Caught by the Moon von moonlily (Fortsetzung von Poison in my veins) ================================================================================ Kapitel 4: Nightmare -------------------- Joey sackte an der Stelle, an der er stand, in sich zusammen und wünschte sich, er und Bakura wären sich nie begegnet. Seit ihrem ersten Treffen war sein Leben ein ganzes Stück komplizierter geworden. Dates mit einem missgelaunten Werwolf und die Verteidigung desselbigen vor einem verrückt gewordenen Jäger hatten vor einem halben Jahr jedenfalls noch nicht in seiner Lebensplanung gestanden. Er hatte einen Mann angeschossen, verdammt! Ob der Richter ihm das überhaupt als Notwehr durchgehen ließ? Bakura empfing ihn ein paar Zimmer weiter mit Knurren und gefletschten Zähnen. „Ganz ruhig, Bakura, es ist alles okay. Er ist weg“, versuchte Joey ihn zu beschwichtigen. „Ich glaube nicht, dass er heute wiederkommt ... aber morgen bestimmt.“ Er setzte sich wieder zu ihm und strich ihm über die Flanke, bis er sich beruhigt hatte. „Ach, ich hab das Fenster aufgelassen. Warte kurz, das mache ich noch eben zu“, sagte er und ging in den Salon zurück. Von dem Jäger war nichts mehr zu sehen, wie er bei einem vorsichtigen Blick aus dem Fenster feststellte. Er schloss es sorgfältig und sah sich noch einmal im Erdgeschoss um. Eine der Jalousien im Wohnzimmer wies Dellen auf, der Mann musste versucht haben, sie mit Gewalt zu öffnen. Er wollte lieber nicht am eigenen Leib erfahren, wie es um seine Körperkraft bestellt war. Allein der Gedanke ließ ihn erschaudern und auf die Aussage des Jägers, erst morgen wiederzukommen, wollte er sich ebenso wenig verlassen. Das dürfte eine lange Nacht werden, dachte er und kochte sich eine große Kanne starken Kaffee, mit der er zu Bakura zurückwanderte. In der Tür zum Schlafzimmer stutzte er. Der Wolf lag in mehr oder weniger bequemer Position auf dem Bett, das Maul leicht geöffnet und ... schnarchte, wie es sich anhörte. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Joeys Lippen. Um ihn herum tobte eben noch ein Krieg und er schlief kurz darauf seelenruhig. Er wachte nicht einmal auf, als ihm Joey vorsichtig die durch die Verwandlung verrutschten Verbände erneuerte. Anschließend machte er es sich auf dem Stuhl einigermaßen gemütlich und schenkte sich die erste Tasse heißen, dampfenden Kaffee ein. Endlich hatte er die nötige Ruhe, die vergangenen Stunden Revue passieren zu lassen. Zu vieles hatte sich zu schnell hintereinander ereignet. Bakuras Worte kurz bevor er das Haus verlassen wollte und auf den Jäger geprallt war, kamen ihm in den Sinn. Es hatte fast geklungen, als wollte er sich bei ihm entschuldigen. Aber nein, das konnte nicht sein. So, wie er Bakura bisher kennen gelernt hatte, passte das einfach nicht zu ihm. Und was für einen Grund sollte er haben? Tat es ihm etwa leid, was er gesagt hatte? Seufzend und einen weiteren Schluck Kaffee nehmend setzte er diesen Punkt auf seine immer länger werdende Liste von Fragen, die er dem Weißhaarigen morgen stellen wollte. Momentan machte ihm genug anderes Sorgen. Sein Fieber war trotz der häufig gewechselten kalten Wickel bisher kaum gesunken, sein Schlaf wurde mit der Zeit unruhiger. Joey selbst hatte trotz des schwarzen Gebräus, an dem er regelmäßig nippte, Mühe, sich wach zu halten. Er merkte den Schlafmangel der letzten Nacht deutlich, nickte auf seinem Sitz wiederholt ein und schreckte, sobald sein Kinn auf die Brust sackte oder es irgendwo im Haus knackte, hoch. Um nicht ganz einzuschlafen, spazierte er durch die Räume, sah sich überall um, falls der Jäger auf die Idee kam, doch noch zurückzukehren, aber es blieb ruhig. Eine Stunde, bevor der Morgen graute, überwältigte Morpheus ihn schließlich doch noch und nahm ihn in seine Arme. Bakura blinzelte müde und wollte sich den Schlaf aus den Augen wischen, als er merkte, dass er seine Hände nicht bewegen konnte. Er drehte den Kopf so gut es ging und sah das Klebeband, an dem ein paar weiße Wolfshaare hängen geblieben waren. Neben ihm erklang ein leises Seufzen und ließ ihn abermals den Kopf wenden. Er ist wirklich noch hier ... Obwohl ich mich diesmal vor seinen Augen verwandelt habe ... und ihm all die Beleidigungen an den Kopf geworfen habe. Der Junge ist viel zu gut für diese Welt – und erst recht für mich. Vergiss nicht, was mit Ryou war, mahnte seine Vernunft. Es ist zu gefährlich für andere, sich mit dir einzulassen. Schick ihn weg, zu seinem eigenen Schutz. Ich will nicht ... Ich weiß, es muss sein, aber ich will nicht. Selbst wenn ich ihn wegschicke, wird das nichts nutzen, mein Herz nimmt er mit. Schnulzig, aber wahr. Besagter Dieb hing friedlich schlafend auf seinem Stuhl, den Kopf gegen die Lehne gelehnt, und schnarchte leise. Er lächelte und schien etwas Schönes zu träumen. „Hey, aufwachen!“ Er weckte ihn ja nur ungern, so niedlich, wie er aussah, bloß meldete sich bei Bakura ein immer dringender werdendes menschliches Bedürfnis. „Joey, wach endlich auf.“ „Nur noch fünf Minuten“, nuschelte er. „Gern auch länger, aber erst nachdem du mich losgebunden hast“, wurde er nun lauter. „Ich muss aufs Klo.“ Ein unwilliges Murmeln löste sich von den Lippen, dann öffneten sich die Augen. „Wie, was ... Oh. Morgen.“ Er gähnte und streckte sich, um die Müdigkeit abzuschütteln. „Dich losbinden, klar, sofort.“ Er zog und zerrte an den Panzertapestreifen, ohne dass sich viel tat. „Wie wär’s, wenn du dir ’ne Schere oder ein Messer besorgst“, schlug Bakura genervt vor. „Und Beeilung, wenn ich bitten darf. Im Bad ist eine Nagelschere.“ „Ich mach ja schon.“ Er holte das Gewünschte und arbeitete sich so schnell er konnte durch die Lagen von Klebeband an seinen Handgelenken. Die gleiche Prozedur wiederholte er mit den Fußfesseln, half dem Befreiten aufzustehen und begleitete ihn bis zur Tür des Bades. „Den Rest schaff ich alleine“, wies ihn Bakura ab, da er Anstalten machte, ihn auch noch auf die Toilette zu setzen. Es war schlimm genug, dass er sich gerade so auf den Beinen halten konnte und Joey ihn in dieser Lage sah. Ein paar Minuten später kam er um einiges erleichtert wieder und ließ sich, wenn auch widerwillig und grummelnd, von seinem selbsternannten Pfleger zum Bett zurückführen. „Ich komme mir vor wie ein alter Mann“, grummelte er und zog die Decke über seine Beine. „Dann möchtest du zum Frühstück bestimmt Haferschleim haben“, neckte ihn Joey. „Wag es ja nicht, mir so einen Fraß vorzusetzen.“ „Keine Sorge. Du hast die Wahl zwischen Wurstbrot, Schweinekotelett und ... noch mehr Kotelett.“ „Dann nehme ich Kotelett, heute leicht angebraten.“ „Wie der Herr wünschen.“ Joey strich sich durch die vom Schlaf zerwuschelten Haare und ließ ihn allein zurück. Wie gut, dass er gestern noch Fleisch aus dem Gefrierschrank genommen hatte, das fertig aufgetaut im Kühlschrank auf ihn wartete. Für sich selbst briet er gleich ein Stück Fleisch mit. „Lecker“, konstatierte Bakura und schob sich den letzten Bissen in den Mund. „Danke ... Mit dir macht man ganz schön was mit.“ „Ich habe dich nicht gezwungen, bei mir zu bleiben, wenn ich mich verwandle. Ich hab dir gesagt, du solltest gehen.“ „Hätte ich vielleicht tun sollen – nur würdest du dir dann jetzt schon die Radieschen von unten ansehen, statt mit mir zu frühstücken. Wir hatten letzte Nacht noch mal Besuch von dem Jäger. Ich wollte ihn einschüchtern. Als das mit der Polizei nicht zog, hab ich eines der Gewehre auf ihn gerichtet ... Ich wusste doch nicht, dass das Teil geladen war!“ „Du ... du hast ihn erschossen?“ Er sah den Blonden ungläubig mit geweiteten Augen an. „Nur gestreift, soweit ich sehen konnte. Und er sagte, er will wiederkommen.“ „Natürlich, solche Kerle geben nie auf. Die geben erst Ruhe, wenn sie einen erwischt haben. Ich musste schon mal einen von denen abhängen, als ich für ein paar Wochen wegen Fotoaufnahmen im Süden war. Wär fast schief gegangen. Jedenfalls ...“ Er holte tief Luft. „Danke. Danke für alles, was du für mich getan hast, Joey. Ich wollte dich gestern eigentlich nicht so anfahren ...“ „Es ist nicht schön, als One-Night-Stand auf quasi Abruf bezeichnet zu werden“, brummte er. „Für niemanden.“ Bakuras Blick senkte sich auf den leeren Teller in seinen Händen. Sein Mund öffnete und schloss sich, während sich seine widerstreitenden Gefühle einen neuen Kampf in seinen Gedanken lieferten. „Warum bist du dann geblieben?“, fragte er schließlich. „Weil ich ...“ Joey kaute auf seiner Unterlippe herum. Wenn er ihm seine Gefühle gestand, würde er sich dann nicht wieder über ihn lustig machen? „Du warst so ... Ich dachte, du brauchst Hilfe“, wich er aus. „Ich wär schon irgendwie zurechtgekommen.“ „Sicher doch.“ Den Sarkasmus konnte sich Joey nicht verbeißen. „Ein geschwächter und fiebernder Werwolf legt sich mit einem Jäger an, das möchte ich sehen. Du bist beim letzten Mal schon fast draufgegangen und spuckst trotzdem große Töne.“ „Ich kann mich sehr gut selbst verteidigen.“ „Ist das wieder ein freundlicher Wink, dass ich verschwinden soll?“ „Ja ... Nein ... Ich weiß es doch selbst nicht!“ „Und warum?“ „Weil ... weil ich ... dich nicht noch mehr in Gefahr bringen will.“ Joey musste die Ohren spitzen, um Bakuras Genuschel überhaupt halbwegs zu verstehen. „Wenn es darum geht, ich bin an Vollmond zu dir gefahren, sehr wohl wissend, dass das gefährlich ist.“ „Das beweist nur, dass du wahnsinnig bist.“ „Nein, in dich verliebt, du dummer Wolf!“ Die Worte verließen Joeys Mund, ohne dass er über sie nachgedacht hatte und erst Bakuras perplexer Gesichtsausdruck ließ ihn realisieren, was er von sich gegeben hatte. „Du bist in mich ...“ Joey fühlte sich wie in einen Glutofen gesteckt. Seine Wangen brannten, er wich den fragenden Blicken aus, mit denen er taxiert wurde. „Seit wann?“ Der überraschend sanfte Ton brachte ihn dazu, aufzusehen. Der kalte Ausdruck, mit dem der andere ihn seit gestern angesehen hatte, war verschwunden. „Die ganze Zeit schon, seit September.“ „So viel zu meiner Hoffnung, es hätte nur mich erwischt“, murmelte er. „Heißt das, du bist –“ „Ja, verdammt noch mal! Das ist ja das Problem.“ „Problem?“ Joey verstand nicht, worauf er hinaus wollte. „Erinnere dich an Ryou. Er könnte noch am Leben sein, wenn ich nicht gewesen wäre.“ „Das war ein Unfall.“ Er legte seine Hand auf die von Bakura und strich sanft mit dem Daumen über dessen Handrücken. „Und du wirst der nächste Unfall oder wie hast du dir das vorgestellt?“ „Denkst du, ich bin nicht in der Lage, mich die drei Nächte im Monat von dir fernzuhalten, in denen du gefährlich bist? Immer allein sein, bis zum Ende deines Lebens, das kann es nicht sein, was du willst. Und was ist mit Ryou, meinst du nicht, er hätte was anderes für dich gewollt?“ Ein schmerzliches Lächeln huschte über das Gesicht des Werwolfes. „Er hat mich immer gedrängt, abends auszugehen und mich nicht zu verkriechen.“ „Siehst du. Sollten wir dann nicht wenigstens ’ne Chance kriegen?“ Statt Worten zog Bakura ihn an sich und küsste ihn, Verzweiflung, Liebe und Sehnsucht in die Berührungen seiner Lippen legend. Erst als Joey den Arm um ihn legte und an die Stelle kam, wo ihn die Kugel getroffen hatte, zuckte er zusammen und löste den Kuss. „Tut es noch weh? Ich dachte, ihr habt so gute Heilkräfte. Ich hab die letzten Monate recherchiert, um mehr über dich – oder eher euch – herauszufinden.“ „Bei normalen Verletzungen, ja. Bei Silbervergiftungen sieht das anders aus. Die können einen im Ernstfall tagelang außer Gefecht setzen ... sofern man sie überlebt.“ „Wag es ja nicht, jetzt noch draufzugehen!“, rief Joey halb im Scherz, halb ernst gemeint. „Hab ich nicht vor. Aber ich brauche noch etwas Ruhe, bis mein Körper das Gift abgebaut hat. In ein, zwei Tagen sollte ich wieder okay sein.“ „Und bis dahin wirst du liebevoll gepflegt.“ Im Lauf des Tages sank Bakuras Fieber weiter auf 39°C, was für einen Werwolf, wie er Joey erklärte, erhöhte Temperatur war. Trotz Protestes bestand er darauf, zum Mittagessen aufzustehen und sich in der Küche an den Tisch zu setzen. „Wenn ich die ganze Zeit nur im Bett liege und mich nicht bewegen darf, habe ich danach erst recht Probleme, wieder hochzukommen“, sagte er und machte sich über das Fleisch mit Reis und Gemüse her, das Joey vor ihn hinstellte. „Außerdem habe ich um Vollmond erhöhten Bewegungsbedarf. Irgendwo muss die ganze Kraft ja hin.“ Den Nachmittag verbrachten sie Karten spielend im Bett. Joey machte es sich seinem „Wölfchen“, wie er Bakura nun nannte (was er nur mit Zähneknirschen zuließ), gegenüber auf der Matratze gemütlich und forderte ihn zum Rommee heraus. Nebenbei erzählte er ihm von seinem Leben an der Uni und seinen Freunden, seiner Schwester und wie sehr er sich darauf freute, wenn sie ihr Studium in Domino anfing. „Und deine Eltern?“, hakte der Weißhaarige vorsichtig nach, da er von ihnen bisher so gut wie gar nicht gesprochen hatte. „Die kannst du vergessen, alle beide. Wie es meinem Vater geht, keine Ahnung. Ich hab keinen Kontakt mehr zu ihm und glaub mir, es ist besser so.“ Die Informationen über die Zeit mit seinem Vater kamen nur zögernd aus ihm heraus und machten Bakura mit jedem Wort wütender auf den ihm ansonsten unbekannten Mann. „Der tut gut daran, mir nicht über den Weg zu laufen.“ Als es auf den Abend zuging, verlangte er wie am gestrigen Tag, in seinen Kerker gesperrt zu werden und wie beim letzten Mal weigerte sich Joey, ihn dorthin zu lassen. „Du weißt ganz genau, dass es sicherer ist“, versuchte er es ihm auf der Vernunftebene zu erklären. „Sicherer ja, aber nicht gesund für dich. Ein kalter, zugiger Keller und Fieber vertragen sich nicht.“ „Aber –“ „Und da lasse ich heute nicht mit mir diskutieren. Letzte Nacht hat es mit dem Klebeband geklappt, dann wird es das heute auch tun.“ Joey musterte ihn streng. „Sag mir einfach Bescheid, wenn es so weit ist.“ Bakura war dennoch nicht wohl bei dem Gedanken. Sie hatten gerade die Karten für eine neue Runde Rommee verteilt, als er laut aufjaulte. „Ist es Zeit?“ „Ja ...“ Er schloss kurz die Augen. „Los, fessle mich – aber denk ja nicht, ich würde dich je in einem anderen Zusammenhang darum bitten.“ „Anderer Zus – Oh ...“ Joey grinste und griff nach dem Panzertape. „Sicher? Vielleicht findest du ja noch Gefallen dran, Wölfchen.“ „Ganz sicher nicht und jetzt mach.“ Er hatte sein Werk kaum vollendet, da setzte die Verwandlung vollends ein und binnen kürzester Zeit war von Bakura nichts mehr zu sehen. Der Wolf heulte protestierend, weil er schon wieder angebunden war und sich nicht frei bewegen konnte, wie er es wollte. „Bleib ruhig, Kura. Du hast es selbst so gewollt“, sagte er. „Die eine Nacht kriegst du auch noch rum und für den nächsten Vollmond überlegen wir uns was anderes. Wenn ich dann in Domino bleibe, kannst du ungehindert durch die Wälder jagen oder dich einschließen, ganz wie du willst. Ich bin kurz in der Küche, Kaffee kochen.“ Anders war die Nacht für ihn nicht durchzustehen und zum ersten Mal verstand er, warum Seto Kaiba, sein Lieblingsfeind aus Schultagen, das Zeug literweise in sich hineinschüttete. Nachdem sich der weiße Wolf erst einmal beruhigt und damit abgefunden hatte, schon wieder in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt worden zu sein, verlief der Abend relativ ruhig. Joey hatte unter Bakuras Büchern eines über europäische Schlösser und Burgen gefunden, in dessen Lektüre er sich begeistert versenkte. In regelmäßigen Abständen machte er eine Wanderung durch das Haus und sah nach dem Rechten. Es war bewölkt, somit ideal für den Jäger, wenn er heute zuschlagen wollte. Ohne das Licht des Mondes konnte er sich dem Haus leichter nähern, ohne gleich bemerkt zu werden. Joey nahm sich vor, seinem Geliebten morgen die Anschaffung weiterer Bewegungsmelder ans Herz zu legen. Außer dem gelegentlichen Knacken des Holzes und den Schlägen der Standuhr im Wohnzimmer, die das Vergehen der Zeit verkündete, war in dem großen Haus nichts zu hören. Eine Weile nachdem es Mitternacht geschlagen hatte, fielen ihm die Augen zu, das Buch glitt von seinem Schoß und fiel zu Boden. Ein lautes, angsterfülltes Jaulen riss Joey einige Stunden später aus dem Schlaf und ließ ihn kerzengerade auf seinem Stuhl sitzen. „Wie, was?“ Sein erster Blick fiel auf Bakura, der sich auf dem Bett herumwälzte, der zweite ging durch das Zimmer, auf der Suche nach ungebetenem Besuch. Sie waren allein. Im Erdgeschoss knackte es laut. „Hey, ganz ruhig. Ich sehe kurz nach, was da los ist“, sagte er und eilte davon. Seine Erkundung dauerte nicht lange, unten war alles in Ordnung, und er konnte seine Aufmerksamkeit wieder Bakura widmen. Er setzte sich neben ihn auf den Rand des Bettes und strich ihm über die Seite, wobei er das Zittern bemerkte, das durch den Wolfskörper lief. Ob er einen Albtraum hat? Können Wölfe überhaupt träumen? „Was hast du, Kura? Sssch, ich bin doch bei dir.“ Bakura seufzte gequält und warf den Kopf herum. Er sah Ryou vor sich, wie er aus ihrem eben fertig errichteten Zelt schlüpfte. Es war Abend, er ärgerte sich, dass sie der Wart des Campingplatzes abgewiesen hatte. Ein toller Beginn für ihren Urlaub! Wenigstens hatten sie zwischen den Bäumen eine annehmbare Stelle für ihr Zelt gefunden, einigermaßen eben und, besonders wichtig, ohne Ameisen, die ihnen überall hinkrabbelten. „Hast du das Feuerholz besorgt, Kura?“, fragte Ryou und durchwühlte seinen Rucksack auf der Suche nach dem Dosenöffner. „Wenn das nicht reicht, kann ich noch jede Menge holen.“ Er ließ einen ganzen Arm voll Ästen und Zweigen vor sich zu Boden fallen. „Du musst deine Ravioli schon nicht kalt essen.“ Bald darauf saßen die beiden Brüder vor einem prasselnden Feuer, jeder einen Teller mit dampfenden Ravioli in der Hand, und genossen den milden Abend. „Was hältst du davon, wenn wir uns morgen etwas hier umschauen?“, fragte Ryou und schob sich ein der gefüllten Teigtaschen in den Mund. „Vielleicht können wir auch mit dem Campingplatzwart noch mal reden. Kann ja sein, dass wir bei ihm nur einen schlechten Tag erwischt haben.“ „Meinetwegen, aber wenn er dann sagt, er will uns nicht da haben, lassen wir es. Vor so einem schmierigen Kerl krieche ich nicht im Staub rum.“ Der Kleine war ganz schön durchtrieben, wie er feststellte. Er wusste genau, dass er ihm nichts abschlagen konnte, wenn er ihn mit diesen Augen ansah. Im Gebüsch rechts von ihnen knackte es. Ryou fuhr zusammen. „Ist sicher nur ein Fuchs oder so“, sagte der Ältere und aß weiter. Wieder knackte es, dieses Mal lauter. Plötzlich sprang ein riesiger, dunkler Schatten aus den Büschen hervor. Instinktiv stieß Bakura seinen Bruder zur Seite, Sekunden bevor sich der Angreifer auf ihn stürzte. Ryou schrie entsetzt auf. Im Schein des Feuers erkannten sie, dass es ein Wolf war, ein gutes Stück größer als die, die sie sich im Zoo angesehen hatten. Er schnappte nach Bakura, der beide Hände und seine ganze Kraft brauchte, um ihn von seiner Kehle fernzuhalten. Zugleich versuchte er ein Bein anzuziehen, um ihn mit einem Tritt in den Bauch von sich zu stoßen. Eine Pranke traf ihn an der Schulter, zerfetzte sein Hemd und hinterließ blutige Spuren auf der hellen Haut. „Lass meinen Bruder in Ruhe!“ Ryou hatte sich aus seiner anfänglichen Schreckensstarre gelöst und nach einem dicken Ast gegriffen, den sie noch nicht dem Feuer übergeben hatten. Mit diesem schlug er dem Wolf wütend gegen die Seite, der daraufhin von seinem Opfer abließ und das Weite suchte. „Alles okay, großer Bruder?“ „Ja, denke schon ...“ Im nächsten Augenblick befanden sie sich zu Hause, mehrere Jahre waren vergangen. Sie saßen zusammen an dem niedrigen Tisch im Wohnzimmer und spielten Monopoly. „Ha, du bist auf meiner Schlossallee gelandet!“, freute sich Ryou. „Mal sehen, die Allee, plus ein Hotel, das macht –“ „Ryou!“, unterbrach ihn Bakura. Er starrte wie gebannt auf seine Hände, die sich mit weißem Pelz überzogen. „Nein ... Schnell, du musst nach unten.“ Bakura sprang auf, riss den Stuhl um und wollte losstürzen, stolperte über eines der Stuhlbeine und fiel der Länge nach hin. Als er sich aufrichtete, stand er auf vier Beinen. Ryou wich langsam vor ihm zurück Richtung Tür. Er spürte den Wolf in sich, das Ungezähmte, hörte das Blut, das mit erhöhter Geschwindigkeit durch Ryous Adern rauschte und ihm wie schöner Gesang vorkam. Er lief ihm nach, sprang ... Noch während er in der Luft war, verwischten Ryous Konturen, nahmen andere Gestalt an und wurden zu denen Joeys. Der Blonde schrie um Hilfe, bettelte ihn an, aufzuhören und hob die Arme, um die scharfen Krallen abzuwehren. Seine Stimme erstarb, als sich die Zähne in seinen Hals bohrten und Blut aus der Schlagader hervor schoss. Bakura hob den Kopf gen Mond und ließ ein lang gezogenes Heulen hören. „Himmel, was ist denn nur los mit dir?“, rief Joey, dem es immer schwerer fiel, Bakura ruhig zu halten. „Wach auf, du hast einen Albtraum!“ In seinem Bemühen, ihn zu besänftigen und aufzuwecken, merkte er nicht, wie sich das Panzertape, mit dem seine Vorderpfoten gefesselt waren, allmählich vom oberen Bettende löste. Ein weiterer kräftiger Ruck seitens des Wolfes, in dessen Traum gerade sein Bruder vor ihm zurückwich, und seine Pfoten waren frei, davon abgesehen, dass sie von dem Klebeband nach wie vor fest zusammengehalten wurden. „Wenn da irgendwo noch ein Rest von deinem menschlichen Wesen ist, dann hör mir zu und wach auf!“ Er sah die Pranken auf sich zukommen und lehnte seinen Oberkörper zurück, gerade noch rechtzeitig. „Oh nein, bitte nicht ...“ Wenn Bakura richtig freikam, hatte er ein gewaltiges Problem. Er musste ihn wieder fesseln, da half alles nichts. Hastig griff er nach dem Panzertape, riss einen langen Streifen davon ab und versuchte den Wolf zu packen, der im Traum immer wilder um sich schlug. „Bitte beruhig dich doch – Aua!“ Die Farbe wich vollständig aus seinem Gesicht. Quer über seinen linken Oberarm zogen sich die Spuren von scharfen Krallen, aus denen Blut hervortrat. Einen Moment lang glaubte er, die Welt würde stehen bleiben. Er hat mich ... Dann ist jetzt eh alles egal. Beherzt packte er erneut nach den Pranken und fixierte sie wieder am Bett. Dann wankte er ins Bad, um sich den Schaden näher anzusehen, das Blut zu entfernen und die Wunde zu versorgen. Bakura bringt mich um, wenn er das herausfindet, dachte er und wickelte einen Verband um die Stelle. Erschöpft und mit den Nerven vorerst am Ende schlich er ins Schlafzimmer zurück, zog den Stuhl ein Stück von dem Bett weg, auf dem Bakura nun etwas ruhiger schlief, und ließ sich darauf nieder. Bakura hatte ihn wieder und wieder gewarnt, wie gefährlich es sein konnte, mit einem Werwolf zu tun zu haben und nun war es zu spät. Der nichts ahnende Bakura wachte am nächsten Morgen einigermaßen erholt und mit nur noch diffusen Erinnerungen an seinen Albtraum auf. Das erste, was ihm auffiel, war, dass Joey nicht da war. „Joey?“ Er bekam keine Antwort. Hat er es sich doch anders überlegt?, war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Er stand auf, der Blonde war so freundlich gewesen, schon seine Fesseln zu lösen, warf sich einen Bademantel über und verließ sein Schlafzimmer. „Joey, wo bist du?“ „Hey, du bist ja schon wach“, kam die Antwort vom anderen Ende der Treppe. Er war dabei, in seinen Anorak zu schlüpfen. „Willst du weg?“ „Nur ein kurzer Spaziergang“, wich er aus. „Ich brauche ein bisschen Ruhe.“ „Okay ... Aber pass auf dich auf, falls unser Freund wieder unterwegs ist.“ „Mach ich.“ Er nahm den Schlüssel vom Haken und zog seine Handschuhe zurecht. „In der Küche steht Frühstück für dich.“ Er warf ihm noch einen kurzen, für Bakura nicht definierbaren Blick zu und marschierte aus der Tür, wo er erst einmal die Augen zusammenkniff. Es hatte die ganze Nacht ohne Unterbrechung geschneit und die Landschaft um ihn herum war unter einer dicken weißen Schicht verschwunden. Wirklich Augen hatte er für die winterliche Schönheit jedoch nicht, seine Gedanken waren auf andere Dinge gerichtet. Ein einziger kurzer Augenblick hatte sein gesamtes weiteres Leben verändert. Mehr oder weniger ziellos stapfte er durch den knöchelhoch liegenden Schnee und ließ die Lichtung mit Bakuras Haus hinter sich. Er musste jetzt eine Weile für sich sein, Zeit haben, darüber nachzudenken. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, die tiefe Abdrücke hinterließen. So würde er wenigstens keine Schwierigkeiten haben, den Rückweg zu finden. „Wie soll ich das nur Bakura erklären?“, murmelte er. Sein Fuß stieg gegen etwas. Aber das ist ja ... „Aaaaaahhhh!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)