Hannibal von kleines-sama (Murdoc's brother) ================================================================================ Kapitel 2: Die Qual der Wahl ---------------------------- Kapitel 1 Kapitel 2 Die Qual der Wahl „Hör auf zu schreien! Hör auf! Sei still! Ich habe verdammt noch mal gesagt: HÖR AUF ZU SCHREIEN! DU KLEINER SCHEIßER!“ Murdoc schrie. Er schrie und schrie und schrie und trieb Hannibal in den Wahnsinn. Er hatte keine Ahnung von Säuglingen. Abgesehen von Müttern in Parks und in Einkaufsläden hatte er niemals Erfahrungen damit gemacht, wie man als Erwachsener mit einem Säugling umzugehen hatte. Sollte er ihn auf den Arm nehmen und wiegen? Aber wie nahm man so ein zerbrechliches, kleines Ding richtig hoch ohne ihm wehzutun? Oder musste er gewickelt werden? Aber er hatte keine Windeln da! Hannibal biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Er fühlte sich schrecklich mies. Nicht nur, weil sein kleiner Bruder mit seinem stetigen Geschrei seine plötzlich hundertmal empfindlicher gewordenen Nerven furchtbar strapazierte, sondern auch, weil er sich völlig überfordert mit der Aufgabe fühlte, sich allein um ein kleines Kind zu kümmern. Warum half ihm denn sein Vater nicht? Der musste doch wissen wie so was ging! Schließlich hatte er es auch irgendwie hinbekommen, ihn großzuziehen. Aber sein Vater war nicht hier. Kaum hatte er ihm mitgeteilt, dass er plötzlich ein großer Bruder war und sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern hatte, war er auch schon sogleich aus der Wohnung verschwunden. Hannibal nahm an, dass er sich einen neuen Nachschub an Bier besorgte und dieser Gedanke machte ihn ganz schrecklich wütend. Wieso besoff sich sein Vater lieber, anstatt ihm zu helfen, anstatt sich um seine Kinder zu kümmern? Was soll’s, dachte er sich schließlich. Sein Vater hatte sich noch nie für ihn interessiert und sich noch nie um ihn gekümmert, und es war wirklich dämlich naiv von ihm, zu glauben wegen eines weiteren Kindes würde sich das von einen auf den anderen Tag ändern. Pah, wozu brauchte er den Säufer denn?! Hannibal war niemals jemand gewesen, der schnell aufgab, und er beschloss, die Herausforderung anzunehmen. Was hatte er auch für eine andere Wahl? Er versuchte sich an eine Szene zu erinnern, die er gerade erst letzte Woche erlebt hatte. Er war mit einem seiner Freunde –er wusste gar nicht mehr genau, welchem- durch die Innenstadt geschlendert und hatte dort eine Frau Mitte zwanzig gesehen, die einen dunkelblauen Kinderwagen vor sich her schob. Plötzlich fing das kleine Baby im Wagen an zu quengeln und zu schreien, ohne jeden Grund. Die Frau hatte angehalten, das Baby hochgenommen. Wie hatte sie das noch mal getan? Hannibal strengte sich an und versuchte, sich an jede Kleinigkeit ganz genau zu erinnern. Eine Hand hatte sie unter den Kopf des Säuglings gelegt, die andere um seinen Körper. Und dann hatte sie ihn ein bisschen -ganz sanft und vorsichtig- hin- und hergewiegt und ihm leise beruhigende Worte zugeflüstert. Okay, das konnte doch nicht so schwer sein! Hannibal war nervös und als er auf seine Hände schaute, sah er, dass sie zitterten. Er hatte Angst, Murdoc fallen zu lassen oder ihn falsch anzupacken. Aber was blieb ihm übrig? Ihn hier auf diesem staubigen Kissen liegen lassen bis ihr Vater zurückkam –was getrost erst morgen früh oder sogar Abend sein konnte-, das konnte er ja schließlich auch nicht! Bleib ruhig, Hans. Bleib ganz ruhig. Mit der einen Hand unter seinen Kopf. Hannibal unterdrückte das Zittern, biss sich auf die Unterlippe bis er meinte Blut zu schmecken, und dann hatte er endlich ganz vorsichtig und so langsam wie in Zeitlupe die Hand an die richtige Stelle gelegt. Gut. Hey; das war doch gar nicht so schwer! Und jetzt die andere Hand. Unter den Körper, den Rücken. Ganz langsam, bloß nichts falsch machen! Es dauert länger als beim Kopf, aber dann hatte Hannibal auch diese Hürde überwunden. Murdoc schrie immer noch, aber nicht mehr so laut wie zuvor. Eigentlich schluchzte er nur noch ein kleines bisschen. Wahrscheinlich ist er froh, dass sich endlich mal jemand um ihn kümmert, dachte Hannibal und konnte ein winzig kleines, glückliches Lächeln nicht ganz unterdrücken. Aber noch immer lag der kleine Murdoc auf dem Kissen und noch immer hatte Hannibal es nicht fertig gebracht, seinen kleinen Körper hochzuheben, obwohl er den ersten Schritt hierfür bereits getan hatte. Murdoc war ganz warm. Und Hannibal spürte sein Gewicht auf den Händen lasten. So ein Säugling war viel schwerer, als er gedacht hatte. Aber zum Glück hatte er sich durch ständige Prügeleien und auch aus Furcht vor seinem Vater und einigen anderen Feinden ein paar Muskeln antrainiert. Komm schon. Bei drei! Eins. Hannibal überprüfte noch einmal kurz, ob er seinen kleinen Bruder auch wirklich richtig festhielt und er ihm nicht aus den Händen rutschen konnte. Zwei. Jetzt hob er ihn ganz leicht an, nur ein ganz winzig kleines bisschen. Drei. Langsam, so langsam, dass Hannibal halb glaubte, er würde nicht richtig sehen, hob er Murdoc hoch und drückte ihn sich vorsichtig gegen die Brust. Hey, das fühlte sich gar nicht so schlecht an. Eigentlich fühlte sich das sogar ganz gut an. Murdoc schrie nicht mehr; er lag ganz still und zufrieden in der Umarmung seines großen Bruders und streckte eines seiner pummeligen, kleinen Ärmchen nach ihm aus. Dann stupste er mit zwei oder drei Fingern gegen Hannibals Nase. Wie zum Einverständnis. Hannibal stellte sich vor, dass nun ein geheimes Abkommen, wie es das nur zwischen zwei Brüdern geben konnte, zwischen ihnen bestünde. Diese Vorstellung machte ihn irgendwie glücklich. Für einen kurzen Moment musste Hannibal an Traum-Mum denken, wie sie ein kleines, niedliches Baby in ihren Armen sanft hin- und herwiegte, schob dieses Bild dann aber schnell wieder in den Teil seines Gehirns, in den er alle Gedanken verbannte, mit denen er sich im Augenblick nicht befassen wollte. Viel mehr fragte er sich, was er jetzt mit Murdoc anstellen sollte. Der Kleine brauchte doch so viele Dinge, die er nicht besaß. Die Liste, die Hannibal eilig im Kopf überschlug, begann bei einem Kinderbettchen, ging über Windeln und Kleidung und endete bei Babynahrung. Wo sollte er all das Zeug herbekommen? Er hatte kein Geld –sein Vater war schließlich verschwunden und der hatte sein Portemonnaie immer in der Jackentasche stecken- und selbst wenn er es hätte, müsste er den kleinen Murdoc allein lassen, um diese Notwendigkeiten zu besorgen, und wie hätte er das verantworten können? Hannibal malte sich aus, was alles passieren könnte, wenn er seinen kleinen Bruder allein ließ: Es war Sommer, vielleicht starb der Kleine an einen Hitzschlag oder verdurstete, während er Babypuder einkaufte. Wer wusste denn schon, wie viele Grad so ein Säugling vertrug und woher sollte er wissen, wie oft und viel er trinken musste oder überhaupt, wann er das letzte Mal getrunken hatte? Oder möglicherweise kam sein Vater besoffen bis zum Anschlag nach Hause, während Murdoc gerade schrie, und brachte seinen Sohn in seiner Wut um? Die möglichen Unfälle, die geschehen könnten, vervielfachten sich in eine immer größere Zahl, je länger Hannibal darüber nachdachte. Aber was sollte er anderes tun? Murdoc mit in den Laden nehmen, das konnte er nicht, jedenfalls nicht, wenn er vorhatte zu stehlen. Hannibal fühlte sich wie in einem Teufelskreis. Er konnte Murdoc nicht hier in der Wohnung lassen, aber auch nicht mitnehmen. Er konnte keine Dinge besorgen, die Murdoc dringend brauchte, aber er konnte eben so wenig abwarten und nichts tun. Das unerwartete Hochgefühl, das Hannibal eben ergriffen und beflügelt hatte, war von einer riesengroßen Welle bestehend aus Angst, Sorgen und Schrecken weggespült worden. Was sollte er bloß tun? Am liebsten hätte Hannibal angefangen zu weinen, aber dafür war er viel zu stolz und viel zu stark. Seine Hände begannen zu zittern. Murdoc wimmerte. Er setzte all seine Kraft ein, um sie ruhig zu halten und wiegte Murdoc solange, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Hannibal beschloss, es einfach zu versuchen und mit Murdoc auf dem Arm in den Drogeriemarkt zuspazieren. Wenn er sich unauffällig verhielt, nichts mitnahm was eine knisternde oder große Verpackung hatte und sich an der Kasse vorbei schlich, als hätte er nicht das Produkt gefunden, das er kaufen wollte, dann klappte es ja vielleicht. Es war ein riskantes Unternehmen; Hannibal war sich im Klaren darüber, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht gelingen und er erwischt werden würde, extrem hoch war; aber in seiner Verzweiflung wusste er sich nicht anders zu helfen, als diese Erkenntnis mit aller Kraft zu unterdrücken und wider aller Logik auf seinen Erfolg zu hoffen. Hannibal hatte noch nie in seinem ganzen Leben einen Drogeriemarkt betreten, obwohl sich der nächste nur ein paar Straßen weiter befand. Wozu auch? Batterien, Kosmetikartikel oder Bio-Lebensmittel brauchte er nicht; um Shampoo, Seife und Duschgel zu kaufen, schickte ihn sein Vater immer in den ganz normalen Supermarkt, weil es dort die günstigeren Artikel gab, und andere Dinge brauchte Hannibal nicht, um sich sauber zu halten. Er wurde von den Leuten ein bisschen blöd und misstrauisch angestarrt. Musste auch ein komisches Bild sein: Ein von Piercings durchstochener Teenager mit dunkler Lederjacke, der ein niedliches, noch sehr kleines Baby auf den Arm trug. Hannibal versuchte, die Blicke der Menschen zu ignorieren wie er es immer tat, doch heute fiel es ihm aus irgendeinem Grund viel schwerer als sonst. Er drückte Murdoc noch ein kleines bisschen fester an sich und nahm sich vor, diesen Einkauf –halt nein, es war ja ein Diebstahl- so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Als er sich dann schließlich in der riesig und unübersichtlich wirkenden Kleinkinder-Abteilung wieder fand, musste er sich eingestehen, dass er wohl doch ein klein wenig länger brauchen würde als geplant. Es gab hier alles. Viele Produkte, die er wohl gut brauchen könnte, die er aber natürlich nicht alle mitnehmen konnte, und noch viele mehr, von denen er nicht wusste, was sie waren oder wozu man sie gebrauchte. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben und nur das Nötigste aus dem Regal zu nehmen. Gut. Was brauchte er? Automatisch dachte Hannibal an Windeln, doch dann kam ihm die Idee, dass er anstelle der teuren Plastik-Windeln, die es hier nur in riesenhaften Verpackungen zu geben schien, lieber ein paar alte dünne Handtücher von zu Hause nehmen sollte. Die konnte man einfach waschen, wenn sie voll waren und wieder verwenden. Viel praktischer! Außerdem würde er garantiert auffliegen, wenn er eine dieser Monster-Packungen mitnehmen würde! Hannibal dachte noch einmal scharf nach und stellte dann fest, dass auf jeden Fall einige Packungen Babynahrung unumgänglich sein würden. Er wusste, dass Neugeborene eigentlich von ihren Müttern gesäugt wurden, und darum hatte er die schlimme Befürchtung, dass es vielleicht gar keine Nahrungsmittel für so kleine Säuglinge wie Murdoc gab. Was sollte er dann bloß tun? Er konnte seinen kleinen Bruder doch nicht verhungern lassen, um Gottes Willen! Hannibals Sorge war völlig unbegründet: Nahrung für Säuglinge und Kleinkinder jeder Altersklasse gab es reichlich und –zu seiner großen Erleichterung- auch in Verpackungen, die man ganz leicht unter einer weiten Lederjacke verschwinden lassen konnte. Er suchte sich ein Produkt aus, das „speziell für eine ausgewogene und gesunde Ernährung direkt nach der Geburt entwickelt“ worden war, warf dann kurze, heimliche Blicke nach links und rechts, und als er niemanden bemerkte, stopfte er das Zeug eilig, aber nicht zu auffällig, unter seine Jacke. Es kamen keine Mitarbeiter des Drogeriemarktes, um ihn festzuhalten, und auch sonst geschah nichts Fürchterliches. Okay. Was noch? Er entdeckte im benachbarten Regal noch Babypuder, und steckte auch dieses ein. Mehr war nicht drin. Sonst würde man die Konturen unter seiner Jacke erkennen können, und das wäre selbstverständlich absolut fatal gewesen! Obwohl… Ganz weit hinten, am anderen Ende des Gangs, gab es ein fantastisches Sortiment an verschieden Schnullern: Blaue, rote, gelbe, grüne, weiße; gestreifte, gepunktete, karierte; große, kleine; welche mit Blumen drauf, welche mit kleinen Herzchen oder ganz anderen, aber nicht weniger freundlichen Motiven (die grünen waren sogar mit kleinen Dinosauriern bedruckt!) Diese Schnuller waren so klein, da konnte er doch getrost noch einen für Murdoc mitnehmen, oder? Das würde bestimmt nicht auffallen! Gerade wollte er nach einem dieser herzigen Dinger greifen (er hatte sich für den grünen Schnuller mit den Dinos entschieden), als sich eine große, kräftige Hand unwahrscheinlich grob auf seine Schulter legte. Ohscheißescheißescheiße! Langsam, fast wie in Zeitlupe, drehte Hannibal vorsichtig den Kopf um und erkannte hinter sich einen hünenhaften Mann in Uniform des Drogeriemarktes, der ihn böse angrinste. Die Hand lag noch immer auf seiner Schulter. Scheiße. Scheiße! Was sollte er jetzt bloß tun!? Hannibal hatte schon oft gestohlen –öfter, als dass er in einen Laden gegangen war, um dort etwas zu kaufen- doch er hatte es bisher immer so geschickt angestellt, dass er noch kein einziges Mal erwischt worden war. Er spürte plötzlich, wie er von einer Sekunde auf die andere zu schwitzen begann und wie seine Wangen heiß und rot wurden. Scheiße! Hannibal biss sich auf die Unterlippe. Weglaufen? Das brachte hier nicht viel. Dieser Riese konnte mit Sicherheit zehnmal schneller rennen als er, und außerdem würden ihn wahrscheinlich die anderen Mitarbeiter dieses Marktes fassen, ehe der Ausgang auch nur in Sicht war. Hannibal drückte Murdoc, der die ganze Situation ganz gelassen hinnahm und leise vor sich hinbrabbelte, als sei nichts geschehen, fester an sich. Was geschah mit einem, der beim Stehlen erwischt wurde und für den es keine Möglichkeit mehr gab, sich zu retten? „Oh, da bist du ja, Jungchen! Dass du aber auch nie auf deine arme, alte Oma warten kannst! Hast du denn wenigstens die Sachen für den kleinen Pete gefunden?“ Eine furchtbar alte, runzlige Frau mit weißem Pelzmantel und plüschiger Handtasche kramte nach ihrer Brille, lächelte kurz, als sie diese endlich in ihrer grässlichen Tasche gefunden hatte und setzte sie sich schließlich auf die von Falten umrahmte Nase. Lange und fast abschätzig begutachtete sie Hannibal und Murdoc und den Mann vom Drogeriemarkt, ehe sie letzterem einen furchtbar bösen Blick zuwarf. Sie stemmte beide Hände in die Hüften, reckte sich in Richtung des Mannes, der mit einem Mal um einige Zentimeter geschrumpft zu sein schien und rief laut: „Was bilden Sie sich eigentlich ein, junger Mann? Lassen Sie bitte sofort meine beiden kleinen Enkel gehen, oder ich informiere umgehend die Polizei!“ Der Mann ließ sofort von Hannibal ab, der die Gelegenheit nutzte und sich schutzsuchend hinter die Kampf-Omi stellte, und machte eine versöhnliche Geste. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, gnädige Frau! Ich konnte ja nicht wissen, dass der Bengel zu Ihnen gehört. Ich habe nur gesehen wie er da Artikel unseres Ladens unter seiner Jacke hat verschwinden lassen. Was soll man denn da bitte denken?“ Hannibal fand, dass der Mann eigentlich Recht hatte und er bekam sogar für einen kurzen Moment ein paar ganz winzig kleine Gewissenbisse, dass die Kampf-Omi ihn jetzt zu Unrecht so zusammenfaltete. Doch so kurz wie dieser Moment angedauert hatte, so schnell war er auch schon wieder verflogen und Hannibal spürte bloß noch ein Gefühl des Triumphs in seiner Brust. Pah! Jetzt hatte sich doch noch alles zum Guten gewendet! Er war ein Superheld, er schaffte einfach alles! Ja! Der Mann vom Drogeriemarkt war verschwunden und jetzt war Hannibal mit der Kampf-Omi allein (wenn man von dem kleinen Murdoc absah, der ihm in dieser Situation allerdings nicht sonderlich viel helfen konnte). Sie begutachtete ihn erst misstrauisch durch die großen Gläser ihrer Brille, die ihre Augen doppelt so riesig wirken ließen als sie in Wirklichkeit waren, dann schien sie eine Entscheidung gefällt zu haben und lächelte ihn freundlich an. Hannibal fiel eine Wagenladung Steine vom Herzen. „Da hast du aber noch mal Glück gehabt, Jungchen, dass ich hier in der Nähe war und dir den Hintern gerettet habe, was?“ Sie lachte einmal laut und Hannibal beschloss, dass er die Kampf-Omi und ihr lautes Lachen mochte und dass sie cool war. Die fing sich bald wieder, ihr Lachen verebbte langsam und dann schaute sie wieder Hannibal an. „Nun ja, was soll’s. Diese kapitalistischen Ratten haben’s mehr als verdient: Würden ein armes Würmchen wie den kleinen Pete da doch tatsächlich eher verhungern lassen, als ihm was zu Essen zu schenken!“ „Murdoc.“ „Was ist, Jungchen? Du heißt Murdoc?“ „Nein, nicht ich. Mein kleiner Bruder!“ „Ah. Und wie heißt du?“ „Hannibal.“ „Ohje, was für ein scheußlicher Name! Hannibal…“ „Wieso scheußlich?“ „Kennst du etwa nicht die Geschichte vom Hannibal, der vor ewigen Zeiten einmal versuchte, Rom zu stürzen?“ „Nein.“ „Nun, für diese Geschichte ist später noch Zeit. Jetzt müssen wir uns erst mal um Murdoc kümmern! Ach, weißt du was? Pack einfach alles, was du brauchen kannst, in meinen Einkaufswagen. Der steht da drüben im Gang.“ Sie deutete mit einer kurzen Geste und ohne sich umzudrehen auf den übernächsten Gang. „Hab ihn stehen lassen, als ich dein Problem hier bemerkt habe.“ Sie schaute ihn wieder an, diesmal schien sie auf etwas zu warten und als es nicht geschah, rief sie so barsch wie sie den Mann angeschnauzt hatte: „Worauf wartet du denn noch, Jungchen? Na los, hol ihn schon!“ Hannibal, der sich solch eine Tonlage sonst von keinem anderen hätte gefallen lassen, hastete los und entdeckte schnell den Wagen, der schon gut mit einigen Dosen Katzenfutter gefüllt war. Eine Katze. Ja, das passte irgendwie ganz hervorragend zur Kampf-Omi. Er musste grinsen und schob den Wagen eilig zu ihr zurück. „Na, geht doch!“ Zum ersten Mal schaute sie statt Hannibal Murdoc an. „Gib ihn mir mal!“ „Äh, was?“ „Bist du etwa schon schwerhörig, Jungchen? Du sollt mir mal kurz Murdoc geben. Und außerdem heißt das wenn schon „Wie bitte?“, kapiert?“ „Wieso?“ „Na, wieso wohl? Weil ich ihn in den Einkaufswagen setzen will! Man kann doch nicht vernünftig einkaufen, wenn man nur einen Arm frei hat!“ Irgendetwas in ihm hielt Hannibal davon ab, Murdoc an jemand anderen weiterzugeben, ganz gleich wie hilfsbereit diese Person war und zu welchem Dank er ihr verpflichtet war. Er kannte diesen kleinen Jungen, den er seit kaum einer Stunde mit sich herumtrug, im Grunde gar nicht, doch trotzdem fühlte er sich für ihn verantwortlich und wollte ihn beschützen – mehr als er jemals irgendetwas anderes auf dieser Welt beschützen wollte. „Nun gib schon her, Jungchen! Ich fresse ihn schon nicht auf!“ „Kann ich ihn nicht in den Einkaufswagen setzen?“ Jeder Wagen hatte vorne einen kleinen Sitz, in den Eltern ihre Kleinkinder hineinsetzen konnten, um in aller Ruhe einzukaufen und andere Kunden nicht zu stören. Hannibal schien dieser Sitz sehr praktisch –die Kampf-Omi hatte schon recht: Es ging besser, wenn man beide Arme frei hatte- und er musste ja auch wohl lernen, Murdoc selbst hineinzusetzen. Schließlich war die Kampf-Omi bei seinen Einkäufen nicht immer da, um ihm helfen zu können! „Ist gut, Jungchen! Aber mach schnell! Ob du’s glaubst oder nicht: Sogar eine alte Frau wie ich hat in ihrem Leben noch etwas zu tun!“ „Okay.“ Hannibal klappte den Sitz zielstrebig aus – und stockte dann. Unsicher schaute er zur Kampf-Omi hinüber, die ungeduldig auf ihn wartete und mit dem Fuß auf den Plastik-Boden des Ladens klopfte. „Ich weiß nicht, wie ich das machen muss.“ Die Kampf-Omi wirkte gar nicht überrascht, nur noch etwas mürrischer. Ob sie wohl nur ihre Katze warten ließ? Hannibal fragte sich, ob die Kampf-Omi einen Mann und vielleicht tatsächlich zwei Enkel hatte. Vielleicht hieß einer der beiden ja sogar wirklich Pete? Ihm wurde plötzlich klar, dass er diese alte Frau nicht kannte. Er wusste nichts über sie, nicht einmal ihren Namen. Wo kam sie her, wie alt war sie, was hatte sie schon alles erlebt? Hm. Aber über Murdoc wusste er im Grunde genauso wenig –eigentlich sogar noch weniger-, fiel ihm auf, jetzt, wo er darüber nachdachte. „Pack ihn unter den Armen, aber vorsichtig. Und dann setz ihn von oben in den Wagen. Und pass auf seine Beine auf. Los, beeil dich mal, Jungchen, oder ich mache das gleich selbst!“ Hannibal schüttelte schnell und heftig den Kopf. Murdoc abgeben, und wenn es nur für ein paar Sekunden waren, kam gar nicht in Frage! Stattdessen tat Hannibal, was die alte Frau gesagt hatte, packte ihn vorsichtig unter den Armen und achtete streng darauf, dass der Kleine sich nicht wehtat. „Langsamer ging’s wohl nicht, was?“ Die alte Frau seufzte. „Jetzt müssen wir uns aber ranhalten, Junge!“ Sie holte noch einmal tief Luft, nahm den Einkaufswagen in beiden Hände und blickte dann wieder streng zu Hannibal. „Also, was hast du alles mitgehen lassen?“ Hannibal holte die Babynahrung, das Puder und den grünen Schnuller mit dem Dino-Motiv unter dem Mantel hervor. Dann packte er alles in den Wagen und strich Murdoc einmal sanft über den Kopf. Der fühlte sich noch immer ganz warm an. Ob Babys immer warm sind? Die alte Frau musterte die drei Artikel und meinte dann: „Du brauchst unbedingt noch mehr Babynahrung, und vor allen Dingen auch eine Flasche, sonst bringt das alles nichts! Und von mir aus pack auch noch eine Rassel oder so was ein!“ Hannibal nickte. Mehr Babynahrung, Flasche, Rassel. „Was ist eine Rassel?“ Die alte Frau schaute ihn zum ersten Mal ein wenig ungläubig über den Rand ihrer Brille hinweg an. Dann sagte sie: „Ein kleines Kinderspielzeug, das Geräusche macht, wenn man es schüttelt. Kennst du das nicht?“ Hannibal schüttelte den Kopf. „Ich zeige es dir.“ Sie schob den Wagen in den nächsten Gang und deute auf ein Regal, das gefüllt war mit Spielzeug für Kleinkinder und Säuglinge. „Du darfst Murdoc auf keinen Fall Spielzeug kaufen, das zu klein ist oder aus kleinen Teilen besteht, die abfallen können. Sonst verschluckt er das noch und kann daran ersticken.“ Hannibal nahm jede Information, die er kriegen konnte, gierig auf und speicherte sie. Kein zu kleines Spielzeug, keine Kleinteile. „Such dir hier was für den Kleinen aus. Da drüben sind die Rasseln, nimm dir eine, die hübsch aussieht. Am besten eine aus Holz, Plastik geht leichter kaputt oder verbeult. Und in Plastik sind wegen der Herstellung auch oft giftige Stoffe enthalten.“ Holz, kein Plastik. Hannibal schaute sich die Rasseln an. Es gab sogar noch mehr Auswahl als bei den Schnullern! Er entschied sich für eine solide wirkende Rassel aus Holz, die blau und grün bemalt und nicht zu klein war. Sie sah wirklich sehr schön aus. „Los, Junge. Wo hast du die Babynahrung her? Hol noch zwei Packungen!“ Das tat er. Sie erklärte auch hierzu etwas. „Das ist ein Pulver. Du musst es mit lauwarmem Wasser mischen und dann in die Flasche füllen, die wir gleich kaufen werden. Wie viel du nehmen musst und wann steht auf der Verpackung.“ Mit Wasser mischen. Lauwarmem Wasser. Sie kauften noch zwei kleine Flaschen mit Halbliter-Messlatte –es gab sie nur in Zweier-Packs- und an der Kasse warf die alte Frau ein paar Kaugummis für ihn in den Einkaufswagen. „Aber pass auf, dass der Kleine die nicht in die Finger kriegt! Kaugummi ist nicht gut für Säuglinge. Und du darfst ihm auch kein Eis geben, das verträgt sein Magen noch nicht!“ Kein Kaugummi, kein Eis. Nur die Baby-Nahrung. Lauwarmes Wasser. Hannibal hatte heute so viel gelernt, dass ihm der Kopf schwirrte. Trotzdem war er froh, diese alte, gehetzte Frau getroffen zu haben. Ohne sie hätte er für Murdoc zum Beispiel keine Flasche gekauft, und wie sollte er ihn füttern ohne Flasche? Er war ihr wirklich sehr dankbar! „So, hier ist noch eine Tüte. Pack da mal schnell deine ganzen Sachen rein.“ Babynahrung, Puder, Schnuller, Rassel, Flasche, Kaugummis. Zum Glück waren die Sachen nicht schwer, sonst hätte er Probleme damit bekommen, gleichzeitig die Tasche und mit dem anderen Arm Murdoc zu tragen. Sie hatten zu zweit den Laden verlassen. Sie hatte den Einkaufswagen weggestellt und ihr Katzenfutter in einen Stoffbeutel mit Blumen-Motiv gefüllt, er hatte die Tüte mit den Sachen für das Baby und Murdoc. Jetzt verband sie nichts mehr. Hannibal wusste nicht recht, was er jetzt sagen sollte, er war niemals zuvor in solch einer Situation gewesen. Die alte Frau unterbrach die Stille. Sie schien es immer noch eilig zu haben. Aber wieso sollte sie sich auch Zeit nehmen für ihn? Er war bloß ein armer Teenager mit einem kleinen Jungen auf den Arm, den sie zufällig im Drogeriemarkt getroffen hatte. Sie hatte ihm geholfen, und jetzt war ihre Pflicht erfüllt. „So, Jungchen. Viel Glück, ich nehme an, du wirst es noch brauchen in deinem Leben. Pass auf den Kleinen auf so gut du kannst und verlier nicht dem Mut. Das schaffst du schon!“ Trotz dieser aufmunternden kleinen Rede fühlte Hannibal sich noch immer furchtbar überfordert und einsam, aber zumindest hatte er jetzt eine Grundlage, auf die er aufbauen konnte. Babynahrung, in lauwarmes Wasser auflösen, in die Flasche füllen, wann und wie steht auf der Verpackung, Spielzeug aus Holz, nicht zu klein, keine Einzelteile, kein Kaugummi, kein Eis. „Hier.“ Sie drückte ihm ein paar Scheine Geld in die Hand, und obwohl er nicht genau hinsah, wusste Hannibal, dass es mehr war, als er jemals zuvor in seinem ganzem Leben in seiner Hand gehalten hatte. „Kauf davon einen Kinderwagen oder Kleidung oder irgendetwas anderes für den Kleinen, ja? Meinen Mann wird es zwar nicht freuen, dass das Geld weg ist, aber ich glaube, du kannst es besser brauchen. Aber wehe ich erwische dich dabei, wie du Zigaretten kaufst, Jungchen!“ Sie ging los mit dem Blumen-Stoffbeutel in der Hand und drehte sich nicht mehr um. Murdoc begann zu schreien. Sie hatte also tatsächlich einen Mann. Ähm, lasst euch bitte nicht durch die Bezeichnung "Kapitel 1" verunsichern, ich war zu blöd, den Prolog als solchen zu kennzeichnen und deswegen ist er jetzt das erste Kappi.^^ Hoffentlich gefällt euch das Kapitel! Und hinterlasst brav Kommis, ok? ;) bye sb Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)