Der Neuschnee-key: Poison von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Hinweis: "Poison" spielt im Palast der Jahreszeiten, einem Keyfiction Setting das sich jederzeit über Interessenten und Mitleser/schreiber freut, und unter der folgenden Adresse zu finden ist: http://www.palast-der-jahreszeiten.co.cc Danke! Ein riesengroßes Dankeschön geht an Tsugumi, die Poison beta-liest und dabei die ganzen Verwirrungen und Ungereimtheiten enttarnt, die mir gar nicht mehr aufgefallen sind, die sich mit obskuren Rechtschreibfehlern und Wortwiederholungen auseinander setzt, und ohne die Poison sicher nur halb so gut klänge. :) Poison Your cruel device Your blood, like ice One look could kill My pain, your thrill I want to love you but I better not touch (Don't touch) I want to hold you but my senses tell me to stop I want to kiss you but I want it too much (Too much) I want to taste you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't want to break these chains Your mouth, so hot Your web, I'm caught Your skin, so wet Black lace on sweat I hear you calling and it's needles and pins (And pins) I want to hurt you just to hear you screaming my name Don't want to touch you but you're under my skin (Deep in) I want to kiss you but your lips are venomous poison You're poison running through my veins You're poison, I don't wanna break these chains Poison ( aus: Alice Cooper - Poison) Kapitel 1 „Antoine. Du darfst die Anschreiben nicht vergessen, die du hoffentlich noch angefertigt hast.“ Antoine sah von dem Umschlag auf, dessen Inhalt – ein Ticket für die Dampfeisenbahn – er eben noch betrachtet hatte, und beobachtete seinen Vater, der an seinem Schreibtisch über einem Stapel Akten saß und seinen Sohn nicht ansah. „Natürlich nicht, Vater“, erwiderte er und steckte seinen Umschlag in seine Tasche, wo sich auch die Sendebestätigungen des Postamts befanden, die er am morgen ausgehändigt bekommen hatte, als er die besagten Anschreiben – wichtige Schriftstücke für die Anwaltssozietät in der er seit kurzem, seit Abschluss seines Studiums der Rechtskunde hier in Paris, arbeitete – bereits früh abgeliefert hatte. „Du denkst daran?“ Nur kurz sah sein Vater von seiner Arbeit auf. Antoine warf einen hilfesuchenden Blick zur holzgetäfelten Decke herauf. „Natürlich“, murmelte er und warf einen letzten Blick in die kleine lederne Reisetasche. Der Koffer mit seiner Kleidung, einigen Büchern in die er wohl zwischendurch einen Blick werfen sollte und Schal und Handschuhe - noch fiel ein grauer Nieselregen, der die Stadt einhüllte und den Blick auf den Eifelturm verdeckte, doch gut möglich, daß bald erster Schnee einsetzte – befand sich bereits in der Halle. In seiner Tasche trug er seine Geldbörse, Proviant, den die Haushälterin großzügig zusammen gestellt hatte, seine Bestätigungen, das Bahnticket – und eine Samtschatulle, die er sorgfältig tief unten in der Tasche verstaut hatte, unter einem Päckchen Schinkenbrote. „Wann fährt dein Zug?“ „Um zwölf Uhr sieben.“ Der Vater nickte knapp, setzte seine Unterschrift unter ein Dokument und schloss den Füllfederhalter sorgfältig. „Ich werde Gerard anweisen dich zum Bahnhof zu bringen.“ Antoine lächelte höflich. „Nicht nötig, ich danke dir. Es ist ja nicht weit.“ Eine steile Falte entstand auf der Stirn seines Vaters, die Antoine nur zu gut kannte. Statt zu erwidern zog er lediglich an einer zierlichen Klingenschnur an der Wand hinter ihm, die Gerard, den Butler und Kutscher, und sonstigen Bediensteten des Hauses verständigte. „Wirklich Vater, ich benötige kaum zehn Minuten zum Bahnhof. Ich werde zu Fuß gehen.“ Zum ersten Mal an diesen Vormittag schien Monsieur Rigot seinen Sohn tatsächlich wahrzunehmen. Über den Rand seiner Brille hinweg musterte er ihn abschätzend. Es gab Momente, in denen fragte Antoine sich, was er sah, wenn er seinen Sohn ansah. Am braunen, ordentlich geschnittenen Haar der Mode des Jahres 1890 war nichts zu rütteln, ebenso wenig an den dunkelblauen Augen, am höchst durchschnittlichen Gesicht mit der etwas zu markanten Nase oder dem vollkommen herkömmlichen Körper der allen Männern der Rigots zu eigen war. Nicht zu groß, nicht zu klein, nicht dick, aber auch nicht dünn. Antoine pflegte in der Masse unterzugehen, es gab kein Merkmal, mit dem er sonderlich hervorstäche. Doch ob sein Vater sah, daß sein Sohn nicht mehr der kleine Junge von früher war, der tollpatschig durch die Welt ging, dessen war er sich nicht sicher. Selbst die Tatsache, daß er das Angebot ausgeschlagen hatte, in der rennomierten Sozietät seines Vaters zu arbeiten, als er sein Studium abgeschlossen hatte, hatte hier nicht geholfen. Er hatte gehofft seine neue Selbstständigkeit, seit er die Anstellung in einer kleineren Kanzlei angenommen hatte, würde etwas daran ändern, doch mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob Monsieur Rigot jemals seinen Sohn als erwachsenen Mann sehen würde. „Ich wünsche nicht, daß du zu Fuß zum Bahnhof gehst, Antoine. Es ziemt sich nicht für meinen Sohn. Auch deine Mutter wird darüber nicht sehr erbaut sein.“ „Auch meine Stiefmutter wird einsehen, daß nichts dagegen spricht, wenn ein Mitarbeiter von Dupont und Rougier einen kurzen Weg den er des Morgens mit einigen Anschreiben in der Hand zurückgelegt hat, ein weiteres Mal mit einem Koffer in der Hand vollführt.“ Ob es der Widerspruch als solcher war oder die Betonung der Stiefmutter, die Monsieur Rigots Mund schmal werden ließ konnte Antoine schwer einschätzen. Das eine wie das andere, womöglich auch beides, konnte der Fall sein. Frau Sylvie Rigot, die er vor fünf Jahren geehelicht hatte, war ein Reizthema zwischen ihnen, obgleich Antoine seinen Widerstand gegen sie lang aufgegeben hatte. So wie er als erwachsen angesehen zu werden wünschte hatte er dies schließlich auch seinem Vater zuzugestehen, und so war es gänzlich dessen Entscheidung, mit wem er eine zweite Ehe einging, ob Antoine diese Frau nun sympathisch war oder nicht. Dennoch sorgte das Thema immer wieder für Spannungen, und es war ein Grund mehr, daß Antoine froh war, zumindest tagsüber andernorts zu sein als im ansehnlichen Stadthaus seines Vaters, in dessen Erdgeschoss die Büroräume untergebracht waren, in denen sie sich derzeit aufhielten. Es klopfte an der Tür. Auf das ‚Herein’ seines Vaters betrat Gerard den Raum, ein stets tadellos gekleideter, mittlerweile älterer Herr der seit langem in den Diensten des Hauses stand. Er kannte Antoine von kleinauf, und Antoine mochte den Butler, der stets freundlich zu ihm gewesen war. „Gerard. Spannen Sie an, mein Sohn wünscht zu zwölf am Bahnhof zu sein.“ Der Butler und Kutscher wollte erwidern, doch Antoines Antwort war schneller. „Danke Gerard, das wird nicht nötig sein. Ich werde die Strecke zu Fuß bewältigen. Es wäre ein unnötiger Aufwand, die Kutsche zu nehmen.“ Zwei finstere Blicke aus den gleichen dunkelblauen Augen trafen sich. Monsieur Rigos Lippen waren blass, um sein Kinn lag ein strenger Zug. Doch Debatten vor der Dienerschaft hatte er stets verabscheut. „Nun, du musst wissen was du tust“, presste er schließlich hervor. „Danke Gerard, dann können Sie sich wieder ihren anderen Aufgaben zuwenden.“ „Sehr wohl.“ Gerard verneigte sich und verließ leise den Raum. Monsieur Rigot schloss energisch eine Mappe und zog eine weitere heran, öffnete sie und Blätterte durch einige Papiere, vermerkte hier etwas, notierte dort und machte seinem Sohn unmissverständlich klar, daß er sein Verhalten missbilligte. Antoine fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, warf einen Blick auf die altmodische Standuhr und erhob sich. „Nun denn“, sagte er, und mühte sich darum, arglos zu klingen. „Ich werde mich fertig machen.“ Monsieur Rigot sah nicht auf. „Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt bei deinem früheren Kommilitonen.“ Vage nickte Antoine, setzte dazu an, noch etwas zu sagen und unterließ es doch. „Leb Wohl“, schloss er stattdessen kurz, erntete ein knappes Nicken und verließ den Raum. Er atmete tief durch, als er draußen in der Halle die Tür zum Büro hinter sich schloss. Neben der großen Bodenvase stand sein gepackter Koffer. Unter zunehmendem Schnaufen und Rumpeln setzte der Zug sich in Bewegung. Als sie den Pariser Hauptbahnhof hinter sich ließen, lehnte Antoine sich im Polster seines Sitzes zurück und beobachtete die graue Spätherbstlandschaft die an ihm vorbeizog. Kahle Baumgerippe und ein Horizont der sich nur durch den dunkleren Grauton vom Horizont abhob. Nach Süden ging die Fahrt. Nach Süden, nicht wie von seinem Vater angenommen nach Norden an die Küste, wo er Kommilitonen zu besuchen vorgab. Tatsächlich wohnte ein Studienkollege von ihm mittlerweile im Norden Frankreichs, doch weder hatten sie während des Studiums derart gute Kontakte gehabt, daß sie einen Besuch rechtfertigen würde, noch hätten andere Gründe Antoine in die Gegend gezogen. Aber er hatte eine Ausrede gebraucht, denn er hielt es für weiser, seinem Vater – oder sonst jemandem – nicht mitzuteilen, wohin die Reise stattdessen ging. Das dicke, wenn auch langweilige Buch voller Themen die relevant für seine Arbeit waren lag auf seinem Schoss, doch obwohl die Fahrt lang werden würde konnte er sich nicht dazu aufraffen, es aufzuschlagen. Er war froh, dem Alltag für ein paar Wochen zu entkommen – und ihm war bewusst, wie priviligiert er durch den Glücksfall war, der ihm seinem Reiseziel nun langsam aber sicher näher brachte: Die Sozietät für die er arbeitete mochte nicht halb so bedeutend sein wie jene seines Vaters, doch sie leistete solide Arbeit, und bald hatte Antoine festgestellt, daß man hochkarätige Persönlichkeiten zu den Klienten zählen konnte – solche Personen, die gute Arbeit ebenso zu schätzen wussten wie Diskretion. Niemand scherte sich um eine Kanzlei in einem guten, aber keineswegs berühmten Straßenzug von Paris, und so fühlten Adelige und Politiker sich sicher und unbeobachtet, wenn sie die Dienste der Rechtsgelehrten aufsuchten. Antoine hatte erst vor kurzem seinen ersten Fall an dem er maßgeblich beteiligt war erfolgreich abgeschlossen. Daß zufriedene Klienten hin und wieder großzügige Geschenke machten, war ihm bekannt gewesen, doch für sich selbst hatte er nicht damit gerechnet. Nichtsdestotrotz hatte man ihm beim Abschlussgespräch die samtene Schatulle mit dem filigranen Schlüssel aus geschwärztem Metall darin überreicht, in dem ein Bergkristall eingearbeitet worden war. Er hatte nicht viel damit anzufangen gewusst, doch sein Gegenüber hatte seine Verwirrung vielmehr als Unsicherheit gedeutet und ihm zugezwinkert: Er solle sich nicht scheuen, bald davon Gebrauch zu machen, es sei alles bezahlt, er könne jederzeit brieflich einen Termin vereinbaren. Drei Wochen seien es, und beste Erholung. Nein, nein, keine Sorge, er könne das Geschenk durchaus annehmen, er, der Kunde, habe es selbst geschenkt bekommen, sei aber doch im Grunde viel zu alt dafür, und wolle es nun jemandem zukommen lassen, der mehr damit anfangen könne, und obendrein habe Antoine es sich redlich verdient. Was es tatsächlich mit dem Schlüssel auf sich hatte, hatte Antoine erst im Verlauf der nächsten Tage, nach vorsichtiger Recherche, heraus gefunden, und sich einer gewissen peinlichen Betretenheit nicht erwehren können, welcher Art ‚bester Erholung’ dieses großzügige Geschenk tatsächlich war. So hatte er sich zunächst nicht weiter darum gekümmert, und die Schatulle hatte wohlbehütet in seinem Schreibsekretär gelegen. Jetzt allerdings hatte er befunden, dringend Urlaub zu brauchen. Ein eher unerfreulicher Fall, den er zwar erfolgreich, aber nur unter größten Anstrengungen hinter sich gebracht hatte und der ihn mehr zermürbt hatte, als er sich selbst eingestehen wollte, hatte ihn dazu gebracht, genauer über den Schlüssel nachzudenken – einen Schlüssel im Palast der Jahreszeiten, einem nahezu mystischen Ort, so schien es ihm zumindest, besucht von den renommiertesten Kunden, die dort einer ganz besonderen Art von Erholung nachgingen. Stoisch betrachtete Antoine das Kästchen als er eines seiner Schinkenbrote auspackte um seinen knurrenden Magen zu besänftigen. Urlaub zu bekommen war leichter gewesen als befürchtet, obgleich er, als ihm die drei Wochen bewilligt worden waren, zunächst über sich selbst erschrocken war. Unmöglich konnte er diesen Schlüssel nutzen, der ihm ganze drei Wochen lang – drei Wochen, die Zeitspanne war überwältigend – Zugang zu Dingen gewährte, die man gemeinhin nicht tat, jedenfalls nicht offiziell. Andererseits musste man seine Chancen nutzen, wenn sie sich ergaben. Und auch Luxus harmloserer Natur bot der Palast der Jahreszeiten an, und den wiederum konnte er diesen Winter gut gebrauchen, fand er. Sich drei Wochen lang um nichts weiter Gedanken zu machen war äußerst erstrebenswert. Keine ewigen Aufträge, nicht die stetige halbausgesprochene Kritik und latent versuchte Bevormundung durch seinen Vater – von dem er sich sicher war, daß er im Grunde nur besorgt um seinen einzigen Sohn war. Einfach nur ein freundliches Gesicht um sich herum. Die anderen Vorzüge der Person, die er mit seinem Schlüssel ebenso drei Wochen lang gemietet hatte wie die Suite, die dazu gehörte, plante er nicht in Anspruch nehmen. „Es ist alles bereit für den neuen Holder“, sagte das schüchterne Zimmermädchen und umging einmal mehr die schwierige Frage ob es ihn dutzen oder siezen sollte. Mit einem Arm voll zu waschender Bettbezüge stand sie unsicher im Wohnraum der Neuschnee-suite, den Blick auf Seveil fixiert, der am großen Eichentisch in der Mitte des Raumes über einem Buch saß. „Dank dir“, sagte Seveil kurz, nickte ihr aber freundlich zu. Lang konnte sie noch nicht im Palast arbeiten, er sah sie erst zum zweiten Mal, und sie konnte kaum älter als dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. War das das Alter, um im Palast Zimmermädchen zu sein? Andererseits wusste man mit vierzehn mehr vom Leben als so manches Benimmbuch gern hätte, und hier verdiente sie mit Sicherheit genügend Geld, um einmal ein gutes Leben führen zu können, wenn sie erst einen Mann fand – dem sie ihre heutige Anstellung hoffentlich zu verheimlichen wusste. Kurz wartete sie ab, doch als er sich wieder seinem Buch zuwandte, verließ sie rasch den weiten Raum, der an einen fürstlichen Salon erinnerte mit seinen Seidentapeten, den schweren Teppichen und Vorhängen, dem mächtigen Kamin mit den beiden Sesseln davor, der Sitzecke, dem Klavier und dem Schreibsekretär. So, ein neuer Holder. Seveil erhob sich, schob den Stuhl zurück an den Tisch und ging herüber zu den beiden Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins, um das Buch zurück an seinen Platz zu stellen. Wenn ein neuer Holder eintraf, hatte alles an Ort und Stelle zu sein, und auch so schätzte Seveil keine Unordnung. Der neue Holder, so hatte eine schriftliche Notiz ihn instruiert, war noch jung, eben sechsundzwanzig offenbar und kam aus Paris. Ein reiches Söhnchen aus wohlhabendem Hause, vermutete Seveil gelangweilt. Das übliche. Waren es keine ältlichen Herren die sich nochmal jung fühlen wollten, waren es Jüngelchen die versuchen sich größer darzustellen als sie waren. Immerhin hatten letztere den entschiedenen Vorteil, daß viele von ihnen ein doch zumindest halbwegs ansprechendes Äußeres hatten, und das machte ihren Aufenthalt für ihn angenehmer, auch wenn sie abseits dieses Vorzuges arrogante Schnösel sein mochten. Antoine Rigot hieß er. Immerhin kein von und zu. Aber die Suite für drei Wochen mieten zu können sprach von viel Geld. Viele Kunden konnten kaum länger als eine Nacht, vielleicht ein Wochenende verweilen. Es versprach interessant zu werden. Und die drei Wochen standen seinem Konto mit Sicherheit gut zu Gesicht. Unfreundlicher Schneeregen, gepeitscht von eisigem Wind, trieb die wenigen Passagiere die hier aussteigen wollten dem winzigen Bahnhofsgebäude entgegen, das, wäre es nicht so spät und folglich dunkel, vermutlich Blick auf das Zentralmassiv gehabt hätte. Antoine blickte sehnsüchtig auf seinen Koffer, in dessen Tiefen sein Schal unerreichbar lagerte, und folgte den anderen Menschen durch die Schwingtür ins Innere des Gebäudes, in dem sich nicht viel mehr als einige Wartebänke, ein Schalter und einige dekorative, weihnachtliche Tannenzweige in einer großen Bodenvase befanden. Auf der gegenüberliegenden styleSeite führte eine Tür auf den Vorplatz des Städtchens, zu dem der Bahnhof gehörte. Die schriftliche Buchungsbestätigung, die man Antoine zugesandt hatte, versprach Abholung am Bahnhof. Er hoffte inständig, daß diese Abholung bereits da war, und über einen Stapel Decken im Innenraum der Kutsche verfügte. Der Bahnhofsvorplatz war nicht groß. Eine städtische Droschke, wie sie in ganz Frankreich anzutreffen waren, stand vor dem Gebäude und wurde eben von einem Ehepaar zur Verwendung herangezogen. Auf der Straße näherte sich eine weitere Mietskutsche, entließ ihre Gäste und fuhr weiter. Ein junger Bursche radelte auf einem modernen Fahrrad daher. Doch ansonsten leerte sich der Platz vor dem Bahnhof rasch. Antoine stellte Tasche und Koffer ab, zog seinen Mantel enger um sich, und sah sich fröstelnd um. Welch ein grandioser Auftakt für seinen Urlaub. Er hatte sich so auf die Abholung verlassen, daß er nicht einmal daran gedacht hatte, die Adresse dieses ominösen Palastes der Jahreszeiten mitzunehmen, und der befand sich soweit er wusste außerhalb der Stadt, so daß nicht einmal gegeben war, daß er eine hilfreiche Auskunft erhielt, wenn er danach fragte. Immerhin schien das Etablissement von seiner schleierhaften, gerüchteumwobenen Existenz zu leben. Womöglich existiert es auch gar nicht, schoss es ihm plötzlich unwohl durch den Kopf. Was, wenn es nichts weiter war als ein geschickt ausgedachter Scherz für einen Grünschnabel wie ihn, wenn der Klient ihn hatte necken wollen? Die Stellen, an denen er sich informiert hatte waren abzusehen gewesen, es wäre ein Leichtes gewesen, ihn aufs Glatteis zu führen. Antoine presste die Lippen zusammen. Er hätte nicht so naiv sein dürfen, sich ohne weiteres auf etwas derartiges einzulassen. Nun stand er hier, in tiefer Nacht in einem Städtchen nahe des Zentralmassivs, käme vor morgen früh nicht zurück und hatte mit etwas Pech nicht einmal das Barvermögen, sich ein Hotelzimmer zu nehmen - sofern es hier Hotels gab. Heilige Maria, Mutter Gottes, dachte er niedergeschlagen, was nun. Aus der anderen Straßenrichtung näherte sich Hufgetrappel. Hoffnungsvoll sah Antoine auf, nur um wieder den Kopf sinken zu lassen. Das Hufgetrappel nahm zu, vierfacher Hufschlag. Eine vierspännige Kutsche war ein schlechtes Zeichen. Sie mochte ansehnlich aussehen und einem reichen Herrn gehören, doch in jedem Fall handelte es sich dabei nicht um seine Abholung. In der Tat stellte sich das Gefährt als überdurchschnittlich prachtvoll heraus – dezenter Reichtum sprach aus den zwei Kutschern, schweren Vorhängen in den Fenstern und vier gutgenährten Füchsen die ungerührt durch das unerfreuliche Wetter trabten. Antoine beobachtete wie die Kutsche sich näherte, und fragte sich was ihr Ziel sein mochte, als der Fahrer die Pferde unvermutet zügelte. „Einen guten Abend, der Herr!“ Antoine blinzelte und sah sich um. Der Bahnhofsvorplatz war leer. Der zweite Mann auf dem Kutschbock war auf die Straße gesprungen, neigte höflich den Kopf und griff energisch nach Antoines Koffer. „Antoine Rigot?“, fragte er eher rhetorisch und öffnete mit der freien Hand die Kutschtür. „Bitte steigen Sie ein. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten, das Wetter hielt uns auf.“ „Na... natürlich nicht“, murmelte Antoine überfahren und verharrte vor der Kutsche, überzeugt, daß es sich um einen Irrtum handeln müsse. Doch die beiden Männer in teurer Livree schienen sich ihrer Sache ungleich sicherer und wiederholten die einladende Geste ins Innere. So kletterte Antoine ungelenk ins Innere einer Kutsche, die alle Kutschen übertraf, in denen er je die Ehre gehabt hatte zu fahren. Dunkle Samtvorhänge, bestickte Polster und geschmackvolle Schnitzereien ließen eher auf einen Salon im Kleinformat als auf einen Wagen schließen, der auch noch ausgerechnet ihn befördern sollte. Bald zogen die Pferde an und die Kutsche setzte sich, für ein Gefährt ihrer Art überraschend sanft, in Bewegung. Antoine fand eine warme Felldecke die sorgsam gefaltet auf einem der Sitze lag und hüllte sich hinein, als jenseits der Fenster kleinstädtische Straßenzüge an ihnen vorbeiglitten, einige wenige späte Passanten ihnen beeindruckt hinterhersahen, und die Landschaft zusehends ländlicher wurde. Bald fuhren sie durch einen Wald, der im Dunkeln, nur schwach von den Laternen der Kutsche erleuchtet, drohend zu beiden Seiten des Weges aufragten. Der Weg stieg leicht aber stetig an. Wo mochte dieser Palast wohl liegen? Nur kurz war ihm die Überlegung gekommen, ob es nicht ein ganz schlechtes Zeichen war, daß sie die Stadt verlassen hatten – man hörte allenthalben von Überfällen dieser und ähnlicher Art, in denen nichtsahnende Reisende mit falschen Postkutschen und Droschken in die Irre geführt wurden – doch er verwarf den Gedanken rasch wieder. Gesindel und Räuber konnten sich kaum derartige Kutschen leisten, und überdies war es nur logisch, daß der Palast der Jahreszeiten nicht inmitten der Stadt lag. Pracht, Reichtum und Anerkennung durch die höchsten Gesellschaftsschichten – hinter vorgehaltener Hand – schön und gut, aber derartige Etablissements würden sich in einer Kleinstadt – gerade in einer Kleinstadt, in der Dinge undenkbar waren, die in Paris vielleicht schon seit einigen Jahren Gang und Gäbe sein mochten – ganz bestimmt nicht gut machen. Die naheliegende Erklärung war also, daß alles mit rechten Dingen zuging, ungeachtet der nicht eben unwirtlichen Landschaft entlang des Weges: Der Wald wurde flachter und gedrungener, Fichten wurden ersetzt von gedrungenen Kiefern, zerklüftete Felsen stachen jäh aus dem Unterholz empor. Und immer noch ging die Fahrt bergauf. * „Er ist bitte wo?“ Thomás Sabatier hatte seine Le Temps sinken gelassen und sah seinen Mittelsmann so überrascht an, als hätte dieser ihm soeben verkündet, daß sich in den Tresoren seines Bankhauses statt Goldbarren und wundervollen Französischen Franc ein Haufen rosa Papier gefunden hätten. Doch nichts dergleichen hatte man ihm verkündet – stattdessen lediglich den Aufenthaltsort eines Mannes, an dem er in den letzten Wochen steigendes Interesse gehabt hatte. „Im Palast der Jahreszeiten“, wiederholte der Angestellte mit höflicher Unbeteiligung und rückte Sabatier die handgeschriebene Notiz auf dem Schreibtisch zurecht, die er ihm eben erst vorgelegt hatte. „Im Palast der...“ Sabatier kam nicht umhin aufzulachen. „Wie kann ein Jungspund wie Rigot sich eine derartige Lokalität leisten? Ich bin gern bereit anzunehmen, daß er auf meine Kosten gut verdient hat, doch soweit kann es unmöglich reichen!“ er schnaufte ungläubig und strich sich über das sorgfältig gestutzte Schnauzbärtchen. „Wie lang bleibt er?“ „Drei Wochen, Monsieur.“ „Drei W... dieser Lump.“ Sabatier schüttelte entgeistert den Kopf und griff zu seinem Kalender. „Einmal mehr bringt er alles durcheinander! Da konnte ich dieses... dieses Subjekt von einem Menschen, diesen Leclerc, endlich davon überzeugen, sich meines Problems mit Rigot anzunehmen, und dann verschwindet Rigot bis auf Weiteres im Winterurlaub! Unmöglich so lange zu warten. Ich mag ein reicher Mann sein, aber erstens ist dieser Reichtum dank Rigot in hinreichender Gefahr, und zweitens hat mir dieser Kriminelle unmissverständlich klar gemacht, daß er nicht länger als zwei Wochen zu unserer Verfügung steht. Bei Gott, muß ich einem Straftäter nun auch noch einen Luxusaufenthalt finanzieren?“ Sein Mittelsmann schwieg taktvoll. Sabatier fühlte sich alt. Er fühlte sich eigentlich selten alt, doch in der letzten Zeit, da war er sich sicher, sah man ihm die Jahre des nächsten Jahrzehnts bereits an. Eine läppische, kleine Beschönigung der Tatsachen war es gewesen, mit dem er sein Kreditinstitut ein wenig besser hatte dastehen lassen wollen. Es war an der Tagesordnung, so zu verfahren, jedes Pariser Bankhaus, das etwas auf sich hielt, würde unter den gegebenen Umständen zu derartigen Mitteln greifen. Auch daß einer seiner unliebsamen Konkurrenten, der zufällig etwas zugetragen bekommen hatte, das ganze vor Gericht trug, konnte er im Stillen noch verstehen. Wahrscheinlich hätte er ähnlich gehandelt. So hatte er vorbereitet was vorzubereiten gewesen war, hatte den entsprechenden Stellen die entsprechenden Gelder zukommen lassen, die gemeinhin für ein gewisses Wohlwollen sorgten, und hatte angenommen, daß er damit glimpflicht davonkäme. Weit gefehlt! Die Erinnerung an die Unverfrorenheit dieses Antoine Rigot trieb das Blut in Sebatiers Kopf. Er knurrte etwas unverständliches und zerknüllte das Notizpapier vor ihm auf dem Schreibtisch. Rigot, fast noch grün hinter den Ohren, hatte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht, hatte den sorgfältig geplanten Prozess zu Nichte gemacht inklusive der investierten Bestechungsgelder die er dafür eingesetzt hatte – und es waren ungemein stattliche Bestechungsgelder gewesen. Diese, mitsamt der horrenden Summe um die es eigentlich gegangen war, waren nun zum Teufel, und ein dummer kleiner Antoine Rigot war Schuld, ein kleiner, unbedeutender, ersetzbarer, gerade aus dem Rechtsstudium emporgetauchter junger Mann, den Dupont und Rougier in dem Wissen eingesetzt hatten, daß dieser Prozess ohnehin verloren ging, und man dem neuen Angestellten somit eine Chance geben konnte, sich erstmals allein in der Welt französischer Gerichtbarkeit zurecht zu finden. Und anstatt gefälligst den Prozess mit Anstand und Ehren zu verlieren, hatte Rigot nichts besseres zu tun gehabt als zu schnüffeln, herumzufragen und seine etwas groß geratene Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen. Längst verjährte Vorgänge hatte er ans Licht gezerrt die Sebatier für lang vergessen gehalten hatte! „Schön“, presste er mit unterdrücktem Zorn hervor, „ein Luxusaufenthalt soll es also sein. Drei Tage gestehe ich ihm zu. Den Rest wird er wohl von außen erledigen können. Sie leiten alles in die Wege. Wenn ich das nächste Mal von Rigot höre wünsche ich, daß er Buchhalter geworden ist oder überraschend verstorben, sollte ersteres nicht der Fall sein.“ „Sehr wohl.“ Der unauffällige Mann, der seit einigen Jahren nicht nur einer seiner besten Finanzberater war sondern sich auch anderer Aufgaben hervorragend annahm verneigte sich und verließ den Raum. ~ wird fortgesetzt ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)