen Palastes der Jahreszeiten mitzunehmen, und der befand sich soweit er wusste außerhalb der Stadt, so daß nicht einmal gegeben war, daß er eine hilfreiche Auskunft erhielt, wenn er danach fragte. Immerhin schien das Etablissement von seiner schleierhaften, gerüchteumwobenen Existenz zu leben. Womöglich existiert es auch gar nicht, schoss es ihm plötzlich unwohl durch den Kopf. Was, wenn es nichts weiter war als ein geschickt ausgedachter Scherz für einen Grünschnabel wie ihn, wenn der Klient ihn hatte necken wollen? Die Stellen, an denen er sich informiert hatte waren abzusehen gewesen, es wäre ein Leichtes gewesen, ihn aufs Glatteis zu führen. Antoine presste die Lippen zusammen. Er hätte nicht so naiv sein dürfen, sich ohne weiteres auf etwas derartiges einzulassen. Nun stand er hier, in tiefer Nacht in einem Städtchen nahe des Zentralmassivs, käme vor morgen früh nicht zurück und hatte mit etwas Pech nicht einmal das Barvermögen, sich ein Hotelzimmer zu nehmen - sofern es hier Hotels gab. Heilige Maria, Mutter Gottes, dachte er niedergeschlagen, was nun. Aus der anderen Straßenrichtung näherte sich Hufgetrappel. Hoffnungsvoll sah Antoine auf, nur um wieder den Kopf sinken zu lassen. Das Hufgetrappel nahm zu, vierfacher Hufschlag. Eine vierspännige Kutsche war ein schlechtes Zeichen. Sie mochte ansehnlich aussehen und einem reichen Herrn gehören, doch in jedem Fall handelte es sich dabei nicht um seine Abholung. In der Tat stellte sich das Gefährt als überdurchschnittlich prachtvoll heraus – dezenter Reichtum sprach aus den zwei Kutschern, schweren Vorhängen in den Fenstern und vier gutgenährten Füchsen die ungerührt durch das unerfreuliche Wetter trabten. Antoine beobachtete wie die Kutsche sich näherte, und fragte sich was ihr Ziel sein mochte, als der Fahrer die Pferde unvermutet zügelte. „Einen guten Abend, der Herr!“ Antoine blinzelte und sah sich um. Der Bahnhofsvorplatz war leer. Der zweite Mann auf dem Kutschbock war auf die Straße gesprungen, neigte höflich den Kopf und griff energisch nach Antoines Koffer. „Antoine Rigot?“, fragte er eher rhetorisch und öffnete mit der freien Hand die Kutschtür. „Bitte steigen Sie ein. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten, das Wetter hielt uns auf.“ „Na... natürlich nicht“, murmelte Antoine überfahren und verharrte vor der Kutsche, überzeugt, daß es sich um einen Irrtum handeln müsse. Doch die beiden Männer in teurer Livree schienen sich ihrer Sache ungleich sicherer und wiederholten die einladende Geste ins Innere. So kletterte Antoine ungelenk ins Innere einer Kutsche, die alle Kutschen übertraf, in denen er je die Ehre gehabt hatte zu fahren. Dunkle Samtvorhänge, bestickte Polster und geschmackvolle Schnitzereien ließen eher auf einen Salon im Kleinformat als auf einen Wagen schließen, der auch noch ausgerechnet ihn befördern sollte. Bald zogen die Pferde an und die Kutsche setzte sich, für ein Gefährt ihrer Art überraschend sanft, in Bewegung. Antoine fand eine warme Felldecke die sorgsam gefaltet auf einem der Sitze lag und hüllte sich hinein, als jenseits der Fenster kleinstädtische Straßenzüge an ihnen vorbeiglitten, einige wenige späte Passanten ihnen beeindruckt hinterhersahen, und die Landschaft zusehends ländlicher wurde. Bald fuhren sie durch einen Wald, der im Dunkeln, nur schwach von den Laternen der Kutsche erleuchtet, drohend zu beiden Seiten des Weges aufragten. Der Weg stieg leicht aber stetig an. Wo mochte dieser Palast wohl liegen? Nur kurz war ihm die Überlegung gekommen, ob es nicht ein ganz schlechtes Zeichen war, daß sie die Stadt verlassen hatten – man hörte allenthalben von Überfällen dieser und ähnlicher Art, in denen nichtsahnende Reisende mit falschen Postkutschen und Droschken in die Irre geführt wurden – doch er verwarf den Gedanken rasch wieder. Gesindel und Räuber konnten sich kaum derartige Kutschen leisten, und überdies war es nur logisch, daß der Palast der Jahreszeiten nicht inmitten der Stadt lag. Pracht, Reichtum und Anerkennung durch die höchsten Gesellschaftsschichten – hinter vorgehaltener Hand – schön und gut, aber derartige Etablissements würden sich in einer Kleinstadt – gerade in einer Kleinstadt, in der Dinge undenkbar waren, die in Paris vielleicht schon seit einigen Jahren Gang und Gäbe sein mochten – ganz bestimmt nicht gut machen. Die naheliegende Erklärung war also, daß alles mit rechten Dingen zuging, ungeachtet der nicht eben unwirtlichen Landschaft entlang des Weges: Der Wald wurde flachter und gedrungener, Fichten wurden ersetzt von gedrungenen Kiefern, zerklüftete Felsen stachen jäh aus dem Unterholz empor. Und immer noch ging die Fahrt bergauf. * „Er ist bitte wo?“ Thomás Sabatier hatte seine Le Temps sinken gelassen und sah seinen Mittelsmann so überrascht an, als hätte dieser ihm soeben verkündet, daß sich in den Tresoren seines Bankhauses statt Goldbarren und wundervollen Französischen Franc ein Haufen rosa Papier gefunden hätten. Doch nichts dergleichen hatte man ihm verkündet – stattdessen lediglich den Aufenthaltsort eines Mannes, an dem er in den letzten Wochen steigendes Interesse gehabt hatte. „Im Palast der Jahreszeiten“, wiederholte der Angestellte mit höflicher Unbeteiligung und rückte Sabatier die handgeschriebene Notiz auf dem Schreibtisch zurecht, die er ihm eben erst vorgelegt hatte. „Im Palast der...“ Sabatier kam nicht umhin aufzulachen. „Wie kann ein Jungspund wie Rigot sich eine derartige Lokalität leisten? Ich bin gern bereit anzunehmen, daß er auf meine Kosten gut verdient hat, doch soweit kann es unmöglich reichen!“ er schnaufte ungläubig und strich sich über das sorgfältig gestutzte Schnauzbärtchen. „Wie lang bleibt er?“ „Drei Wochen, Monsieur.“ „Drei W... dieser Lump.“ Sabatier schüttelte entgeistert den Kopf und griff zu seinem Kalender. „Einmal mehr bringt er alles durcheinander! Da konnte ich dieses... dieses Subjekt von einem Menschen, diesen Leclerc, endlich davon überzeugen, sich meines Problems mit Rigot anzunehmen, und dann verschwindet Rigot bis auf Weiteres im Winterurlaub! Unmöglich so lange zu warten. Ich mag ein reicher Mann sein, aber erstens ist dieser Reichtum dank Rigot in hinreichender Gefahr, und zweitens hat mir dieser Kriminelle unmissverständlich klar gemacht, daß er nicht länger als zwei Wochen zu unserer Verfügung steht. Bei Gott, muß ich einem Straftäter nun auch noch einen Luxusaufenthalt finanzieren?“ Sein Mittelsmann schwieg taktvoll. Sabatier fühlte sich alt. Er fühlte sich eigentlich selten alt, doch in der letzten Zeit, da war er sich sicher, sah man ihm die Jahre des nächsten Jahrzehnts bereits an. Eine läppische, kleine Beschönigung der Tatsachen war es gewesen, mit dem er sein Kreditinstitut ein wenig besser hatte dastehen lassen wollen. Es war an der Tagesordnung, so zu verfahren, jedes Pariser Bankhaus, das etwas auf sich hielt, würde unter den gegebenen Umständen zu derartigen Mitteln greifen. Auch daß einer seiner unliebsamen Konkurrenten, der zufällig etwas zugetragen bekommen hatte, das ganze vor Gericht trug, konnte er im Stillen noch verstehen. Wahrscheinlich hätte er ähnlich gehandelt. So hatte er vorbereitet was vorzubereiten gewesen war, hatte den entsprechenden Stellen die entsprechenden Gelder zukommen lassen, die gemeinhin für ein gewisses Wohlwollen sorgten, und hatte angenommen, daß er damit glimpflicht davonkäme. Weit gefehlt! Die Erinnerung an die Unverfrorenheit dieses Antoine Rigot trieb das Blut in Sebatiers Kopf. Er knurrte etwas unverständliches und zerknüllte das Notizpapier vor ihm auf dem Schreibtisch. Rigot, fast noch grün hinter den Ohren, hatte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht, hatte den sorgfältig geplanten Prozess zu Nichte gemacht inklusive der investierten Bestechungsgelder die er dafür eingesetzt hatte – und es waren ungemein stattliche Bestechungsgelder gewesen. Diese, mitsamt der horrenden Summe um die es eigentlich gegangen war, waren nun zum Teufel, und ein dummer kleiner Antoine Rigot war Schuld, ein kleiner, unbedeutender, ersetzbarer, gerade aus dem Rechtsstudium emporgetauchter junger Mann, den Dupont und Rougier in dem Wissen eingesetzt hatten, daß dieser Prozess ohnehin verloren ging, und man dem neuen Angestellten somit eine Chance geben konnte, sich erstmals allein in der Welt französischer Gerichtbarkeit zurecht zu finden. Und anstatt gefälligst den Prozess mit Anstand und Ehren zu verlieren, hatte Rigot nichts besseres zu tun gehabt als zu schnüffeln, herumzufragen und seine etwas groß geratene Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen. Längst verjährte Vorgänge hatte er ans Licht gezerrt die Sebatier für lang vergessen gehalten hatte! „Schön“, presste er mit unterdrücktem Zorn hervor, „ein Luxusaufenthalt soll es also sein. Drei Tage gestehe ich ihm zu. Den Rest wird er wohl von außen erledigen können. Sie leiten alles in die Wege. Wenn ich das nächste Mal von Rigot höre wünsche ich, daß er Buchhalter geworden ist oder überraschend verstorben, sollte ersteres nicht der Fall sein.“ „Sehr wohl.“ Der unauffällige Mann, der seit einigen Jahren nicht nur einer seiner besten Finanzberater war sondern sich auch anderer Aufgaben hervorragend annahm verneigte sich und verließ den Raum. ~ wird fortgesetzt ~ Kapitel 2: ----------- Hinweis: "Poison" spielt im Palast der Jahreszeiten, einem Keyfiction Setting das sich jederzeit über Interessenten und Mitleser/schreiber freut, und unter der folgenden Adresse zu finden ist: http://www.palast-der-jahreszeiten.co.cc Danke! Ein riesengroßes Dankeschön geht an Tsugumi, die Poison beta-liest und dabei die ganzen Verwirrungen und Ungereimtheiten enttarnt, die mir gar nicht mehr aufgefallen sind, die sich mit obskuren Rechtschreibfehlern und Wortwiederholungen auseinander setzt, und ohne die Poison sicher nur halb so gut klänge. :) Poison Your cruel device Your blood, like ice One look could kill My pain, your thrill I want to love you but I better not touch (Don't touch) I want to hold you but my senses tell me to stop I want to kiss you but I want it too much (Too much) I want to taste you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't want to break these chains Your mouth, so hot Your web, I'm caught Your skin, so wet Black lace on sweat I hear you calling and it's needles and pins (And pins) I want to hurt you just to hear you screaming my name Don't want to touch you but you're under my skin (Deep in) I want to kiss you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't wanna break these chains Poison ( aus: Alice Cooper - Poison) Kapitel 2 Antoine schreckte aus leichtem Schlaf hoch als die Kutsche hielt und hatte einen Moment lang Probleme sich zu orientieren. Trotz der warmen Felldecke fröstelte er. Draußen fiel kalter Schneeregen an dem einzele Windböen zerrten. Vielleicht die höhere Berglage, mutmaßte er und brachte sich damit gleichzeitig in Erinnerung, wo er sich befand. „Willkommen im Palast der Jahreszeiten, Monsieur Rigot!“ Der Kutscher öffnete dienstbeflissen die Tür und deutete eine Verbeugung an. „Ich danke Ihnen“, sagte Antoine und forschte hastig in seiner Geldbörse nach einigen Münzen. Um Gottes Willen, der Kutsche nach zu urteilen würde das, was der Mann normalerweise an Trinkgeldern erhielt das, was Antoine ihm anbieten konnte lächerlich aussehen lassen, doch irgendwie mußte er noch seine Rückfahrt finanzieren – und viel mehr hatte er in seiner grenzenlosen Naivität, von der er mittlerweile überzeugt war, nicht mitgenommen. So drückte er beschämt dem Mann einige Franc in der Hand, halb in der Erwartung, ausgelacht zu werden. Stattdessen jedoch verbeugte der Mann sich ein weiteres Mal mit freundlichem Lächeln. „Vielen Dank Monsieur. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Der Livrierte griff nach Antoines Koffer und deutete einladend voran. „Ich bringe Sie zum Portal“, sagte er höflich und setzte sich in Bewegung. Antoine atmete tief durch, folgte ihm um die Kutsche herum – und erstarrte in der Bewegung. Was er sich unter dem Palast der Jahreszeiten vorgestellt hatte, konnte er nicht sagen. Mit Sicherheit jedoch nicht das, was hell erleuchtet in der Dunkelheit vor ihm lag. Mit einem hübschen kleinen Château hätte er vielleicht umgehen können. Das was sich dort allerdings an einen Hang eines Ausläufers des Zentralmassivs schmiegte war in der Tat kein kleines Château. Wenn überhaupt war es ein ziemlich großes Château. Ein ziemlich großes, mit zahlreichen, oft hell erleuchteten Fenster, kleinen Türmchen, kunstvoller Stuckarbeit und einer Vielzahl von Schornsteinen, die sich über eine derart schiere Fläche verteilten, daß ihm schwindelig werden wollte. Benommen von dem Anblick dessen, auf das sein Koffer gerade so selbstverständlich zugetragen wurde, stolperte er dem Portal entgegen, das sich auf ein stummes Signal hin öffnete und den Blick freigab auf eine kaum weniger beeindruckende Halle und eine breite, mit weichem Teppich ausgelegte Treppe. „Ihr Koffer, Monsieur Rigot.“ Der Mann verneigte sich auf der Schwelle zum Portal und verschwand, noch ehe Antoine sich aus seiner Überwältigung reißen konnte um auch ihm ein Trinkgeld zukommen zu lassen. „Willkommen im Palast der Jahreszeiten, Monsieur“, riss ihn eine neue Stimme aus der Überrumpelung. Sie gehörte zu einer drallen, resolut wirkenden Frau mittleren Alters in einem gut geschnittenen Kleid, die ihm freundlich zunickte und einladend ins Innere der Halle deutete, ehe sie das schwere Portal hinter ihm schloss und das ungemütliche Wetter aussperrte. Stumm sah Antoine sich um. Zwei mannshohe Kamine sorgten für behagliche Wärme in der Halle, die von einer Rezeption dominiert wurde, die ihn an ein großes Hotel erinnerte – und auch die geschmackvollen Sitzgruppen und ein freundlicher Zimmerbrunnen im Zentrum der Halle trugen ihren Teil zu diesem Eindruck bei. „Wenn Sie mir folgen würden, Monsieur...?“ die Frau warf einen knappen fragenden Blick über die Schulter und lenkte ihre Schritte in Richtung der Rezeption. „..Rigot“, ergänzte Antoine hilflos und trottete mit seinem Koffer und seiner Reisetasche hinterher. Nichts an der Frau vermittelte den Eindruck, er befände sich in dem exklusivesten Freudenhaus Frankreichs, hätte er sie auf der Straße angetroffen, er hätte sie bedenkenlos in Richtung eines teuren Hotels oder ausgewählten Restaurants zugeordet, nicht hierher. Doch nichts an diesem Palast der Jahreszeiten vermittelte, streng genommen, den Eindruck ein Freudenhaus zu sein, ein gehobenes Bordell, doch nichtsdestotrotz ein Etablissement körperlicher Genüsse. Seine eigene, genauere Definition des Palastes trieb ihm die Röte in die Wangen. Er war mit Sicherheit nicht prüde, doch was in drei Teufels Namen ihn dazu gebracht hatte, drei Wochen an diesem Ort sein zu wollen war ihm plötzlich schleierhaft. Es war verrucht und inakzeptabel. Vielleicht nicht ganz so inakzeptabel. Über die Gallerie, die sich der Treppe in der Halle anschloss, ging soeben ein Mann dessen Kleidung und Haltung verrieten, daß er zweifelsfrei aus besten Kreisen stammen mußte. Neben ihm lief ein jüngerer Mann dessen ausnehmend angenehmes Äußeres Antoine neuerlich erröten ließ, als eine Ahnung ihn überkam. Heilige Maria Mutter Gottes. … falls du hiermit etwas zu tun haben willst, dachte er und stoppte an der Rezeption, hinter der ein Herr der die sechzig sicher bald überschreiten würde in wohlgeschneiderter Livree eben ein schweres, in Leder gebundenes Buch aufschlug. „Monsieur Antoine Rigot...“, sprach er. Die Frau die zu ihm getreten war nickte beipflichtend. „Das wäre dann der Neuschnee-key, wenn ich nicht irre? Für drei Wochen?“ Drei Wochen. Drei Wochen! Es war jenseits seiner Vorstellungskraft. „Monsieur Rigot?“ „Wie? Oh, verzeihen Sie. Ja. Drei Wochen. Ich habe hier irgendwo...“ Hastig öffnete er seine Reisetasche und forschte unbeholfen nach dem Samtkästchen, raschelte mit Butterbrotspapier und verlor beinahe den Umschlag mit seinem Zugticket. „Hier... hier.“, murmelte er endlich erleichtert und schob die Schatulle über den Thresen. Mit freundlichem Lächeln griff die Frau danach, öffnete es und warf einen fachkundigen Blick auf den darin befindlichen Schlüssel. Das Licht der Gaslampen die die Rezeption in freundliches Licht tauchten fing sich im Bergkristall der den Schlüssel schmückte und brachte ihn zum Glitzern. Antoine fühlte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann - und es war weniger frohe Erwartung als Nervosität der Auslöser. „Der Schlüssel zur Neuschnee-suite,“ bestätigte die Frau und schloss die Schatulle sanft. Der Mann notierte etwas in seinem Buch ehe er lächelnd aufsah. „Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Hause. Catherine hier wird Sie sofort zu Ihrer Suite führen. Um Ihr Gepäck wird sich jemand kümmern. Es ist spät, und Sie hatten eine lange Reise hinter sich – wünschen Sie vielleicht noch eine Kleinigkeit zu essen?“ Eilig winkte Antoine ab, obgleich sein Magen sich auf das Stichwort hin lautstark zu Wort meldete. „Nein, nein, danke“, murmelte er, und wünschte sich nichts sehnsüchtiger als aus dieser Halle zu verschwinden, in der er sich wie auf dem Präsentierteller fühlte, und irgendeine Tür hinter sich zu schließen. „Ich habe noch Proviant.“ Wie unpassend Proviant für einen Gast des Palastes der Jahreszeiten sein mußte dämmerte ihm erst, als Catherine und der Mann hinter der Rezeption sich einen kurzen Blick zuwarfen, doch das beinahe mütterliche Lächeln, das Catherine ihm unmittelbar darauf schenkte hielt seine peinliche Berührtheit in Grenzen. „Folgen Sie mir doch bitte.“ Seveil rückte seinen Kragen zurecht, warf einen letzten Blick durch den Raum und positionierte sich dezent an der Tür zwischen Wohnzimmer und Vorraum, als das leise Klingeln, das über die überall im Palast positionierten Seilzüge weitergeleitet wurde, ihm mitteilte, daß sein neuer Holder eben im Palast eingetroffen war und jeden Moment den Schlüssel in der Tür zu seiner Suite drehen konnte. Er hatte seit dem Vormittag seine Kleidung gewechselt. Statt der bequemeren Tweedhose trug er nun eine weich fallende Hose aus ausnehmend teurem Material und ein Seidenhemd, das seine Figur ausgezeichnet betonte. Das schwarze, schulterlange Haar hatte er im Nacken mit einem schlichten Samtband zusammen gefasst, er fühlte sich ausreichend vorbereitet, seinem neuen Holder gegenüber zu treten. Ein gewisses flaues Gefühl in der Magengegend konnte er auch nach all den Jahren im Palast nicht vollständig verleugnen, wann immer ein neuer Holder angekündigt wurde. Vielleicht war es die Ungewissheit. Die meisten Besitzer seines Schlüssels waren nicht die Menschen, mit denen er tiefere Freundschaft zu schließen wünschte, doch manche waren symphatischer als andere. Und insbesondere jene, die er weniger erfreulich fand, galt es in den ersten Minuten für sich einzunehmen. Nichts übertünchte den mangelden Wunsch, sich mit jemandem zu unterhalten so angenehm wie guter Sex, und bisher hatte er noch jeden rasch davon überzeugen können, daß mit ihm das Bett zu teilen eine erstrebliche Sache war. Andererseits blieb dieser Holder drei Wochen, und man konnte nicht gut drei Wochen im Bett verbringen und sich der körperlichen Liebe hingeben, ob man es wollte oder nicht. Daß ein Holder derart lange blieb war selten, und die Erfahrungen die er persönlich mit langen Aufenthalten gemacht hatte waren im Großen und Ganzen unerfreulich verlaufen. Früher oder später wurde es schwer, einem arroganten oder anderweitig unsymphatischen Menschen die Meinung über ihn zu verschweigen. Doch was wollte man machen. Seveil lauschte. Draußen heulte der Wind um den Palast, fuhr unter lauten Klagelauten in die Kamine und ähnelte einer Horde ruheloser Seelen die versuchte, ins Innere des Gebäudes vorzudringen. Graupelschauer klatschten immer wieder gegen die Scheiben der bis zum Boden reichenden Fenster. Nur das Feuer, das verheißungsvoll im Kamin knisterte, schuf eine etwas behaglichere Atmosphäre. Es war ein widerliches Wetter, und sein neuer Holder war den ganzen Tag auf Reisen gewesen. Ein kurzer Blick auf seine Taschenuhr bewies Seveil, daß es nach elf Uhr Abends war. Im Zweifelsfalle würde sein Gast baden wollen – das war ihm nicht zu verdenken, bei den Zuständen draußen. Seveil hatte seinen Garten seit Tagen nicht mehr betreten, Regen und Graupel hatten den Rasen aufgeweicht und zu einem wahren Schlammfeld gemacht, und immer wieder rissen stürmischen Böen an den Ästen und Zweigen der Bäume. Endlich näherten sich Schritte auf dem Korridor. Seveil räusperte sich einmal, strich über seine Hose, legte die Hände auf dem Rücken zusammen und beobachtete die Tür, hinter der in diesem Moment Schritte verharrten. Ein letztes Mal lächelte Catherine ihm zu, als sie Antoine vor einer düsteren Tür zurück ließ, die ihm alles andere als anheimelnd erschien. Dem dunklen Holz schien etwas Unheilvolles zu Eigen, und es kam ihm vor, als sähe die Tür selbst auf ihn herab. Unvermittelt überkam ihn der Drang, umzudrehen und den Palast auf schnellstem Wege zu verlassen. Doch das war albern, überdies fuhren des Nachts keine Züge mehr ab, und in dieser Suite befand sich mit Sicherheit ein bequemes Bett, vielleicht gar eine Badewanne, in jedem Falle aber ein gemütlicher Kamin. Und außerdem der Key, eine Person, die für ihre Anwesenheit gut bezahlt würde. Ganz sicher niemand, vor dem nervös zu sein es Grund gab. Mit unsicherer Hand als ihm lieb war tastete Antoine nach dem Schlüssel und steckte ihn wacklig ins Schloss. Du liebe Güte, schalt er sich selbst, nimm dich etwas zusammen. Es war doch kein Staatsakt, zu dem er hier aufbrach. Hatte er nicht eben heute morgen noch so darauf beharrt, wie ungemein erwachsen er war? Also. Dreimal klickte das Schloss, dann sprang es auf. Antoine hielt die Luft an und drückte gegen die Tür. Kaum merklich verengte Seveil die Augen, als das Schloss aufsprang. Ungewöhnlich vorsichtig wurde die Tür aufgeschoben. Die meisten Holder nahmen ihren temporären Besitz sehr schwungvoll ein. Manche nur die Räumlichkeiten, andere auch ihn. Er hatte wenig Einwände. Beim Sex lernte man mehr über Menschen als in einem Gespräch gleicher Länge, und obgleich die Erkenntnisse daraus nicht oft über höfliche Neutralität hinausgingen, haftete dem Ganzen immerhin der positive Nebeneffekt körperlicher Freude an. Der Eintritt dieses Holders allerdings versprach ein Abweichen von der Gewohnheit. Erst schob sich eine Reisetasche durch die Tür, dann der dazugehörige Arm in einem guten Mantel. Der Besitzer des Arms folgte zögernd, obgleich Seveil seine Bewegungen nicht als schüchtern bezeichnen würde. Schließlich stand ein junger Mann im Vorraum der Suite, dessen Augen rasch durchmaßen, was sie sahen, und bei Seveil verharrten. Dieser neigte mit der höflichen Selbstsicherheit, die er sich bereits in seiner Zeit vom Küchenjungen bis zum Diener an zwei verschiedenen fürstlichen Höfen angeeignet hatte, den Kopf. „Willkommen in der Neuschnee-suite. Mein Name ist Seveil.“, sagte er, richtete sich wieder auf, und musterte den Holder unauffällig. Tatsächlich entsprach er nicht ganz der Vorstellung, die er gehabt hatte. Gute Kleidung, doch keineswegs von übertriebener Fertigung. Aufrechte Haltung, obwohl er für den Moment unsicher wirkte. Ein offenes Allerweltsgesicht, hübsche Augen, eine Nase bei der es der Schöpfer großzügig gemeint hatte, ein schmaler, wohlgeformter Mund. Das braune Haar war sorgfältig geschnitten. Einen Moment schwieg der junge Mann, dann beeilte er sich, das höfliche Nicken zu erwiedern. „Es freut mich, Sie... di... Sie kennen zu lernen. Antoine Rigot.“ Es zuckte um Seveils Mundwinkel. Es war schwer zu sagen was oder wie dieser Rigot war. Nervosität war kein Beweis, daß ein Holder sich nicht doch als herablassender Wichtigtuer erwies, sobald er sich einmal eingewöhnt hatte, und wenn Seveil eines nicht leiden konnte, dann Menschen dieses Schlages. Leider traf man sie unter Reichen allzu häufig an, oder doch zumindest unter jenen Reichen, die ihren Reichtum mit Vorliebe zeigten. Und viele davon fanden sich im Palast wieder. Aber abwarten. Seveil verharrte im Türrahmen, drehte sich jedoch halb herum und deutete einladend in den Wohnraum. „Treten Sie ein, Monsieur Rigot. Ich hoffe, Ihre Reise war nicht zu beschwerlich.“ Antoines Blick haftete an dem jungen Mann mit den schwarzen Haaren und dem abschätzenden Blick der ihm gegenüberstand, und versuchte seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Der Neuschnee-key sah gut aus. Natürlich, das war im Zweifelsfalle die oberste Vorraussetzung, um eine Stellung im Palast der Jahreszeiten zu bekommen, doch ein derart angenehmes Äußeres hatte er nicht erwartet. Die Gesichtszüge Seveils waren von ausnehmend edlem Schnitt, die dunklen Augen hinter geschwungenen Wimpern ruhten aufmerksam auf ihm. „Treten Sie ein, Monsieur Rigot. Ich hoffe, Ihre Reise war nicht zu beschwerlich.“ Seveils Arm in einem Seidenhemd, das seine schlanke Gestalt einen Hauch mehr betonte, als es üblich sein konnte, deutete in den hinteren Raum ohne auch nur einen Zentimeter aus dem Türrahmen zu weichen. Antoine zögerte, dann nannte er sich einen albernen Kindskopf. Die kleine Reisetasche vor sich herschiebend trat er an Seveil vorbei. Sein Mantel streifte das feine Seidenhemd und ein leichter, schwer zuzuordender Duft stieg ihm in die Nase. Dann war er an Seveil vorbei und stand in einem Raum, der ganz genau dem entsprach, was er sich beim Anblick des Palastes vorgestellt hatte. Seidentapeten und schwere Samtvorhänge prägten das Bild des weiten Raumes, in dem eine angenehme Wärme herrschte, das Mobiliar, die weichen Teppiche auf den Holzbolen des Bodens, selbst die dekorativen Grünpflanzen, alles war von einem unaufdringlich aber entschieden exklusiven Stil der auch mit dem ansehnlichen Haus seines Vaters kaum zu vergleichen war. „Ich werden Ihren Mantel nehmen“, sagte Seveil, dessen Stimme tiefer war, als man auf den ersten Anblick hin vermutet hätte. Daß der Mann, der vermutlich nur einige Jahre älter war als er, herangetreten war, hatte Antoine in seinem Staunen über die Räumlichkeiten nicht bemerkt, seinen Schreck überspielte er mit einem Räuspern als er die Tasche abstellte. Er fegte imaginären Staub von seinem Mantelärmel ehe er es wagte, den Blick wieder zu heben. Braune Augen hielten ihn fixiert, und er war sich nicht sicher, was in diesem Blick lag. Dann hoben sich Seveils Mundwinkel einen Deut zu einem Lächeln, das irgendwo zwischen Belustigung und Höflichkeit lag. „Darf ich?“ Gepflegte Hände halfen Antoine, sich aus seinem Mantel zu winden. Während Seveil im Vorraum mit einem Kleiderbügel klapperte, verspürte Antoine das Bedürfnis, sehr tief durchzuatmen. Worauf hatte er sich nur eingelassen! Bis zu seiner Ankunft hatte die Vorstellung des Palastes etwas romantisches an sich gehabt, etwas wärmendes, etwas perfektes, wie es nur in Träumen und Vorstellungen bestehen konnte. Und obwohl der Palast, die Suite, und dieser Mann, der für drei Wochen mit ihm die Suite teilen würde tatsächlich allen Wünschen genügten – anders war es gar nicht möglich – fühlte Antoine sich unwohl. Er stach hervor aus dem Umfeld und fühlte sich unbedeutend, schlecht angezogen und wie ein Fremdkörper, und überdies war es der Wahnsinn, hierzusein. Was wurde überhaupt von ihm erwartet? Was tat ein Key-holder – diese Bezeichnung war offenbar üblich – nach seiner Ankunft? Antoine schielte über die Schulter zur Tür in den Vorraum, aus dem Seveil eben heraustrat, sein Körper schlank und geschmeidig ohne ins Zerbrechliche oder, noch schlimmer, Dürre zu gehen. Er strahlte etwas aus, das Antoine nicht zuzuordnen wusste, und es löste zutiefst widersprüchliche Gefühle bei ihm aus. Er konnte schlecht verleugnen, daß er sich in gewisser Weise angezogen fühlte, auf eine ganz und gar anrüchige Weise um genau zu sein, eine Weise, die ihm hochgradig unangenehm war. Das andere Gefühl war simpel und grundsätzlich und übermächtig. Er wollte fort. Möglichst gleich. Er sollte nicht hier sein. Das hier war eine Welt in die er nicht gehörte, die nicht zu seinem Leben passte und ihn trotz der überwältigenden Atmosphäre die ihn umgab beunruhigte. Es änderte nichts an der Tatsache, daß er nunmal doch hier war, und sich zusammenzureißen hatte. Im Gerichtssaal hatte er auch schon beängstigenden Tatsachen und Menschen gegenüber gestanden, und er hatte sich verhältnismäßig gut geschlagen. Also, nimm dich zusammen Antoine. Man musste nicht selbstsicher sein um selbstsicher zu wirken, und je sicherer man aussah, desto leichter wurde es, sicher zu sein. „Es ist wirklich schön hier“, bemerkte er also, nur um unmittelbar darauf festzustellen, daß dieser Satz einer der lächerlichsten aller Zeiten sein musste, zumindest nicht geeignet, ihn sonderlich intelligent wirken zu lassen. „Es freut mich, wenn Ihnen die Suite zusagt“, erwiderte eine Stimme dichter an seinem Ohr als Antoine erwartet hätte. Er fuhr herum, zwang ein Lächeln auf seine Züge das ihm dümmlich erschien – und wusste nicht, was er sagen sollte. Daß gerade in diesem Moment ein helles Glöckchen nahe der Tür zu läuten begann, erschien ihm wie ein gnadenvoller Fristaufschub. Der gutaussehende Mann wandte sich um. Zögernd griff Antoine wieder nach seiner kleinen Reisetasche, und sei es nur, um sich daran festzuhalten, als er weiter in den Raum hinein trat. Zwei Türen an der linken Wand waren von ähnlicher, düsterer Machart wie die Eingangstür. Während die vordere der beiden Türen verschlossen war, hatte jemand die zweite lediglich angelehnt. Sie gab den Blick frei auf ein Gemach, in dem Antoine vorerst nur ein Bett ausmachen konnte, ein Bett von solchem Prunk, daß er meinte, dem Reichtum Louis XVI. gegenüber zu stehen. Darin zu schlafen musste wundervoll sein. Darin zu schlafen. Er fühlte Hitze in seine Wangen steigen. Er hatte ganz lapidar bei sich gedacht, es sei ganz sicher leicht möglich, bestimmte Angebote des Palastes nicht anzunehmen, doch genau das war es doch, wofür dieser Ort existierte, das war es, worauf das fürstliche Bett im Nebenraum wartete, und das war es, ob er es im Sinn gehabt hatte oder nicht, wofür sein Schlüssel bezahlt worden war. Hilflos fuhr Antoine sich mit einer Hand über das Gesicht und trat an eines der bis zum Boden reichenden Fenster. Das unerfreuliche Wetter verhüllte bereits seit Tagen den Mond und ließ den Nachthimmel zu nichts weiter werden als einer drohenden schwarzen Masse. Nur selten gelang es dem späten Novembersturm die Wolkenfetzen auseinander zu reißen und für wenige Momente den Blick auf die Sterne freizugeben. „Der Koffer ist da“, sagte Seveil aus Richtung der Tür. „Oh. Ja.“ Antoine löste sich aus seiner Starre und setzte sich eilends in Bewegung um dem Key den Koffer mit entschuldigendem Lächeln abzunehmen. Ihre Hände streiften sich. „Entschuldigung“, murmelte Antoine, die Tasche in der einen, den Koffer in der anderen Hand, wie ein Reisender am Pariser Hauptbahnhof. Ein überraschter Blick aus dunklen Augen traf ihn. Der oberste Knopf Seveils Seidenhemdes war geöffnet, bemerkte Antoine in einem Zustand nebliger Distanz. Als er realisierte, daß er sein Gegenüber unhöflich anstarrte sah er auf, nur um erneut auf dunkelbraune Augen zu treffen, deren Ausdruck er zusehends schwerer zu deuten fand. Vermutlich stumme Belustigung über einen derart konfusen Holder! Unter Einsatz schierer Willenskraft gelang es Antoine, sich aus seinen sämtlichen, reichlich seltsamen, wie er fand, Gedanken zu reißen, Koffer und Tasche rigoros neben dem mächtigen Holztisch abzustellen und sich forsch umzusehen – oder doch zumindest bemüht forsch. „Ob es wohl möglich wäre, ein Bad zu nehmen?“, fragte er und fühlte sich reichlich unbescheiden und schlecht erzogen, obwohl die Frage nach einem Bad bei dem Wetter naheliegend war und er nicht der erste Holder sein konnte, der die Suite mit irgendwelchen Wünschen erstürmte. „Selbstverständlich.“ Seveils Stimme verriet nichts über seine Gedanken, als er knapp nickte und die zweite Tür des Raumes einladend öffnete. „Wünschen Sie...“ „Nein, nein, danke!“, wehrte Antoine ab ehe er noch hörte, was er hätte wünschen können. Der Schlüssel ruckelte im Schloss als schlösse jemand das Badezimmer ab der sich auf der Flucht befand und vor Angst kaum Herr seiner Gliedmaßen war. Irritiert sah Seveil Antoine nach. Als sein Holder, dem einsetzenden Plätschern nach zu urteilen, die modernen Wasserleitungen für sich entdeckt hatte, wandte Seveil sich kopfschüttelnd um. Du liebe Güte. Wüsste er es nicht besser – immerhin war Antoine Gast im Palast der Jahreszeiten, also konnte man annehmen daß er wusste, was es damit auf sich hatte – man hätte beinahe annehmen können, daß die Situation ihn überforderte. Vielleicht hatte er sich mit seinem Aufenthalt hier auch lediglich etwas beweisen wollen. Er hatte mehr als einmal halbstarke Holder gehabt, deren Anwesenheit das Ergebnis einer zweifelhaften Mutprobe im Zusammenhang mit einem verwöhnten Freundeskreis gewesen war. Andererseits war Antoine durchaus nicht als Halbstarker zu bezeichnen. Er war jemand, vielleicht nicht vom Range einer tatsächlichen Bekanntheit, einer Person, der zu Empfängen und Gesellschaften eingeladen wurde, aber zumindest wirkte er durchaus wie ein junger Mann, der im Normalfall mit zwei Beinen fest am Boden stand. Umso weniger passte dieser Auftritt zu ihm. Allerdings waren fünf Minuten zu wenig, um sich ein wirkliches Bild von ihm zu machen. Genauso gut konnte es sich eben doch um einen Schnösel handeln, der angesichts der Umgebung des Palastes die Fassung verlor, und wenn er sie wiedererlangt hatte erneut zu dem wurde, was man ihm jetzt nicht angesehen hatte. Seveil griff nach dem Reisekoffer und trat damit in das Schlafzimmer. Die Tasche sollte Antoine besser selbst auspacken, wer wußte schon, was für persönliche Gegenstände er mit sich trug. Es waren durchweg Kleidungsstücke guter aber solider Qualität, die Seveil dem Koffer entnahm und ordentlich in die freien Fächer des Kleiderschrankes räumte, der trotz seiner Größe im Vergleich zum prunkvollen Doppelbett schmal und unscheinbar wirkte. Hemden, Hosen, Westen, ein altmodischer Seidenschal, Krawatten, Unterwäsche, gewaschen, geplättet, wie es sich gehörte, aber definitiv nicht von einem jener exorbitant teuren Schneider, derer man sich im Adel bediente, ebenso wenig in den Kreisen, in denen man mehr auf sich zu halten pflegte als gerechtfertigt war. Schal und Handschuhe schließlich, zwei Bücher der Rechtskunde – ein erster Hinweis auf Antoine Rigots Hintergrund. Nachdenklich spitzte Seveil die Lippen. Im Badezimmer, auf der anderen Seite der Wand, verstummte das Wasserrauschen. In den Leitungen gurgelte es kurz, dann plätscherte es gedämpft hinter der Wand, als Antoine offenbar das in den Boden eingelassene Wasserbecken, das ungleich annehmlicher war als eine normale Badewanne, stieg. Antoine ließ sich in das dampfende Wasser gleiten und schloss die Augen, als es warm über ihm zusammenschlug und winterliche Kälte und den Aufruhr in seinen Gedanken gleichermaßen vertrieb. An die Badeöle in teuren Flakons, die auf einem Wandregal über dem Wasserbecken standen, wagte er sich nicht, doch selbst das einfachste Stück Seife, das hier zur Verfügung stand, war von einem betörenden und doch unaufdringlichem Duft, wie es daheim eine Seltenheit zu hohen Feiertagen war. Wenn man die Möglichkeit hatte zu baden erschienen alle Probleme der Welt weiter entfernt. Dabei hatte er, streng genommen, gar keine Probleme. Welcher seiner früheren Kommilitonen, oder gar seiner heutigen Kollegen, konnte von sich behaupten, in dem Luxus zu schwelgen, in dem er sich gerade befand? Geradezu vorsichtig tauchte Antoine die Seife ins Wasser. Überhaupt hatte er, nachdem er den Schlüssel in der Badezimmertür herumgedreht hatte und zur Ruhe gekommen war, nicht mehr nachvollziehen können, was ihn zu einer derart panischen Flucht bewogen hatte. Er war zu alt um in einem Etablissement wie diesem die schockierte Jungfrau zu geben, obwohl er noch nie engeren Kontakt mit Bordellen, Freudenhäusern oder auch nur freizügigen Bars gehabt hatte, und obwohl seine ‚praktischen Erfahrungen’ äußerst beschränkt waren. Äußerst beschränkt in der Tat. Ungeachtet dessen konnte man kaum auf den Gedanken kommen ihn als unschuldsvoll zu bezeichnen, und folglich gab es keinen Grund, sich im Palast der Jahreszeiten unwohl zu fühlen. Zudem hatte sich an seinem Plan, die weiteren Vorzüge der Suite nicht zu nutzen, nichts geändert. Der Neuschnee-key würde darüber mit Sicherheit auch erleichtert sein. Im Zweifelsfalle, bei seinem Äußeren, hatte er im Normalfall viel Beschäftigung, wenn ein Holder zu Gast war. Und es war ja nur verständlich, immerhin... Antoine riss sich gewaltsam aus seinen eigenen Gedankengängen als sie drohten, Richtungen anzunehmen die ihm nicht behagten. Offenbar stiegen ihm die Wärme und der Duft der Seife zu Kopf! Entschlossen begann er, sich mit dem zarten Seifenschaum zu waschen ohne ihm den gebührenden Respekt zu zollen, tauchte einmal ganz unter und öffnete schließlich den Abfluss. Er fröstelte, als er aus dem warmen Becken stieg und sich in eines der großen Handtücher hüllte, die im Bad bereit lagen. * Jaques Leclerc lächelte müde, als Sabatiers Mittelsmann die Kaschemme verlassen hatte, in der Leclerc sich bei einem billigen Glas Rotwein über den Abend zu trösten versuchte. Der Mann war sichtlich erschrocken, als er den nicht mehr ganz so gesuchten Verbrecher zu Gesicht bekommen hatte – nicht, weil Leclerc eine dieser unangenehmen Spukgestalten von Schläger gewesen wäre, derer es wahrhaftig zu viele in dieser Gegend von Paris gab, sondern weil das Gegenteil der Fall war, und sich ein Mensch, der sein ganzes Leben lang nicht über egoistische Betrügereien zugunsten eines ohnehin schon nennenswerten Vermögens heraus gekommen war, sich nur schwer vorstellen konnte, daß Leclerc gefährlich sein konnte. Mit dürren Händen schob er sein Glas wieder über den Tresen. „Noch eins“, brummte er und blätterte nachdenklich durch die drei eng mit Schreibmaschine gefüllten Seiten. Nicht zu verachten, Sabatier konnte sich eine Schreibmaschine leisten und jammerte da über eine verlorene Betrügerei. Der Mann hatte nie im Leben Hunger oder Kälte gelitten, da war er sich sicher, hatte nie die Schattenseiten der Großstadt kennen gelernt – und auch nicht die Geheimnisse, die tief im Dunkeln dieser Schatten ruhten. Einen jungen Mann galt es, höflich ausgedrückt, davon zu überzeugen, seine Profession zu wechseln. Für den Fall, daß er sich dazu nicht durchringen konnte, wurde sein spontanes Ableben gefordert. In der Tat, Sabatier hatte Leclerc, zu dem er bis heute nur schriftlichen Kontakt gehabt hatte, ganz sicher eher für einen Schläger gehalten, für jemanden, der sich mit seinen Fäusten und vielleicht noch entsprechender Bewaffnung Gehör zu verschaffen wusste. Leclerc war sich ziemlich sicher, daß seine Fäuste im besten Falle mitleidiges Lächeln auslösten. Dafür verstand er sich auf andere Dinge, und der alternative Plan in Sabatiers Auftrag lag ihm entschieden mehr. Es gab wundervolle Substanzen auf Gottes Erdboden, ob in der Natur oder vom Menschen verfeinert oder gar kreiert, und es war eine Kunst sie zu nutzen. Nichts war stilvoller, nichts war von größerer Anmut als eine köstliche Dosis tödlichen Giftes, wenn es schleichend, sanft und doch voller Unbeirrbarkeit das Leben aus einem Körper zog, der ihm hilflos ausgeliefert war und unter der Einwirkung seiner Kunst hilflos zuckte wie eine im Todestanz begriffene Marionette. Die Bezahlung war gut, Sabatier schien keinen Unterschied zu machen, ob der junge Mann ihm aus dem ein oder anderen Grund nicht mehr begegnen würde, und es war gemeinhin leichter, mit Gift zu töten als mit Gift zu erpressen. Doch vielleicht fiel ihm etwas Nettes ein. Wenn nicht so hatte er eine exquisite Auswahl, diesen Antoine Rigot zu seinem nächsten Kunstwerk zu machen. ~ wird fortgesetzt ~ Kapitel 3: ----------- Hinweis: "Poison" spielt im Palast der Jahreszeiten, einem Keyfiction Setting das sich jederzeit über Interessenten und Mitleser/schreiber freut, und unter der folgenden Adresse zu finden ist: http://www.palast-der-jahreszeiten.co.cc Danke! Ein riesengroßes Dankeschön geht an Tsugumi, die Poison beta-liest und dabei die ganzen Verwirrungen und Ungereimtheiten enttarnt, die mir gar nicht mehr aufgefallen sind, die sich mit obskuren Rechtschreibfehlern und Wortwiederholungen auseinander setzt, und ohne die Poison sicher nur halb so gut klänge. :) Poison Your cruel device Your blood, like ice One look could kill My pain, your thrill I want to love you but I better not touch (Don't touch) I want to hold you but my senses tell me to stop I want to kiss you but I want it too much (Too much) I want to taste you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't want to break these chains Your mouth, so hot Your web, I'm caught Your skin, so wet Black lace on sweat I hear you calling and it's needles and pins (And pins) I want to hurt you just to hear you screaming my name Don't want to touch you but you're under my skin (Deep in) I want to kiss you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't wanna break these chains Poison                                               ( aus: Alice Cooper - Poison) Kapitel 3 Die entspannte Müdigkeit, die Antoine nach seinem Bad umfangen hielt, wog ihn in Sicherheit als er, wieder angekleidet, aus dem Badezimmer heraus trat. Der große Wohnraum war angenehm warm, das herunterbrennende Kaminfeuer knisterte leise, draußen heulten die sich zum Sturm entwickelnde Böen ohne Einlass zu finden. Es mußte wunderbar sein, des Abends dort am Kamin in einem der beiden Sessel sitzen zu können, oder sich bei Tageslicht einen Stuhl an eines der Fenster zu ziehen und die Landschaft zu überblicken. Dem ganzen Raum haftete eine erhabene Gemütlichkeit an, gepaart mit dem Gefühl von unbeirrbarer Ordnung. Chaos musste zwangsläufig außerhalb dieser Räume bleiben, und alle Gedanken, mit denen Antoine sich noch bis zu diesem Mittag herumgeschlagen hatte hielten sich in disziplinierter Entfernung ohne Anstalten zu machen, auf ihn einzudringen. „Ich habe Ihren Koffer ausgepackt“, sprach unvermittelt eine angenehm tiefe Stimme. Antoine fuhr herum. Er hatte Seveil nicht nur für den Moment verdrängt, er hatte ihn obendrein auch noch übersehen. Doch da saß er, die Haltung aufrecht und trotz seiner Größe und attraktiv breiten Schultern fast als anmutig zu bezeichnen, auf dem Klavierhocker, wo er einen Stoß loser Notenblätter durchgesehen hatte. Nun legte er ihn zur Seite und erhob sich. „Ich nahm an, um Ihre Tasche möchten Sie sich gern selbst kümmern.“ „Ja... ja danke“, murmelte Antoine und brachte ein höfliches Lächeln zustande, von dem er den Verdacht hatte, daß es aufgesetzt und schief wirkte. „Darf... darf ich mich setzen?“, fragte er und deutete auf einen der Stühle am Tisch. Um Seveils Mundwinkel zuckte es. „Alles in dieser Suite gehört für die Dauer Ihres Aufenthalts Ihnen.“ Abschätzend ruhte sein Blick auf Antoine. Dieser schob den Stuhl, auf den er sich eben hatte setzen wollen, langsam wieder zurück, als die eben erst überwundene Unruhe ihn wieder zu übermannen drohte. „Ich...“, er räusperte sich und warf einen kurzen Blick zur holzgetäfelten Decke, an die von Gas erleuchteten Wandlampen freundlichen Lichtkreise warfen. „...Ich bin nicht hier, um...“ Er vollführte wenig aussagekräftige Handbewegungen und wünschte, Seveil würde ihn aus der unangenehmen Situation befreien, doch der schwer deutbare Zug um dessen Mundwinkel wurde nun unbestreitbar belustigt. Fand Antoine zumindest. „Ich bin in der Tat nur hier, um...“, setzte er also neu an, doch er wusste nicht einmal recht, was sonst er hier vorgehabt hatte, je genauer er es bedachte. Hilflos warf er einen Blick durch den Raum. An den Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins blieben seine Augen hängen. Es war eine Sammlung, die bereits aus der Entfernung aussah, als könne jeder, der gerne las, nur davon träumen. Bis an die hohe Decke reichten die eng gefüllten Regalbretter, um an die obersten Reihen zu gelangen würde man einen Stuhl bemühen müssen. „Ob ich einen Blick in das Bücherregal werfen darf?“, fragte er abgelenkt. Seveil neigte den Kopf kaum merklich zur Seite. „Natürlich. Es gehört Ihnen.“ Antoine musste sich beherrschen, nicht eiliger als notwendig auf das vordere der Bücherregale zuzutreten, obgleich sein Interesse daran alles andere als geheuchelt war. Von klein auf hatte er es geliebt zu lesen, und fremde Bücherregale boten mehr als nur eine neue Auswahl an möglichem Lesestoff. Bücherregale, fand Antoine, sagten viel über ihre Besitzer aus. Über ihre Interessen und Tätigkeiten, über Loyalitäten und Träume, über gesellschaftliche Stellung oder -Vorstellung. Was mochte Seveil für Bücher bevorzugen? Sicher würde einiges an breiter Auswahl dabei sein, das für die verschiedenen Geschmäcker der verschiedenen Holder gedacht war, doch jemand, der praktisch an eine Suite gebunden war, würde doch auch Lektüre den eigenen Vorlieben entsprechend haben wollen. Er vermeinte Seveils Blicke im Rücken zu spüren, als er vor dem Regal Halt machte. Tatsächlich fand sich hier ein regelrechtes Sammelsurium verschiedenster Einbände und Formate, Sprachen und Themengebiete wieder. Antoine entdeckte alte Geschichtsfolianten, englische Shakespeareausgaben, Gedichtbände und philosophische Schriften, Dramen und Romane neben politischen Reden in lateinischer Sprache, Berichten aus fernen Ländern und den Memoiren von Persönlichkeiten verschiedenster Nation. „Findet es Ihre Zustimmung?“, fragte Seveil viel näher hinter Antoine als dieser erwartet hätte. Überrascht fuhr er herum und fand sich unmittelbar gegenüber dem Key wieder, zu nah, als daß ihm wohl dabei gewesen wäre, nicht nah genug, als daß ihm unbehaglich wäre. Wieder nahm er den sanften, unaufdringlichen Duft war. Entwand er sich dem Seidenhemd, das in fliessenden Falten den Oberkörper seines Gegenübers betonte? Die freundlichen Gaslampen an den Wänden und das Feuer des Kamins verliehen der feinen Seide einen warmen Schein, der sich in den dunklen Augen und auf dem schwarzen, schulterlangen Haar fortsetzte. Als Antoine bemerkte, daß er Seveil anstarrte, trat er hastig einen Schritt zurück. „Natürlich! Es ist eine ganz beachtliche Sammlung“, brachte er hervor und lächelte unbeholfen. Es lag tatsächlich eine nur schwer wahrnehmbare Prise Spott in Seveils Lächeln, das bildete er sich doch nicht ein, oder? Er würde ja auch spöttisch dreinsehen, wenn sich jemand so weltfremd ihm gegenüber aufführte, wie Antoine es gerade vermutlich tat. Es war an der Zeit, sich zusammen zu nehmen, und sich endlich wie jemand zu benehmen, der nicht den Verstand verloren hatte. Wie jemand, der sich in der Welt behaupten konnte, ob im Gerichtssaal oder im Palast der Jahreszeiten. Er hatte dazu beigetragen, daß den Machenschaften von Thomàs Sabatier eine vorläufiges Ende gesetzt wurde, da konnte das hier doch nicht so schwer sein. Zumal er es sich selbst ausgesucht hatte. „Nun...“, begann er schließlich, und räusperte sich. „Es ist... wirklich bereits spät, und ich habe Sie wahrscheinlich wach gehalten. Das tut mir sehr leid. Sie sind sicherlich ebenfalls müde und möchten zu Bett gehen.“ Wieder spielte ein feines Lächeln um Seveils Lippen, das drohte, Antoine ein weiteres Mal aus dem Konzept zu bringen. „Gemeinhin pflegt ein Key mit seinem Holder zu Bett zu gehen.“ Antoine öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann jedoch hatte er sich endlich unter Kontrolle. „Das... wird nicht nötig sein. Ich habe noch... zu arbeiten.“ Er nickte entschieden, als müsse er seine eigenen Worte bestätigen, und sah sich suchend um. „Meine Bücher?“ „Natürlich. Ich habe sie zu Ihren Sachen in den Schrank gelegt“, sagte Seveil und drehte sich halb herum um auf die Schlafzimmertür zu deuten. Dann glitt sein Blick zurück zu Antoine. Eine steile Falte hatte sich auf der Stirn des jungen Mannes gebildet die nicht recht zu ihm passen wollte.  Es wirkte, als habe er eine anstrengende Aufgabe vor sich, doch Seveil konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein sollte, das nicht auch bis morgen verschoben werden konnte. Daß ein Holder ihn so entschieden verschmähte war ihm jedenfalls noch nicht passiert, und es kratzte an seinem Stolz. Nicht jeder Holder wollte alles in der ersten Nacht, doch bislang hatte noch jeder gewisses Interesse gezeigt. Antoine eilte an ihm vorbei. Seveil blieb nichts, als ihm verdrossen hinterher zu sehen. Als Antoine das Schlafzimmer kaum einige Momente später wieder verließ, trug er tatsächlich eines seiner Bücher unter dem Arm, dazu eine Mappe die er zwischen die Seiten geklemmt hatte. Seine Haltung war beinahe etwas zu aufrecht und steif, doch daß er sich nahezu an seinem Buch festzuhalten schien strafte diesen Eindruck Lügen. Seveil folgte ihm mit dem Blick als der junge Rechtsgelehrte, der er zu sein schien, ziellos in der Mitte des Raumes innehielt. Alles an ihm war widersprüchlich. Die Haltung passte nicht zu dem Eindruck, den seine Hand, die kaum merklich auf dem Buch einen nervösen Takt klopfte, vermittelte. Die bemüht verschlossene Miene, die er aufgesetzt hatte, passte nicht zu den unsicher dreinblickenden dunkelblauen Augen, die er konsequent von Seveil abwandte. Selbst das nach dem Waschen akurat gescheitelte Haar wollte nicht zu jenen Strähnen passen, die ihm als sie langsam trockneten weich in die Stirn fielen, und die energische Bewegung, mit der er sie erfolglos zur Seite wischen wollte, passte nicht zu dem anderen Arm der krampfhaft das Buch hielt. Seveil verschränkte die Arme. Im Feuer knisterten die Kiefernzapfen, die Seveil nachgelegt hatte als Antoine im Bad gewesen war. Das Kaminfeuer verbreitete warme Gemütlichkeit, doch Antoine schien weder diese wahrzunehmen, noch den anderen Annehmlichkeiten des Wohnraumes viel abgewinnen zu können. Zumindest sah er nicht aus, als nähme er sonderlich viel Notiz. Endlich trat er langsam auf den alten Holztisch zu und legte sein Buch geräuschlos ab. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb nur widerwillig an Seveil hängen. Seine Nase hätte wirklich einen Deut kleiner ausfallen dürfen, doch das klare, kräftige Dunkelblau seiner Augen machte vieles wieder Wett, und auch seine nett geschwungenen Lippen trugen ihren Teil dazu bei. „Also...“, Antoine rieb sich mit einer Hand abwesend die Stirn, „...ich werde bestimmt noch länger aufbleiben. Es würde gar keinen Sinn machen, blieben Sie nur wegen mir länger auf.“   Er lächelte höflich, doch sein Ton war distanziert, als er anfügte: „Bitte, gehen Sie ruhig zu Bett wenn Sie möchten.“ „Natürlich, wenn das Ihr Wunsch ist“, erwiderte Seveil und deutete eine knappe Verbeugung an. Antoine schwieg. Seveil verharrte nur kurz, dann wandte er sich stumm herum. Als Seveil die Schlafzimmertür leise hinter sich schloss atmete Antoine erleichtert auf, ließ sich müde auf einen der Stühle am Tisch fallen, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und den Kopf auf die Hände. Er war müde von der langen Reise und der Situation, und das einzige Bett der Suite war belegt. Natürlich war ihm im Vorfeld klar gewesen, daß er diese Suite mit jemandem teilen würde, und mit ihr das Bett, doch es war ihm leicht und natürlich vorgekommen, und er hatte keine Vorstellung, was er sich dabei gedacht hatte. Sich einen Bettgefährten zu erkaufen war nichts das man tat, doch immerhin machte es einen gewissen, wenn auch fundamental anrüchigen Sinn. Die obskure, naive Wunschvorstellung die er gehabt haben musste hingegen war nachgerade lächerlich. Einen unschuldsvollen Gefährten, einen Menschen, der spontan aus dem Hut gezaubert wurde und der sich nahtlos zumindest kurzfristig in sein Leben einpasste um dort die Stelle eines Menschen einzunehmen, der ihm das Gefühl vermittelte, nicht allein zu sein. Oh heiliger Petrus. Oder zumindest war das der Schutzheilige, der ihm am ehesten für offensichtlich Wahnsinnige einfiel. Es war entsetzlich. Doch nun gab es nichts daran zu ändern, daß er hier war. Lustlos zog er sich sein Buch heran, entnahm die Mappe, schlug sie auf und sah durch die darin gesammelten Briefe und Dokumente, allen zuoberst das Bestätigungsschreiben des Palastes. Er hatte es vorgezogen, die Mappe mit seinen wichtigsten Unterlagen mitzunehmen. Es gab ihm das Gefühl, sich nicht vollkommen gewissenlos aus allen Dingen ausgeklinkt zu haben, und er war sich nicht vollständig sicher, ob sein Vater nicht hinein gesehen hätte, wäre er zufällig auf sie gestoßen. Und selbst wenn die Briefe des Palastes sich nicht darin befunden hätten, behagte ihm der Gedanke nicht. Sein Vater war ein guter, fleissiger und verantwortungsvoller Mensch, der ausgezeichnete Arbeit verrichtete und sich immer um Antoine gekümmert hatte, auch nach dem Tod seiner Frau. Dennoch ging seine Fürsorge für seinen mittlerweile erwachsenen Sohn hin und wieder etwas zu weit, und weder wollte Antoine der Kritik ausgesetzt sein, die sein Vater für die meisten Dinge übrig hatte, die sein Sohn tat, noch hatte er Interesse daran, Fälle oder Begebenheiten oder auch einfach nur Bestandteile seines Lebens mit seinem Vater zu diskutieren, wenn sie diesen nichts angingen. Erst als im Schlafzimmer eine Schranktür leise klappte wurde Antoine sich wieder Seveils Anwesenheit bewusst. Käme er nochmal heraus? Nicht notwendigerweise, zumindest befand sich ein Waschtisch im Schlafzimmer der das Badezimmer, wenn man keine anderweitigen Notwendigkeiten hatte, erübrigte. Und tatsächlich knarrte bald darauf das Bett hinter der Tür. Antoine schloss die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Immerhin, das Sofa der Sitzecke vor dem mittleren der bis zum Boden reichenden Fenster hatte verhältnismäßig bequem ausgesehen. Ob es hier irgendwo eine Decke gab? Müde erhob er sich, schob den Stuhl leise zurück an den Tisch und sah sich um. Nein, keine Decke. Aber Kissen, und in einem Korb neben dem Kamin genügend Feuerholz, um zumindest die Raumtemperatur über Nacht angenehm zu halten. Draußen hatte sich das Wetter zu einem regelrechten Novembersturm ausgewachsen, der um das Gebäude heulte und an den Fenstern rüttelte. Irgendwo klapperte ein Fensterladen. Antoine schob einige Holzscheite in das Kaminfeuer und beobachtete, wie die Flammen danach zügelten und schließlich Besitz von ihnen ergriffen. Das Bett war womöglich Seveils liebstes Möbelstück in der Neuschnee-suite, und nicht wegen der ungezählten Stunden körperlicher Liebe, die sich hier zugetragen hatten. Er hätte eher vermutet, daß diese seine Vorliebe für das Bett, wenn er lediglich Erholung suchte, eher schmälterten, doch nichts dergleichen war der Fall. Die vielen aufgeschüttelten Kissen, die man sich nach Belieben heranziehen und fortschieben konnte, die weiche Matraze, die warmen Decken, all das war so komfortabel, daß es ihm noch nie in seiner Zeit im Palast den Schlaf versagt hätte, sobald er die Augen schloss. Dekorative Brokatvorhänge und golddurchwirkte Kordeln perfektionierten jeden Morgen aufs neue die Illusion, man befände sich in den Gemächern einer königlichen Residenz. Nun ja, zumindest ein Palast war es ja nun auch. Und die verschiedensten hochrangigen Personen hatten in der Vergangenheit die Dienste der Paläste aufgesucht, und sie damit zu ihrer Residenz gemacht. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt sah Seveil zum Brokathimmel herauf und lauschte dem Sturm, der in unregelmäßigen Abständen Regenschauer gegen die Scheiben klatschen ließ. Das leise Knarren der Dielenbretter im Wohnraum ließ ihn aufhorchen. Unwillig verzog er die Mundwinkel. Er konnte Antoine beim besten Willen nicht einschätzen. Einen Moment lang glaubte er, einen im Grunde ganz passablen Menschen vor sich zu haben, dann wiederum war er überzeugt, daß der junge Mann wohl doch an Arroganz und hochmütiger Distanz litt. Was genau er hier im Palast suchte, war Seveil in beiden Fällen ein Rätsel. Er wusste, was es damit auf sich hatte, war hier und behauptete dennoch, keinen Nutzen davon machen zu wollen? Es gab immer wieder Holder, die mit dümmlichen Ausflüchten zu erklären suchten, daß ihnen ihr Aufenthalt im Palast selbstredend von irgendwelchen Freunden, Bekannten oder Geschäftspartnern aufgenötigt worden war, oder, wenn sie das Bett mit Seveil teilten, was für gewöhnlich recht schnell der Fall war, daß sie dies natürlich lediglich taten, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Seveil fand derart stupide Lügen entschieden verwerflicher als die Anwesenheit im Palast. Das einzige, was ermüdender und verachtenswerter war als Hochmut war die dummdreiste Verleugnung von Tatsachen um besser dazustehen, und dabei auch noch von der Naivität anderer auszugehen. Sollte sich Antoine als eine derartige Person herausstellen, versprachen die folgenden drei Wochen eine Qual zu werden. Antoine hatte in seinem Leben nur selten ein Problem gehabt, zu schlafen. Ob Lärm oder Licht, ob Sorgen oder Ärger, er konnte sich kaum an Nächte erinnern, in denen er nicht ungerührt geschlafen hätte. Es gehörte normalerweise viel dazu, ihn daran zu hindern. Aber vielleicht war  lediglich die fremde Umgebung die Ursache, oder das Sofa, das als Sitzmöbel sehr bequem sein mochte, aber auf die Dauer nicht zum Schlafen gemacht worden war. Draußen heulte der Sturm in immer höherer Tonlage wie die schrille Drohung zunehmenden Wahnsinns. Nur das Kaminfeuer, dessen warmer Lichtschein den mittlerweile dunklen Raum erhellte, flackerte tröstlich wann immer er aus unruhigem Halbschlaf hochschreckte, doch es wärmte nicht so sehr, wie er gehofft hatte. Fröstelnd zog er die Knie enger an den Körper, zu müde, um aufzustehen und seinen Mantel von der Garderobe zu holen. Im Schlafzimmer nach einer Decke zu sehen kam nicht in Frage. Die Nacht wollte nicht enden, und der Gedanke an die folgenden drei Wochen war niederschmetternd. Als endlich das erste düstere Grau hinter den Fenstern dämmerte, fühlte Antoine sich zerschlagen. Dumpfes, nicht greifbares Gewicht lastete auf seinem Kopf, sein Nacken schmerze und die Müdigkeit war tief in seine Knochen gekrochen, statt sich von der Nacht vertreiben zu lassen. Im Kamin war das Feuer verloschen, nur letzte Glutreste glimmten hin und wieder unter der Asche auf. Langsam setzte Antoine sich auf, ließ sich gegen die weiche Sofalehne fallen und legte den Kopf in den Nacken. Kein Laut drang aus dem Inneren des Palastes. Während der Nacht hatte er hin und wieder Schritte auf dem Korridor vernommen, mal gemessene, schwere Schritte, vielleicht von einem der erstaunlich unauffälligen, aber wehrhaften Gesellen in Uniform die ihm bei ihrem Weg zur Neuschnee-suite sporadisch begegneten waren, und die offenbar für die Sicherheit innerhalb der Palastmauern sorgten, mal andere Schritte, hin und wieder gedämpfte Stimmen. Nun jedoch lag der Palast so still da, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Wie spät mochte es sein? Das fahle Licht draußen war noch so schwach, daß ihm der Tag unvorstellbar fern erschien. Sechs Uhr morgens? Sieben Uhr? Was jetzt? Theoretisch führe heute mit Sicherheit ein Zug nach Paris. Doch je mehr darüber nachdachte, desto weniger erstreblich erschien ihm auch diese Möglichkeit. Was sollte er daheim? Niemand rechnete mit ihm, bei Dupont und Rougier nicht, daheim nicht. Außerdem wüsste er nicht, wie er seinem Vater erklären sollte, warum er umgehend wieder heimgekehrt war. Und schlussendlich wäre es Geldverschwendung. Er wollte um Gottes Willen nicht wissen, was diese drei Wochen irgendjemanden gekostet hatten. Was ihm blieb war, das Beste aus der Sache zu machen. Und der Palast bot dazu alle nur irgend denkbaren Möglichkeiten. Wie oft hatte er in den letzten Wochen bedauert, keine Zeit zu haben, ein paar neue Bücher zu lesen und die Welt für eine Weile zu vergessen, wie oft hatte er die Pariser Stadtluft, mit all dem Qualm und Rauch aus den unzähligen Schornsteinen, der grau und abweisend die Häuser und Straßen einhüllte, bemägelt. Mochte es auch unüblich sein, daß ein Gast kein Interesse am Hauptangebot des Palastes hatte, er zahlte, also konnte man es nicht in Frage stellen. Entschlossen richtete Antoine sich auf und reckte die schmerzenden Glieder. Dann trat er auf den Kamin zu, stocherte mit dem Schürhaken in der Asche, legte Zunder und trockenen Tannenzapfen nach und wartete, bis die Glut danach zu züngeln begann ehe er einen ersten Holzscheit in den Kamin warf. Ob man hier irgendwo Kaffee bekam? Allerdings wohl kaum um diese Uhrzeit, wer erwartete schon, daß die reichen Gäste, die sich diesen Luxus leisten konnte, so früh aufzustehen geruhten? Aber ein Schinkenbrot hatte er noch, das war ein Anfang. Leise fischte Antoine das Brot aus seiner Tasche und trat kauend ans Fenster. Trübe zeichneten sich erste Baumwipfel vor nebligem Hintergrund in der weichenden Dunkelheit ab. Im schwachen Licht des nur langsam an Intensität gewinnenden Kaminfeuers spiegelte Antoine sich in der Fensterscheibe. Er rümpfte die Nase. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte: Verknittert und unangemessen dem edlen Umfeld, in dem er sich befand. Als hätte ein Puppenspieler versehentlich eine abgerissene, alte Figur auftreten lassen, wo ansonsten nur Prinzessinnen und Ritter agierten. Immerhin an der Kleidung konnte man etwas ändern, doch noch rührte sich nichts im Schlafzimmer, und die Zeit gab keinen Anlass zu hoffen, Seveil stünde bald auf. Bis dahin mußte er also wohl oder übel noch warten. Leise wanderte Antoine zum nächstgelegenen Bücherregal herüber. Der tröstende Geruch alten Papiers und abgegriffener Ledereinbände, der auch in Bibliotheken vorzuherrschen pflegte, verlieh der Suite zum ersten Mal auch für ihn etwas heimisches. Antoine überflog die Buchrücken, zog hin und wieder einen der Bände hervor und betrachtete ihn genauer, schob ihn zurück und sah nach dem nächsten Titel ohne die rechte Ruhe zu haben, ein Buch auszuwählen und sich damit hinzusetzen. Außerdem waren da immer noch die mitgebrachten Unterlagen, in die es hinein zu sehen galt, und Bücher zum Thema. Er hörte bereits die Stimme seines Vaters im Hinterkopf: ‚Ich hoffe, du hast die freie Zeit sinnvoll genutzt, Antoine. Antoine, du hast sicherlich nicht versäumt, deine Fälle vorzubereiten?’. Antoine verzog das Gesicht. Es war vergebene Mühe, Monsieur Rigot erklären zu wollen, daß sein Sohn durchaus nicht versäumte, sich um seine Aufgaben zu kümmern und daß er das auch dann tat, wenn er nicht jeden Abend über irgendwelchen Unterlagen verbrachte. Er hatte es aufgegeben, darüber Debatten zu beginnen. Sein Vater stellte in derartigen Gesprächen knapp fest, daß Antoine sich Dinge einbildete wenn er sagte, sein Vater traue ihm nichts zu, es sei wahrhaftig enttäuschend, derlei vom eigenen Sohn zu hören, und überhaupt könne er ja leicht zeigen was in ihm stecke. Was hier als Beweis fungieren könnte, war Antoine allerdings nicht klar. Erfolge wie der Fall um Thomàs Sabatier zählten offenbar nicht. Der Morgen graute hinter den Fenstern. Seveil zog selten die Vorhänge zu, es gefiel ihm, morgens bei Tageslicht aufzuwachen statt im künstlichen Dunkel der schweren Vorhänge. Er unterdrückte ein Gähnen, fuhr sich in automatischer Bewegung mit den Händen durch das Gesicht und brachte danach rasch sein Haar in halbwegs annehmbare Ordnung ehe er die Augen öffnete, sich aufsetzte und zur Seite sah. Die andere Hälfte des Bettes war leer und unberührt. Stirnrunzelnd sah Seveil sich um, doch nichts im Schlafzimmer ließ auf eine vergangene Anwesenheit seines neuen Holders schließen, eine Tatsache, die ihn aus dem Konzept brachte. Aus dem Konzept in der Tat. Er schüttelte den Kopf, ließ sich vorest wieder zurück in die Kissen sinken, und starrte zum brokatenen Betthimmel herauf. Herrgott, normal war das nicht, und solang es sich bei ihm nicht um einen entsetzlich überarbeiteten Menschen handelte, der nicht zurückschreckte,  auch die Nacht – und zwar während eines Aufenthalts an einem der teuersten Orte Frankreichs –  hindurch zu arbeiten, was Seveil bezweifelte, lief hier tatsächlich etwas ganz und gar außerhalb all dessen, was er bislang als Key erlebt hatte. Es hatte jedenfalls definitiv noch keiner seiner Gäste jemals dieses Bett verschmäht, wenn auch vielleicht nicht jeder immer seine nähere Gesellschaft in diesem wünschte. Zumindest nicht sofort. Früher oder später aber war noch jeder von Seveil überzeugt gewesen. Jeder. Er kräuselte die Lippen, warf die weiche Daunendecke nun doch zurück und verließ das Bett mit der Entschlossenheit eines Feldherren auf Beutezug, griff nach einem frischen Hemd und einer eleganten Hose, machte sich am Waschtisch in der Ecke des Schlafzimmers zurecht und zog sich um. Sporadisch überprüfte er sein Aussehen im Spiegel ehe er die Haltung straffte und auf die Tür zum Wohnraum zutrat. * Wie die kostbaren Perlen am Dekolleté einer Königin rannen die Tropfen der sanft schimmernden Flüssigkeit unablässig in den gläsernen Kolben, der zusammen mit dem Rest der Apparatur, die das kostbare Mittel destillierte, auf einer alten Werkbank stand, in jenem heruntergekommenen, kühlen Kellergewölbe, das der Mann, bei dem Leclerc schon seit Jahren seine Gifte beschaffte, seit ebenso langer Zeit erfolgreich vor Obrigkeit, Behörden und Konkurrenz hatte geheimhalten können. Der Giftmischer, von dem Leclerc den Namen ebensowenig kannte wie er ihm seinen Namen preisgegeben hätte, obgleich sie über die Jahre hinweg ein vertrautes Verhältnis der Zusammenarbeit aufgebaut hatten, schüttelte stumm den Kopf. „Palast der Jahreszeiten. Scheint Sabatier ja viel wert zu sein, Ihren neusten Klienten aus dem Weg zu haben. Konkurrenz?“ Leclerc hob die Schultern und schüttelte zeitgleich den Kopf. „Ein Jungspund. Arbeitet bei Rougier und Dupont. Muß ihm irgendwie in die Quere gekommen sein.“ „Ziemlich in die Quere gekommen, möchte man meinen. Daß Sabatier zu solchen Mitteln greift war ihm zuzutrauen, aber daß er es sich solch ein exquisites Sümmchen kosten lässt...“ Der Giftmischer spitzte die Lippen. „Nunja. Man lernt nie aus über die Menschen.“ „In der Tat nicht. Wie lange braucht es noch?“ Er nickte in Richtung der Destille. „Gutes Gift braucht seine Zeit. Was das andere betrifft, das müsste ich...“ Der Giftmischer sah sich suchend um, trat auf ein mit überquellenden Kisten und Kästen vollgestopftes Regal zu und entnahm ihm ein altes Zigarrenkästchen. Er warf einen Blick hinein und nickte zufrieden. „Wieviel?“ Leclerc beobachtete, wie der Giftmischer das Kästchen auf einer weiteren Werkbank abstellte. Der Inhalt war mit einem dunklen Seidentuch gepolstert. „Ich benötige für gewöhnlich keine zwei Versuche, doch der Palast ist weit, und ich fordere das Schicksal ungern heraus.“ „Wie alt ist er? Haben Sie eine Vorstellung, was er wiegt?“ Leclercs Miene hellte sich zu einem schmalen Lächeln auf. „Zufällig konnte man mir bei der Schneiderei, in der er kauft, einige Auskünfte erteilen. Der Statur nach dürfte er dem gängigen Pariser Durchschnitt entsprechen.“ „Schön.“ Zwei unbedeutend wirkende Phiolen entwanden sich dem Kästchen, gefüllt mit einer gelblich-klaren Flüssigkeit. Misstrauisch nahm Leclerc sie entgegen, hielt den Inhalt gegen das rußige Licht einer der Laternen die den Keller erhellten und kniff ein Auge zusammen. „Gute Qualität nehme ich doch an?“ „Die Beste. Das Gift wurde erst vor kürzester Zeit extrahiert. Ich schätze mich derzeit glücklich, Kontakt zu einem Mitarbeiter eines zoologischen Instituts in Nordfrankreich zu haben.“ „Wie nett.“ Leclerc wickelte die Phiolen sorgfältig in sein Taschentuch und steckte sie in die Innentasche seines abgewetzten Mantels zu seiner Zugfahrkarte und einer zierlichen Samtschatulle, die Sabatier erstaunlich schnell herbeiorganisiert hatte. ~wird fortgesetzt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)