Call of the shadows von Okiro (Wenn die Finsternis naht) ================================================================================ Kapitel 5: Abschiedsgeheul und ein neues Band --------------------------------------------- ~~Abschiedsgeheul und ein neues Band~~ Immer lauter wurde das Geräusch und immer schneller rannte das Rentier um sein Leben. Sein Atmen wurde immer schneller und lauter, sodass es für die Wölfe, die ihm hinterher jagten leichter wurde, ihm zu folgen. Immer näher kamen die lauten Wolfspfoten dem Rentier. Eine Gruppe von vier mageren Wölfen. „Kora und Yen. Ihr beide greift von der Seite an! Kora, vergiss die Erdwand nicht!“, rief die Wölfin Sanja zwei Wölfen zu, die sich daraufhin von der Gruppe abspalteten und in den Wald tauchten. Yen rannte schräg nach rechts. Er hatte vor, auf das Tier zu springen, falls dieses, von der Erdwand erschrocken, in seine Richtung lief. Langsam stieg der Boden unter ihm an. Sein Weg führte ihn einen kleinen Berg hinauf, wo er anschließend an einem steilen Abgrund entlanglief. Unter sich konnte er Sanja, Manain und das Rentier laufen hören. Ihren keuchenden Atem hörte er selbst hier oben. Yen rannte an vielen Bäumen vorbei und musste über einige Wurzeln springen, da diese seinen Weg versperrten. Im Land Daromi gab es viele Wälder mit großen Bäumen, vor allem, wenn man sich im Bereich der Erdwölfe aufhielt, wie es die vier Wölfe gerade taten. Auch musste Yen über einen Bach springen, der in einem kleinen Wasserfall den Abgrund links neben ihm herunter floss. Doch Yen bemerkte von dem allem nichts. Er hatte nur sein Ziel vor Augen und dies war, das Rentier zu erlegen, damit sie nach tagelangem Hungern endlich wieder etwas Festes zwischen den Zähnen hatten. Es waren schon mehrere Tage vergangen, seit sie ihre letzte große Mahlzeit eingenommen hatte. Einmal fand Kora einen kleinen toten Vogel, der aber ihre Bäuche nicht so recht füllen wollte. Immer mehr hatte sich Yen in die Gruppe eingewöhnt und sich damit abgefunden, dass er sein Gedächtnis durch den angeblichen Sturz verloren hatte. Immer weiter führte Yens Weg den Abgrund entlang. Er hielt einen großen Abstand zu dem Abhang, da er Angst hatte, hinunterzustürzen. Seit er aufgewacht war, verspürte er immer diese Angst, wenn er sich Abgründen näherte. Dies hatte höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass er vor dem Gedächtnisverlust einen solchen hinuntergestützt war. Doch Yen ließ sich nicht beirren. Hier lang ihr nächstes Essen auf dem Spiel und er durfte sich nicht von dieser Angst einschüchtern lassen. Yen schüttelte seinen Kopf und rannte weiter. Sein Weg begann nun wieder abzufallen und das brachte ihn somit näher an sein Ziel. Alle warteten auf sein Zeichen, das er geben musste, wenn er eine günstige Stelle zum springen gefunden hatte. >Noch ein kleines Stückchen und dann kann ich mich auf es stürzen!<, dachte sich Yen und ihm lief schon das Wasser im Maul zusammen, als er das Rentier vor sich sah. Als die richtige Stelle gekommen war, heulte er kurz unterm Rennen. Dies war das Signal und die anderen wussten sofort, was sie zu tun hatten. Vor dem Rentier erhob sich plötzlich ein Erdwall und es wich nach rechts, genau in seine Richtung, aus. Als das gejagte Tier auf seiner Höhe war, sprang Yen vom Abhang herunter und stürzte sich auf dieses. Er verbiss sich in den Hals und konnte dessen Blut auf seiner Zunge spüren. Dies machte ihn noch wilder und er verfestigte seinen Biss. Das Rentier wollte ihn unterdessen abwerfen, doch es gelang ihm nicht und rannte weiter. Da bemerkte Yen, dass er nicht die Kehle erwischt hatte. >So ein Mist!<, dachte er sich und versuchte, das Rentier zum Stürzen zu bringen. Hinter sich hörte er schon die anderen und neben sich war der Erdwall, der unbekümmert weiterlief, damit das Rentier nicht ausbrach. Plötzlich wurde der Wall niedriger und das Huftier sprang darüber. Genau in diesem Moment verbiss sich Sanja in die Hinterläufer des gejagten Tieres. Manain setzte zu genau denselben rettenden Versuch an, doch, bevor er richtig zubeißen konnte, erwischte ihn der Huf des Rentiers am Kopf. Jaulend flog er durch die Luft und landete unsanft am Boden. Yen und Sanja ließen trotz des Spektakels nicht los und das Rentier wurde immer langsamer und langsamer. Nun begann der Erdwall von neuem sich zu erhöhen und schloss das Beutetier ganz ein. Yen, der wusste, was mit dieser Geste gemeint war, nutze die Chance der Unachtsamkeit des Tieres und verbiss sich nun gänzlich in seine Kehle. Das Rentier bekam keine Luft mehr und sackte zusammen. Sanja ließ von den Hinterläufern ab und das Rentier starb. Vorsichtig legte Yen den Kopf des toten Tieres auf den Boden und hechelte. Blut rann ihm über die Lefzen, doch das bemerkte er kaum. Der Erdwall verschwand und gab die Sicht auf Kora frei, die bei Manain stand. Manain erhob sich zitternd und blickte das Rentier an. Er knurrte und schnaubte vor Verachtung. Der schwarze Wolf hatte den Huf nicht direkt aufs Gesicht bekommen, sondern er war abgeprallt und anschließend auf seine Schulter gestoßen, wo er seine Knochen angebrochen hatte. Dies hatte zur Folge, dass Manain nicht mehr richtig stehen und laufen konnte. „Hat mir dieses... dieses Tier doch glatt die Schulter gebrochen!“, brach Manain die Stille und leckte über seine Lefzen. „Und am Kiefer hat es mich auch noch erwischt. Na, diesen Leckerbissen lasse ich mir nicht entgehen. Der war teuer zu holen.“ Noch einmal leckte er über seine Lefzen und schleppte sich langsam unter großen Anstrengungen zu dem toten Tier und begann zu fressen. Yen blickte Kora besorgt an. Diese zitterte und zog den Schwanz ein. „Manain... es war meine Schuld. Es tut mir Leid. Die Mauer... sie ist einfach verschwunden. Meine Kraft hat da einfach versagt. Ich weiß nicht warum. Es tut...“ „Kora, hör auf dir die Schuld zu geben und komm her und friss!“, sagte Manain und fraß weiter. Kora warf einen hilfesuchenden Blick zu Yen. Der kam auf sie zu und schleckte ihr als freundschaftliche Geste über das Gesicht. „Mach dir nichts daraus. Du kennst doch Manain. Er ist ein stiller, aber harter Bursche. Er wird es schon überleben. So, wie es aussieht, ist seine Schulter ja nur angebrochen. Komm fressen.“ Die junge Wölfin fiepte dankbar und ging zum Rentier, um es ebenfalls zu verspeisen. Sanja gesellte sich auch zu ihnen und fraß dankbar. Als alle vier Wölfe satt waren, gingen sie ohne ein Wort zu der Wasserstelle, wo sie schon seit zwei Tagen schliefen. Dort war es friedlich und sicher und sie konnten für eine Weile ihre Sorgen vergessen. Schon seit über einer Mondphase war Yen bei der kleinen Gruppe von freien Wölfen dabei. So lange war es her, seit Kora ihm den Namen „Yen“ gegeben hatte. Er genoss diese Zeit, obwohl er nicht wusste, was davor war. Kora fand ihn an einem Abgrund liegend in der Sonne. Er konnte sich nur an diesen Moment erinnern. Was früher geschehen war, schien wie weggeblasen. Der junge Wolf musste oft daran denken. Ihn machte es verrückt, dass er sein Gedächtnis verloren hatte und nicht wusste, wer er war. Doch er würde Manains Vorschlag berücksichtigen und nicht mit Gewalt versuchen, das verlorene Wissen zurückzuerlangen. Seufzend legte sich Yen auf den Boden, als sie am Fluss angekommen waren. Die anderen taten es ihm gleich. Manain setzte sich auf einem Stein am Wasserlauf und zwar so, dass ihm die Schulter nicht schmerzte. Alle dösten in der herrlichen warmen Luft und verdauten langsam ihr Fressen. So viel hatten sie schon seit Tagen nicht mehr zu sich genommen und es fühlte sich gut an. Es war eine erfolgreiche Jagd gewesen, trotz der kaputten Schulter, die Manain davongetragen hatte. Irgendwann verspürte Yen ein Kratzen in seinem Hals, stand auf und ging zum Fluss, um etwas zu trinken. Als er getrunken hatte und sich umdrehte, blickte er in Koras besorgte Augen, die ihn musterten. Yen ging auf sie zu und legte sich vor sie hin. „Was ist los Kora?“, fragte er, den er war besorgt um seine Freundin. Ja, Kora und er waren richtig gute Freunde geworden in der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten und daher konnte er es nicht leiden, sie traurig zu sehen. Kora senkte ihren Blick und seufzte: „Ach, weißt du... Das mit dem Erdwall, gibt mir bedenken. Meine Kraft hat einfach aufgehört. Ich habe nichts mehr gespürt. Und auch jetzt merke ich, dass ich schwächer als sonst bin.“ Verzweifelt blickte sie ihn an. Yen gab ihr einen freundschaftlichen Stups. „Vielleicht ist das nur so eine Phase, weißt du? Manchmal fühlt man sich einfach schwach und ausgelaugt Die letzten Tage waren einfach zu viel für dich gewesen. Das ständige Fliehen und Davonrennen.“ Ja, sie waren die letzten Tage viel gerannt, bevor sie diesen Ort gefunden hatten. Immer wieder waren sie auf andere Wolfsrudel gestoßen, die sie aus ihrem Gebiet vertrieben hatten. Man ließ sie einfach passieren, da sie wussten, dass freie Wölfe kein Gebiet für sich beanspruchen wollten. Doch aus irgendeinem Grund hatten sie sich auf sie gestürzt, als wären sie Feinde. Immer, wenn sie durch so ein Gebiet gekommen waren, lag der gleiche Geruch in der Luft: Der von Verwesung und Tot. Somit waren die letzten Wochen sehr stressig für sie gewesen. Yen wusste, dass dies alles erst begonnen hatte, als er zu den dreien gestoßen war. Er war ihnen dankbar, dass sie ihn nicht aus ihrer kleinen Gruppe verstießen, sondern mit ihm diese Strapazen durchmachten. Doch er hatte wegen dieser Vorfälle Schuldgefühle gegenüber seiner Freunde, obwohl er wusste, dass diese nichts mit ihm zu tun hatten. „Nein, das glaube ich weniger. Ich spüre schon seit längerer Zeit, dass meine Kraft zurückgeht, doch ich wollte das euch nicht sagen. Ich schäme mich dafür.“ Ihr Blick wurde trauriger. „Ach komm Kora! Das wird schon wieder. Schau her: Sanja, Manain und ich kommen auch gut ohne elementare Kraft zurecht, wieso du nicht?“ „Meinst du, dass es wirklich wieder besser wird?“ Nun blickte sie ihn hoffnungsvoll an. „Ich meine es nicht nur, ich weiß es!“, sagte er und stupste sie erneut an. Daraufhin musste Kora lachen. „Danke Yen! Du weißt, wie man einen aufmuntert, auch in schlechten Zeiten wie diesen. Man sollte als Freunde zusammenhalten, egal, was kommt.“ Yen freute sich, dass Kora wieder optimistischer dachte. Genau in diesem Moment kam Sanja zu ihnen und sagte: „Habt ihr den Geruch bei der Jagd bemerkt? Es war der gleiche, den wir schon seit Wochen in den Gebieten der Rudel wahrgenommen haben. Langsam frage ich mich, was es mit diesem Geruch auf sich hat.“ Alle spitzten die Ohren. „Ja, dass frage ich mich auch schon eine Zeit lang. Um ehrlich zu sein, würde ich genauere Nachforschungen anstellen und...“ Yen brach ab. „... und ihnen helfen, stimmt es?“, beendete Sanja den Satz. Sie seufzte und fuhr fort: „Ich werde ganz sicher keine Nachforschungen anstellen und ihnen helfen wollen. Ich habe mit diesen Rudeln nichts am Hut und sie mit mir auch nicht. Ich schulde niemanden etwas und mir auch nicht. Deswegen, wenn du gehst, musst du es ohne mich tun.“ Damit sprach sie einen Punkt an, dem Yen schon lange im Kopf herumgespukt war. Gehen. Einfach gehen, um zu sehen, was mit der Welt los war, um zu sehen, was es mit dem Geruch auf sich hatte und, das gestand er sich ein, um sein wahres Ich zu finden. Yen seufzte. „Ja, ich weiß. Mit diesem Gedanken habe ich schon gespielt. Ich kann nicht ewig bei euch bleiben. Das war mir von Anfang an klar. Seit ich bei euch bin, fing das mit dem Geruch an und ihr bekamt plötzlich diesen ganzen Stress. Nein, ich kann nicht bei euch bleiben!“ Den letzten Satz sagte er an Kora gewandt, weil sie sich fiepend vor ihn gelegt hatte und den Kopf an seine Schulter schmiegte. „Kora! Du bist ein erwachsener Wolf. Hör auf, dich wie ein Welpe zu benehmen und lass Yen weiterreden“, ermahnte sie Sanja. Kora blickte enttäuscht auf und zog sich etwas zurück. „Aber... Yen...“, brachte sie nur heraus. Manain beobachtete still das Spektakel von seinem erhöhten Platz aus. Yen stand auf und erklärte: „Kora, ich verspüre schon länger den Drang, der Welt da draußen zu helfen und ich weiß, dass ihr nicht mit mir gehen werdet. Ich spüre in meinem Inneren, dass ich etwas bewegen kann. Und, wer weiß, vielleicht finde ich so meine verloren Erinnerungen wieder.“ Er lachte, doch Kora fand dies nicht lustig. „Ich... werde mit dir gehen, wenn du gehst“, sagte sie und stand entschlossen auf. Sanja stellte sich nun neben sie und erklärte: „Kora bedenke, was dies für dich bedeuten könnte. Denk daran, was die Wölfe in deinem früheren Rudel mit dir getan haben. Willst du, dass es erneut beginnt? Wenn Yen geht, wird er ein Rudel gründen, mit dem er den Geschehnissen auf den Grund gehen kann, verstehst du?“ Kora befand sich in einer Zwickmühle. Einerseits wollte sie nicht Sanja und Manain im Stich lassen und andererseits wollte sie auch nicht, dass Yen, den sie als ihren Bruder sah, alleine ging. Sie zog fiepend den Schwanz ein. „Aber...“, brachte sie nur heraus. Yen lächelte entschuldigend und erklärte: „Kora, weißt du, es muss kein Abschied für immer sein. Wir werden uns bestimmt bald wieder sehen. Ich verspreche es dir. Und, falls du mich ganz dringend brauchst, so merk dir eins: Ich bin immer bei dir, egal was ist und egal, wie weit weg wir voneinander entfernt sind. Denk daran: Ich bin genau hier!“ Er stupste sie an ihre Brust, dort, wo ihr Herz lag. „Jeden Tag werde ich an euch denken und ihr an mich, versprochen? Ich mag es nämlich auch nicht, Abschied zu nehmen ohne zu wissen, dass ihr ab und zu an mich denkt.“ Kora fiepte erneut und sagte nach längerem Überlegen: „Gut Yen! Ich verspreche dir, dass ich jeden Tag mindestens einmal an dich denke und, dass ich dir jeden Abend ein Lied heulen werde. Ich hoffe, der Wind trägt es bis zu dir, egal, wo du bist.“ Nun hatte sie ein Lächeln auf den Lippen und Yen musste ebenfalls Lachen. „Wenn das so ist, dann verspreche ich dir, dass ich jeden Abend die Ohren spitzen und die Ursache für das Verschwinden deiner Kräfte finden werde!“ Yen stupste ein letztes Mal Kora in die Seite und sie tat es ihm gleich. Danach drehte er sich um und nickte Manain zu. „Gute Besserung!“ Dieser nickte zurück und richtete sich auf. Sanja lächelte ihn an und sagte: „Ich werde auch an dich denken, Yen! Auf ein baldiges Wiedersehen“. Sie drehte sich um und ging zum Fluss. Als er sich zu Kora drehte blickte sie ihn an und sagte: „Tschüss Yen. Und vergiss deine Versprechen nicht!“ Mit diesen Abschiedsworten drehte er sich um und begann zu laufen. Doch nach ein paar Schritten vernahm er hinter sich ein Heulen und er drehte sich noch ein letztes Mal um. Er sah Sanja, wie sie aus dem Bach trank, Kora, die ihn mit ihrem listigen Lächeln hinterher sah und Manain, der auf dem Felsen ein Abschiedslied heulte. Danach drehte er sich um und rannte in Richtung Wald, der sich vor ihm eröffnete. Hinter sich konnte er das Geheule von Manain und nun auch von Kora vernehmen: Ihr eingelöstes Versprechen für den heutigen Tag. Mehrere Tage wanderte Yen durch die Weiten des Landes, ohne auf eine andere Seele zu treffen. Dies fand er schon merkwürdig, da die Gegenden eigentlich sehr belebt waren, als er sie vor ein paar Wochen mit Manain, Sanja und Kora durchwandert hatte. Doch nun... nun war die Gegend wie Ausgestorben. Nur wenige Vögel zwitscherten in der Luft und das Summen der Käfer war gänzlich verschwunden. >Merkwürdig hier. Was ist den nur los?< Yen hob seinen Kopf und schnüffelte in die Luft. Es lag der gleiche Geruch in der Luft, den sie schon seit mehreren Tagen gerochen hatten: Der nach Verwesung und Tot. Yen schnaubte, um ihn aus seiner Nase zu bekommen. Doch es nützte nichts. Plötzlich knurrte sein Magen. Seit er die freien Wölfen verlassen hatte, hatte er nichts Richtiges mehr zu sich genommen. Trotz dieser harten Zeit, die er hinter sich hatte, und wahrscheinlich auch noch vor sich haben wird, gab er nicht auf. Yen fand sich mit dem Gedanken ab, dass er nun alleine war. Er wehrte sich nicht gegen sein Schicksal, sondern er war froh, dass er die fröhliche Truppe verlassen hatte, um sein Leben in die eigenen Pfoten zu nehmen. Nun kam der Moment, wo er überlegen musste, wie es in seinem Leben weitergehen sollte. Die letzten Tage war er ziellos durch die Gegend geirrt und hatte sich ein Bild von der Situation gemacht. Doch immer kam das gleiche dabei heraus: Der Geruch und die Stille. Einmal folgte er dem Geruch, so gut es ging und fand an seinem Ziel tote Wolfskörper im Schlamm liegen. Diese mied er, da der Gestank dort am unerträglichsten war. Yen taten diese Wölfe leid. Er hätte ihnen gerne geholfen, ihnen gerne zugehört, was sie zu erzählen hatte und vor allem hätte er gerne gewusst, wie sie umgekommen waren. Nun wusste er ja, woher der Geruch in der Luft kam. Doch eine Frage blieb offen: Wieso verteilte er sich extrem auf die Gebiete der ehemaligen Rudel? Um diese Frage zu klären, brauchte Yen einen Plan, doch diesen ließ sich nicht schmieden. Welcher Wolf konnte schon vernünftig nachdenken, wenn er hungrig durch die Gegend lief? So musste er erstmal was zum Fressen finden. Doch das erwies sich in dieser abgestorbenen Gegend schwieriger als gedacht. Immer, wenn er einen anderen Geruch in der Nase hatte und diesen auch folgte, kam er entweder an einen leeren Kaninchenbau oder an eine Stelle, wo früher einmal ein Igel gewohnt haben musste. Jedes Mal senkte dies seinen Optimismus auf Futter zu stoßen, doch er gab nicht auf. Yen hatte ein Ziel vor Augen, dass er verfolgen musste, damit er sich nicht enttäuschte. Doch zuerst galt es, Futter zu suchen! Sein Weg führte immer weiter. Als er nach einiger Zeit eine kurze Rast an einem Bach machte, roch er ihn, den verführerischen Geruch. Die Gegend sah wie jede andere aus: Bäume und Gras überall, doch der neue Geruch überlagerte die anderen Gerüche. Dies lag daran, dass Yen erneut der Magen knurrte und ihn auf seine unangenehme Situation hinwies. Yen nahm nur schnell einen kleinen Schluck und rannte auch schon los. Der Geruch wurde immer stärker und stärker. Nach einiger Zeit verschwand der Verwesungsgeruch um ihn herum für einen Moment. Wenige Schritte später vernahm er das Krächzen von Vögeln und, als er im nächsten Moment aus den Büschen und auf eine kleine beleuchtete Lichtung sprang, blieb er stehen. Vor ihm lag ein totes Reh, und viele gierige Raben darum. Doch die Raben fraßen nicht. Nein, es sah so aus, als würden sie sich untereinander bekämpfen, um den besten Happen zu bekommen. Yen ging ein paar Schritte auf die Raben zu. Es war nicht so, als hätte er Angst vor ein paar mickrigen Raben, nein, im Gegenteil, er könnte sie ganz leicht verscheuchen. Doch er wollte wissen, wieso die Raben sich so komisch verhielten. Beim näheren Hinsehen, erschloss sich ihm der Grund für dieses Gedrängel: In all den schwarzen Federn mischten sich braune. >Ein anderer Vogel! Die Raben kämpfen gegen einen anderen Vogel um das Futter.< Verwirrt schüttelte Yen den Kopf. Dies war doch sonst nicht ihre Art, sich auf brutalste Weise das Futter zu besorgen. Der nächste Gedanke, den Yen hatte, war, dass der Geruch sie verrückt gemacht haben musste. Auch sie waren hungrig und anderen Vögeln, die ihr Fressen haben wollen, feindlich gesinnt. Ohne groß nachzudenken, sprang Yen auf die wilden Raben zu und begann, sie zu verscheuchen. Dies erwies sich jedoch als schwieriger, als gedacht, da die Raben nun begannen, auch ihn zu bepicken und zu zerkratzen. Doch Yen machte dies nichts aus. Die Aussichten auf Futter und die Not des anderen Vogels zwangen ihn durchzustehen. Er wollte helfen, so gutmütig war er. Außerdem konnte Yen es nicht leiden, wenn Schwächere angegriffen werden. Bei dem Konflikt zwischen den Vögeln ging dies eindeutig zu weit. Mindestes zwanzig Raben stürzten sich auf einen anderen Vogel. Eigentlich hätte Yen diese Auseinandersetzug nichts angehen sollen, doch in diesem Moment fühlte er nur den Drang, dem anderen Vogel zu helfen. Hier und dort biss er Raben in die Körper und tötete so einige. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der braune Vogel nicht untätig war, sondern sich sofort auf die Raben stürzte, die Yen die Augen auspicken wollten. So halfen sie sich gegenseitig, die wilden Raben zu vertreiben. Das Spektakel dauerte nicht lange und die Raben gaben ihr Futter auf und flogen krächzend davon. Hechelnd blieb Yen stehen. Der braune Vogel landete auf der anderen Seite des toten Tieres. Nun sah der Wolf diesen das erste Mal richtig an. Es war ein kleiner Adler, mit schiefem Schnabel und etwas krummen Füßen. >Ah, dies war also der Grund, weshalb er so erbittert gekämpft hatte. Mit dieser Statur ist es sicher schwer, an Futter heranzukommen und da sah er seine Chance liegen.< Der Adler betrachtete ihn aus schlauen Augen. Langsam hüpfte er näher an das tote Tier und begann schließlich davon zu fressen. Yen ließ sich nichts anmerken und fraß ebenfalls. Anfangs wollten sich beide nicht so recht näher kommen, da Wölfe und Raubvögel es nicht gewohnt waren, zusammen zu fressen, doch nach einiger Zeit gewöhnten sie sich aneinander und fraßen sich die Bäuche voll. Der Adler sprang schließlich mit sichtlich gefülltem Magen vom toten Tier und putzte seine Federn. Als dieser die Flügel zum bevorstehenden Flug ausbreitete, blickte er ein letztes Mal zu Yen, der den Kopf erhoben hatte. Dankbarkeit lag in dessen Blick, doch Yen konnte sich dies auch nur eingebildet haben. Der Adler gab ein letztes leises Krächzen von sich und erhob sich in die Lüfte. Yen blickte diesen kurz nach, doch schon bald nahm er sein Mahl wieder auf. Als er es nach kurzer Zeit beendet hatte, kehrte er an den Bach zurück, um seinen Durst zu stillen. Genau in dem Moment, wo er seinen Kopf senkte, sah er im Wasser den Adler über sich hinweg fliegen und einen Abschiedsgruß schreien. Drei Tage war es her, seitdem Yen seine letzte Mahlzeit an dem Bach eingenommen hatte. Seit diesem Moment hatte er immer wieder das Gefühl, dass ihn jemand unauffällig verfolgte. Doch der junge Wolf kümmerte sich wenig um dieses Gefühl. Er redete sich ein, dass er dieses Gefühl schon länger gehabt hätte, doch der Hunger dieses überdeckt haben musste. Immer weiter führte sein Weg. Seit er den Bach verlassen hatte, ging er in eine andere Richtung. Er wanderte nun nicht mehr nach Norden, woher sie kamen, sondern ging in Richtung Westen. Yen hoffte, dass sich die schreckliche Gegend und der Geruch legten. Seine Hoffnungen erfüllten sich und nach drei Tagen erreichte er ein Gebiet, das vermutlich einem Rudel gehört, das noch lebte. Duftmarken waren noch deutlich zu riechen und geheime Schleichwege durch das Unterholz zu sehen. Beruhigt atmete Yen aus. Er hatte gar nicht bis zu diesem Moment gemerkt, wie sehr er die Gesellschaft anderer Wölfe vermisst hatte. Eins konnte man ihm nicht vorwerfen: Dass er kein waschechter Wolf war! Doch Yen wusste, dass er nun sehr vorsichtig sein musste. Ein Rudel könnte für ihn Gefahr bedeuten, vor allem, wenn sie von ihren getöteten Nachbarn erfahren haben. Misstrauen und Hass könnte sie dazu verleiten, ihn zu töten, wenn sie ihn sahen. So beschloss Yen, an der Grenze entlang zu traben. Er fühlte sich noch nicht bereit, anderen Wölfen in die Augen zu sehen. Wieso, wusste er nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass er das blöde Gefühl nicht los bekam, für all die toten Wölfe verantwortlich zu sein. Schnaubend schüttelte er den Kopf. >Wie kann ich für etwas schuldig sein, von dem ich nicht einmal weiß, es getan zu haben?<, schoss es ihm durch den Kopf. Dieser Gedanke beruhigte ihn keineswegs, doch er setzte seinen Weg unbekümmert fort. Immer weiter führte ihn dieser nach Westen und er traf auf kein Gebiet mehr, das wie ausgestorben dalag. Immer öfters roch er den Duft anderer Wölfe, doch er konnte nicht sagen, welche Wölfe es waren. Vielleicht Erdwölfe oder gar Feuerwölfe? Oder waren es auch Wölfe eines Gemischtrudels? Yen wusste es nicht und würde es wahrscheinlich auch nie erfahren. Weitere Tage vergingen, ohne, dass Yen auf Wölfe stieß. Nun war er schon fast drei Wochen ohne Kora, Sanja und Manain unterwegs. Jeden Abend löste er sein Versprechen gegenüber Kora ein. Er lauschte in die Tiefen der Nacht und manchmal glaubte er, sich sogar einzubilden, Koras Geheule von fern zu hören. Am heutigen Tag war Yen erneut auf Futtersuche, als er ein neues Gebiet beschritt, dessen Duftmarken nicht so frisch, aber dennoch da waren. Neugierig drang er in das Gebiet ein, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Eigentlich hätte er nach Futter Ausschauen halten sollen, doch gedankenverloren trabte er weiter. Sein Weg führte durch einen Wald, der nicht so dicht bewachsen wie normalerweise war. Immer tiefer ging er, bis er an einen Fluss kam. Überrascht blieb er stehen. >Ein so großer Fluss?< Verwirrt schüttelte er den Kopf, den er anschließend dankend senkte, um von dem Fluss zu trinken. Kein Vogel zwitscherte und auch kein Insekt summte. Doch diese Stille war Yen willkommen. Endlich etwas Ruhe nach der langen Reise. Doch dieser stille Moment gewährte nicht lange. Plötzlich vernahm er das Gelächter von anderen Wölfen. Die Geräusche waren auf einmal da und schon so nah. Verwirrt und ängstlich zugleich, wusste Yen nicht, was er tun sollte. Er gefror auf der Stelle zu Eis. >Andere Wölfe? Was soll ich tun? Ich wollte doch eigentlich keinem hier begegnen!< Panik ergriff ihn und in seiner Angst, diese Wölfe könnten ihn Böses tun, sprang er hinter einen Busch, wo er sich verängstigt hinsetzte und die Ohren spitze. In seinem Inneren wusste er, dass dies wenig nützte, doch zum Weglaufen war es zu spät. Sie würden ihn mühelos folgen können, so schwach, wie er war. Trotz Angst bewahrte er noch einen gewissen Stolz und, wenn er wegliefe, verletzte er diesen. Das Gelächter und somit die Wölfe kamen immer näher auf ihn zu, bis sie endgültig bei ihm angekommen waren. Nun hörte Yen auch das Gespräch und daher den Grund für dieses Lachen. „Haha, Esaila, hast du von unserem Brüderchen den Gesichtsausdruck gesehen, als ich ihm seinen Hintern eingefroren habe und er deswegen beinahe in den Fluss fiel?“, sagte eine fröhlich klingende, weibliche Stimme und lachte dabei immer wieder. Ein anderes Lachen setzte ein und der dazugehörige Wolf, wahrscheinlich mit dem Namen Esaila sagte: „Oh ja, das habe ich.“ „Mmpf, dass findet ihr wieder lustig. Typisch ihr zwei“, sagte eine männlichere Stimme. „Ach komm sei doch nicht so! Wasser ist doch was ganz was tolles und da kann man sich schon einmal hineinfallen lassen. Ich tue es doch schließlich auch“, setzte nun eine neue weibliche Stimme an. Erneutes Gelächter und Gemurre entstand. Aus diesem kurzen Wortschwall konnte Yen feststellen, dass es sich um vier Wölfe handeln musste. Drei weibliche und ein männlicher. Ihm tat dieser männliche Wolf leid, da er anscheinend von den weiblichen gepiesackt wurde. „Hey! Haltet mal an! Riecht ihr das auch?“, sagte die Wölfin mit dem Namen Esaila. Yen verschloss seine Augen. >Oh nein! Bitte nicht meinen Geruch!< „Hier war ein anderer Wolf!“ Yen ahnte, was nun kam. Alle Wölfe würden sich um die Spur versammeln und ihr anschließend bis zu ihm folgen. „Mh, ein anderer Wolf? Lasst mich mal schnüffeln“, sagte die männliche Stimme. „Tatsächlich, und sie ist noch ganz frisch. Mädels seid vorsichtig. Hier treibt sich ein anderer Wolf herum. Er könnte gefährlich sein und...“ „Ja ja Nurik, wir wissen schon! Du bist hier nicht der Älteste und wir können sehr wohl auf uns selbst Acht geben!“ „Nyrona, ich weiß doch, dass ihr das könnt, aber Vater hat nun mal mir die Verantwortung für euch gegeben, wenn wir alleine herumwandern und deswegen müsst ihr machen, was ich sage!“, sagte der männliche Wolf mit dem Namen Nurik zu seiner angeblichen Schwester. Beide stritten sich weiter, bis der vierte Wolf, dessen Namen Yen noch nicht bekannt war, sagte: „Hört auf, ihr beiden. Es ist unser Gebiet und deswegen müssen wir zusammen herausfinden, welcher Wolf es gewagt hatte, hier einzudringen. Er scheint einen interessanten Duft zu haben. Ich möchte ihn kennen lernen. Esaila, was sagst du dazu?“ „Ich sag gar nichts dazu, aber die Bäume haben mir soeben verraten, dass ein Wolf vor wenigen Minuten hier war,“ Yens Magen zog sich immer mehr zusammen. „Doch das Interessanteste verrät mir dieser baumartige Busch da vorne. Hinter ihm soll sich der gesuchte Wolf verstecken.“ Nun erstarrte Yen erneut. >Wie kann das sein?<, war das Einzige, was er denken konnte. Weglaufen kam für ihn nicht in Frage. Und so blieb er niedergekauert sitzen und beugte sich seinem Schicksal. Was er nicht sah, war, dass alle Wölfe ein Lächeln auf ihre Gesicht bekamen, doch unfähig waren, sich zu bewegen. Ihnen war unklar, wieso sich der fremde Wolf hinter einen Busch verstecken sollte. Doch eines wussten sie: Auf Esailas Fähigkeiten war Verlass. So war die Wölfin, die als zweitletztes gesprochen hatte, die Erste, die sich bewegte und vorsichtig Richtung Busch schlich. Nurik folgte ihr sogleich, Nyrona und Esaila bildeten den Schluss. Beim Busch angekommen, blieb die Wölfin kurz stehen und mit einem Satz sprang sie um das Gebüsch und landete direkt vor Yen. Dieser hatte die Augen weit aufgerissen und blickte der fremden Wölfin direkt ins Gesicht. In diesem lag keine Abscheu, nein, sondern, was Yen am allermeisten von ihrem Aussehen überraschte, ein willkommener Gruß, der zum Spielen einlud. „Hallo, mein Name ist Sikona. Und das sind Nurik, Nyrona und Esaila“, stellte sie sich und die anderen Wölfe, die langsam um die Ecke kamen, vor. „Und wie ist dein Name?“, fragte Sikona sogleich und ging einen Schritt auf ihn zu. Zuerst brachte Yen nichts heraus, doch dann riss er sich zusammen und antwortete: „Mein... man nennt mich ... Yen.“ ~~Abschiedsgeheul und ein neues Band Ende~~ Wer genau sind Sikona, Nurik, Nyrona und Esaila? Wo befindet sich Yen? Was hat es mit den Duftmarken auf sich? Ein neues Band, das sich beginnt zu knüpfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)