Der Wandel mit dem Detective von Lefteye ================================================================================ 04. Oct. 2025 - Ema ------------------- Die Mordwaffe war echt. Ich schüttelte bestimmt schon zum dritten Mal fassungslos den Kopf beim Lesen der forensichen Ergebnisse. Gestern noch hatte ich gedacht, dass das ein schlechter Scherz sein musste, aber es stand hier schwarz auf weiß: Die Glock wurde in kürzester Zeit zwei Mal abgefeuert und die Kugel aus Cadaverinis Leiche konnte auch verifiziert werden. Einerseits war es erfreulich, dass wir nun endlich die Mordwaffe hatten, andererseits war es gut möglich, dass sie als brauchbares Beweismaterial ausschied. Zunächst einmal war die Waffe ungewöhnlich sauber. Einzig die Schussrückstände aus jener Nacht und Hillers Fingerabdrücke waren darauf gefunden worden. Und dann kam noch hinzu, dass das Ding zwar zwei mal abgefeuert wurde, aber wir am Tatort nur eine Patronenhülse fanden. Ich konnte nur hoffen, dass Gavin nicht auf die Idee kam, mir deswegen die Hölle heiß zu machen (zumal auch das zweite Projektil fehlte...) Vermutlich hatte der Mörder die fehlende Hülse mitgenommen. Munch. Munch. Munch. Oh, und die Waffe wurde übrigens aus Fresno abgeschickt. Wenn der Poststempel eine Fälschung gewesen wäre, hätte mich das beruhigt, aber das war leider nicht der Fall. Munch. Munch. Munch. "Ich fasse es nicht, dass so was heute noch möglich ist!", blaffte ich das Papier an. "Machen die bei der Post gar keine Kontrollen mehr?" Mr. Bennett neben mir konzentrierte sich darauf, seinen Dodge auf der Fahrbahn zu behalten und gleichzeitig einen Radiosender zu finden, der nicht rauschte. Die Antenne schien kaputt zu sein. Ich war überrascht gewesen, als er mich vor einer halben Stunde allein vom Präsidium abholte, weil Gavin von zwei oder drei Forensikern gesprochen hatte. Wenn ich Mr. Bennett richtig verstanden hatte, war seine Abteilung gnadenlos unterbesetzt wegen Einsparungen und für einen Mordfall mit einer Cadaverini-Leiche wollte man wohl nur das nötigste Personal erübrigen. Hmpf. Mr. Bennett parkte seinen Dodge in einer Reihensiedlung Bungalows. Ich stopfte die Untersuchungserbenisse in meine Tasche und stieg aus. Meine Hände wurden leicht schwitzig, als wir über das Kopfsteinpflaster zur Eingangstür gingen. Das war meine erste Hausdurchsuchung. Ich wusste zwar, was ich zu tun hatte, aber nicht, was mich erwartete. Mr. Bennett drückte die Klingel, bevor ich es tun konnte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, blockiert von einer Kette, und die Augen eines pummeligen Frauengesichtes musterten mich misstrauisch. "Sind Sie Mrs Hiller?" "Was wollen Sie?" Ich zog aus meiner Tasche die Durchsuchungsanordnung und meinen Dienstausweis und hielt beides gut sichtbar vor den Spalt. "Ich bin Detective Skye und leite die Ermittlung im Mordfall Louis Hiller. Wir haben eine richterliche Befugnis, wonach wir uns in den Räumlichkeiten von Mr. Hiller einmal umsehen müssten." "Mein Sohn ist tot. Verschwinden Sie!" Ich sah Tränenspuren auf ihren Wangenknochen, obwohl die Tür einen Schatten auf ihr Gesicht warf. "Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, uns einzulassen. Möglicherweise befinden sich im Privatbesitz Ihres Sohnes Hinweise zum Mordgeschehen." Ohne ein weiteres Wort knallte sie die Tür zu. Na, das war ja super gelaufen. Ich hatte wirklich keine Lust, eine Einheit ranzutelefonieren, um die verdammte Tür aufbrechen zu lassen! Ich sah kurz ratlos zu Mr. Bennett, aber im nächsten Moment hörte ich die Türkette klappern. Sie bat uns stumm in das Haus. "Könnten Sie sich bitte ausweisen?", forderte ich die Frau auf. Sie wischte sich fahrig die Tränen aus dem Gesicht, lief dann zur Couch und durchwühlte ihre Handtasche. Ich betrachtete kurz die Wohnzimmereinrichtung mit den Holzmöbeln, die eher zweckmäßig wirkten, aber die Pflanzen verliehen dem Raum eine gemütliche Note. Links hinten sah ich eine Kochnische und einen kleinen Esstisch, auf dem sich zerknüllte Taschentücher türmten. Sie gab mir ihren Führerschein. "Vielen Dank, Mrs. Hiller", sagte ich, nachdem ich den Ausweis geprüft hatte und händigte ihr die Durchsuchungsanordnung zum Lesen aus. Ihre Augen flackerten kurz über den Text, dann gab sie ihn mir zurück. "Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen", sagte sie leise. "Im Prinzip steht dort, dass wir uns ausschließlich auf den Privatbereich Ihres Sohnes konzentrieren. Sie müssen also keine Angst haben, dass wir hier alles auf den Kopf stellen. Hatte er ein eigenes Zimmer?" Mrs. Hiller wies auf einen Flur, gegenüber der Eingangstür. "Ganz hinten, links." "Haben Sie irgendwas im Zimmer entfernt oder verändert in den letzten Tagen? Zum Beispiel Staub gewischt?" Mrs. Hiller schüttelte den Kopf. Sie wandte sich von uns ab und ich hörte erstickte Schluchzer. Mr. Bennett berührte mich am Arm, damit ich ihm folgte. Ich war ganz froh, aus ihrer unmittelbaren Nähe verschwinden zu können. Ihre Trauer war für mich mehr als verständlich, aber ich fühlte mich peinlich berührt, schon allein, weil mir für solche Situationen die Worte fehlten. Im Flur war das Licht nicht angeschaltet, im Halbdunkel konnte ich dennoch aufgehangene Fotografien ausmachen. Drei weitere Türen gingen hier ab, vermutlich zwei Schlafzimmer und ein Bad. Ich hatte keine Ahnung, weshalb Mr. Bennet wie angewachsen im Türrahmen stehen blieb. "Das... ist krank", hörte ich ihn sagen. Was auch immer er meinte – vielleicht war Hiller ein Messie oder pornosüchtig – ich musste trotzdem da rein. Also schob ich mich an Mr. Bennett vorbei, betrat das Zimmer... und hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, bevor sich der Eindruck für immer in mein Gedächtnis brannte: Das hier war mehr als krank. Überall an den Wänden hing Gavin! Und zwar in Form von Postern. Ich lachte hysterisch auf. Mr. Bennett schloss schnell die Tür hinter uns und gab mir zu verstehen, dass ich gefälligst leiser sein sollte. "Was ist das?", zischte ich. "Sieht so aus, als wäre Hiller ein Fan von Gavin gewesen. Machen Sie jetzt bitte keinen Aufstand. Es gibt eine Menge Leute, die ihn anhimmeln. Aus welchen Gründen auch immer." "Wer tapeziert sich denn bitte das Zimmer mit einem Staatsanwalt? Und wieso gibt es überhaupt Poster von ihm?!" So selbstverliebt konnte nicht mal der Glimmerfop sein. Mr. Bennett schwieg einen Moment und kratzte sich über die Augenbraue. "Wie lange waren Sie in Europa?" "Fast neun Jahre. Wieso?" "Gavin ist ziemlich berühmt. Nicht als Staatsanwalt, viel mehr als Rockstar." Das stimmte tatsächlich? Als Gavin bei unserem ersten Treffen mit dieser Rockstarnummer anfing, hielt ich das für einen schlechten Scherz. Ich dachte wirklich, er sei Hobbymusiker oder hing sich als Sammler sein Büro mit diesen Gitarren voll, aber dass er tatsächlich professionell Musik machte – PF! Ich beäugte wieder die Poster. "Ist das 'ne Band oder so was?" "Die Gavinners. Eine von diesen Krachbands, bei denen die Vögel aus dem Baum fallen, wenn man nicht schnell genug das Fenster schließt." Gavinners. So ziemlich der dämlichste Bandname, den ich je gehört hatte. Obendrein fragte ich mich, wie Gavin es bewerkstelligte, gleichzeitig Musiker und Staatsanwalt zu sein. Gaben Rockstars nicht normalerweise Konzerte und Interviews und drehten Musikvideos? Zumindest würde das erklären, weshalb er die Ermittlungsarbeit so gern an mir hängen ließ. "Fangen wir an", sagte ich zähneknirschend. Schließlich war ich nicht hier, um über diesen Rock'n'Roll-Staatsanwalt zu sinnieren. Die Tatsache, dass Gavin mich von all diesen Postern anglitzerte, machte die Sache nicht unbedingt leicht, aber wozu gab es Scheuklappen? Ich drehte mich um und entdeckte prompt etwas, das wirklich mit meinem Job heute zu tun hatte: Ein Schreibtisch mit einem Computer. "Den Rechner nehmen wir mit. Sehen Sie sich den Tisch an. Ich mache in der Zwischenzeit ein paar Bilder." Mr. Bennett öffnete seinen mitgebrachten Koffer und ich wandte mich ab, damit es mir nicht in den Fingern juckte, wenn ich Ninhydrin, Aluminiumpulver, Luminol und all die anderen schönen Reagenzien zu Gesicht bekam und ich wünschte mir einmal mehr, dass ich die Prüfung nicht in den Sand gesetzt hätte. Mein heutiges Arbeitshighlight bestand darin, Fotos zu machen und das wurde mir auch noch durch diese unsäglichen Poster vermiest. Hmpf. Ich nahm mir meine Digitalkamera zur Hand und machte zunächst ein paar Abschnittsbilder, bevor ich mich den Nahaufnahmen widmete. Dabei erkannte ich auf einem der Gruppenbilder eine weitere Person wieder. Richtig, das war der Kerl mit der unglücklichen Frisur, der mich auf der Dachterrasse so abfällig gemustert hatte. Dieser Rocky Horror-Verschnitt. Hatte Gavin ihn nicht als Detective bezeichnet? "Kennen Sie den?", fragte ich Mr. Bennett und versuchte möglichst beiläufig zu klingen. Er sah von seinem Koffer auf. "Das ist Crescend. Gavins Ex-Detective. Wenn Sie mich fragen, war es ganz gut, dass man die beiden getrennt hat. Ein Jungspund mit Allüren ist schon kaum zu ertragen, aber die beiden zusammen waren schlimmer als ein Abrisskommando." Noch Jemand mit zu viel Zeit. Vielleicht sollte ich mir auch einen Zweitjob suchen. Als Snackoo-Botschafterin oder so etwas. Je mehr Bilder ich machte, desto unwohler fühlte ich mich. Teilweise war Gavin auf diesen Postern halbnackt, in diesen typischen Teeniezeitschrift-Oberkörperfrei-Ablichtungen und das war das Letzte, was ich vom Glimmerfop zu Gesicht bekommen wollte. Wenn ich ehrlich war, sah er schon ganz gut aus, aber er schien einer der Typen zu sein, die sich nur mühselig ein paar Muskeln an ihren sonst schmächtigen Körper antrainieren konnten. So was war genetisch bedingt und ich verwettete gedanklich ein Jahresabo Snackoos darauf, dass hier mit einem Bildbearbeitungsprogramm nachgeholfen wurde. "Skye?" Ich drehte mich zum Schreibtisch um. Mr. Bennett hielt ein Blatt Papier in der Hand. Ich trat neben ihn und warf einen Blick auf die handschriftlich verfasste Notiz. "Was steht da?", fragte ich. Das war kein Englisch, sondern irgendeine Sprache, die mir kein bisschen geläufig war. "Keine Ahnung. Gavin könnte es lesen. Ich glaube, der war Schweizer oder so." Ich betrachtete die erste Zeile: Klavier. Vermutlich gab es nicht viele, die mit so einem seltsamen Vornamen gesegnet waren. Das Schriftstück war wie ein Brief verfasst, unten prangerte der Name Louis. Und wenn man sich die Postersammlung betrachtete, konnte man wirklich darauf schließen, dass das eine an Gavin adressierte Nachricht war. "Was haben Sie vor?", fragte ich Mr. Bennett, der sein Handy hevorgeholt hatte. Er antwortete nicht und da es mehr als unprofessionell war, in sein Gespräch zu quatschen, hielt ich besser die Klappe. Ich musste gar nicht erst raten, wen er hierher bestellte, aber das Ganze gefiel mir ganz und gar nicht. "Muss das sein? Den Brief kann er uns später immer noch übersetzen!"Gavins Annwesenheit konnte ich hier absolut nicht gebrauchen. "Besser jetzt als später. Wenn da irgendwas Wichtiges drin steht, müssen wir noch mal hier anrücken und ich garantiere Ihnen, dass Gavin zur Diva mutiert, wenn solche Dinge passieren." Stimmte auch wiederum. Ich betrachtete noch einmal den Zettel. "Vielleicht war jemand hier. Wenn das Ding wirklich für Gavin bestimmt ist, wäre es schon die zweite Nachricht. Das Haus wirkt nicht sonderlich alarmgesichert." Ich merkte zu spät, dass ich an meinem Daumennagel kaute. Ich brauchte ein paar Snackoos, aber ich konnte in diesem Zimmer nicht einfach so herumkrümeln. "Schon möglich." Mr. Bennett beugte sich über seinen Koffer und nahm eine Dose Aluminiumpulver zur Hand. Bei der Abnahme der Fingerabdrücke wollte ich nicht blöd in der Gegend rumstehen, also konnte ich in der Zwischenzeit schon den bürokratischen Kram abwickeln. Ich notierte mir noch schnell die Seriennummer des Rechners für das Sicherstellungsprotokoll und verließ das Zimmer. Mrs. Hiller stand am Fenster neben der Kochnische und hielt in der Hand eine brennende Zigarette. Ich verweilte schweigend am Flureingang, unschlüssig, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht. Die Zigarette war fast vollständig abgebrannnt und die Glut drohte... nun ja, war soeben auf den Teppich gefallen. Wie aus einer Trance gerissen, drückte Mrs. Hiller die Zigarette hektisch in einen Aschenbecher aus und holte aus der Spüle einen Lappen um die Asche wegzuwischen. "Ist es okay, wenn ich Ihren Couchtisch mal kurz benutze? Ich muss etwas schreiben", fragte ich zögerlich. Sie wandte ihr Gesicht zu mir und erst jetzt sah ich, dass es vollkommen nass war. Sie nickte stumm und ich hielt es für besser, mich ebenso stumm an den Tisch zu setzen und mit meiner Arbeit anzufangen. Ich hatte kaum Datum und Uhrzeit für den Bericht notiert, als ich hörte, wie sie beherzt in ein Taschentuch schnäuzte und dann vor sich hin wimmerte. Natürlich war ihr Kummer nachzuvollziehen, aber ich hoffte, dass sie sich beruhigte, andernfalls konnte ich mich kein bisschen konzentrieren. "Ich hab Sie vorhin angelogen", unterbrach Mrs. Hiller nach ein paar Minuten ihren Heulkrampf. "Bitte?" "Ich... ich war in Louis' Zimmer und hab Wäsche in seinen Schrank geräumt. Die war noch im Trockner. Wissen Sie, ich hatte das einfach vergessen. Ich hab sie... aus dem Trockner genommen, gebügelt und in seinen Schrank gelegt." "Das ist in Ordnung", erwiderte ich. Sie schnäuzte erneut in ein Taschentuch und schien wirklich etwas besänftigter. Ich mühte mir ein Lächeln ab und beugte mich dann wieder über meinen Bericht. "Er hat diesen roten Pullover so gerne getragen. Seit Jahren hatte er den und ich durfte ihn nie wegwerfen, obwohl er schon so verwaschen ist." Ich sah auf und zwang mich wieder zu lächeln. Was sagte man in so einer Situation? Auf der Polizeiakademie brachten sie dir bei, wie man ein Verhör führte, eine Waffe handhabte und am Tatort ermittelte, aber nicht wie man mit den Angehörigen von Opfern umging. Oder sie hatten es bewusst ausgelassen. Jetzt saß ich hier und fühlte mich mit dieser Frau komplett überfordert. Am liebsten wäre ich einfach abgehauen, schon allein, weil sie mich plötzlich mit aufgerissenen Augen fixierte. "Sie wissen nichts über meinen Sohn. Gar nichts. Er ist Ihnen doch vollkommen egal. Suchen Sie überhaupt richtig nach dem Mörder?", keifte sie mich an. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Psychothriller. Der Wahnsinn in ihrem Blick gruselte mich und in ihrer Stimme lag für meinen Geschmack zu viel Aggressivität. Ich erhob mich und nahm die Unterlagen vom Couchtisch. "Ich bin kurz draußen, Mrs. Hiller", entschuldigte ich mich und steuerte die Tür an. Es war besser, wenn ich vorerst aus ihrem Sichtfeld verschwand, bevor sie auf die Idee kam, ihrer Wut Nachdruck zu verleihen. "Ja, verschwinden Sie nur! Und nehmen Sie den anderen gleich mit!", rief sie mir nach. Ich zog die Tür hinter mir nicht zu, sondern lehnte sie nur an, damit ich später nicht in Verlegenheit kam, Mrs. Hiller um einen erneuten Zutritt anbetteln zu müssen. Nachdem ich ein paar Snackoos gegessen hatte, klärte sich das Chaos in meinem Kopf und ich konnte mich wieder meinem Bericht widmen. Zum Glück hatte ich ein Klemmbrett bei mir. Eine Hauswand als Schreibunterlage hätte mein Schriftbild noch schlimmer aussehen lassen. Es war ohnehin schon kaum lesbar und mir graute es vor dem Gedanken, das Ganze später abtippen zu müssen. Bei Gelegenheit musste ich Gumshoe fragen, ob das Präsidium mir ein Taschen-Notebook zur Verfügung stellte. Ich war mit dem Bericht in etwa zur Hälfte fertig, als ich Gavinisches Motordonnern hörte. Oh Freude. Ich beendete meinen Satz und drehte dann den Kopf in Richtung Glimmerfop, der... merkwürdig aussah. Dieser Zopf, der sonst sorgsam gezwirbelt über seiner Schulter hing, war aufgedröselt und sah so gar nicht glimmerös aus, aber mir fiel auf, dass Gavins Haare fast länger als meine waren. Pf. Bestimmt war dieses Platinblond auch noch gefärbt. Nach einem kurzen, überflüssigen Wortwechsel, betrat er das Haus. Ich fischte einen Snackoo aus meiner Tasche und während ich ihn kaute, fragte ich mich, wie Mrs. Hiller wohl auf ihn reagieren mochte. Immerhin war Gavin der Dreh- und Angelpunkt im Zimmer ihres Sohnes. Entweder würde sie ihn wie eine Gottheit behandeln oder... Klirr! ... Oder auch nicht. Ich ließ das Klemmbrett und den Stift fallen und stieß die Tür auf. Mein Blick flog als erstes zu Gavin an der Wand, der wie versteinert ein zerbrochenes Glas musterte. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung, schoss auf Verdacht in Richtung von Mrs. Hiller und konnte sie gerade noch davon abhalten, eine Vase samt Blumen nach Gavin zu werfen. Tatsächlich versuchte Mrs. Hiller mir die Vase zu entreißen, weshalb ich mich gezwungen sah, ihr das Ding gewaltsam abzunehmen und sie mit einem Sicherungsgriff ruhig zu stellen. "Wenn Sie in Ihrem eigenen Haus randalieren, ist das allein Ihre Sorge. Aber wenn Sie den fallhabenden Staatsanwalt körperlich attackieren, kriegen Sie ein großes Problem, Mrs. Hiller." Ich klang wesentlich beherrschter, als mir zumute war. Gavin stand immer noch da wie in einem Wachsfigurenkabinett. "Jetzt gehen Sie schon, Mr. Gavin." Brauchte er eine Extraeinladung, oder was? Endlich bewegte er sich und ich atmete erleichtert aus, als er nicht mehr zu sehen war. "Kann ich Sie loslassen, ohne dass Sie ihn erneut angehen?", fragte ich Mrs. Hiller, die aufgehört hatte, sich in meinem Griff zu winden. Sie nickte und ich ließ von ihr ab. Erst jetzt merkte ich, dass der linke Ärmel meines Kittels bis zum Schulterblatt durchnässt war. Verdammtes Blumenwasser. Ich zog den Kittel aus. Brachte nicht sonderlich viel, weil meine Bluse darunter auch durchgeweicht war. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass Mrs. Hiller sich ihren Taschentüchern widmete und keine Küchenmesser wetzte, fragte ich mich, was Gavin zu diesem Brief sagte. Ich wollte gerade den Flur betreten, als er an mir vorbei rauschte. "Mitkommen." Auf dem Weg nach draußen sah ich, dass er den Brief bei sich führte. "Haben Sie was zu schreiben?", fragte er. Ich gab ihm meinen Stift und einen Notizblock. Er faltete den Brief an der Hauswand auseinander, legte den Block darüber und mit jedem Wort, das er übersetzte, lief es mir ein Stück mehr eiskalt den Rücken runter: Louis Hiller hatte gewusst, dass er sterben würde. "Welche Sprache ist das überhaupt?", murmelte ich, mehr um meine wirren Gedanken zu ordnen. "Deutsch. Absolut fehlerfreie Grammatik." Gavin gab mir die Übersetzung, den Brief und Stift zurück. "Sie werden jetzt mit Mrs. Hiller eine Zeugenvernehmung machen. Haben Sie ein Aufnahmegerät bei sich?" Ich brummte zustimmend, weil ich grundsätzlich ein Diktiergerät mit mir führte. Das Gespräch hätte ich lieber Gavin überlassen, aber so wie sie auf ihn reagierte, war das wohl nicht möglich. "Sie ist ziemlich labil. Ich weiß nicht, ob ich alles aus ihr rausbekomme", gab ich zu bedenken. "Gerade, weil sie so labil ist, haben Sie nur eine Gelegenheit. Enttäuschen Sie mich nicht, Fräulein Skye." "Ihre Worte sind echt aufbauend." Ich schob mir zwei Snackoos in den Mund. Er grinste und sein Blick blieb an der durchnässten Stelle meiner Kleidung hängen. "Kein Grund sich ins Hemd zu machen, ja?" Memo ans Hirn: Witz suchen. Munch. Munch. Munch. Er griff nach meinem Handgelenk und bevor der Wunsch vollendet war, ihm einfach meine Faust ins Gesicht zu donnern, begriff ich, dass er nur die Uhrzeit gecheckt hatte. "Fragen wird überbewertet, nehme ich an." "Ich sehe Sie in vier Stunden in meinem Büro. Viel Spaß mit Mrs. Hiller." Ich sparte mir einen Freudentanz, holte mein Klemmbrett von der Wiese und stieß die Tür ein wenig zu energisch auf, sodass Mrs. Hiller vor ihrem Berg Taschentücher zusammen zuckte. "Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen", sagte ich und bemühte mich, die Tür leise zu schließen. Mrs. Hiller blinzelte mich verwundert an. "Sie haben nichts falsch gemacht. Es geht um Ihren Sohn." Ich setzte mich zu ihr an den Esstisch und legte mein Zeug auf den freien Stuhl neben mir. Das Diktiergerät platzierte ich angeschaltet auf dem Fleckchen Tischplatte, das noch nicht mit benutzten Taschentüchern übersäht war. "Sie können jederzeit die Vernehmung abbrechen oder Aussagen verweigern, wenn Sie sich dadurch selbst belasten. Alles, was Sie sagen, muss der Wahrheit entsprechen. Falschaussagen können rechtliche Konsequenzen für Sie haben." Mrs. Hiller straffte den Rücken und knetete das Taschentuch in ihren Händen. Ich gab ihr den Brief ohne Übersetzung. "Das haben wir in seinem Zimmer gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte?" "Das ist Louis' Handschrift. Aber was steht denn da?" "Wir konnten es noch nicht übersetzen", log ich. Die Wahrheit hätte sie womöglich aufgeregt und ich hatte noch ein paar Fragen vor mir. Gewissheit hatten wir ohnehin erst nach der Schriftanalyse. "Wir haben die Vermutung, dass es sich bei dieser Sprache um Deutsch handelt. Ist die Sprache bei Ihnen in der Familie gängig?" "Nein. Louis war auch nie gut in Fremdsprachen. In Spanisch ist er immer durchgefallen." "Hatte er vielleicht einen Sprachkurs belegt?" Auch wenn sie mir das jetzt verneinte, konnte ein Anruf bei Hillers Universität nicht schaden. Ich machte mir eine Notiz, damit ich es später nicht vergaß. "Nicht, dass ich wüsste." "Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Sohn beschreiben?" Mrs. Hiller antwortete nicht sofort und ich sah, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten, die sie sich hektisch weg wischte. "Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Wir hatten ein gutes Verhältnis. Ich habe ihn über alles geliebt", sagte sie mit zittriger Stimme und ich befürchtete, dass ich hier nicht sehr weit kam. "Waren Sie alleinerziehend?" "Mein Mann hat uns sitzen gelassen, als Louis vier Jahre alt war. Dabei war er derjenige, der unbedingt ein Kind adoptieren wollte. Und dann, als er merkte, dass Kinder auch Verantwortung bedeuten, ist er einfach abgehauen." "Wusste Ihr Sohn von der Adoption?" "Ich habe es ihm erzählt, als er acht Jahre alt war." Dass Hiller adoptiert wurde, hörte ich zum ersten Mal und ich fragte mich, ob Gavin Bescheid wusste. "Hat er Verhaltensauffälligkeiten gezeigt vor seinem Tod?" "Ich weiß nicht. Er war in den letzten Monaten so viel unterwegs und kam oft nur zum Schlafen nach Hause. Er hatte immer gesagt, dass er in der Uni war oder bei Freunden. Manchmal war er tagelang weg." "Hat Sie das beunruhigt?" "Er wirkte glücklich, fast euphorisch. Da wollte ich ihm keine Vorhaltungen machen. Wissen Sie, Louis war früher so ein Einzelgänger und saß ständig vor seinem Computer. Er war erwachsen, was hätte ich denn sagen sollen?" Ihre Aussage passte mit dem zusammen, was wir gestern von Viola erfahren hatten. Er pflegte in den letzten Monaten intensiven Kontakt zum Cadaverini-Clan, was seine ständige Abwesenheit zu Hause erklärte. Trotzdem fragte ich mich, ob Hiller wirklich so blauaäugig und einsam war, dass er sich in den Kreisen einer Mafiafamilie glücklich fühlte. Violas schnarrende Stimme hallte durch meinen Kopf. Louis Hiller war ein Freak... in jeder Hinsicht. Und mir fiel wieder ein, wie sie Gavin in diesem Moment gemustert hatte. Sie hatte es gewusst. "Wie lange ging der Fankult um diese Band denn schon?" "Schon ziemlich lange." Mrs. Hiller stand auf, ging zur Küchenzeile und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. "Sechs Jahre. Vielleicht auch sieben." Sie kehrte mit einem Aschenbecher zurück an den Tisch. "Gab es Streit deswegen?" "Er hat sein ganzes Geld dafür ausgegeben. Einmal wollte er auf ein Konzert und weil er pleite war, hatte er mich gebeten ihm das Geld zu leihen. Das waren um die Hundert Dollar. Ich wollte es ihm nicht geben, da ist er ausgerastet." Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. "Ist er handgreiflich geworden?" "Ich kam ins Krankenhaus. Er hat sich tausend Mal entschuldigt." "Haben Sie damals Anzeige erstattet?" Sie schüttelte den Kopf. Glut fiel von ihrer Zigarette und sie klopfte hastig ihre Hose ab. "Ich bin heute so ein Tollpatsch." "Mrs. Hiller, kann es sein, dass ihr Sohn schwul war?", fragte ich vorsichtig. Die Poster in seinem Zimmer, insbesondere den halbnackten Glimmerfop, konnte ich beim besten Willen keinem Heterosexuellen zuordnen. Sie drückte die halb abgebrannte Zigarette im Aschenbecher aus. "Ich weiß es nicht. Er hat nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Einen Jungen auch nicht. Und wenn schon – ist das wichtig? Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt... sexuell aktiv war." "Ihr Sohn hatte Aids." Und da war er wieder. Dieser wahnsinnige Blick. "Das hatte er nicht!" "Vielleicht sollten Sie sich testen lassen. Nur zur Sicherheit." "Wie können Sie so was sagen?" Ihre Stimme überschlug sich beim Versuch mich gleichzeitig anzuschreien und den aufkeimenden Heulkrampf zu unterdrücken. Ich schaltete das Diktiergerät ab, das musste Gavin vorerst genügen. Als ich aufstand, hielt sie mich am Arm fest. "Das hätte mir doch unser Hausarzt gesagt!" Sie sah mich so verzweifelt an, dass ich mich nur noch hilflos fühlte. "Bitte lassen Sie sich testen", schloss ich die Vernehmung ab und machte mich daran, meinen Kram in die Tasche zu räumen. Mrs. Hiller weinte mittlerweile hemmungslos am Tisch. Großer Gott, diese Frau tat mir leid, aber ich konnte ihr einfach nicht helfen. Ich stellte mich in den Flur und rief im Präsidium an. Gumshoe versprach mir, in den nächsten Minuten Nummern von Psychologen herauszusuchen. Als Nächstes betrat ich Hillers Zimmer. Mr. Bennett sortierte etwas in seinem Koffer. "Und?" "Wir haben ein Problem." "Haben Sie was gefunden?" "Ich habe gar nichts gefunden, das ist das Problem. Hier hat jemand kräftig sauber gemacht." Es gab hier keine Fingerabdrücke? Das war... nahezu unmöglich? "Und das Bett?" "Keine Spuren, nicht mal ein Hautschüppchen. Die Matratze scheint nagelneu zu sein und die Bettwäsche ist so lupenrein, als ob sie vorher abgekocht wurde." Mir fiel ein, was Mrs. Hiller gesagt hatte bezüglich der Wäsche. "Waren Sie schon am Kleiderschrank?" "So weit war ich noch nicht." Er zeigte auf die Jalousien. "Selbst die wurden akurat gesäubert." Mr. Bennet schien wirklich verärgert. Ich sah dabei zu, wie er mit dem Aluminiumpulver zunächst die Griffe des Schranks behandelte. "Da ist was...", murmelte er. "Die Abdrücke gehören vermutlich zu Mrs. Hiller. Sie hat dort Wäsche eingeräumt." Nachdem er die Abdrücke vollständig abgenommen hatte, zog er sich die Handschuhe aus. "Scheint, als bräuchte ich doch eine Einheit aus der Forensik. Ich werde gleich ein paar Kollegen ranordern. Für Sie gibt es dann nicht mehr viel zu tun, Skye." Die spannenden Dinge waren natürlich für die anderen vorgesehen. Ich nahm mir das Sicherstellungsprotokoll zur Hand, setzte im Voraus meine Unterschrift und notierte die Seriennummer und die Mitnahme des Rechners und Hillers Brief. "Haben Sie schon was für die Vergleichsanalyse der Handschrift?", fragte ich. "Ein paar alte Studienaufzeichnungen." Das schrieb ich ebenfalls auf das Protokoll und gab den Durchschlag Mr. Bennett, damit er ihn später Mrs. Hiller aushändigte. Mein Handy vibrierte: Gumshoe hatte mir per Kurzmitteilung drei Nummern von Psychologen in der Nähe gegeben, darunter ein Krankenhaus. Ich übertrug die Nummern auf einen kleinen Zettel, den ich Mrs. Hiller zum Abschied gab. Als ich das Haus verließ, hoffte ich zweierlei Dinge: Dass sie sich Hilfe suchte und ich dieses Haus nie wieder betreten musste. Aus Gavins geschlossener Bürotür schepperte Rockmusik und ich fragte mich, wie seine Kollegen in den angrenzenden Räumen es schafften, ungestört zu arbeiten. Ich trat ein, als eine E-Gitarre auf ihrem Gipfel quietschte und am liebsten wäre ich wieder gegangen. Gavin lehnte rücklings an seinem Schreibtisch und las Dokumente. Vermutlich die Ergebnisse aus der Forensik von heute Morgen. Offensichtlich hatte er das Zeitfenster genutzt um sich eine Rundumverschönerung zu gönnen: Er hatte sich umgezogen und von der glimmerösen Frisur stand kein Härchen ab. Ich kramte aus meiner Tasche meine Snackoos und wartete darauf, dass Gavin endlich mit dem Lesen fertig wurde und sich erbarmte, diesen Krach abzustellen. Nach fünf Minuten war ich versucht, einen Snackoo nach ihm zu werfen, als er endlich nach einer Fernbedienung griff und die Musik abstellte. "Darüber reden wir gleich. Vorher will ich etwas anderes von Ihnen wissen", sagte er mit einem Wink zu dem Diktiergerät, das ich gerade auf seinen Tisch gelegt hatte. Über was wollte er denn sonst reden? Er wies auf einen Stuhl, auf dem ich dann auch artig Platz nahm. "Wie kann es sein, dass jemand, der die Polizeilaufbahn einschlägt, keinen Führerschein hat? Ich höre so was zum ersten Mal." Das traf mich ziemlich unvorbereitet. Gavin hatte Recht – es gehörte zum Ausbildungsverfahren dazu, aber erwartete er jetzt wirklich, dass ich ihm eine Erklärung lieferte, die nicht hirnrissig klang? "In meinem Jahrgang gab es extrem viele Schüler. Und der Typ, der uns auf der Akademie das Fahren beibringen sollte, war ständig krank und... ich schätze, das ist einfach untergegangen... Irgendwie. Und-" Ich unterbrach mein Gestammel und wich Gavins Blick – war das Fassungslosigkeit? - aus. Was war schon dabei, wenn ich keinen Führerschein hatte? Es gab eine Menge Leute, die nicht Autofahren konnten. Gut, diese Leute waren vermutlich keine Polizisten. "...Und?", hakte Gavin nach. Er würde wohl nicht locker lassen. Pf. "Sind Sie schon mal in London Auto gefahren? Ich dachte einfach, es wäre nicht so wichtig." "Nicht wichtig?" "Ich wollte keine Tatortermittlerin werden, sondern in die Forensik. Konnte ja keiner ahnen, dass die Prüfer so gemein sind", murmelte ich und steckte mir einen Snackoo in den Mund. Auf dem konnte ich wenigstens ärgerlich rumkauen, ohne dass ich ihm Rechenschaft ablegen musste. "Sie werden heute noch zur Zulassungsstelle gehen und sich für die Prüfung anmelden. In spätestens einer Woche möchte ich eine bestandene Theorie sehen. Haben Sie jemanden, der Ihnen ein paar Fahrstunden erteilen kann?" "In einer Woche?", fragte ich entsetzt. Das konnte nicht sein Ernst sein! "Ich bitte Sie, Fräulein Skye. Das sind ein paar Fragen, die Sie ankreuzen müssen. Und ich bezweifle, dass es Sie überfordern wird, wenn es nahezu jeder Highschoolschüler auf die Reihe bekommt." Gavin vergaß, dass Highschoolschüler nicht nebenbei damit beschäftigt waren, einem Mörder nachzujagen. Gerade jetzt hatte ich weder Zeit noch Nerven, Fragen aus einem Fahrschulkatalog zu büffeln. "Schätze, es bringt nicht viel, zu protestieren", murmelte ich leicht angesäuert. "Nicht, wenn es sich um eine dienstliche Anweisung handelt. Und sehen Sie es mal positiv: Sie bekommen Ihren eigenen Dienstwagen, sind mobil und nicht mehr darauf angewiesen, sich von Ihren Kollegen durch die Gegend kutschieren zu lassen." Blabla. Gavin sollte lieber betonen, dass ich nie wieder in die missliche Lage käme, auf seinem Motormonster um mein Leben fürchten zu müssen. "Wie schön, dass wir uns so einig sind, Fräulein Skye. Dann können wir uns jetzt den fallrelevanten Fragen zuwenden, ja?", fuhr er fort und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Ich sank etwas missmutig in meinen Stuhl und versuchte mir auszumalen, wie ich es verdammt noch mal schaffen sollte, für diese Prüfung zu lernen. Ich hatte ja jetzt schon kaum Freizeit. Etwas Schweres landete raschelnd in meinem Schoß: Eine prall gefüllte Snackootüte in XXL-Größe! Ich sah verwundert zu Gavin. "Und wofür ist die?" "Für Sie natürlich. Oder vielmehr für Ihren Verstand. Louis Hiller als Schützen in Betracht zu ziehen, wäre mir wohl erst wesentlich später in den Sinn gekommen." War das Gavins Vorstellung von Mitarbeitermotivation? Ich kam mir gerade wie ein Hund vor, dem man ein paar Leckerlis zuschob. Ich verzichtete trotzdem darauf, mich zu beschweren. Immerhin waren es Snackoos. Wuff. "Darf ich fragen, wie Sie auf diese Idee gekommen sind?" "Na ja", erwiderte ich zögerlich, "Ich wollte alle Eventualitäten ausschließen. Man soll ja alles in Betracht ziehen." Ich räusperte mich und hoffte einfach, dass Gavin mir das abkaufte. Dass die Schmauchspuranalyse an Hillers Händen mehr ins Blaue geraten und dem Gespräch mit Mr. Edgeworth zu verdanken war, musste ich Mr. Superkompetent ja nicht auf's Auge drücken. Nicht, seitdem ich mich gezwungen sah, in Rekordzeit meine Führerscheinprüfung zu absolvieren. "Sehr schön", sagte er schließlich. Wuff. Gavins Kopf neigte sich zur Tür, weil es geklopft hatte. "Herein." Auch mein Blick ging zur Tür und angesichts des eintretenden Besuchers ging mir auch fast die Kinnlade runter. Entweder spielten mir meine Augen einen Streich oder da kam tatsächlich ein Gavin-Duplikat in das Büro spaziert, nur anders gekleidet und mit einer Brille auf der Nase. "Kristoph." Gavin klang freundlich, aber wirkte überrascht. "Ich hoffe, dass ich nicht ungelegen komme." Der Mann vor mir sah aus, als hätte man dem Glimmerfop seine Blingbling-Accessoires weggenommen, in einen Anzug geprügelt und ihm ein Seriös-Gen in die DNA gepflanzt. Er rückte seine Brille zurecht, nachdem er mich kurz inspziert hatte. "Nun, Klavier, möchtest du sie mir nicht vorstellen?", unterbrach er das kurze Schweigen, das wohl aufgrund meines Starrens ausgebrochen war. "Sicher. Ema Skye, mein neuer Detective." Gavin wedelte knapp mit der Hand zwischen uns. "Und das ist mein Bruder Kristoph, Strafverteidiger." Erst jetzt fiel mir ein, dass Mr. Edgeworth ihn erwähnt hatte. Bei der verblüffenden Ähnlichkeit zum Glimmerfop hätte ich auch gleich darauf kommen können. "Sehr erfreut", begrüßte er mich und ich schüttelte kurz seine dargebotene Hand. "Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber Klaviers Bekanntschaften sind immer so erheiternd." Ach, waren sie das? Keine Sekunde später hatte er sein Augenmerk wieder auf seinen Bruder gerichtet. "Was ist denn mit deinem, ach, wie hieß er doch gleich?" "Daryan hat die Abteilung gewechselt. Was führt dich zu mir?" Kristoph Gavin fegte einen nicht vorhandenen Fussel vom seinem Schulterblatt, dann lächelte er herzlich. "Ich hätte anrufen sollen, nicht wahr?" Langsam, aber sicher fühlte ich mich überflüssig in diesem Büro und hätte mich ganz gern in Luft aufgelöst, während ich Gavins Bruder dabei beobachtete, wie er seinen Blick über das Mobilar schweifen ließ. War er hier zum ersten Mal oder tauschte der Glimmerfop regelmäßig seine Büromöbel aus? "Ich war gerade bei Diane und bei dem bezaubernden Duft, den das Jasmin-Bouquet in ihrem Büro verströmte , fühlte ich mich gleich an dich erinnert. Bei der Gelegenheit wollte ich einfach mal vorbeischauen und mich nach deinem Wohl erkundigen, mein Bruderherz." Gavin schmunzelte verhalten. "Wie aufmerksam von dir, Kristoph. Alles bestens, danke der Nachfrage." Kurzes Schweigen folgte, als wartete sein Bruder auf einen Zusatz. "Das freut mich", sagte er schließlich, ging dann zur Fensterfront und fuhr fort: "Mrs. Coltrane ließ mir mitteilen, dass du ihr immer noch keine Rückmeldung bezüglich deines Erscheinens zu ihrer alljährlichen Wohltätigkeitkeitsveranstaltung hast zukommen lassen." Als auch nach mehreren Sekunden keine Antwort kam, hörte Kristoph Gavin auf, die Aussicht zu bewundern und wandte sich wieder dem Raum zu. "Du hattest sicher deine Gründe. Ich habe, in Anbetracht der Dringlichkeit, dein Kommen für morgen Abend bestätigt. Solltest du dich übergangen fühlen, steht es dir natürlich frei, wieder abzusagen." Wahrscheinlich täuschte ich mich und ich kannte Kristoph Gavin nicht, aber für mich klang das untererschwellig wie Denk nicht mal daran abzusagen. "Ich werde da sein. Danke, Kristoph." Gavins Bruder lächelte wieder herzlich, dann betrachtete er mich kurz. "Ich will auch gar nicht weiter deine kostbare Zeit beanspruchen." "Du störst mich nicht", sagte Gavin ein wenig hastig. "Ich weiß, Klavier, aber ich habe auch noch etwas zu tun." Kristoph Gavin schlenderte zur Tür und wartete, bis sie ihm geöffnet wurde. "Wir sehen uns morgen. Sollte dir etwas dazwischen kommen, lass es mich wissen." "Sicher. Komm gut nach Hause, ja?", erwiderte Gavin, ließ seinen Bruder austreten und schloss dann sacht die Tür. Vielleicht war mein Eindruck falsch, aber dafür, dass die beiden Geschwister waren, gingen sie merkwürdig steif miteinander um. Wann auch immer ich Lana verabschiedete, entließ ich sie niemals ohne Umarmung. Aber es konnte auch daran liegen, dass meine Anwesenheit gestört hatte. "Sie sehen Ihrem Bruder verdammt ähnlich", kommentierte ich Kristoph Gavins Blitzbesuch. "Bitte denken Sie nicht einmal daran, dass er mein Zwillingsbruder sein könnte. Er ist acht Jahre älter als ich." Das klang, als ob er diese Bemerkung schon viel zu oft gehört hatte, von daher beließ ich es dabei und zuckte mit den Schultern. Gavin setzte sich auf seinen Schreibtisch und sah mich auffordernd an. "Wie war's mit Mrs. Hiller?" Ich deutete auif das Diktiergerät. "Viel Spaß." Als meine Stimme vom Band ertönte, hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten. Es war schon komisch, dass die eigene Stimme immer so fremd klang, wenn man gezwungen war, sie zu hören. Ich schnappte mir meine XXL-Snackootüte und schlenderte im Büro umher. Gavins Büroeinrichtung war zum Großteil ziemlich albern (wobei ich ihn um diesen Massagesessel beneidete – PF!), aber dieser Panoramaausblick auf LAs Straßen war schlichtweg gigantisch. Munch. Munch. Munch. Die Fenster bei uns im Großraumbüro waren so klein, dass es einer Frechheit gleichkam, das als Ausblick zu bezeichnen. Munch. Munch. Munch. Unten tummelte sich das Chaos des Nachmittagsverkehrs. Durfte ich mir meinen Dienstwagen eigentlich aussuchen, wenn ich den Führerschein hatte? Munch. Munch. Munch. Vermutlich nicht. "Mrs. Hiller, kann es sein, dass Ihr Sohn schwul war?" Ich drehte mich von der Fensterfront weg, weil Gavin gleich mit dem Band fertig sein würde und nahm die Richtung zu meinem angestammten Platz. Im Vorbeigehen fiel mir auf, dass er mich mit verschränkten Armen intensiv musterte. Wie lange starrte er mich schon so an? Wenn er mir jetzt erzählte, dass ich die Vernehmung völlig falsch geführt hatte und sie somit unbrauchbar war, würde ich ihm jeden einzelnen Snackoo meiner XXL-Tüte in sein Grinsegesicht werfen – und ich hatte ja noch nicht viele gegessen. Munch. Als das Band endlich schwieg, ruhten seine Augen immer noch auf mir. So langsam fand ich das unangenehm. "Hab ich was falsch gemacht?" Er lächelte. "Ein bisschen knapp, ja? Aber viel mehr hätte selbst ich nicht aus ihr rausbekommen." Klang nach Gavinischem Lob. Wuff. Er gab mir das Diktiergerät zurück. "Ich brauche das in zweifacher schriftlicher Ausführung und eine digitale Kopie." "Ich bin nicht Ihre Sekretärin, Mr. Gavin." "Dann suchen Sie sich jemanden, der das für Sie macht." Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. "Schon mal ein Täterprofil erstellt?" "In der Theorie? Gefühlte hundert Mal." "Ich bin mir sicher, dass Sie nur darauf brennen, das Ganze in der Praxis zu versuchen. Bis morgen sollten Sie das hinkriegen, ja?" Schön, das hieß also, dass ich noch lange nicht Feierabend hatte. Munch. Munch. Munch. "Und ich möchte, dass Sie sich darauf vorbereiten, als Sachverständige vor Gericht auszusagen." Munch. Munch. Munch. "Hören Sie mir zu?" "Sicher, Mr. Gavin. Sie möchten, dass ich in der Verhandlung aussage. Ist angekommen. Oder brauchen Sie das auch noch schriftlich?" Kurz zuckte es um seine Mundwinkel, aber er sagte nichts. Vielmehr durchlöcherte er mich wieder mit diesem Blick. Herrgottnochmal, konnte er keine braunen Augen haben? Dieses stechende Blau nervte mich maßlos. "Ich habe eine Frage an Sie, Fräulein Skye." Ich atmete etwas schwerfällig aus und schmiss den Snackoo, den ich mir gerade in den Mund schieben wollte, zurück in die Tüte. "Würden Sie mit mir schlafen?" "Was?" Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Frage auch inhaltlich zu mir durchgesickert war. "Ob Sie mit mir schlafen würden. Ja oder nein? Tipp am Rande: Das ist kein Angebot." Ich starrte ihn an. Das war sein Ernst?! Ich griff in die Tüte und feuerte eine volle Hand Snackoos in seine Richtung. "Sie sind nicht witzig, Gavin. Nicht im Geringsten." In aller Seelenruhe fegte er die Snackoos von seinen Sachen. Ein paar musste er sich aus den Haaren ziehen. "Warum so erbost?" "Fahren Sie zur Hölle!" Ich sprang auf, mit dem Vorhaben, aus seinem Büro zu stürmen. Viel lieber hätte ich eine von seinen scheiß Klampfen gegriffen und ihn damit quer durch die Staatsanwaltschaft gejagt. Ich wusste nicht, wie er es geschafft hatte, aber Gavin war vor mir an der Tür und lehnte sich dagegen, bevor ich sie aufreißen konnte. "Weg von der Tür", sagte ich betont ruhig. "Nicht bevor wir meine Frage geklärt haben." "Ich habe zwar keinen Führerschein, aber sehr wohl einen Waffenschein. Ich bezweifle, dass Sie jemand vermissen wird." Er rührte sich keinen Millimeter von der Stelle und ich fragte mich, ob ein Mord an Gavin nicht doch eher unter "Zum Wohle der Gesellschaft" fallen würde. "Wow, jetzt werden Sie persönlich, aber so dramatisch wollte ich es gar nicht haben. Am besten wir fangen damit an, dass Sie mir sagen, weshalb Sie so aufgebracht sind." Wie bitte?! "Meine Frage war anmaßend und indiskret, wenn ich Ihren Wutausbruch richtig interpretiert habe", fuhr Gavin fort, weil ich ihm nicht antwortete. "Manche würden das sexuelle Belästigung bezeichnen!" Er zog die Luft zwischen den Zähnen ein. "Aus Ihrer emotionsgeladenen Sicht vielleicht. Juristisch gesehen: Nein." Ich schielte tatsächlich kurz zu seinen Gitarren, weil das Bedürfnis immer größer wurde, hier einfach irgendwas kaputt zu schlagen. "Können Sie sich vorstellen, dass jemand wie Justin Case Ihnen eine anmaßende Frage stellt? Zum Beispiel während der Verhandlung, wenn Sie Ihre Aussage machen?" "Ich glaube nicht, dass er mir vor dem Richter eine so bescheuerte Frage stellen wird!" "Vielleicht nicht diese Frage, aber eine andere, die Sie anmaßend finden werden." Er kam die wenigen Schritte, die zwischen uns lagen, auf mich zu. "Eine Frage, die möglicherweise auf Ihre berufliche Kompetenz abzielt und Sie so richtig schön verärgern wird, Fräulein Skye." "Wenn das passiert, liegt es an Ihnen, Einspruch zu erheben." "Ich kann Einspruch erheben, aber ich kann nicht garantieren, dass Sie auf weitere seiner Fragen nicht genau so verärgert reagieren. Was glauben Sie, macht das für einen Eindruck auf den Richter?" Ich verschränkte die Arme und versteifte mich darauf, die Tür anzustarren. Vielleicht hatte Gavin nicht total Unrecht, aber das hätte er mir auch so sagen können, statt mich mit dieser lächerlichen Provokation zu reizen. "Wenn ich sage, dass Sie sich auf Ihre Aussage vorbereiten sollen, dann nicht nur inhaltlich, vor allen Dingen mental. Die meisten Menschen sind wie ein offenes Buch, aber Sie sind durchsichtig wie ein Glas Wasser. Das reinste Vergnügen für einen Verteidiger." "Ja, danke, ich hab's kapiert!", blaffte ich ihn an und erntete prompt ein süffisantes Grinsen. "Ich meine: Darf ich jetzt bitte, bitte gehen?", setzte ich übertrieben freundlich nach. "Sie dürfen." Er ging zu seinem Schreibtisch und ich wandte mich augenrollend zur Tür und hasste ihn dafür, dass es ihm offensichtlich einen Riesenspaß machte, mich ständig zu belehren. "Ihre Tasche", hörte ich ihn sagen. Ich stapfte zum Stuhl, riss meine Tasche an mich und öffnete die Tür. "Wir fahren morgen nach Fresno." Ich hielt inne. "Fresno?" Und wieso wir? Er hielt eine Fotografie vom Mordwaffen-Umschlag in die Höhe. Oh, richtig. Der verifizierte Poststempel. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hole ich Sie morgen Früh um sechs Uhr ab. Die Fahrtzeit beträgt fast vier Stunden und ich muss am Abend wieder hier sein." "Können Sie nicht allein hinfahren?" "Fräulein Skye, Sie sind die Ermittlerin und ich der Staatsanwalt. Das heißt, Sie ermitteln, ich klage an. Ich bin nicht derjenige, der nach Fresno muss, aber ich bin so nett, Sie dort hin zu fahren." Hoffentlich erwartete er jetzt nicht, dass ich vor Glückseligkeit in den Himmel schwebte. "Ich glaube nicht, dass ich noch eine Fahrt auf Ihrem Motormonster ertragen kann." "Wären Ihnen vier Räder lieber?" Eigentlich war mir gar nichts lieb, das seine Anwesenheit implizierte, aber ich nickte einfach mal, schon allein, weil ich die Diskussionen mit ihm satt hatte. "Bis morgen", sagte er. Weshalb er so feierlich grinste, war mir schleierhaft. Die Aussicht, einen ganzen Tag mit dem Glimmerfop abspulen zu müssen, war alles andere als toll. Mit einem Krachen zog ich die Bürotür hinter mir zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)