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Magenta III

Im Bann der Aspekte
von

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Der Wahnsinn im Inneren

Mit lauten Schnauben blieb das weiße Schlachtross auf dem Hügelkamm stehen. Seine breiten Hufe mit dem üppigen Behang scharrten unruhig über den schlammigen Boden. Es roch den nahen Stall und wollte endlich ein trockenes Dach über dem Kopf haben, doch seine Reiterin schien auf seinem Rücken zu einer Salzsäule erstarrt zu sein. Ganz im Gegensatz zu ihrer Begleiterin, die sich jetzt auf ihrem mechanischen Reittier vorbeugte und neugierig in die Senke vor ihnen blickte.

„Das ist die Kapelle des hoffnungsvollen Lichts?“, fragte Emanuelle und machte große Augen. „Eine marode Kirche und eine Ansammlung von Zelten? Also für mich sieht das nicht besonders hoffnungsvoll aus. Da sind ja noch nicht einmal Fensterscheiben drin.“

„Nachwirkungen des Dritten Krieges.“, antwortete Risingsun knapp. „Ihr habt ja gesehen, in welchem Zustand dieser Landstrich ist.“

„Ihr meint die verseuchten Felder und stinkenden Gewässer, die riesigen Pilze, die hier anstatt Bäumen wachsen, die Untoten und Aasfresser und die schwefelig-gelbe Luft, die einem bei jedem Atemzug die Tränen in die Augen treibt?“, wollte Emanuelle wissen. „Ja, die haben ich bemerkt. Trotzdem hätte ich gedacht, dass der Widerstand hier irgendwie…besser aufgestellt wäre.“

„In den Östlichen Pestländern haben wir es mit einem Mehr-Fronten-Krieg zu tun.“, erwiderte Risingsun. „Nicht nur die Untoten drängen von allen Seiten auf die Argentumdämmerung ein. Auch der Scharlachrote Kreuzzug hat hier eine Basis in Tyr´s Hand im Süden errichtet. Und als wäre das nicht genug, fallen auch noch die Trolle aus dem Norden in das Gebiet ein, das sie an die Geißel verloren haben. Ihr seht also, es ist allerhand zu tun. Da bleiben Fensterscheiben eben manchmal auf der Strecke.“

Emanuelle zog eine Schnute. „Wenn das ein Versuch sein sollte, witzig zu sein, ist er gründlich danebengegangen.“, informierte sie die Paladina. „Und könnten wir nicht endlich aus diesem Regen heraus? Ich habe das Gefühl, er zerfrisst meinen Roboschreiter.“
 

Endlich nickte Risingsun und die beiden Reiter machten sich auf den Weg, um Carlin Redpath inmitten der behelfsmäßigen Siedlung zu suchen. Ein Stallbursche wies ihnen den Weg zu einem der größeren Zelte. Davor fanden sie einen Mann in den Farben der Argentumdämmerung, der seine besten Kampftage sicherlich schon hinter sich gelassen hatte. Eine breite Narbe lief quer über sein Gesicht und verschwand unter dem schütter werdenden Haarkranz. Als er Risingsun und Emanuelle näher kommen sah, verzog sich sein Mund zu einem zufriedenen, breiten Lächeln.

„Ah, neue Rekruten aus dem fernen Westen nehme ich an. Sagt, wie steht es inzwischen um Lordearon, nachdem wir Andorhal verloren haben? Haben die Untoten schon Tirisfal erreicht?“

Risingsun warf Emanuelle einen langen Blick zu. Anscheinend war es um das Gedächtnis des guten Mannes nicht unbedingt zum Besten bestellt.

„Wir sind nicht hier, um die Reihen zu verstärken. Wir kommen, um Euch zu sehen. Ihr seid doch Carlin Redpath?“

Der Mann nickte. „Der bin ich. Oder zumindest das, was die Untoten von mir übrig gelassen haben.“ Er hob eine Hand, an der zwei Finger fehlten. „Aber was bringt Euch zu mir?“

„Das hier.“, sagte Emanuelle und reichte Carlin Redpath die Annalen von Darrowshire.
 

Der Mann las den Titel und zog die Augenbrauen nach oben. Mit gerunzelter Stirn blätterte er durch die Seiten. Hier und dort blieb er an einer Seite hängen und seine Lippen bewegten sich, während er die Schriftzeichen entzifferte. Schließlich ließ er das Buch sinken und sah die beiden verwirrt an.

„Ich stamme aus Darrowshire. Bei der Schlacht, die mit der Auslöschung der Stadt endete, wurde ich schwer verletzt und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem der Lazarettzelte hier draußen. Sie haben mich wieder zusammengeflickt und seit dem diene ich der Sache der Argentumdämmerung. Aber ich hätte nie gedacht, dass sich jemand die Mühe machen würde, mich in einem Geschichtsbuch zu erwähnen. Mein Bruder jedoch hat zu Recht einen Platz in dieser Chronik. Er war es, der uns verriet und die Stadt dem Untergang weihte. So dachte ich bis jetzt. Aber wenn das stimmt, was hier drin steht, war er ebenso ein Opfer wie wir alle. Wir müssen herausfinden, ob das, was in diesem Buch steht, die Wahrheit ist. Kommt mit mir.“

Carlin Redpath winkte den beiden, ihn in das Zelt zu begleiten. Dort legte er die Annalen von Darrowshire vorsichtig auf einen Tisch und entrollte eine Landkarte neben dem Buch. Er tippte auf einen Fleck ganz im Osten.
 

„Wir befinden uns hier an der Kapelle des Hoffnungsvollen Lichts und Darrowshire liegt hier im Süden. Das Buch erzählt uns nun, was mit den beiden Bösewichten der Schlacht geschah, nachdem Darrowshire vernichtet wurde.

Horgus, der Verheerer, wurde zwar in der Schlacht geschlagen, aber die Geißel nahm bei ihrem Abzug seinen Kopf mit sich, um das Übel, das in ihm wohnte, noch weiter zu verbreiten. Sie wurden wenig später von einer Gruppe von Rittern der Silbernen Hand geschlagen und der verseuchte Schädel in den Blackwood Lake hier in der Mitte der Karte geworfen.

Marduk, der Schwarze, hat den Krieg überlebt, wenn man das denn von einer Kreatur wie ihm behaupten kann. Sein verfluchtes Runenschwert jedoch wurde von einem mutigen Zwerg mit seinem verzauberten Schild zerschmettert. Die Überreste der Waffe verrosten jetzt irgendwo nördlich von Corrins’s Crossing. Die Macht dieser verfluchten Klinge war so groß, das sich dort, wo sie zu Boden fiel, eine gewaltige Senke aufgetan hat, die allgemein als die Infektnarbe bekannt ist. Irgendwo dort müssen sich noch die Splitter des Schwertes im Boden stecken. Wir brauchen sowohl den Schädel wie auch das Schwert, um unsere Aufgabe zu beenden.“

„Und wenn wir die Sachen haben, was machen wir dann damit?“, wollte Emanuelle wissen.

„Gemach, gemach.“, antwortete Carlin Redpath. „Das ist noch lange nicht alles, denn wir wollen uns auch die Helden der Schlacht ansehen. Da ist zum Einen der Paladin Davil Crockford. Sein Buchband wurde von den Anhängern des Scharlachroten Kreuzzugs geborgen und nach Tyr’s Hand gebracht. Ich vermute mal, dass sie es irgendwo in der Basilika aufbewahren. Und einige Passagen des Buches beschreiben auch, welches Schicksal meinen Bruder ereilte, nachdem er sich der Geißel angeschlossen hatte. In der Nähe von Marris Siedlung trafen er und die andere Untoten auf Widerstand. Sie besiegten die tapferen Männer zwar und zogen danach weiter, bis Joseph schließlich nahe Andorhal sein unrühmliches Ende fand. Sein Schild hingegen wurde bereits bei dem Gefecht zerschmettert und liegt nun noch irgendwo in der Nähe dieses verfluchten Ortes im Dreck. Ihr müsst auch diese beiden Gegenstände besorgen.“
 

Risingsun sah zweifelnd auf die Karte. „Ich weiß zwar nicht, warum wir all dies tun sollen, aber ich vertraue Euch oder vielmehr derjenigen, die Euch mit diesem Wissen versorgt hat.“

Carlin Redpath sah sie erstaunt an. „Wovon sprecht Ihr?“

„Nicht so wichtig.“, winkte die Paladina ab. „Wir werden all diese Dinge beschaffen. Ich frage mich allerdings, wie wir nach Tyr’s Hand hineingelangen sollen. Die Scharlachroten sind nicht eben für ihre Gastfreundschaft bekannt.“

Der ältere Mann dachte einen Augenblick lang nach. Plötzlich erhellte ein Lächeln sein narbenzerfurchtes Gesicht. „Ich habe da eine Idee. Wartet einen Augenblick hier.“

Er verließ das Zelt mit eiligen Schritten und ließ Risingsun und Emanuelle allein zurück.

„Ob er wirklich weiß, was er da tut?“, fragte die kleine Magierin ernsthaft besorgt. „Wobei sich schon eine Art Logik hinter all dem zu verbergen scheint. Wir sammeln Dinge, denen die Erinnerung an die Helden und Schurken der Schlacht anhaftet. Fehlen eigentlich nur noch ein paar Soldaten.“

„Beschreit es nicht.“, konnte Risingsun noch antworten, bevor die Zeltplane erneut zurückgeschlagen wurde und Carlin Redpath mit einem Arm voller Rüstungsteile zurückkehrte. Scheppernd ließ er sie zu Boden fallen und hielt voller Stolz einen Wappenrock hoch. Er zeigte eine rote Flamme auf weißem Grund.

„Seht Ihr?“, rief er glücklich. „Das haben wir vor ein paar Tagen einem Spähtrupp des Scharlachroten Kreuzzugs angenommen. Es waren keine brauchbaren Informationen aus ihnen herauszuholen, aber ich hatte so ein Gefühl und habe ihre Uniformen aufbewahrt. Mit ihnen könnt Ihr Euch als Mitglieder des Kreuzzugs tarnen und so unbehelligt nach Tyr’s Hand gelangen.“

„Das ist nicht Euer Ernst?“ Risingsun hatte die Augen weit aufgerissen. Ungläubig tastete sie über den weißen Stoff.

„Es ist auch nicht viel gefährlicher, als wenn wir uns so dort einschleichen oder noch schlimmer: Unseren Weg dort hinein frei kämpfen müssen.“, überlegte Emanuelle. Sie griff ebenfalls nach einem der Umhänge. „Allerdings werden wir mein Kostüm wohl noch ein wenig ändern müssen. Obwohl…“

Die Gnomin griff nach ihrem Rucksack und kramte eine Weile darin herum, bis sie ein Gerät zu Tage förderte, das vage an ein sehr kurzes Gewehr erinnerte. An seiner Mündung saß ein bläulich leuchtender Kristall, der in eine Halterung eingespannt war.

„Ich wusste doch, dass ich den Weltenvergrößerer irgendwann mal gebrauchen könnte. Ich muss lediglich ein paar Drähte umpolen, dann wird daraus ein prima Schrumpfstrahl. Also in der Theorie zumindest.“

„Und praktisch?“

Die kleine Magierin sah die Paladina auf großen, blauen Augen an. „Nun ja, theoretisch gesehen könnte ich das ganze Lager damit in die Luft sprengen. Aber das passiert eigentlich nur in etwa 17 von 586 Fällen. Kein Grund zur Besorgnis also.“
 

Risingsun fand nicht, dass sich das nach einer guten Idee anhörte. Andererseits mangelte es auch an echten Alternativen. So ließ sie die Gnomin an ihrer Maschine herumwerkeln und versuchte sich selbst alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über den Scharlachroten Kreuzzug wusste. Jedes noch so kleine Detail konnte wichtig sein, um nicht als Verräter enttarnt zu werden, denn dann, so viel war sicher, würden sie Tyrs Hand nicht mehr lebend verlassen.
 


 

Magenta ließ ihre Augen über den verwaisten Platz schweifen, der die Überreste einer einstmals prächtigen Gartenanlage beherbergte. Es war still. Totenstill. Einzig der Wind, der um die antiken Säulen strich, sang ein einsames Klagelied. Ein kalter Schauer kroch ihren Rücken empor und legte sich wie ein eisiger Mantel um ihre Schultern. Unwillkürlich rieb sie sich mit den Händen über die Oberarme, um sich selbst zu wärmen. Doch das Frösteln ließ sich dadurch nicht vertreiben. Es war eine Kälte der Seele, die diesen Ort bewohnte.
 

„Unheimlich.“, sagte eine Stimme neben ihr. Sie drehte sich halb zu Abbefaria herum und maß ihn mit einem abschätzigen Blick.

„Findet Ihr?“, antwortete sie und war bemüht, möglichst viel bissigen Spott in diese zwei Worte zu legen. Vielleicht konnte sie dadurch ihr eigenes Unwohlsein verbergen. „Ich finde es ganz anheimelnd im Gegensatz zu diesen fürchterlich überwucherten Gärten. So viel übersichtlicher.“

Der Druide verzog das Gesicht. „Eigentlich eigenartig, dass die Gärten im östlichen Teil so gediehen sind. Immerhin waren sie mit abscheulichen Dämonen verseucht. Lästerliche Kreaturen, die ohne Unterschied alles Leben um sich herum vernichten.“

Magenta zog eine Augenbraue nach oben. So ein Spiel wollte er also spielen. Nun gut, das konnte er haben.

„Mir erschien es eher so, als wenn ihr Anführer selbst so eine verdrehte Art Druide gewesen wäre mit all seinen Verwandlungen in Tiere und Pflanzen.“

„Das kann nicht sein!“, begehrte der Druide auf.

Ah, jetzt hatte sie ihn wütend gemacht. Wie amüsant. Magenta unterdrückte ein Lachen, als er sich mit dunklen Wangen und funkensprühenden Augen von ihr abwandte und zu seinen Nachtelfenkameraden aufschloss, die mittlerweile den leeren Hof betreten hatten. Langsam und aufmerksam folgte sie ihnen.
 

Große Statuen erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie erkannte riesige Hirschköpfe, die aus kalten, grauen Augen auf sie herabsahen. Und was waren diese anderen, plumpen Gestalten? Sie wusste es nicht. Auch wurde ihre Aufmerksamkeit von sehr viel edleren Gestalten abgelenkt. Schlanke Elfenstatuen in angegrautem Gold. Sie ähnelten dem Bildnis von Alleria Windrunner, das seinen Platz vor den Toren von Stormwind hatte, und wirkten auf eine eigentümliche Weise hochmütig. Andererseits war das bei Bildnissen edler Damen und Herren häufiger der Fall und musste nichts bedeuten. Nicht selten allerdings war es auch ein Abbild dessen, was der Künstler in seinem Motiv gesehen hatte. Magenta fragte sich, was hier der Fall gewesen sein mochte.
 

„Was ist das dort hinten?“

Easygoings Stimme brachte Magentas wandernde Gedanken wieder in das Hier und Jetzt zurück. Sie suchte nach dem Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit und fand es in einem leuchtenden Gebilde, das sich im linken Teil des toten Gartens befand. Es bestand aus einer steinernen Säule, über der ein großer Kristall schwebte. Bläuliches Licht ging von dem Gebilde aus und sandte einen gebündelten Energiestrahl in den bewölkten Himmel. Um die Säule hatte sich eine Anzahl blau leuchtender Elementare versammelt. Sie ähnelten Magentas Leerwandler, waren jedoch ungleich luftiger und flüchtiger.

„Manawoger.“, sagte sie zu den ratlosen Nachtelfen. „Sie werden von Arkaner Energie angezogen und gehen äußerst aggressiv vor, um sie zu bekommen. Man hat schon manchen Magier, der ein solches Geschöpf beschwören wollte, am nächsten Morgen ausgelaugt in seiner Studierstube gefunden. Sie geben äußerst unzuverlässige Haustiere ab.“

„Anders als Dämonen, meint ihr?“, schnaubte Abbefaria.

„Dämonen sind, im Gegensatz zu diesen Geschöpfen, intelligent.“, erklärte Magenta geduldig. „Zwar würde auch ein Dämon sich sofort gegen seinen Meister wenden, wenn dieser einen Fehler bei seiner Beschwörung machte, aber sie sind nicht so dumm, die Hand zu beißen, die sie füttert.“

„Oder aus ihrer Flasche herauslassen könnte.“, bemerkte ihre Tasche.

„Mit anderen Worte: Dort hinten strömt eine Menge arkaner Energie aus.“, fuhr Magenta fort, ohne auf den Einwand ihres Gepäcks einzugehen. „Solange wir sie nicht beim Fressen stören, werden die Kreaturen uns vermutlich nichts tun.“

„Vermutlich?“, hakte Easygoing nach.

Magenta machte eine unbestimmte Geste. „Nun ja, wenn ich mir diese versteinerten Bäume dort hinten so ansehe, wäre ich mir auch nicht allzu sicher, ob es klug ist, sich in ihre Nähe zu wagen. Wer weiß, was sie für einen Groll gegen uns hegen. Vermutlich ist es also klug, zunächst einmal alles hier als potentiell gefährlich anzusehen.“

„Das klingt weise.“, stimmte Ceredrian ihr zu und sie schenkte dem Priester ein dankbares Lächeln. Immerhin einer, der ihre Rat zu schätzen wusste.
 

„Hört ihr das?“ Deadlyone hatte die Ohren gespitzt und die Augen halb geschlossen.

„Was meinst du?“, wollte Easygoing wissen.

„Psst…das singt jemand.“, antwortete der Schurke.

Magenta versuchte, ebenfalls etwas zu erlauschen, konnte aber außer dem pfeifenden Wind, dem Rascheln der toten Bäume und dem fernen Brummen der arkanen Apparatur nichts vernehmen. Sie zog die Nase kraus. Vermutlich lag das an den größeren Ohren, denn jetzt sagte auch Ceredrian:

„Ja, ich höre sie auch. Die Worte allerdings sind…unverständlich, wenn auch nicht gänzlich unvertraut.“

„Kommt, wir suchen die Quelle dieses Gesangs.“, befahl Easygoing. „Aber haltet euch von diesen Manadingern fern.“
 

Sie durchquerten den Garten und gelangten auf der anderen Seite wieder auf eine Art Straße. Jetzt konnte auch Magenta die hohe, klagende Stimme vernehmen, die irgendwo über ihren Köpfen etwas sang, das Magenta eine Gänsehaut machte. Es klang wie ein Totengesang.

„Wir müssen dort hinauf.“, stellte Deadlyone fest. Der Schurke musterte die steinerne Wand mit gesteigertem Interesse. „Klettern dürfte bei den vielen Rissen und Vorsprüngen eigentlich kein Problem sein.“

„Klettern?“ Magenta glaubte, sich verhört zu haben. „Ich werde garantiert nicht an irgendwelchen morschen Mauern empor krabbeln.“ Sie sah Ceredrian an. „Oder bringt uns Euer wunderbarer Zauber auch dort hinauf?“

„Ich fürchte nicht.“, antwortete der Priester. „Allerdings wünschte ich, er täte es. Ich bin auch nicht unbedingt erbaut von dem Gedanken, dort hinauf zu steigen.“

„Dann werdet ihr zwei hier unten warten.“, entschied Easygoing. „Wir werden keine Zeit damit verschwenden, einen Weg durch dieses Labyrinth zu suchen. Deadly, Abbefaria und ich werden den direkten Weg nach oben nehmen und nachsehen, mit was wir es zu tun haben.“

„Na fein.“, murrte Magenta und ließ sich auf einen steinernen Sockel plumpsen. „Alles ist besser als diese dumme Fassadenkletterei. Und die Gesellschaft ist auch so ungleich viel besser.“

Sie schenkte Abbefaria ein liebenswürdiges Lächeln und sah mit Wonne, wie die Miene des Druiden versteinerte.

Das war dann eindeutig ein Punkt für mich, dachte sie zufrieden und begann, ihre Gepäck nach etwas zu essen zu durchsuchen.
 


 

Abbefaria drehte sich mit einem Ruck herum und fixierte die steile Wand so intensiv, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn der Stein vor ihm schlichtweg zu Staub zerfallen wäre.

Ruhig, versuchte er sich zu sagen. Konzentrier dich auf das, was vor dir liegt.

Er betrachtete die Wand genauer und sah, dass die Ritzen und Vorsprünge mit Resten von Moos und anderen Flechten durchzogen waren. Er schloss die Augen und ließ seinen Geist wandern. Er erhielt nicht sofort Antwort und selbst, als er dann doch etwas spürte, erschien es ihm, als würden die Pflanzen aus einem tiefen Schlaf zu ihm sprechen. Er erschrak. Hatten seine neuen Fähigkeiten ihn etwa bereits einen Teil seiner druidischen Kräfte gekostet?

Doch dann schalt er sich selbst einen Dummkopf. Er hatte die toten Bäume doch gesehen. Die Natur war hier nicht die vorherrschende Kraft und daher war es nur zu verständlich, dass sie über eine Kontaktaufnahme zunächst erstaunt war. So verstärkte er seine Bemühungen und ließ seinen Wunsch, die Mauer mit ihrer Hilfe zu ersteigen, in leicht verständlichen Bildern zu den Gewächsen fließen. Schon bald regten sich die schwächlichen Pflanzen und streckten ihre Blättern und Auswüchse nach ihm aus. Wie von tausenden, winzigen Händen gehalten, erklomm er Schritt für Schritt die glatte Wand und stand bald darauf neben Easygoing und Deadlyone auf einer breiten Balustrade.

„Seht dort!“, rief der Schurke.

Nicht weit von ihnen stand die geisterhafte Gestalt einer Nachtelfe. Von ihr kam der schauerlich-schöne Gesang. Als hätte sie ihre Blicke auf sich gefühlt, brach sie ihr Lied ab und drehte sich zu ihnen herum. Auf ihrem schmalen Gesicht stand tiefe Trauer, die einen scharfen Kontrast zu ihrer farbenfrohen Kleidung bildete. Sie trug aufwendigen Ohrschmuck und an ihren Armen funkelten kostbare Reife. Sie war schön, aber auf eine absonderliche Art und Weise, und ihre Stimme war ein heiseres Flüstern im klagenden Wind.

„Verlasst diesen Ort, Fremde, sonst wird er Euch verschlingen, wie alles, was mit ihm in Berührung kam.“

Easygoing machte einen Schritt auf die geisterhafte Nachtelfe zu. „Wer seid Ihr?“

„Mein Name ist zwischen den Zeiten verloren gegangen, denn ich bin eine der uralten Shen’dralar. Kennt Ihr die Hochgeborenen? Die Shen’dralar?“

„Wir wissen, dass Ihr der legendären Königin Azshara gedient habt. Ihr wart die Wahrer ihrer magischen Geheimnisse. Magier.“

Die Shen’dralar nickte. „Das und mehr. Wir waren Forscher der arkanen Kunst, fühlten uns berufen, ihr immer neue Grenzen abzutrotzen und die geheimsten Wünsche der Königin zu erfüllen, noch bevor sie sie aussprach. Wir waren so großartig.“ Sie lachte bitter auf. „Doch dann wurde der Brunnen der Ewigkeit zerstört und eine große Lethargie ergriff von uns Besitz. Um uns daraus zu befreien, ließ der Prinz Thortheldrin, der Herrscher über Eldre’Thalas, fünf magische Pylone errichten.“

„Etwa die, die dort unten von diesen Manabestien belauert werden?“, platze Abbefaria heraus.

Die Shen’dralar nickte erneut. „Er plante, mit dem Kraftfeld, das sie erzeugen, einen mächtigen Dämon namens Immol’thar einzufangen. Der Dämon sollte als magische Kraftquelle für alle Belange von Eldre’Thalas dienen. Es war ein waghalsiger und einzigartiger Plan, der zunächst auch wunderbar funktionierte. Die Stadt erblühte erneut und alle lobpreisten die Weisheit des Prinzen.

Tausende von Jahren vergingen und wir lebten, als hätte es die große Teilung nie gegeben, denn magische Energie stand ja nach wie vor im Überfluss zur Verfügung. Aber irgendwann begann sich das Gleichgewicht der Kräfte zu verschieben. Die Menge an Energie, die für die Gefangenhaltung des mächtigen Wesens benötigt wurde, begann die Menge an gewonnener Energie zu übersteigen. Bald schon herrschte ein Mangel an arkaner Macht und der Prinz beschloss, etwas dagegen zu unternehmen…“

Das Gesicht der Shen’dralar verdunkelte sich.

„…indem er begann diejenigen umbringen zu lassen, die er für unwürdig hielt, weiter an unseren Vorräten teilzuhaben. Doch die Menge an gewonnener Energie schwand immer mehr und so dezimierte der Prinz in seiner Angst, seine Macht zu verlieren, die Bevölkerung bis auf einen kärglichen Rest. Die Geister derjenigen, die er ermorden ließ, bewohnen immer noch die östlichen und westlichen Hallen. Prinz Thortheldrin und seine Anhänger hingegen haben sich in den Kellergewölben verkrochen. Von dort aus speisen sie immer noch die Pylonen, die Immol’thar nach wie vor gefangen halten. Die Frage ist nur, wie lange sie dieses Kunststück noch zu vollbringen im Stande sind. Denn eines steht fest: Sollte Immol‘thar irgendwann die Mauern seines Gefängnisses einreißen, wird er in seinem grenzenlosen Hass alles zerstören, was von diesem einst großartigen Hort der Magie noch übrig ist.“
 

Easygoings grimmiges Gesicht sprach Bände. „Es scheint, als würdet Ihr dann die Rechnung für Eure Verbrechen an dieser Welt erhalten.“

Die uralte Shen’dralar sah den großen Druiden voller Trauer an. „Das ist wahr. Wir waren blind und haben diese Strafe mehr als verdient. Doch sagt mir, was meint Ihr wohl, was passieren wird, wenn Immol’thar mit der Zerstörung von Eldre’Thalas fertig ist? Fett gefüttert mit den arkanen Energien, die er den Überlebenden entrissen hat. Was wird dieser wütende und mächtige Dämon dann wohl tun?“

Easygoing schwieg, doch Abbefaria wusste, was er dachte. Sie würden Immol’thar stellen müssen, bevor er sich aus seinem Gefängnis befreien konnte.

„Ich sehe, Ihr versteht jetzt.“, sagte die Shen’dralar. „Ihr müsst dem Wahnsinn ein Ende setzen, bevor Immol‘thar seine alte Stärke wieder erlangt. Findet die Pylonen und zerstört sie. Ich werde Euch sagen, wo Ihr sie suchen müsst. Wenn das geschafft ist, tötet Immol’thar. Dadurch verliert auch der Prinz seine Macht, so dass Ihr auch ihm das Ende bereiten könnt, das er verdient hat. Auf diese Weise rettet Ihr nicht nur Eure Welt, sondern bringt auch endlich Frieden für die Geister dieser Stadt. Die Zeit unserer Unsterblichkeit dauert jetzt schon viel zu lang.“
 

Während die Shen’dralar Easygoing beschrieb, wo sie die fünf magischen Pylone finden würden, sah Abbefaria über die Brüstung hinab zu Ceredrian und der Hexenmeisterin. Die beiden saßen in ein Gespräch vertieft nebeneinander auf einer verwitterten Steinbank. Aus irgendeinem Grund ärgerte ihn das und er konnte es kaum erwarten, wieder nach unten zu kommen. Immerhin lag dort unten ja auch der erste der Pylone, den sie würden zerstören müssen. Je eher sie das taten, desto eher konnten sie sich Immol’thar und dem Prinzen stellen und wenn das geschafft war, gab es keinen Grund mehr, noch mehr Zeit in der Gegenwart dieser Menschenfrau zu verbringen. Überhaupt keinen.
 


 

Risingsun brachte ihr Pferd zum Stehen und wartete, bis Emanuelle zu ihr aufgeschlossen hatte. Die Gnomin sah nicht sehr zufrieden aus.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum ich auf diesem stinkenden Pony reiten muss.“, maulte die kleine Magierin.

„Weil Ihr dem Scharlachroten Kreuzzug ohnehin schon dadurch verdächtig scheint, dass ihr kein Mensch seid.“, erklärte Risingsun ein wenig ungeduldig. „Und jetzt haltet Euch an das, was wir besprochen haben. Ihr habt ein Schweigegelübde abgelegt, bis ihr den Tod Eurer Familie durch die Untoten gerächt habt.“

„Aber…“

„Nichts aber.“, fauchte Risingsun. „Wir haben das besprochen. Euer loses Mundwerk und die Tatsache, dass Ihr Gnome ohnehin ein eher lockeres Verhältnis zur Göttlichen Macht des Lichts habt, macht Euch nicht gerade zu einem idealen Anwärter für die Gefolgschaft des Kreuzzugs. Alternativ könnt Ihr immer noch hier draußen warten, was ich persönlich für die bessere Idee halten würde.“

Emanuelle sah die Paladina trotzig an, sagte aber nichts mehr. Innerlich seufzte Risingsun leise auf. Die Gnomin würde sie mit Sicherheit noch in Schwierigkeiten bringen.
 

Mit einem Schenkeldruck ließ sie ihr Pferd wieder antraben. Auch das stolze Schlachtross trug jetzt die Farben des Kreuzzugs. Sie spiegelten sich in den Bannern, die die Stadtmauern vor ihnen verzierten. Tyr’s Hand war die reinste Festung, stark genug um auch die untoten Horden abzuhalten. Es war das einzige Gebiet der Östlichen Pestländer, das von der Verseuchung verschont geblieben war. Durch das Stadttor konnte man grüne Rasenflächen und unzerstörte Häuser erkennen. Davor jedoch stand eine ganze Reihe an Scharlachroten Wache und an diesen galt es zunächst einmal vorbei zukommen.

„Halt!“, rief die Wache rechts vom Tor und kreuzte die Hellebarde mit ihrem Gegenstück auf der anderen Seite. „Nennt Euren Namen und Euer Begehr.“

„Ich bringe Nachricht vom Obersten Kreuzzügler.“, rief Risingsun vom Rücken ihres Rosses herab. „Lord Valdelmar erwartet meinen Bericht.“

Die gekreuzten Waffen bewegten sich nicht.

„Der Kurier ist heute bereits angekommen.“, blaffte die Wache. „Ein weiterer wurde nicht angekündigt. Und was ist das für eine Kreatur bei Euch?“

„Seit wann muss der Oberste Kreuzzügler seine Entscheidungen gegenüber dem Fußvolk rechtfertigen?, bellte Risingsun so laut, dass der Wachmann regelrecht zusammenzuckte. „Geht mir endlich aus dem Weg, Mann, und haltet mich und meine Leibwache nicht weiter auf.“

„Leibwache?“, fragte jetzt der andere Wachmann. „Diese halbe Portion?“

In diesem Moment drehte sich Emanuelle auf ihrem Pony herum und bedachte den Mann mit einem finsteren Blick. Sie streckte die Hand aus und Sekunden später ging der Baum hinter ihm mit einem Knall in Flammen auf. Brüllend verschlang das Feuer das lebendige Holz und binnen weniger Augenblicke war nicht viel mehr als ein Häuflein Asche davon übrig.

„Sie ist in der Lage, dieses Meisterstück mit nicht weniger als vier Fleischwagen der Geißel am Stück zu wiederholen.“, sagte Risingsun ruhig. „Ganz zu schweigen von der verheerenden Wirkung, die sich bei Gruppen vertrockneter Untoter erreichen lassen. Ihr seht, ich bin hinreichend geschützt. Und jetzt haltet mich nicht länger auf, sondern lasst uns endlich passieren.“
 

Die Wachen beeilten sich, den beiden Reitern Platz zu machen. Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, trieb Risingsun ihr Pferd vorwärts. Emanuelle folgte ihr auf dem stämmigen Pony. Als sie das Tor hinter sich gelassen hatten, warf Risingsun eine halben Seitenblick auf die kleine Magierin, deren Gesicht verschlossen und ernst wirkte.

„Reife Leistung.“, wisperte sie leise.

Emanuelles Miene veränderte sich nicht, aber das Funkeln in ihren Augen sprach Bände. „Gutes, altes Lampenöl.“, flüsterte die Gnomin noch zurück, bevor die beiden einer Gruppe Kleriker begegneten, denen sie respektvoll auswichen. An einem festungsähnlichen Gebäude ließ Risingsun ihr Pferd anhalten und stieg ab. Sie führte das Tier zu einer weniger exponierten Stelle seitlich des Haupttores und ließ es dort zum Grasen zurück. Dann ließ sie ihren Blick über Tyr’s Hand schweifen.
 

Die Stadt war wirklich in einem außerordentlich gut gepflegten Zustand. Nirgends gab es Unkraut, die Steine der Häuser und der Kirche, die der Festung gegenüber liegt, wirken wie frisch geschrubbt. All das wurde jedoch noch überstrahlt von den makellos weißen Steinen der Basilika, die sich auf einem Hügel über die Stadt erhob. Risingsun wusste nicht, ob es daran lag, dass sie jetzt schon so lange der verwüsteten Landschaft der Pestländer ausgesetzt war, aber diese Kathedrale wirkte noch ungleich beeindruckender als ihr Gegenstück des Heiligen Lichts in Stormwind. Ein wenig gegen ihren Willen war die Paladina beeindruckt.

„Am besten wartet Ihr hier.“, sagte sie zu Emanuelle. Die Gnomin sah mürrisch drein.

„Ich weiß.“, seufzte Risingsun. „Aber wir können das Schauspiel von vor dem Tor nicht jedes Mal wiederholen, nur um die Kreuzzügler davon zu überzeugen, dass Ihr auf ihrer Seite seid. Lasst mich allein in die Kathedrale gehen und nach Davil Crockfords Buchband suchen. Das Relikt wird sicherlich unter Verschluss gehalten. Wenn ich es gefunden habe, werde ich Euch nachholen und wir können zusammen überlegen, wie wir es hier unauffällig raus schaffen.“
 

Die Gnomin runzelte die Stirn und verdrehte die Augen. Dann griff sie in ihre Tasche und holte das Gerät hervor, das sie schon benutzt hatte, um ihre Rüstung auf die passende Größe zu schrumpfen. Der eingespannte Edelstein leuchtete jetzt rot. Mit entschlossener Miene drückte sie es Risingsun in die Hand und machte dann eine wedelnde Bewegung.

Risingsun dämmerte, was die Gnomin ihr sagen wollte. Sie wollte noch etwas erwidern, doch ein Wachtrupp nahte heran. So versteckte sie die Waffe kurzerhand unter ihrem Wappenrock und drehte sich mit einem Ruck zu der pompösen Basilika herum. Mit festen Schritten und ohne sich noch einmal umzusehen ging sie darauf zu und versuchte dabei das Klopfen ihres eigenen Herzens zu überhören. Sie fühlte sich an den Tag erinnert, da sie ihren Schwur auf das Licht leistete. Die ständige Angst, etwas falsch zu machen oder sich zu verhaspeln, hatte ihr damals fast den Atem genommen.

Unsinn, schalt sie sich selbst. Ich bin kein junges Ding mehr, das man mit ein bisschen Gold und Purpurrot beeindrucken kann. Ich bin eine würdige Streiterin für das Licht und niemand wird mich aufhalten.
 

Tatsächlich betrat Risingsun die Kathedrale, ohne von jemandem angesprochen zu werden. Vielarmige, goldene Kerzenleuchter erhellten ihren Weg und der dicke, samtrote Teppich unter ihren Füßen dämpfte das Geräusch ihrer Stiefel. Im Inneren des Gebäudes herrschte andächtige Ruhe und der Geruch von Wachs und Weihrauch lag in der Luft. Über ihrem Kopf spannten sich spitze Bögen aus hellem Stein und überall glänzte das Rot und Gold der Banner des Kreuzzugs. Hohe Fenster filterten das eindringende Sonnenlicht und malten bunte Kreise auf den Fußboden, der mit einem Muster aus roten Steinen verziert war.

Am fernen Ende der Halle stand auf einem Podest ein Altar, ebenfalls geschmückt mit einem Banner des Kreuzzugs. Ein Mann in einer üppig geschmückten, rot-goldenen Rüstung kniete davor, offenbar ins Gebet versunken. Auch in den Seitengängen bemerkte Risingsun jetzt vereinzelte Mitglieder des Kreuzzugs, die Andacht hielten. Was sie jedoch nicht sah, waren Reliquienschreine oder etwas Ähnliches, das möglicherweise Davils Buchband hätte beherbergen können.

Es muss einen anderen Ort geben, wo Schriftstücke aufbewahrt und studiert werden. Dies hier ist ein reiner Raum der Ruhe und Kontemplation. Ich sollte mich zurückziehen.
 

In diesem Moment erhob sich der Mann am Altar und drehte sich zu Risingsun herum. Die Paladina erschrak, denn die Augen des Mannes ruhten genau auf ihr. Sie konnte seinen Blick förmlich spüren wie eine Berührung einer forschenden Kraft. Ohne lange zu überlegen, ließ sie sich auf ein Knie sinken und senkte den Kopf.

Schritte schwer gepanzerter Schuhe näherten sich langsam über den akribisch gefegten Boden. Rüstungsteile klapperten leise und es war nicht schwer zu erraten, dass sich der Mann vom Ende der Halle jetzt unmittelbar vor Risingsun befinden musste. Die Spitze eines Breitschwertes, in dessen Klinge rote Intarsien eingelassen worden waren, ragte in ihr Blickfeld. Es bestand kein Zweifel, dass eine so kostbare Waffe niemand anderem als dem obersten Befehlshaber von Tyr’s Hand, Lord Valdelmar, gehören konnte. Wenn er Verdacht schöpfte, würde Risingsuns Blut wohl bald die weißen Steine der Kathedrale mit einem neuen Muster verzieren.
 

Augenblicke dehnten sich zu Stunden, bevor das Schwert sich weiter bewegte und die metallenen Schritte hinter ihr verklangen. Erst jetzt wagte die Paladina wieder zu atmen. Ihr war bewusst, wie nahe sie dem Tod gewesen war, denn die Kreuzzügler war nicht dafür bekannt, lange Fragen zu stellen, wenn sie auch nur den geringsten Verdacht auf einen Verrat hatten. Risingsun dankte dem Licht, dass sie ihm entkommen war. Trotz ihres Drangs, die Kathedrale so schnell wie möglich zu verlassen, zwang sie sich, noch einige Minuten in der Haltung zu verharren und sich dann ohne große Hast zu erheben. Zielstrebig aber nicht eilig verließ sie die Kathedrale wieder und strebte stattdessen auf ein Gebäude zu, dass ihr ebenfalls eine Art Kirche zu sein schien. Im Gegensatz zu der nahezu leeren Kathedrale fand sie hier einen Bibliotheksflügel, der mit Reihen von Büchern aller Art gefüllt war.

„Kann ich Euch helfen?“, fragte eine leise Stimme und ein Geistlicher in einer rötlichen Kutte stand vor ihr.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, antwortete Risingsun: „Ich suche Werke der Ritter der Silbernen Hand.“

„Erster Stock, zweites Regal auf der linken Seite.“

Risingsun dankte dem Mönch und stieg die Treppe zu den höher gelegenen Stockwerken empor. Hier herrschte eine andere Art von Stille, die durchzogen war vom dem Rascheln trockenen Papiers und dem verhaltenen Husten eines Studierenden, der wohl ein allzu staubiges Werk erwischt hatte. Über ihre Schriften und Studien gebeugt bemerkte keiner der Anwesenden, wie sich die Paladina zwischen die Regale zurückzog und fieberhaft nach dem Buchband zu suchen begann.
 

Unter anderen Umständen hätte sie der Umfang der Bibliothek sicherlich beeindruckt. Jetzt aber war er mehr als hinderlich, denn es reihte sich Buchrücken an Buchrücken und sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wonach sie suchte. Für einen Augenblick bereute sie, dass sie Emanuelle nicht mitgenommen hatte. Die Magierin verstand vermutlich mehr von Büchern als sie. Da streifte ihr suchender Finger einen blausilbernen Einband und im selben Augenblick lief ein Schauer über ihren Rücken.

„Beendet unser Leiden!“, flüsterte eine Stimme nahe ihrem Ohr. Als sie sich umdrehte, sah sie die verblassende Silhouette einer Frau in einem einfachen, blutgetränkten Kettenhemd und mit einem Kurzschwert, wie es die Mitglieder der Miliz zu tragen pflegten. Konnte es sein…?

Entschieden griff Risingsun nach dem Buch und zog es aus dem Regal. Es passierte nichts. Ein wenig enttäuscht wollte sie es schon wieder zurück zwischen die anderen Bücher stellen, als erneut eine Stimme erklang.

„Oh Darrowshire, ich würde tausend Leben für dich geben.“

Risingsun schrak zusammen. Diesmal war es ein Mann in Milizuniform, dem Teiles seines Gesichtes fehlten. Auch er verschwand ohne eine Spur zu hinterlassen.
 

Entschlossen packte Risingsun das Buch und zog die eigenartige Waffe der Gnomin hervor.

Ich hoffe nur, dass das hier kein Fehler ist, dachte sie, richtete den roten Stein auf den Buchband und betätigte den Abzug. Ein rotes Glühen schoss aus der Waffe auf das Buch und hüllte es ein. Binnen Sekunden war es auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Größe geschrumpft. Die Paladina verstaute es zusammen mit der Waffe wieder unter ihrem Wappenrock.

„Ihr müsst ihn retten.“ , flüsterte eine leise Stimme, doch Risingsun sah sich nicht mehr nach dem Poltergeist um. So schnell, wie es unauffällig möglich war, verließ sie die Abtei und kehrte zu Emanuelle und ihrem Pferd zurück. Je eher sie Tyr‘s Hand verließen, desto besser. Immerhin war die Liste an Dingen, die sie suchten, noch lang, auch wenn sie Davils Buchband ganz offensichtlich gefunden hatten.
 


 

Eine Welle knisternder Energie durchlief Abbefarias Körper, als sein Zauber den Manawoger traf. Fluchend sprang er ein Stück zurück und griff erneut an. Mit einem Zischen verging die Kreatur und ließ nichts außer dem eigenartigen Geruch verbrannter Luft zurück. Der Druide schüttelte sich und blickte nach oben. Dort schwebte immer noch der blau leuchtende Kristall. Mit einem gezielten Strahl konzentrierten Mondfeuers, ließ er die Struktur bersten.

„Geschafft.“, lachte die Hexenmeisterin und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Abbefaria musste zugeben, dass ihre Mithilfe den Kampf mit den Manakreaturen vergleichsweise einfach gemacht hatte. Eine nach der anderen hatte sie sie von dem Pylon und ihren Kameraden fortgelockt, so dass die Gruppe es nie mit mehr als zwei dieser Geschöpfe gleichzeitig hatten aufnehmen müssen. Sie hatte dazu kleine Kristalle verwendet, die sie „Zaubersteine“ nannte. Diese enthielten eine hochkonzentrierte Menge arkaner Energie, die die gierigen Manawoger anlockte „wie Kinder Bonbons“. Zwar war es keinem der Nachtelfen besonders Recht gewesen, so auf die Hilfe der Menschenfrau angewiesen zu sein, doch die Umstände hatten für sie gesprochen.
 

„Wo finden wir den nächsten Pylon, Easy?“, wollte Ceredrian wissen.

„Wir müssen in die beiden geisterversuchten Hallen, von denen die Shen’dralar gesprochen hat. Dort befindet sich jeweils einer der Pylone.“

„Klingt nach einer Menge Arbeit.“, schnaufte Deadlyone. Dem Schurken hatte der Kampf gegen die Kreaturen, die ja nicht aus Fleisch und Blut waren, schwer zu schaffen gemacht „Gibt es denn keinen schnelleren Weg? Wir könnten uns doch durchschleichen.“

„Leider nein.“, antwortete sein Bruder. „Die Geister würden uns in jedem Fall bemerken.“

Deadlyone knurrte mürrisch. „Na dann legen wir mal los. Es wird ohnehin gerade dunkel. Genau das Richtige, um sich mit Spukgestalten herumzuärgern.“
 

Das Erste, was Abbefaria bemerkte, war die Kälte, die sie umgab. Bedrückend lauerte sie in den Ecken und strich mit eisigen Finger über seine Kehle. Er schluckte. Die Bedrohung, die von dem augenscheinlich leeren Raum ausging, war nahezu greifbar und bereitete ihm körperliches Unbehagen. Ein Gegner, den man nicht wahrnehmen konnte, war ungleich gefährlicher als einer, dessen Angriff man kommen sah.

„Wartet hier.“, flüsterte Ceredrian. Der Priester machte ein, zwei Schritte in den Raum hinein und blieb dann stehen. Seine Augen irrten hin und her, als suche er etwas.

„Darf ich vielleicht behilflich sein?“, fragte die Hexenmeisterin und murmelte eine Formel.

Ceredrian keuchte auf. „Was…woher?“

Easygoing fuhr wütend zu der Menschenfrau herum. „Was habt Ihr getan?“

„Ich habe dafür gesorgt, dass er die Geister hier im Raum sehen kann.“, antwortete sie ein wenig verschnupft. „Ich dachte mir, es sei hilfreich, wenn er nicht gleich in einen hineinläuft. Aber wenn Ihr wollt, kann ich den Zauber ja wieder von ihm nehmen.“

Der große Druide überlegte einen Augenblick.

„Nein.“, entschied er dann. „Ich kann zwar nicht sagen, dass mir der Gedanke behagt, aber ich möchte, dass Ihr diesen Zauber auf jeden von uns wirkt. Wir können nicht gegen etwas kämpfen, dass wir nicht sehen können.“
 

Abbefaria erwog zu protestieren, erlaubte dann aber doch, dass der Spruch auch auf ihn gewirkt wurde. Sogleich war der Raum vor ihm nicht mehr leer. Blau und grünlich schimmernde Gestalten bewegten sich zwischen den Säulen hin und her. Einige von ihnen noch in ihrer ursprünglichen Gestalt, andere hingegen groteske Zerrbilder ihrer Selbst und kaum noch als humanoide Wesen zu erkennen. Und es waren so viele. Allesamt gemordet von dem Anführer, dem sie vertrauten und der sie für seine eigenen Zwecke kaltblütig geopfert hat. Zweifelsohne würden sie auf Rache aus sein.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende geführt, stürzte sich bereits das erste, spektrale Wesen auf den immer noch wie erstarrt in der Türöffnung stehenden Priester. Der wich zunächst zurück und fesselte den Geist mit einem Zauber, doch schon sprang ein großer, laut brüllender Bär zwischen ihn und den Geist und stürmte auf den körperlosen Gegner zu. Die Schlacht hatte begonnen.
 

Der junge Druide konnte nicht sagen, wie lange er und seine Kameraden gegen die auf sie einstürmenden Horden von Geistern gekämpft hatten. Es erschien ihm, als wären es tausende gewesen. Mehr als einmal sprangen sie dem Tod dabei selbst nur um Haaresbreite von der Schippe und viel zu oft mussten sie Pausen einlegen, um ihre Verletzungen zu versorgen; darunter in den meisten Fällen Erfrierungen, denn die Kälte, die die Geister aussandten, benutzen sie auch, um die Lebenden damit anzugreifen. Es gab allerdings auch Geister, die sich die Magie ihrer Lebzeiten bewahrt hatten, und ihnen mit Feuer und Flamme zu Leibe rückten. Doch mit der Zeit fielen sie einer nach dem anderen, ebenso wie die Manakreaturen, die die zwei Pylonen bewachten.

Am Ende fühlte Abbefaria sich leer und ausgelaugt, nicht mehr fähig noch weiter zu gehen oder gar einen einzigen Zauber zu vollbringen. Er ließ sich auf den harten Boden sinken, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ausruhen. Nur für einen kleinen Moment.
 

Er erwachte wieder, als ihn jemand mit dem Fuß anstieß. Deadlyone stand über ihm und sah auf ihn herab. Im Dämmerlicht der ausklingenden Nacht sah Abbefaria zunächst nur seine leuchtenden Augen und einen groben Umriss der hageren Gestalt.

„Aufstehen.“, brummte der Schurke. „Wir wollen weiter. Easy hat den Eingang zu dem unterirdischen Tunnelsystem entdeckt. Es gibt da allerdings ein Problem.“

Abbefaria horchte auf. „Was für ein Problem?“

„Komm und sieh es dir selbst an. Easy meint, du wärst ohnehin der Richtige, um dich dessen anzunehmen.“

Mit gemischten Gefühlen folgte Abbefaria dem andere Nachtelfen. Einerseits freute es ihn, dass Easygoing offensichtlich in seine Fähigkeiten vertraute. Andererseits fragte er sich, was das für ein Hindernis sein mochte, das dem anderen Druiden Schwierigkeiten bereitete.
 

Während er noch darüber grübelte, erreichten sie den Anfang einer abschüssigen Rampe. Easygoing, Ceredrian und die Hexenmeisterin standen an ihrem Rand und schauten schweigend in die Tiefe. Abbefaria folgte ihren Blicken und keuchte überrascht auf.

Inmitten des Innenhofes, zu dem die Rampe führte, stand ein gewaltiges Urtum, bei dessen Anblick sich Abbefarias Magen zusammenzog. Anders als die weisen Riesen, die er kannte, schien dieses Urtum voller Hass und Bosheit zu sein.

Schwarze, borkige Rinde bedeckte seinen Körper und die Blätter an seinen Ästen waren gelb und krank. Sein einstmals gütig drein blickendes Gesicht war zu einer Maske der Grausamkeit verzogen. Spitze Zähne ragten aus einem schiefen Maul und in den dunklen Augenhöhlen glühte ein unheimliches, grünes Feuer. Die wuchtigen, astartigen Arme bewegten sich hin und her und die zu scharfen Klauen verjüngten Ende öffneten und schlossen sich, als hegte das Urtum den Wunsch, jeden zu zerreißen, der in seine Nähe kam. Es war ein furchtbarer Anblick.

„Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Wucherborke.“, sagte Easygoing. Sein Gesicht war ernst und seine Augen waren direkt auf das korrumpierte Urtum gerichtet. „Ich weiß nicht, was ihn so hat werden lassen, aber ich ahne nichts Gutes, wenn es darum geht, an ihm vorbeizukommen. Aber das müssen wir, denn der Eingang zu Immol’thars Gefängnis liegt auf der andere Seite des Hofes.“

Er drehte sich zu Abbefaria herum. „Du solltest versuchen, mit ihm zu sprechen. Eisenborke hat dir zugehört. Vielleicht gelingt dir das ja bei seinem Bruder erneut.“

Abbefaria ließ geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen entweichen. Als er das Urtum gesehen hatte, hatte er so etwas fast schon geahnt. Doch würde er es diesmal wieder so einfach vollbringen? Seine Hand irrte zu dem Beutel an seinem Gürtel. Vielleicht würden die Treants ihm helfen können.

„Wir sind direkt hinter dir.“, versicherte Ceredrian und lächelte ihm aufmunternd zu. „Sollte er dich angreifen, sind wir zur Stelle.“

Abbefaria presste die Lippen zusammen. „Ich mache mir keine Sorgen darum, dass mir etwas geschieht. Ich sorge mich viel eher darum, dass ihm etwas zustößt.“

Der Priester nickte verständnisvoll. „Sei trotzdem vorsichtig. Das dort ist keines der freundlichen Urtume, die wir kennen. Vermutlich wäre es sogar eine gute Tat, ihn von diesem Zustand zu erlösen.“
 

Abbefaria wusste, dass Ceredrian Recht hatte. Doch anders als Eisenborke, war sich Wucherborke seines Zustandes vermutlich nicht bewusst. Für ihn waren Abbefaria und seine Freunde nicht mehr als unbefugte Eindringlinge. Das zeigte sich deutlich, als der Druide das Ende der Rampe erreichte und den uralten Baum ansprach.

„Ihr gehört nicht hierher.“, knarrte Wucherborke. „Ihr müsst sterben.“

„Halt, warte! Hör mich erst an!“, beeilte sich Abbefaria seine Bitte vorzubringen. „Wir sind nicht hier, um dir oder sonst jemandem zu schaden. Wir wollen lediglich verhindern, dass der Dämon, der in den Tiefen gefangen gehalten wird, ausbricht und auf die Welt losgelassen wird. Dazu musst du uns aber vorbeilassen.“

„Kleine, unwichtige Wesen.“, knarzte das Urtum. „Ich werde Euch ausrupfen wie Unkraut. Ihr gehört nicht hierher. Ihr müsst sterben.“

„Wir haben deinem Bruder geholfen, seine Verderbnis zu überwinden.“, rief Abbefaria. „Wir könnten dir ebenfalls helfen.“

Ein Schauer ging durch die abgestorbenen Blätter des korrumpierten Urtums. Seine gewaltigen Kiefer mahlten an Worten.

„Ihr gehört…nicht hierher. Ihr…müsst…sterben.“

Abbefaria griff langsam nach seinem Beutel und entnahm ihm die Samen der Treants. Leise flüsterte er ihre Namen und wie aus dem Nicht erscheinen die drei kleinen Bäume vor ihm. Mit zornigem Blätterrascheln stürzten sie sich auf Wucherborke.

„Nein! Halt! Nicht!“, konnte Abbefaria noch schreien, da hatten sie ihn bereits erreicht und peitschten mit ihrem Ästen nach dem vielfach größeren Baum.

Der brüllte wütend auf: „IHR GEHÖRT NICHT HIERHER! URALTE BESCHÜTZER ZU MIR!“
 

Ein gewaltiges Brausen erhob sich über den Garten und mit Schrecken sah Abbefaria, dass sich einige der versteinerten Bäume zu regen begannen. Somit würden sie es nicht nur mit einem mächtigen Urtum, sondern gleich mit mehreren von ihnen zu tun bekommen. Sie mussten sich beeilen, wenn sie diesen Kampf gewinnen wollten.

„Schnell, helft mir!“, rief er seinen Kameraden zu und fuhr dann zu Wucherborke herum. Das Urtum hatte inzwischen begonnen, auf die drei kleinen Treants einzudreschen.

„Unkraut.“, grollte er und schleuderte einen der jungen Bäume so heftig gegen die Wand, dass Abbefaria das frische Holz knacken hört. „Herausreißen! Vernichten!“

Ohne lange zu überlegen, verwandelte sich Abbefaria in ein Moonkin und beschwor das Mondfeuer vom Himmel. Blendendweiß zischte es herab und versengte Wucherborke die bereits nachdem zweiten Treant ausgestreckten Äste. Der Druide stieß einen lauten Schrei aus und schickte den nächsten Zauber hinterher.

„Frecher Vogel.“, grollte das Urtum und grapschte nach ihm. Da schoss ein massiger Schatten an Abbefaria vorbei und stellte sich dem Baum mit wütendem Knurren in den Weg. Bärenklauen rissen die harte Borke auf und Ströme aus schwarzem Pflanzensaft ergossen sich auf den Steinboden. Wucherborke brüllte auf. Er hieb mit einem seiner Äste nach dem Bären und fegte ihn von den Füßen. Das massige Tier rutschte über den Boden und versuchte erfolglos Halt zu finden. Stampfend setzte Wucherborke ihm nach und trat mit seinen Wurzelfüßen nach ihm.

Ein wildes Kreischen ließ Abbefaria herumfahren. Lodernde Flammen hüllten einen der lebendig gewordenen Bäume ein und ließen ihn wie eine riesige Fackel durch die Gegend torkeln. Er schrie und tobte und setzte dabei gleich noch einen weiteren Baum in Brand. Der schüttelte den brennenden Beschützer jedoch mühelos ab und schon bald war der verkohlte Baum unter den Füßen seiner heranstürmenden Kameraden verschwunden.

Die Hexenmeisterin, die für den Brand verantwortlich war, raffte ihre Robe und rannte den Rest der Rampe nach unten, die jetzt unter den wuchtigen Tritten der herannahenden Bäume erzitterte. Im Vorbeilaufen griff sie nach dem Schurken, der gerade im Begriff war, sich ebenfalls in die Schlacht zu stürzen. Abbefaria sah noch, wie er sich mit ärgerlichem Gesicht von ihr losmachte, dann erforderte der Kampf mit Wucherborke wieder seine Aufmerksamkeit.
 

Das korrumpierte Urtum hatte Easygoing in seiner Bärenform inzwischen erreicht und versuchte, ihn unter seinen Wurzeln zu zermalmen. Doch das so plump anmutende Tier wich ihm immer wieder aus und landete im Gegenzug mehr und mehr Treffer.

„Halt still, damit ich dich ausrupfen kann.“, grollte Wucherborke und machte eine beschwörende Geste mit dem Arm. Sogleich schossen unzählige Wurzelstränge aus dem Boden und banden den großen Bären. Wucherborke holte zum Schlag aus.

„Nein!“ Abbefarias Schrei verhallte ungehört und ohne Konsequenzen. In seiner Not verwandelte er sich aus dem zauberkräftigen Moonkin in eine große, schwarze Raubkatze und sprang Wucherborke an. Seine Krallen bohrten sich in den Stamm des Urtums und der stinkende Saft rann über seine Tatzen. Brechreiz stieg seine Kehle empor und ließ ihn würgen. Plötzlich fühlte er sich von harten Klauen gepackt und in die Luft gehoben.

„Ungeziefer!“, brüllte Wucherborke. „Zerquetschen! Zertreten!“

Abbefaria maunzte entsetzt auf, als sich die Äste wie eiserne Klammern um seinen Brustkorb legten und zudrückten. Er zappelte, fauchte und kratzte, doch es blieb ohne Wirkung. Das Urtum hatte ihn fest in seiner tödlichen Umarmung. Der Druide fühlte seine Kräfte erlahmen.

Fürchte dich nicht, hörte er da eine Stimme in seinem Inneren. Der brennende Druck in seiner Brust wurde weniger und der rote Schleier, der sich bereits vor seine Augen gelegt hatte, verflüchtigte sich. Mit dem Schwinden des Schmerzes wurden auch seine Gedanken wieder klarer. Er verwandelte sich kurzerhand in seine Nachtelfenform zurück und entglitt so den zupackenden Ästen. Kurz bevor er landete, wurde er wieder zu einer Raubkatze und brachte sich mit einem großen Sprung in Sicherheit. Als er sich umsah, stand Ceredrian nicht weit von Wucherborke entfernt und konzentrierte sich jetzt darauf, Easygoing vor den Schlägen des wütenden Urtums zu bewahren. Aber das würde nicht lange so bleiben. Schon hatten die anderen Baumbeschützer den Hof erreicht und traten dem Kampf bei.

Abbefaria wurde wieder zu einem Nachtelfen und wollte dem Priester zu Hilfe eilen, als ihn die scharfe Stimme der Hexenmeisterin zurückrief.

„Schnell, in den Gang. Na los macht schon!“
 

Die Menschenfrau eilte an ihm vorbei und richtete beide Hände auf die heranstürmenden Bäume. Was sie tat, konnte Abbefaria nicht sehen, aber es war garantiert nichts Gutes.

„Komm schon!“, rief jetzt auch Deadlyone, der bereits im Eingang zu den unterirdischen Katakomben stand. In seinen Händen hielt er noch das Werkzeug, mit dem er die Tür geöffnet hatte. „Ich muss Cere und Easy da raus holen.“

Ohne ein weiteres Wort stürzte jetzt auch der Schurke wieder in den Innenhof und eilte zu dem freistehenden Priester. Er rief ihm etwas zu und machte einige Gesten in Richtung des großen Bären, der inzwischen schon wieder im Clinch mit Wucherborke lag. Die beiden ungleichen Giganten rangen verbissen miteinander.

Ceredrian nickte und Augenblicke später, blendete ein gleißenden Licht Abbefaria. Er hörte Wucherborke einen zornigen Schrei ausstoßen und kurz darauf Schritte, die eilig näher kamen. Eine raue Hand zerrte ihn mit in den Gang und irgendjemand warf das hölzerne Tor hinter ihnen ins Schloss. Erst dann begannen seine Mitstreiter wieder schärfere Konturen anzunehmen.

Easygoing lehnte mit rasselndem Atem an der Tür und blutete aus mehreren Schnittwunden. Außerdem begann sein rechtes Auge zuzuschwellen. Ceredrian und Deadlyone wirkten ein wenig derangiert, schienen unverletzt zu sein. Einzig die Hexenmeisterin war immer noch besorgt.

„Wir sollten von der Tür weggehen.“, sagte sie mit gerunzelter Stirn. „Ich weiß nicht genau, wann der Zauber seine Wirkung zeigt und ob die Tür in der Lage sein wird, uns vor seiner Wirkung zu schützen.“

„Welcher Zauber?“, fragte Abbefaria alarmiert.

„Welche Wirkung?“, wollte auch Easygoing wissen. In diesem Moment erzitterte das massive Tor unter einem gewaltigen Schlag.

„UNKRAUT!“, brüllte Wucherborke auf der anderen Seite. „VERNICHTEN! TÖTEN! ARGH!“
 

Ein Übelkeit erregendes Zischen mischte sich unter das Wüten des Urtums. Das Geräusch wiederholte und wiederholte sich. Gleichzeitig begannen auch die anderen Baumgeister zu schreien. Mit weit aufgerissenen Augen entfernte Easygoing sich nun endlich von der Tür und auch alle anderen flüchteten sich ein Stück weit in den Gang hinein, während die Schreie des gequälten Urtums und seiner Beschützer zunächst lauter und dann allmählich immer leiser wurden, bis sie schließlich ganz verstummten.

Bleierne Stille senkte sich über den schummrig beleuchteten Gang, dessen feuchte Kühle Abbefaria erst jetzt bewusst wurde. Etwas raschelte und knisterte und das flackernde Licht einer Fackel erhellte den vor ihnen liegenden Weg. Die Hexenmeisterin, die die Blicke der Nachtelfen auf sich gespürt haben musste, reckte trotzig das Kinn vor.

„Was?“, blaffte sie.

„Was war das für ein Zauber, den Ihr da benutzt habt?“, wagte Ceredrian als Einziger zu fragen.

„Keiner, von dem Ihr wissen wollt, wie er funktioniert“, wich die Hexenmeisterin aus. „Tatsache ist, dass diese wild gewordenen Bäume jetzt alle tot sind.“

„Ihr habt sie leiden lassen.“, klagte Abbefaria. Er wusste nicht, ob er die gepeinigten Schreie der Bäume so schnell wieder würde vergessen können. „Wieso?“
 

Die Miene der Menschenfrau verdüsterte sich. „Nun stellt Euch nicht so an. Ich brauchte einen Zauber, der uns genug Zeit ließ, uns selbst in Sicherheit zu bringen, und gleichzeitig genug Schaden anrichtet, damit sie alle erwischt werden. Entschuldigt bitte, wenn ich in der Eile der Zeit daher nicht zuerst noch mein Handbuch der bösen Hexenmeister-Sprüche nach einer möglichst schmerzfreien Todesart durchforstet habe.“

„Ihr hattet kein Recht, das zu tun.“, brauste der Druide auf. „Ihr hättet nicht…“

„Ich hätte was nicht?“, schnitt sie ihm kalt das Wort ab. „Nicht das tun sollen, wozu Ihr nicht in der Lage wart? Ihr habt doch gesehen, wie Eure kleinen Baumbegleiter auf Wucherborke reagiert haben. Sie haben ihn angegriffen, weil sie instinktiv gespürt haben, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Ich habe lediglich zu Ende geführt, was sie begonnen hatten.“

„Wir hätten ihn retten können.“, beharrte Abbefaria.

„Retten?“ Die Hexenmeisterin lachte trocken auf. „Ich habe die dämonische Verderbnis dieses Baums doch schon eine halbe Meile gegen den Wind gerochen, als Ihr noch versucht habt mit ihm zu verhandeln. In diesem Gewächs lauerte bereits ein Keim des Bösen, bevor ich ihn zum Explodieren gebracht habe. Vermutlich hat dieser Prinz Thortheldrin versucht, Wucherborke mit der Macht Immol’thars zu verstärken. Doch es hat nicht funktioniert. Die dämonische Magie, hat das innerste Wesen des Urtums aufgezehrt und die Kreatur zurückgelassen, die Ihr da draußen gesehen habt. Wenn Ihr um ihn weinen wollt, tut das. Aber nicht deswegen, weil wir seiner weltlichen Existenz heute ein Ende gesetzt haben. Dieser Baum war schon lange tot, bevor sein Stamm geborsten ist.“
 

Der Druide wusste nicht, was er noch darauf erwidern sollte. Schwer atmend stand er vor der wesentlich kleineren Hexenmeisterin und hätte sie am liebsten genommen und geschüttelt.

„Lassen wir es gut sein.“, unterbrach Easygoing ihren Streit. „Wir sind alle müde und haben noch ein hartes Stück Arbeit vor uns. Der Kampf gegen Immol’thar steht bevor. Wir sollten uns ausruhen und wieder zur Kräften kommen, bevor wir weitergehen.“
 

Abbefaria hörte ihn kaum, als er sich auf den kalten Boden sinken ließ. Er war mit seinen Gedanken immer noch bei Wucherborke und dem grausamen Ende, das die Hexenmeisterin ihm bereitet hatte. Vermutlich hatte sie sogar Recht mit dem, was sie gesagt hatte, doch der Schmerz des Verlustes war übermächtig. Er weigerte er sich schlichtweg zu glauben, dass nichts Gutes mehr in Wucherborke gewesen war. Irgendetwas Gutes war doch in jedem Lebewesen vorhanden. Zumindest in den Lebewesen, die er bis jetzt kennengelernt hatte.

Ohne etwas zu schmecken, begann er die Ration zu vertilgen, die Ceredrian ihm reichte. Easygoing hatte Recht. Er würde die Kraft brauchen, um dieses Abenteuer möglichst schnell hinter sich zu bringen und diese schreckliche Frau dann niemals wieder zu sehen.
 


 

„Ich frage mich, wo in dieser riesigen Senke wir anfangen sollen zu suchen.“, murrte Emanuelle. „Dieses Schwert könnte überall sein.“

„Könnte es.“, bestätigte Risingsun. „Aber basierend auf der Erfahrung mit dem Buchband, würde ich davon ausgehen, dass uns in der Umgebung des Schwertes irgendetwas erwarten wird. Wir müssen nur die Augen offenhalten.“

„Meint Ihr so etwas?“, fragte die kleine Magierin und wies auf einen Haufen spektraler Gestalten in Milizuniformen, die offensichtlich in ein handfestes Handgemenge verstrickt war. Ihre Gegner waren nicht minder durchsichtig, wenngleich auch von völlig anderer Natur.

„Sind das Untote?“, wollte Emanuelle wissen. „Oder Geister? Oder Geister von Untoten? Wie nennt man so etwas?“

Die Paladina zuckte mit dem Achseln. „Ich weiß es nicht. Aber es sieht aus, als wären diese Geister in einer Art Erinnerung gefangen. Sie kämpfen, wie es scheint, immer noch die Schlacht um Darrowshire.“

„Dann muss das Schwert hier irgendwo in der Nähe sein.“, schlussfolgerte Emanuelle und sprang von ihrem Pony. Blitzschnell wuselte die kleine Magierin in die Senke, in der sich die geisterhaften Gestalten gegenseitig den Garaus machten und suchte den Boden ab.

Hier, ich glaube, ich habe etwas.“, rief sie und winkte der Paladina.

Als Risingsun abstieg und nähertrat, sah sie die Überreste eine großen Schwertes im Boden stecken. Es war eine breite, schwarze Klinge, deren Oberfläche mit Runen bedeckt war. Runen, die sie zwar nicht lesen konnte, die ihr jedoch nichts Gutes zu verheißen schienen.

„Fürchtet Marduk oder Eure Stärke wird verdorren.“ , flüsterte es neben Risingsun und sie zog die Hand, die sie bereits nach der gebrochenen Klinge ausgestreckt hatte, wieder zurück.

„Vielleicht sollten wir das Schwert nicht unbedingt berühren.“, überlegte sie laut.

Emanuelle legte den Zeigefinger auf die Nasenspitze. „Ihr könntet Recht haben.“, stimmte sie zu. „Ich glaube, ich habe da etwas, das uns in dieser Situation helfen kann. Wartet mal.“
 

Die Gnomin begann, in ihrer Tasche zu kramen. Risingsun hörte Metall an Metall kratzen, das Scheppern verschiedener Gerätschaften und etwas, das wie ein mechanisches Huhn klang. Die Gnomin würde doch nicht etwa…

„Hier, das ist Lil’Smoky. Er wird das Schwert für uns aus dem Boden ziehen.“

Risingsun betrachtete das Ding skeptisch. Es sah aus wie eine Mischung aus einer dieser humanoid anmutenden Erntemaschine und einem Roboschreiter. Am vorderen Ende hatte es große Greifzangen und eine kleine Lampe die zu blinkendem Leben erwachte, als Emanuelle auf einen Knopf an einem Kasten in ihrer Hand drückte. Gleichzeitig begannen die Rohre an seiner Hinterseite jede Menge schwarzen Rauch auszustoßen.

„Wrrrhwrhhwrrhwrhhwrrhwrhh.“, machte die Maschine und zwinkerte mit der Lampe.

„So, und jetzt ganz vorsichtig.“, murmelte Emanuelle. Sie hatte die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt und drehte langsam an einem Regler.

„Wrrhwrrhwrrh.“, sagte Lil’Smoky und drehte den Oberkörper um die eigene Achse.

„Ok, der war es nicht. Dann vielleicht der hier.“, brummelte Emanuelle.

„Wrrrhwrhhwrrh.“, machte die Maschine und verbeugte sich. Dann stieß er noch eine große Rauchwolke aus und kehrte wieder in seine Ausgangsposition zurück, wo er verstummte und sie aus seinem runden Lampenauge dümmlich anglotzte.

„Also jetzt reicht´s mir aber.“, rief Emanuelle erbost. Sie begann wie wild auf den Schaltern, Hebeln und Tasten des kleinen Kastens herum zu hämmern. „Geh jetzt endlich und hol das verdammte Schwert!“

„Wrrrhwrhhwrrhwrhhwrrhwrhh!“, sagte Lil’Smoky, als er knatternd wieder zum Leben erwachte. Mit steifen Bewegungen drehte er sich auf den klobigen Füßen herum und begann auf die geisterhaften Gestalten zuzuwanken. Inzwischen waren nur mehr die schemenhaften Untoten am Leben, während die ehemaligen Verteidiger von Darrowshire niedergestreckt am Boden lagen.

Die kleine Maschine erreichte das Schwert und legte die eisernen Klauen darum. Mit einem Ruck zog er die schwarze Klinge aus dem Boden. In diesem Moment gab es einen klagenden Laut und die spektralen Gestalten zerbarsten in einer Explosion aus tausend Funken. Einer davon traf Risingsun an der Hand und sie schrie auf. Es brannte wie tausend Nadeln und an der betroffenen Stelle bildete sich ein schwarzer Fleck. Lil’Smoky hingegen war davon unbeeindruckt und wankte auf metallenen Füßen wieder zu seiner Herrin zurück. Er legte die zerstörte Klinge vor ihre Füße.

„Wrrhwrrrhwrrh.“, machte die Maschine noch einmal und verstummte endgültig.

„Ich glaube, die Batterie ist alle.“, sagte Emanuelle. „Aber immerhin haben wir das Schwert.“

Risingsun nickte und rieb sich die schmerzende Hand. „Ja, das ist wahr. Hier, nehmt meinen Umhang und wickelt die Klinge darin ein. Aber gebt Acht, dass Ihr sie nicht berührt.“

Die Gnomin tat, wie ihr geheißen war und verstaute die verfluchte Waffe in ihrem Gepäck. „Und jetzt?“

„Jetzt holen wir uns Horgus‘ Schädel.“
 

Schweigend ritten sie durch die zerstörte Landschaft der Östlichen Pestländer, bis sie an einen See gelangten. Sein trübes Wasser schwappte träge gegen die Gestade und verbreitete den Übelkeit erregenden Gestank von verwesendem Fleisch. Ein verendetes Reh lag halb angefressen im fauligen Uferschlamm, die toten Augen in den gelben Himmel gerichtet. Eine eiskalte Hand schien nach Risingsun zu greifen und jemand flüsterte:

„Ich wurde von Horgus verschlungen. Noch immer fühle ich seine Zähne in meinem Fleisch.“

Die Paladina glitt vom Rücken ihres Schlachtrosses. „Wir sind hier richtig.“

„Woher wollt Ihr das wissen?“, fragte Emanuelle. „Ich sehe hier nichts.“

Risingsun kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Tiefe des Sees etwas zu erkennen, doch es war aussichtslos.

„Wir werden tauchen müssen.“, erklärte sie mit leichter Abscheu. „Der Schädel liegt vermutlich auf dem Grunde des Sees.“

„Dann sollte ich vielleicht allein hinunter gehen.“, antwortete Emanuelle und fuhr fort, bevor Risingsun protestieren konnte. „Ehe Ihr Euch aus Eurer Rüstung geschält habt, bin ich lange wieder zurück und mit ihr würdet Ihr vermutlich ertrinken. Zudem habe ich nur einen Taucherhelm dabei.“ Sie grinste. „Außerdem sollt Ihr auch mal das Vergnügen haben, Euch die Beine beim Warten in den Bauch zu stehen. Es war ja sooo langweilig in Tyr‘s Hand.“
 

Risingsun musste zugeben, dass die kleine Magierin Recht hatte. So sah sie ihrer Gefährtin nur zu, wie diese sich ihre Ausrüstung anlegte und dann in die dreckigen Fluten hinab tauchte. Kreisförmige Wellen breiteten sich von der Stelle aus, an der sie verschwunden war. Was folgte, war Stille. Absolute, leblose, nicht zu ertragende Stille. Kein Vogel sang in diesem Gebiet, kein Lüftchen wehte und selbst wenn, hätte er in den laublosen Bäumen kein Geräusch mehr erzeugt. Der Tod war alles, was zwischen ihnen zu hören war.

Angestrengt starrte Risingsun auf die spiegelnde Fläche des Sees und wartete auf ein Zeichen. Da regte sich plötzlich etwas in der Tiefe. Rote und blaue Lichter tanzten unter der Oberfläche auf und ab. Schatten schwammen durch das undurchdringliche Wasser und mit jedem Augenblick rechnete die Paladina mehr damit, einen kleinen Körper an die Oberfläche treiben zu sehen. Immer unruhiger wurde sie und war schon versucht, ihr Schwert zu ziehen und sich in die Fluten zu stürzen.

„Das Licht muss den Sieg davon tragen! Enttäuscht uns nicht.“

Wütend fuhr Risingsun zu dem Poltergeist herum. Es war wieder die Frau vom Anfang.

„Ihr habt leicht reden. Ihr Seid ja schon tot!“

„Wer ist tot?“
 

Die Paladina zuckte zusammen. Hinter ihr stand tropfend und voller vermoderter Pflanzenteile Emanuelle. In ihrer Hand hielt sie ein Netz mit einem bleichen Schädel.

„Ich…ich dachte.“, stottere Risingsun.

„Ja ja.“, wehrte Emanuelle ab. „Ich glaube, wir sollten besser schnell von hier verschwinden. Der Eiszauber wird…“

In diesem Augenblick explodierte die Oberfläche des Sees und schleuderte fauliges Wasser in alle Richtungen. Mit kraus gezogener Nase stand Emanuelle in dem stinkenden Regen.

„Ok, die Frostnova hätte die Explosion trotzdem eigentlich noch länger aufhalten sollen. Ich glaube, ich sagt schon mal, dass Eiszauber nicht so meine Stärke sind, oder? Aber versucht Ihr mal unter Wasser etwas anzuzünden. Das ist wirklich schwieriger, als man annehmen sollte.“

Risingsun fühlte ein befreiendes Lachen die Kehle emporsteigen. Sie entschloss sich, ihm ausnahmsweise freien Lauf zu lassen.

„Hauptsache, ihr habt den Schädel.“, sagte sie anschließend. „Jetzt fehlt uns nur noch der Schild.“

Emanuelle legte den Kopf schief. „Ich glaube, da sollte ich vielleicht diesmal meinen Metalldetektor auspacken. Wer weiß, wie lange wir sonst dort herum suchen müssen.“
 

Marris Siedlung stellte sich als ein einzelnes, großes Gehöft heraus. Es war allerdings nicht so verlassen, wie die beiden Reliktsammler gehofft hatten.

„Seht ihr diese riesigen, grünlich leuchtenden Hunde?“, fragte Emanuelle.

Risingsun brummte zustimmend.

„Gut, ich dachte nämlich schon, ich hätte die mir nur eingebildet. Was für eklige Viecher. Wie sollen wir an denen vorbeikommen?“

„Wir könnten sie erschlagen.“, antwortete Risingsun nachdenklich. „Aber ich bin mir nicht sicher, was wir damit heraufbeschwören. Wachhunde haben normalerweise die Angewohnheit, etwas zu bewachen, das jemandem kostbar ist. Und dieser jemand wäre sicherlich nicht erbaut davon, wenn wir seine Haustiere einfach so umbringen.“

„Nein, davon wäre ich allerdings nicht erbaut.“, krächzte eine Stimme hinter ihnen. „Keine Bewegung, Allianzschwächlinge. Und jetzt dreht Euch langsam um.“

„Ja was denn nun? Nicht bewegen oder umdrehen?“

Risingsun glaubte, sich verhört zu haben. Begriff die Magierin denn nicht, dass sie in ernsten Schwierigkeiten waren?

„Ganz schön vorlaut, die kleine Kröte.“, lachte die Stimme. „Umdrehen!“
 

Vor ihnen stand ein Untoter, eine Armbrust im Anschlag und zwei der riesigen, grün leuchtenden Wachhunde neben sich. Ein durchdringender Pesthauch umwehte die Tiere und lenkte so fast von ihren scharfen Zähnen ab. Aber eben nur fast. Der Untote selbst trug unauffällig Kleidung in Grün- und Brauntönen, die Risingsun bei einem Waldläufer erwartet hätte.

„Ich habe euch beobachtet. Ihr seid schon einmal hier vorbeigekommen und eigentlich wollte ich schon die Hunde auf Euch loslassen. Doch dann wart ihr so freundlich, mir eine lästige Arbeit abzunehmen. Ich habe gesehen, dass ihr eine ganz beträchtliche Anzahl dieser lästigen Fledermäuse erlegt habt. Geflügelte Dämonen, die mich davon abhalten, ungestört Anhänger der Geißel abzuschlachten. Das hat mich neugierig gemacht und ich bin euch gefolgt. Ich war erstaunt darüber, euch kurz darauf im Aufzug des scharlachroten Abschaums zu sehen. Sagt mir, was war das Ziel dieser amüsanten, kleinen Scharade?“

„Wir benötigten einen Gegenstand, der sich in Tyr‘s Hand befand.“, antwortete Risingsun ausweichend.

Der Untote musterte sie hasserfüllt. „Wahrscheinlich eine tolle, kleine Reliquie oder sonst irgendein heiliger Schwachsinn. Aber was mich viel eher interessiert, ist, ob es funktioniert hat. Seid Ihr bis in ihr Heiligstes vorgedrungen?“

Risingsun nickte.

„Hochinteressant.“ Der Untote schien erfreut über diese Nachricht. „Dann habt ihr beiden Schwachköpfe mir ja einen großen Dienst erwiesen und jetzt wird es Zeit, noch einen zweiten Zweck zu erfüllen. Meine Hunde haben Hunger. Großen Hunger.“

Wie auf ein Kommando begannen die beiden grünen Hunde zu knurren. Geifer lief aus ihren Mäulern und ihre Augen glühten voller Vorfreude.

„Captain Redpath, wie konntet Ihr uns verraten?“ , flüsterte eine Stimme und eine Geisterfrau erschien ein kleines Stück neben dem grinsenden Untoten. Entnervt drehte er sich zu ihr herum.

„Ich habe doch gesagt, du sollst dich verpissen.“, fauchte er. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst und ich habe es langsam satt, dass du mir Tag und Nacht auf die Nerven fällst.“
 

Emanuelle räusperte sich. „Ähm, wenn ich vielleicht einen Vorschlag machen dürfte?“

Die untoten Augen fixierten sie ohne zu blinzeln. Ohne Augenlieder wäre dies auch schlecht möglich gewesen.

„Wir wissen, worum es dem Geist geht. Wir könnten ihn für Euch austreiben, wenn Ihr das wünscht. Im Gegenzug dazu könntet Ihr uns am Leben lassen.“

Dem Untoten hing buchstäblich der Kiefer herunter. Dann begann er schallend zu lachen. „Impertinente, kleine Kröte.“, kicherte er. „Steht schon mit beiden Füßen im Grab und versucht immer noch mit dem alten Nathanos zu feilschen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wer ich bin?“

Emanuelle verneinte.

„Nun, dann wollen wir es auch dabei belassen. Nachher kommt noch jemand auf die Idee, hier herumzuschnüffeln, und das wollen wir doch nicht, nicht wahr?“

Risingsun und Emanuelle schüttelten beide die Köpfe.

„Gut. Sehr gut. Dann passt mal auf, ihr Schätzchen. Ich lasse euch laufen. Und wenn ich laufen sage, dann meine ich laufen. Ich gebe Euch einen kleinen Vorsprung, dann lasse ich die Hunde los. Das lässt euch genug Zeit, mir diesen Geist vom Hals zu schaffen und vielleicht sogar noch euer erbärmliches Leben zu retten.“ Er grinste breit. „Alternativ lasse ich euch gleich hier und jetzt bei lebendigem Leibe fressen. Was sagt ihr dazu?“

„Ich schätze, wir nehmen die erste Variante.“, antwortete Emanuelle.

„Fein.“, lachte der Untote. „Dann zähle ich jetzt bis Drei. Eins. Zwei…“
 

So schnell sie konnten, machten Risingsun und Emanuelle kehrt und flogen förmlich den Hügel hinunter, von dem aus sie das Gehöft beobachtet hatten.

„Wo ist jetzt der Schild?“, keuchte Risingsun.

„Irgendwo dort drüben.“, japste Emanuelle. „Ich habe da etwas leuchten sehen, als der Geist aufgetaucht ist.“

Ein schrilles Jaulen hallte hinter ihnen den Berg hinab. Der dunkle Waldläufer hatte seine Hunde losgeschickt.

„Dann wollen wir doch mal sehen, ob die Biester genauso schlau sind wie ihr Herrchen.“, schnaufte Emanuelle und blieb zu Risingsuns Entsetzen stehen, um einen Zauber zu beginnen. Schon schossen zwei grüne Schatten den Berg hinab, bereit sich auf sie zu stürzen, als plötzlich vier kleine Magierinnen vor Risingsun standen. Sie sahen alle genauso aus wie Emanuelle und hörten sich auch genauso an, als sich eine von ihnen den Hunden in den Weg stellte und zwei weitere in unterschiedliche Richtung davon liefen. Die letzte, verbleibende Emanuelle grinste.

„Den Spruch wollte ich immer schon mal ausprobieren. Kommt, wir bergen das Schiild und machen uns von dannen, bevor die Viecher merken, dass sie lediglich unechte Spiegelbilder jagen. Falls sie sie nämlich erwischen, könnte das schneller der Fall sein, als uns lieb ist. So eine Illusion hält im Allgemeinen nicht viel aus.“

Risingsun schüttelte ungläubig den Kopf. „Hatte ich schon mal erwähnt, dass Ihr unglaublich seid?“

„Beiläufig. Und jetzt helft mir, diesen Schild aus dem Schlamm zu ziehen. Es wird Zeit, dass wir zu Carlin Redpath zurückkehren.“
 


 

Der gebogene Gang ließ immer nur ein paar Meter des vor ihnen liegenden Weges erkennen, bevor der Rest wieder im Dunkel verschwand. Niemand hatte sich die Mühe gemacht ihn zu beleuchten, und so war die Fackel in ihrer Hand die einzige Lichtquelle, die Magenta zur Verfügung stand, um die Schatten zu vertreiben. Den Nachtelfen machte die sie umgebende Schwärze ganz offensichtlich weniger aus, denn sie bewegten sich mit derselben traumwandlerischen Sicherheit, die die Hexenmeisterin heimlich an ihnen bewunderte. Dieser Abbefaria allerdings…

Nein, sie verbot sich jeden weiteren Gedanken. Es war nicht zielführend, wenn sie sich jetzt in Grübeleien verstrickte. Sie hatte ihrer Meinung nach nichts Falsches getan, auch wenn er das vielleicht anders sehen mochte. Aber das Leben war eben nicht immer ein blühender Rosengarten, besonders nicht, wenn man ein Hexenmeister war.
 

„Was ist das für ein Geräusch?“ Easygoing, der nach ihrer Rast wie selbstverständlich wieder die Führung übernommen hatte, hatte angehalten und spähte aufmerksam in die Dunkelheit. Magenta blieb ebenfalls stehen und lauschte. Zunächst konnte sie nichts Ungewöhnliches hören, doch dann vernahm sie auf einmal ein gleichmäßiges, leises Rauschen wie von einem fernen Fluss und doch ganz anders.

„Keine Ahnung.“, antwortete Deadlyone, der plötzlich wie eine verirrte Katze vor ihnen aus den Schatten auftauchte. Magenta erschrak ein wenig. Sie hatte nicht bemerkt, dass der Schurke sich von der Gruppe abgesetzt hatte. Er trat in den Lichtkreis der Fackel und deutete auf die Schwärze hinter sich.

„Ich habe allerdings das Gefühl, wir werden es herausfinden, wenn wir dem Gang weiter folgen. Das Geräusch wird dort hinten nämlich lauter.“
 

Vorsichtig gingen sie weiter den Gang entlang. Mit jedem Schritt schwoll das eigenartige Geräusch an, bis es schließlich zu einem beständigen Brausen geworden war, das die Luft erfüllte wie das Heulen eines winterlichen Sturms.

„Merkt ihr das?“, fragte Ceredrian. „Es wird heller.“

Magenta war das zunächst nicht aufgefallen, doch als sie die Fackel senkte, sah sie, dass der Priester Recht hatte. Ein bläulicher Wiederschein lag jetzt auf den steinernen Wänden. Er kam aus der Richtung des Geräusches.

„Löscht die Fackel!“, wies Easygoing sie an und Magenta tat es.

„Das Licht kommt von dort vorn.“, sagte Abbefaria. „Der Gang muss dort zu Ende sein.“

„Dann wollen wir sehen, was uns erwartet.“, knurrte Easygoing und setzte sich wieder in Bewegung.

Sie umrundeten die letzte Biegung des Ganges und standen unvermittelt in einer Halle von gigantischen Ausmaßen. Die Decke verschwand irgendwo über ihnen in der Dunkelheit und auch die gegenüberliegenden Wände waren nicht zu erkennen. Das lag jedoch nicht nur an ihrer puren Entfernung, sondern vor allem daran, dass der Gruppe die Sicht durch ein riesiges, kreisförmiges Säulengebilde versperrt wurde. Ein gewaltiger, blauer Energiewirbel hüllte es ein und verhinderte den Blick in das Innere. Er war es, der das anhaltende Rauschen verursachte.
 

„Das muss es sein.“, rief Magenta und trat in die Halle. „Das muss das Gefängnis von Immol’thar sein.“

„Ja, und dort hinten ist einer der zwei fehlenden Pylonen.“, ergänzte Easygoing. „Der letzte muss sich auf der anderen Seite der Konstruktion befinden. Sobald wir ihn abschalten, wird der Dämon befreit.“

„Dann sollten wir uns beeilen.“, sagte Ceredrian. „Womöglich ist die Zerstörung der anderen Pylonen nicht unbemerkt geblieben. Wenn die verbliebenen Shen’dralar uns aufhalten wollen, könnten wir uns auf einmal zwischen den Fronten wiederfinden.“

„Gut, gehen wir“, brummte Easygoing. „Die Manakreaturen dürften inzwischen ja kein allzu großes Hindernis mehr für uns darstellen. Hexenmeisterin, Ihr werdet sie wieder einzeln anlocken.“

Magenta nickte und hatte doch nur halb zugehört. Ihr Blick war auf das leuchtende Gefängnis gerichtet, hinter dem sich endlich ihr großer Traum erfüllen würde: ein Schreckensross aus Xoroth. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch gar keinen Plan ausgearbeitet hatte, wie sie die Nachtelfen nach diesem Abenteuer am besten loswurde. Aber da diese ja ohnehin darauf brannten, die Splitter der Teufelsranke nach Moonglade zu bringen, würde das wohl nicht allzu große Schwierigkeiten machen. Auf jeden Fall wesentlich weniger als der Kampf gegen Immol’thar.

„Wenn ich nur wüsste, was für ein Dämon das ist?“, murmelte sie halblaut vor sich hin.

„Na da ist ja nun eine ganz dumme Frage.“, quäkte es da aus ihrer Tasche. „Lass mich mal sehen.“

Erstaunt blieb die Hexenmeisterin stehen, öffnete in ihre Tasche und spähte hinein. Durch die Wölbung seiner Flasche glotzte der Wichtel zurück.

„Ja was ist nun?“, moserte er. „Soll ich es dir nun verraten oder nicht?“

„Als wenn du dich damit auskennen würdest.“, gab Magenta höhnisch zurück. Sie wollte die Klappe schon wieder zufallen lassen, als sie es sich anders überlegte.

„Also bitte, versuch dein Glück.“, sagte sie und hielt die Flasche mit dem Wichtel in Richtung des tosenden Energiestroms.

„Mhm.“, machte der Wichtel. „Wirklich schwierig zu erkennen. Die Aura wird durch die magischen Barrieren stark verzerrt. Aber wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es hier mit einem Schrecken der Leere zu tun.“

„Einem was?“ Magenta überlegte. Hatte sie schon einmal von so einem Dämon gehört?

„Einem Schrecken der Leere.“, erklärte der Wichtel noch einmal. „Oder von mir aus auch Leerenschrecken. Das sind riesige, hundeartige Kreaturen mit mindestens zwei Köpfen. Sie verfügen über einen unerschöpflichen Energievorrat, sind äußerst aggressiv und haben schlechten Atem. Außerdem ist es so gut wie unmöglich, sich unbemerkt an sie heranzupirschen.“

„Warum das?“

„Weil sie ungefähr ein Dutzend Augen haben. Zwar hat jeder ihrer Köpfe meist nur eines, aber je älter ein Leerenschrecken wird, desto mehr Augententakel entspringen seinem Rücken. Sie sind seine Stärke aber auch gleichzeitig seine größte Schwäche. Der Punkt, wo die Tentakel in den Rücken übergehen, ist die einzige, an der man ihn wirklich tödlich verletzten kann. Blöderweise sind die Tölen normalerweise so riesig, dass man schon fliegen können müsste, um dort heran zu kommen.“

„Und wie besiegt man dann eine solchen Leerenschrecken?“

Der Wichtel sah sie aus seiner Flasche heraus an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. „Na gar nicht. Man geht ihnen möglichst aus dem Weg und hofft, dass er jemand anderen zum Frühstück frisst. Meinst du vielleicht, die hätten ihren Namen umsonst bekommen? Die Biester sind unersättlich, noch schlimmer als Teufelsjäger, mit denen sie wohl um 38 Ecken herum verwandt sind, und machen nicht einmal vor Ihresgleichen Halt, wenn es um eine abgerundete Mahlzeit geht.“
 

Magenta sah zu Immol’thars Gefängnis hinüber. Natürlich hätte sie die Informationen, die der Wichtel ihr gegeben hatte, anzweifeln können. Immerhin handelte es sich hier um einen Dämon. Doch irgendetwas sagte ihr, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte, auch wenn sie nicht wirklich wusste, warum. Vielleicht um seine eigene Haut zu retten. Wer wusste schon, was im Kopf einer solchen Kreatur vor sich ging. Im Grunde genommen war es auch egal. Viel wichtiger war die Frage, wie sie den riesigen Leerenschrecken besiegen sollten, wenn ein Triumpf über ihn doch nahezu ausgeschlossen schien. Sie musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.
 


 

Carlin Redpaths Gesicht verzog sich zu einem gequälten Lächeln, als sie zuerst den Schädel und das zerbrochene Schwert seine Hände übergaben.

„Ihr habt sie gefunden. Gut gemacht. Zwar schmerzt mich ihr Anblick, denn diesen Gegenständen haften die Erinnerung an so viel Schmerz und Leid und Verrat an. Erinnerungen an die letzten Stunden von Darrowshire. Doch sie beinhalten auch eine große Macht. Eine Macht, die ich zwar nicht verstehe, aber die Ihr Euch zu Nutze machen werdet, wenn die Zeit reif ist. Aber habt Ihr auch die Relikte der Gegenseite gefunden?“

Mit Tränen in den Augen strichen seine Hände über die Oberfläche des durchlöcherten Schildes. „Mein Bruder. Warum konnten wir nicht sehen, was geschehen war. Warum musste es so weit kommen? Schicksal und Tragödie haftet an deinem Schild und dem Buchband des tapferen Paladins, der an deiner Seite kämpfte. Eure Geschichte ist mit der von Darrowshire verflochten und ich sehne den Tag herbei, da sie für euch einen besseren Ausgang nimmt.“
 

Carlin Redpath atmete ein paar Mal ein und aus und straffte sich dann.

„Wirklich gute Arbeit.“, sagte er mit festerer Stimme. „Chromie hat mich inzwischen kontaktiert und mir dies hier geschickt. Ihr benötigt es für den nächsten Schritt.“

Er reichte Emanuelle einen durchsichtigen Kristall.

„Was ist das?“, wollte sie wissen und spähte neugierig ins Innere.

„Chromie lässt Euch ausrichten, dass sie noch ein letztes Relikt braucht, um den Spruch zu wirken, der meinen Bruder schließlich erretten wird. Sie benötigt fünf Schädel von Geißelangehörigen, die damals bei der Schlacht von Darrowshire dabei waren.“

Risingsun warf Emanuelle einen „Ich hab es Euch doch gesagt“-Blick zu. „Und wie sollen wir die finden? Die verrotteten Kadaver sehen doch alle gleich aus.“

„Dafür ist der Kristall“, erklärte Carlin Redpath bereitwillig. „Ihr müsst ihn über den Schädel eines Untoten halten. Wenn Ihr einen Resonanz erhaltet, habt ihr einen von denen gefunden, die bei der Schlacht dabei waren.“

„Und ihr glaubt, das lassen die sich einfach so gefallen?“, wunderte sich Emanuelle.

„Nun, wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich die Schädel zuvor vom Rumpf trennen.“, lachte Carlin Redpath. „Ihr benötigt ohnehin nur den Kopf. Wenn Ihr fünf Schädel beisammen habt, bringt sie zusammen mit den anderen Gegenständen nach Darrowshire. Dort angekommen zerbrecht ihr den Kristall und Chromie wird Euch sagen, was weiter zu tun ist.“

„Also schön.“, knurrte Risingsun. „Ziehen wir also erneut los und sammeln stinkende Schädel. Ich hoffe nur, diese Chromie hat eine gute Erklärung für all das parat.“

Carlin Redpath sah sie voller Zuversicht an. „Ich glaube zumindest fest daran. Zwar sagt mir mein Verstand, dass es nicht sein kann, doch Chromie versprach mir, dass es tatsächlich möglich sei, Darrowshire vor dem Untergang zu bewahren. Und dass Ihr diejenigen seid, in die sie dabei ihre Hoffnung setzt. Darum enttäuscht mich nicht, Risingsun. Tut alles, was in Eurer Macht steht, um meinen Bruder zu retten.“

Die Paladina verzog das Gesicht. „Ich tue dies nicht für Joseph Redpath. Ich tue es für Pamela.“

Damit drehte sie sich um und ließ den verwirrten, alten Mann einfach stehen, der ihr und ihrer kleinen Begleiterin nach lange nachsah, bis sie schließlich im gelben Nebel verschwand.
 


 

Abbefaria atmete erleichert auf, als die letzte Manakreatur des zweiten Pylons ihr flüchtiges Leben aushauchte. Jetzt war der Weg für die Zerstörung der letzten Sicherung von Immol’thar Gefängnis frei. Er hob die Hand um den Zauber zu kanalisieren, der die letzte Energiesäule auslöschen würde.

„Halt, wartet!“

Ärgerlich drehte er sich zu der Hexenmeisterin herum, die ihn aufgehalten hatte.

„Was ist denn noch?“

„Ich muss Euch zuvor noch etwas mitteilen.“, antwortete sie mit ernster Miene. „Das, was uns im Inneren der Säulen erwartet, könnte uns vor ein ziemliches Problem stellen. Ich habe inzwischen herausgefunden, mit was wir es zu tun haben und ich denke, ich sollte diese Information mit Euch teilen, bevor wir uns in die Schlacht stürzen.“

Mit wachsendem Unbehagen hörten Abbefaria und die andere Nachtelfen sich daraufhin die Schilderung der Hexenmeisterin an. Was sie erzählte, klang wahrhaft erschreckend.
 

Als sie geendet hatte, richtete sich Easygoing auf und grollte: „Dann wird es eben so sein. Wir werden diesen Dämon entweder erledigen oder daran zu Grunde gehen.“

Die Hexenmeisterin räusperte sich vernehmlich. „Ich glaube nicht, dass das eine sehr gute Idee ist.“

Easygoing legte die Stirn in Falten. „Und was, schlagt Ihr vor, sollen wir tun? Wir sind zu weit gekommen, um jetzt noch aufzugeben. Es muss doch eine Möglichkeit geben, Immol’thar zu vernichten.“

Die Hexenmeisterin sah von einem zum anderen. „Wir bringen Prinz Thortheldrin dazu, sein kleines Haustier selbst zu erledigen.“

Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen, dann begannen alle durcheinander zu reden.

„Das ist Wahnsinn!“, ereiferte sich Easygoing.

„Vollkommener Stuss.“, stimmte sein Bruder ihm zu.

„Warum wohl sollte der Prinz so etwas tun?“, wollte auch Ceredrian wissen. „Immerhin hat er Immol’thar all die Jahrtausende beschützt und stattdessen lieber sein eigenes Volk ermordet.“

„Sicherlich ist es riskant.“, gab die Hexenmeisterin zu. „Doch auch der Prinz wird Immol‘thar wohl kaum am Leben lassen, wenn dieser hier Amok läuft. Seine eigene Haut ist ihm mit Sicherheit näher als die des Dämons.“

Abbefaria schüttelte voller Misstrauen den Kopf. „Aber wie sollen wir den Prinzen davon überzeugen, dass sein Leben bedroht ist?“

„Indem wir ihn hierher locken und den Dämon dann freilassen.“, erklärte die Hexenmeisterin. „Ich würde sagen, Ihr und Ceredrian seid geradezu prädestiniert dazu, die Aufgabe zu übernehmen, dem Prinzen ein schönes Märchen aufzutischen. Währenddessen warten wir anderen hier und wenn er erscheint, zerstören wir den letzten Pylon.“
 

Noch bevor einer der andere etwas sagen konnte, ergriff Ceredrian das Wort.

„So verrückt sich das auch anhört, könnte es vielleicht sogar tatsächlich funktionieren. Die Chancen, dass Immol’thar tatsächlich vernichtet wird, stehen auf jeden Fall höher, als wenn wir uns ihm allein entgegenstellen.“

„Und was sollen wir dem Prinzen erzählen?“, schnappte Abbefaria.

„Das lasst nur meine Sorge sein.“, lächelte Ceredrian. „Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.“

„Na großartig.“, schnaubte Deadlyone. „Wir sind also von Ceres Zungenfertigkeit abhängig. Das sind ja reizende Aussichten.“

„Wir können gerne tauschen.“, bot der Priester an, doch der Schurke lehnte dankend ab.

„Nein, nein, geht ihr beiden nur. Euch stehen Kleider auch viel besser als mir.“

„Kleider?“, fragte Abbefaria misstrauisch.

„Er hat Recht.“, sagte die Hexenmeisterin. „Wir müssen Euch verkleiden. Ihr solltet wie ein Bewohner von Eldre’Thalas aussehen.“

Sie sah sich suchend um. „Diese Fahne dort wird sicherlich ausreichen, um Euch in einen von Ihnen zu verwandeln.“

Abbefaria musterte das grellviolette Stück Stoff, auf dem das goldene Gesicht einer Eule abgebildet war. Er seufzte leise. Wie es schien, verfolgte ihn dieses Tier seit neuestem. Aber warum auch nicht? Schließlich hatte ein Moonkin viel von einer Eule, einem Vogel, der allgemein als klug und weise angesehen wurde. So ließ er es geschehen, dass sich schon bald eine bescheidenerweise als auffällig zu bezeichnende Robe um seinen Körper wand. Das einzig Tröstliche daran war, dass es Ceredrian nicht besser erging, nur dass der Priester in seiner Robe wesentlich weniger deplatziert aussah. Gemeinsam machten sie sich auf, um den zweiten Gang zu erkunden, den sie unweit des Eingangs in die riesige Halle entdeckt hatten.
 

Dieser zweite Gang war schmaler und wesentlich besser in instandgehalten als der, durch den sie die Halle betreten hatten. In regelmäßigen Abständen beleuchteten matt schimmernde Lampen ihren Weg, von denen Abbefaria annahm, dass sie magisch betrieben wurden. Die verbliebenen Shen’dralar konnten nicht mehr weit sein. Als sie in der Ferne einen wärmeren Lichtschein entdeckten, hob Ceredrian die Hand.

„Halt, warte. Wir müssen uns noch vorbereiten.“ Der Priester zückte ein kurzes Messer und ehe Abbefaria sich versehen hatte, hatte der andere Nachtelf seine eben neu gefertigte Robe mit einem breiten Riss versehen und einen der Ärmel halb abgetrennt.

„So, das sieht doch schon besser aus.“, nickte Ceredrian zufrieden. „Und jetzt schlag mich.“

„Was?“ Abbefaria glaubte, sich verhört zu haben.

„Ich sagte, du sollst mich schlagen.“, wiederholte der Priester geduldig. „Immerhin sind wir von fremden Eindringlingen überfallen worden. Das wird wohl kaum ohne Blessuren abgegangen sein. Also los jetzt. Oder traust du dich nicht?“

Unschlüssig ballte Abbefaria die Hand zur Faust und starrte zu Boden. Er wusste, wenn er dem freundlichen Priester jetzt ins Gesicht sehen würde, würde er den Schlag nicht ausführen können.

„Warte, ich helfe dir.“, hörte er Ceredrian sagen und im nächsten Moment hatte er schon ausgeholt und den andere Nachtelfen mit voller Wucht an der Wange getroffen. Er fauchte und setzte noch einen weiteren Schlag nach, der den Priester am Mund traf. Rotes Blut schoss aus der aufgeplatzten Lippe. Erst dann hatte er seine Bewegungen wieder unter Kontrolle.

„Gar nicht mal schlecht.“, grinste Ceredrian und ließ sein Blut mit voller Absicht auf seine Kleidung tropfen. „Ich denke, das sollte sie überzeugen. Und jetzt komm. Wir haben eine Vorstellung zu geben. Am besten überlässt du mir das Reden.“

Der Priester löste noch seinen Pferdeschwanz und fuhr sich ein paar Mal durch die langen Haare, bevor er plötzlich ohne weitere Vorwarnung unter lauten Hilferufen auf den Lichtschein zustürmte. Ohne lange zu überlegen, stürzte Abbefaria hinter ihm her und versuchte dabei, einen möglichst aufgewühlten Eindruck zu machen.
 

Sie erreichten eine Empore in einem Raum, der von oben bis unten mit Büchern und anderen Artefakten vollgestopft war. Feuerschalen beleuchteten und wärmten den Raum und kleine Bänke luden zum Verweilen und Studieren ein. Weiter hinten hing das Skelett eines unbekannten Tieres von der Decke und eine große, von goldenen Streben umspannte Kugel zeigte ein Abbild einer Weltkarte. Es waren einige Elfen anwesend, manche von ihnen mit Büchern in der Hand, andere trugen kleinere Gerätschaften, deren Zweck sich Abbefaria nicht erschloss. Es war offensichtlich, dass sie nicht mit dem plötzlichen Erscheinen einer so ungewöhnlichen Störung gerechnet hatten.

„Schnell, wo ist der Prinz?“, fragte Ceredrian eine schlanke Elfe in einer recht schlicht gehaltenen, braunen Robe, die gerade vor einem der Regale nach einem Bruch gegriffen hatte. „Wir sind überfallen worden. Eindringlinge sind bis in das Innerste von Eldre’Thalas vorgedrungen und bedrohen unsere Sicherheit. Wir müssen sie aufhalten.“

„Was redet ihr da?“, fragte die Angesprochene unwirsch. „Dämpft gefälligst Eure Stimme. Ihr stört den Meister in seiner Meditation.“

„Ja aber begreift Ihr denn nicht?“, rief Ceredrian aus. „Sie stehen bereits direkt vor unserer Tür. Sie haben vor, den Dämon zu befreien!“

Diese Meldung schien die Elfe nun doch unruhig werden zu lassen. Sie wandte sich an einen zweiten Elfen, dessen Kleidung der ihren ähnelte und der so eben die Rampe emporkam, die weiter nach unten in die mit Wissen angefüllte Halle führte.

„Wir dürfen den Prinzen auf keinen Fall wüten machen.“, wehrte auch dieser Elf ab, als er gehört hatte, worum es ging. „Sein Zorn geht über die Grenzen der Brutalität hinaus.“

„Dann bringt uns zu ihm.“, verlangte Ceredrian. „Sein Zorn wird dann uns und nicht Euch treffen. Aber beeilt Euch. Mit jeder Sekunde dringen die Fremden weiter vor.“
 

Endlich nickte die Elfe und winkte ihnen, ihr zu folgen. Sie führte Ceredrian und Abbefaria zu einem Elf, dessen Robe in grellen Grün und Violett-Tönen fast schon eine größere Beleidung für die Augen war, als die ignorante Miene, die er an den Tag legte, als die einfache Shen’dralar ihn ansprach.

„Meister Treeshaper.“, flüsterte sie. „Hier sind zwei…“

„Was ist denn?“, unterbrach er sie barsch. „Seht Ihr nicht, dass wir beschäftigt sind.“

Er wies auf einen zweiten Elf in einer purpurfarbenden Robe. „Wissensbehüter Kildrath hängt mir mit seinen gestohlenen Folianten in den Ohren, die Oger schlagen wieder einmal Krach und meine eigenen Studien liegen brach, weil Ihr mir hier meine wertvolle Zeit stehlt. Was also kann so wichtig sein?“

Ceredrian sah ihn ernst an. „Jemand wird versuchen Immol’thar zu befreien.“
 

Die eben noch arroganten Züge des Elfen wurden fahl. „Was sagt Ihr da? Wir müssen sofort Prinz Thortheldrin darüber informieren. Folgt mir!“

Er führte Abbefaria und Ceredrian in den hinteren Teil der großen Bibliothek. Dort stand zwischen zwei großen Kandelabern ein hochgewachsener, schlanker Elf in einer kriegerischen Haltung. Er wirkte nicht besonders kräftig, doch Abbefaria sah die sehnigen Muskelstränge, die unter seiner Haut spielten, als er sich in eine andere Position brachte. Das Licht der vielen Kerzen brach sich auf zwei doppelklingigen Schwertern und den goldenen Ornamenten seiner aufwendig verzierten Rüstung. Eine Aura von Macht umgab ihn wie ein schützendes Schild. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte höchst konzentriert.

„Mein Prinz.“, hauchte der arrogante Elf unterwürfig. „Diese hier bringen schreckliche Neuigkeiten. Wie es scheint, bedroht jemand unsere Sicherheit.“

Der Prinz, der seine Augen weiter geschlossen hielt, kräuselte die Lippen. „Wer würde so dumm sein, es mit meiner Macht aufzunehmen? Er würde vernichtet werden, bevor er auch nur an Widerstand denken kann.“

„Prinz Thortheldrin“, ergriff jetzt Ceredrian das Wort. „ Die Fremden haben uns überfallen, als wir in der großen Halle waren. Sie haben gesagt, sie hätten die Pylonen zerstört und planten, Immol’thar freizusetzen.“

Schlagartig öffneten sich die leuchtenden Augen des Prinzen. „Was sagt Ihr da? Das kann nicht sein. Warum habt Ihr sie nicht aufgehalten?“

Der Priester senkte das Haupt. „Mein Prinz, sie waren zu mächtig für uns. Als wir das einsehen mussten, gaben wir unser Bestes, um zu entkommen und Euch zu warnen. Es sind Nachtelfen, darunter zwei Druiden, und auch eine menschliche Hexenmeisterin. Ich weiß nicht, woher sie das Wissen um Immol’thar haben, aber wir sollten uns beeilen, bevor sie mit ihrem Plan Erfolg haben.“

Prinz Thortheldrin verzog den Mund zu einem gehässigen Grinsen. „Sie werden es bereuen, auch nur einen Fuß in diese Gemäuer gesetzt zu haben. Falrin, Ihr versiegelt die Bibliothek und lasst niemandem herein. Es scheint, als hätten wir diejenigen gefunden, die für das Abfließen unseres kostbaren Wissens verantwortlich sind. Ich werde mich höchstpersönlich darum kümmern.“

„Sehr wohl, mein Prinz.“, antwortete der arrogante Elf und verneigte sich tief.

„Wir würden Euch gerne begleiten, mein Prinz.“, sagte Ceredrian schnell. „Die Schmach, die wir durch unseren unehrenhaften Rückzug erleiden mussten, sitzt tief, und wir würden nur zu gerne Euren Triumph über diese niederen Kreaturen miterleben, wenn Ihr es gestattet.“

„So soll es sein.“, nickte der Prinz gönnerhaft. „Ich werde Ihnen das Fleisch von den Knochen brennen und ihnen ihr eigenes Blut zu trinken geben. Sie werden Qualen erleiden, die sie wünschen lassen werden, sie wären nie geboren worden.“
 

Mit einem mulmigen Gefühl folgte Abbefaria Ceredrian und dem mordlüsternen Prinzen. Er war sich nicht mehr so sicher, dass das hier wirklich eine gute Idee gewesen war.
 


 

„Sie kommen!“
 

Der Ruf des Schurken ließ Magenta aufspringen. Sie saß hier nun schon eine halbe Ewigkeit in dieser zugigen Halle herum und lauschte dem Jaulen der magischen Barriere. Inzwischen war sie der Meinung, dass man allein durch das andauernde Winseln den Verstand verlieren konnte. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar angefangen, sich mit dem vorlauten Wichtel in ihrer Tasche zu unterhalten, nur um nicht weiter die öde Wand anstarren zu müssen. Jetzt jedoch warf sie die bauchige Flasche achtlos beiseite.

„Hey, Vorsicht, immerhin wohne ich hier drin.“, beschwerte sich der Wichtel, aber sie beachtete ihn gar nicht mehr. Ihre Augen waren strikt auf die drei Gestalten gerichtet, die am Eingang der Halle erschienen waren. Der Hellhaarige in der Mitte musste der Prinz sein.

„Jetzt.“, rief Easygoing und zerstörte mit einem gezielten Hieb den leuchtenden Kristall des letzten Pylonen. Es gab einen krachenden Laut und ein Geräusch, als hätte jemand einen großen Staudamm geschlossen. Anschließend breitete sich zunehmend eine drückende Stille in der riesigen Halle aus, als die magische Barriere um Immol’thars Gefängnis zum Erliegen kam und das stetige Klagen der Energieströme verstummte. Gleich darauf wurde die Stille von einem wütenden Schrei durchbrochen.

„WAS HABT IHR GETAN? Dafür werdet Ihr bezahlen. Kommt und stellt Euch der Macht von Prinz Thortheldrin!“

Gleichzeitig erhob sich im Inneren des steinernen Kreises ein großes Geschrei, das von einem ohrenbetäubenden Knurren überlagert wurde.

„Die Bestie! Sie ist frei!

„Haltet ihn auf!“

„Errichtet das Gefängnis neu!

„Flieht, flieht!“

Eine einzelne Gestalt löste sich aus dem steinernen Kreis und rannte in Richtung des Ausgangs. Es war eine Elfe in einer kostbaren, goldgewirkten Robe, die in purer Panik verfallen war. Als sie den Prinzen erblickte, änderte sie ihre Richtung und lief direkt auf ihn zu.

„Prinz Thortheldrin. Der Dämon…“

Sie kam nicht weiter, denn ein arkaner Blitz löste sich von der Hand des Prinzen und streckte sie nieder. Ihr verkohlter Körper berührte die Erde nicht mehr, sondern zerplatzte zu einem Haufe Ascheflocken, sie sich in alle Richtungen verstreute.

„Ich erlaube nicht, dass meine Untergebene ihren Posten verlassen.“, sagte der Prinz kalt. Er wandte sich Magenta und den beiden Nachtelfen zu. „Und ich erlaube nicht, dass mir jemand meine Macht stiehlt. Ihr werdet jetzt sterben.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“, erwiderte Magenta und deutete hinter den Prinzen. „Wie es aussieht, werden wir wohl alle das Zeitliche segnen, wenn er erst mal einen Weg dort durchgefunden hat.“

Der Prinz der Shen’dralar fuhr herum. Magenta konnte seinen Gesichtsausdruck zwar nicht sehen, aber vermutlich war er nicht sehr erfreut. Wobei sich die Hexenmeisterin auch nicht sicher war, ob ihr das, was sie sah, gefiel.
 

Zwischen den Säulen in der Mitte der Halle war die Schnauze eines abgrundtiefhässlichen Dämons erschienen. Er hatte, wie der Wichtel gesagt hatte, tatsächlich entfernte Ähnlichkeit mit einem Hund. Allerdings einem Hund, der dem dunkelsten und tiefsten aller Albträume entsprungen war. Er war so hoch wie ein kleines Schloss und hatte zwei dicke Köpfe, in deren Mitte jeweils ein rotglühendes Auge saß. Unzählige Hörner sprossen aus den wuchtigen Schädeln und in den zwei Rachen loderte dämonisches Feuer. Am unheimlichsten waren jedoch die Tentakel auf seinem Rücken. Wie der Wichtel gesagt hatte, saß am Ende jedes Auswuchses ebenfalls ein großes, glühendes Auge, das sie voller Bosheit anfunkelte, während sich die gigantische Kreatur wieder und wieder gegen die Pfeiler seines Gefängnisses und dabei voller Gier heulte. Schon bröckelten die ersten Steine und bald würde die ganze Konstruktion nachgeben und den Schrecken in ihrem Inneren freisetzen.

Der Prinz zischte hasserfüllt: „Um Euch kümmere ich mich später. Jetzt muss ich zunächst einmal diesen Dämon wieder in seine Schranken weisen.“
 

Prinz Thortheldrin hob seine Waffen und stürmte auf Immol’thar zu. Der Leerenschrecken grollte laut auf und verstärkte seine Anstrengungen noch. Die glühenden Augen waren jetzt einzig und allein auf den Prinzen gerichtet. Vielleicht hatte er in ihm denjenigen erkannt, dem er seine jahrtausendelange Gefangenschaft zu verdanken hatte.

„Zurück höllische Kreatur!“, rief der Prinz und jagte Immol’thar einen arkanen Blitz mitten zwischen die glühenden Augen. Der Dämon jaulte auf und warf sich danach nur noch umso heftiger gegen die Säulen. Gesteinsbrocken gingen um den Prinzen herum zu Boden, aber der Elf zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Zurück, habe ich gesagt!“, donnerte er und wiederholte den Zauber. Diesmal jedoch öffnete Immol’thar blitzschnell das Maul und die arkane Energie verschwand in seinem Inneren. Gleichzeitig breitete sich ein grünlicher Schein um zwei der Augententakel aus. Neben ihnen erschienen geisterhafte Abbilder der echten Augenbälle, die sich blitzschnell auf den Prinzen zubewegten. Kaum waren sie in seiner Nähe angekommen, begannen sie ein grünes Licht auszusenden, das von einem bösartigen Brummen begleitet wurde. Der Prinz stöhnte auf.

„Was ist das?“, keuchte er und schlug mit einem seiner Schwerter nach dem geisterhaften Auge. Es zerplatzte genauso wie kurz darauf das zweite. Sofort hatte der Prinz seine alte Agilität wieder zurück. Er knirschte mit den Zähnen.

„Mit diesen Tricks wirst du mich nicht besiegen. Friss dies!“
 

Wieder schickte er einen mächtigen, arkanen Blitz auf die Reise. Doch wieder schluckte Immol’thar ihn herunter und sandte die Augen gegen den Prinzen. Während dieser noch damit beschäftigt war, die lästigen Quälgeister eines nach dem anderen zu vernichten, warf sich der Leerenschrecken ein letztes Mal gegen die steinernen Säulen. Mit einem gigantischen Krachen brachen zwei von ihnen entzwei und ließen eine gewaltige Lawine herab regnen. Mit einem schier unmöglich erscheinenden Satz nach hinten brachte sich der Prinz in Sicherheit. Aber Immol‘thar setzte ihm nach und rannte ihn einfach über den Haufen. Für eine Kreatur seiner Größe, war der Dämon erstaunlich flink. Schon drehte er sich herum, um sich für eine neue Attacke bereit zu machen.

„Also schön, keine Spielchen mehr.“, knurrte der Prinz, der sich inzwischen wieder aus den Trümmern erhoben hatte. Mit einer entschlossenen Geste warf er die beiden Schwerter von sich und griff eine lange Stangenwaffe aus der leeren Luft, an deren Ende scharfzahnige Widerhaken prangten. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf Immol’thar.

Der Leerenschrecken knurrte und schnappte mit einem Maul nach dem Prinzen. Der wich ihm aus und bohrte Spitze seiner Klinge das Auge des anderen Kopfes. Immol’thar heulte auf und warf den Kopf mit der darin steckenden Stangenwaffe zurück. Der Prinz hingegen hatte den Griff der Waffe fest gepackt und wurde durch die Bewegung nach oben geschleudert. Mit einem eleganten Salto landete er auf dem Rücken des Dämons.

„Nimm dies!“, brüllte er, hieb nach einem der Augententankel und trennte es mit einem sauberen Schnitt vom Körper ab. Heißes Dämonenblut spritzte aus der Wunde hervor und versengte die Rüstung des Prinzen. Er wich einen Schritt zurück und vernichtete dann mit einem einzigen Schlag seiner Waffe gleich zwei weitere der Auswüchse.

Immol’thar tobte und knurrte, doch er konnte die kleine Kreatur auf seinem Rücken nicht erreichen, die jetzt wie im Rausch Auge um Auge vom restlichen Körper trennte. Blutiger Regen fiel um den Dämon herum und tränkte den Boden der Halle. Dann endlich, als das letzte Auge gefallen war, holte der Prinz zu einem gewaltigen Hieb aus uns rammte Immol’thar die Stangenwaffe mitten zwischen die abgeschnittenen Augenstümpfe. Mit einem gepeinigten Aufheulen ging der Dämon zu Boden und rührte sich nicht mehr. Das verbliebene Auge flackerte noch einmal auf und dann erstarb auch der letzte Funke darin. Immol’thar war tot.
 

Prinz Thortheldrin sprang mit einem federnden Sprung vom Rücken des erschlafften Körpers. Ein in Blut getränkter Rachegott, der eine feuchte, rote Spur hinter sich her zog, als er sich wieder auf die Gruppe zubewegte. Ein irres Grinsen zerteilte sein Gesicht.

„Ihr habt gedacht, er würde mich töten.“, raunte er und lachte heiser. „Aber Ihr habt Euch getäuscht. Ich habe überlebt. Ich bin Prinz Thortheldrin von den Shen’dralar. Ich bin unbesiegbar.“

Magenta schluckte, als er die tropfende Waffe hob. Doch sie wusste etwas, dass er offensichtlich übersehen hatte. Mit hoch erhobenem Kinn trat sie ihm entgegen.

„Unbesiegbar?“, fragte sie spöttisch. „Aber Prinz, Ihr vergesst, dass Ihr gerade die Quelle Eurer unbeschreiblichen Macht selbst ausgelöscht habt. Ihr habt keinen Zugang mehr zu Immol’thars unbegrenzter Macht. Ihr seid jetzt sterblich.“

Die blutbedeckten Züge des Prinzen gefroren zu Eis. „Das…Ihr…Ihr habt das geplant. Das war eine Falle!“

„War es.“, bestätigte die Hexenmeisterin. „Und jetzt…“

„NEIN!“ brüllte der Prinz. In seinen Augen loderte der Wahnsinn. „Ihr werdet mich nicht besiegen. Niemals! Ich. Bin. Prinz. Thortheldrin.“

Mit vor Wut verzerrtem Gesicht richtete er den ausgestreckten Arm auf Magenta und sprach ein Wort der Macht. Ein grell leuchtender Blitz löste sich aus seinen Fingerspitzen und raste direkt auf sie zu.
 


 

Die Wucht des Zaubers traf die Hexenmeisterin völlig unvorbereitet. Ihr Körper wurde in die Höhe gehoben und in Abbefarias Richtung katapultiert. Reflexartig fing er sie auf und barg sie in seinen Armen. Eine Welle der gewaltigen Energie des Zaubers rollte über ihn hinweg und setzte seine Nerven in Flammen. Bilder fluteten seinen Geist. Erinnerungen stiegen aus der Tiefe seiner Seele empor. Erinnerungen voller Liebe und Zuneigung, voller Trauer und Leidenschaft und voll vom Schmerz des Verlustes. Und plötzlich wusste er es. Er erinnerte sich an die wahre Geschichte. Er hatte sich selbst wieder. Er war zurück.
 

Sanft legte er die Frau in seinen Armen zu Boden und strich noch einmal über ihre Wange.

„Ich bin gleich wieder da.“, flüsterte er. Dann drehte er sich zu Prinz Thortheldrin herum. Gerechter Zorn war in ihm entfacht und loderte hell. Ein Zorn gegen denjenigen, der ihm das Liebste auf der Welt genommen hatte, und dafür wollte er Rache.

„Sieh an, sieh an.“, hohnlächelte der Prinz. „Ihr seid also gar kein Shen’dralar. Aber es ist ohnehin einerlei. Ich werde Euch auslöschen.“

„Das glaube ich nicht.“, gab Abbefaria zurück und wechselte seine Gestalt.
 

-
 

Als es vorbei war, lag der Prinz leblos am Boden. Sternensplitter hatten seinen Körper zertrümmert, Mondfeuer seine Seele ausgebrannt und flammender Zorn sein Leben beendet. Doch Abbefaria fühlte keine Befriedigung. Nur Leere.

Er wandte sich von dem toten Prinzen ab und trat zu Magenta. Sie lag noch genauso da, wie er sie zurückgelassen hatte. Stumm kniete er sich neben sie und hob ihren leblosen Körper auf. Er drückte sie an sich, versenkte sein Gesicht in ihren Haaren und küsste ihre Stirn. Er hatte sie so sehr vermisst. Und jetzt war sie weg. Für immer.

Mit Tränen in den Augen drehte er sich zu seinen Freunden herum. Die drei Nachtelfen sahen ihn an, als hätten sie einen Geist gesehen.
 

„Was…was hat das zu bedeuten.“, fand Ceredrian zuerst seine Sprache wieder.

„Du erinnerst dich doch an sie, nicht wahr?“, antwortete Abbefaria. „Das ist die Frau, von der ich dir erzählt habe. Die Frau, die ich liebe.“

„Liebe?“, platzte Easygoing hervor. Der große Druide fletschte die Zähne zu einer wütenden Grimasse. „Soll das heißen, ihr habt euch von Anfang an gekannt? Was soll das für ein Spiel sein? War das etwa euer geheimer Plan? Uns hierher zu locken, um uns alle umzubringen?“

Abbefaria sah seinen Freund an und konnte nicht begreifen, dass dieser ihn anstarrte, als wäre er sein ärgster Feind.

„Aber Easy…“

„Ich wüsste nicht, dass wir uns soweit bekannt sind für dererlei Vertraulichkeiten.“, blaffte der große Druide. „Und jetzt nehmt meinetwegen Euer Menschenweibchen und schert Euch weg. Wir werden die Teufelsranke ohne Euch nach Moonglade bringen.“
 

Abbefaria stand nur da und schüttelte benommen den Kopf. Anscheinend war er der Einzige, der sich an ihre Freundschaft erinnerte, an all das, was sie miteinander geteilt und durchlebt hatten. Für seine Freunde war er weiterhin nur der absonderliche Fremde, den sie notgedrungen auf ihrer Reise mitgenommen hatten. Zwar hatte er seine Erinnerungen wiedergefunden, doch im Gegenzug dafür alles verloren, was ihm je wichtig gewesen war. Verzweiflung schnürte seine Kehle zu und machte seinen Blick blind. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte einfach nicht wahr sein



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  darkfiredragon
2012-09-15T20:40:12+00:00 15.09.2012 22:40
Wow, so schnell hab ich nicht mit nem neuen Kapi gerechnet, da hast du mich ziemlich überrascht - positiv^^ Dass ich deinen lebendigen Schreibstil geradezu liebe muss ich dir ja wohl nich mehr sagen, aber einfach fürs Protokoll kommts jetzt nochmal mit hier rein. Wieder ein tolles Kapitel, das mich trotz langsam zufallender Augen nicht mehr losgelassen hat. Ich hoffe das nächste Kapi kommt genauso schnell, denn dieser Kliffhänger ist echt ziemlich böse! Naja, bis dahin

lg, darkfiredragon


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