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Children of the Prophecy

Die Kinder der Prophezeihung
von

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16: [Das weiße Kind]


 

16: [Das weiße Kind]
 

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Nigre Legiones

Ferus Imperator

Sinus Occultus

Fatum terminatum

(Das Omen)
 

Imperio

Inferna

Fortuna

Crudelitas
 

Du drehst dich im schwarzen Licht

Dein Schatten explodiert wie ein Vulkan

Du bist wie ein Stern der spricht,

Verfallen bin ich dir in meinem Wahn

In deinem Bann

Du mich ertränkst

Unsterblich dann mir Leben schenkst

Öffne das Tor den schwarzen Legionen,

Schließe den Kreis des Bösen,

Das Omen
 

Ich senke mein Haupt vor dir

Wenn du im Orbit glänzt

Ich spüre die Macht

Wenn du mich von den Göttern trennst

Du bist mein Heiligtum

Du bist das Licht im Raum, du bist das Leben!

Du bist der Fluch

Du bist das Omen.
 

Vivanos

Crudelis

Exitus
 

Du bist die Kraft,

Die Macht,

Und die Prophezeiung in Ewigkeit

Du bist DAS OMEN
 

–E Nomine, ‚Das Omen‘
 

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Ich wusste von dir, schon lange, bevor du an den Ort zogst, an dem wir uns trafen, kannte deinen Namen lange, bevor du wusstest, dass es mich überhaupt gibt, und ich war dir verfallen, schon lange, bevor du zu meiner Verdammnis wurdest, hatte dir schon in dem Augenblick vergeben, in denen wir unsere ersten Worte austauschten, lange bevor wir und trafen, und bevor wir die Zeit unseres Abschieds kam, und bevor du in meinen Armen gelegen hast, bevor du mir dein Herz geöffnet hast und ich mich leider entgegen allem, was ich dir zu bieten versucht hatte, schließlich doch daran versündigen musste;

Ich liebte dich lange, bevor ich der letzte Lichtstrahl deiner dunkelsten Stunde wurde, dein bester Freund, dein engster Vertrauter, dein treuster Verbündeter, dein erster Geliebter, und dein letzter, übelster Peiniger, der dich entgültig zerbrach…

Du warst der Seelenverwandte, auf den ich seid meiner Geburt gewartet hatte, und ich wurde der Fluch, der dich bis zu deinem Tode verfolgen sollte…

Meine Verdamnis, meine Zueignung; Die Erlösung von deiner Seele und das Grab deiner Hoffnung…

Mein herrliches Desaster!

Du magst ein Sünder gewesen zu sein, aber deine Unschuld war mein;

Du hattest nur Augen für deine Hässlichkeit, also blieb deine Schönheit für immer mein Geheimnis.

Es war letzlich doch nicht möglich, zu koexistieren, war schon vor endloser Zeit festgelegt und einprogrammiert worden, und so konnte ich letzlich nichts anderes sein als Benzin im Feuer der Vernichtung von allem, was du bist, Holz in den Flammen denen alles, alles an dir hingegeben wurde: Deine zögerlichen, vorsichtigen Gesten, im Moment zitternd und sich doch weiter vorwärts wagend und sei es nur ein kleines bisschen, deine Augen, wie abgeschlossene Universen aus Saphir, deine Hände, die doch die eines Jungen waren, groß genug, um eine andere Hand fest einzufassen, die Schicksalslinie, die sich vom Mittelfinger hinab zur Handwurzel zog, dünn dabei, sich zu verbinden, aber trotz deiner Jungend schon so deutlich, nicht so dünn und fein das man sich nicht vorstellen konnte, das du damit deinen täglichen Geschäften nachgegangen bist, wie du damit deine Reise bestritten hast, die Art, wie du diese Hand nimmst, mit der du Dinge geschaffen und Wunder vollbracht hast, mit der du den Grund umgegraben und Zerstörung ausgeteilt hast, auf der du Blut angesammelt hast und dünne Narben, die ihnen bei weitem die Weichheit geraubt hatte, die sie besessen hatten, bevor du unberührt von Leid und Liebe auch nur die Arbeit einer einzigen Stunde damit verrichtest hattest, aber dennoch dieses leicht plumpe an sich hatten, deine Finger und die Art, wie sie sich zum Ende hin verjüngten, die Fingernägel natürlich abgekaut, deine Lippen, ein klein wenig rissig, ein klein bisschen bitter im Geschmack, aber trotzdem genau so sehnsüchtig nach Küssen wie alle anderen auch, dein helles, unbeholfenes Stimmchen und seine Art, Freunde über die kleinsten Dinge vorzubringen, dein langer, schmaler Hals, deine schlanken Beine, von deinen kurzen Hosen unwissend dargeboten während du in sich versunken auf der Seite liegst, die Art, wie sich alles von dir unter meinen Berührungen zunächst furchtsam zusammenzieht und anschließend langsam entspannt, das dissonante, polymorphe Kreischen und Quietschen der Saiten, die die Melodie deines Herzens spielten, die taunsendunein Arten, auf die du vollkommen verloren bist, deine stille Stärke, ja selbst deine Art, vom Abgrund fasziniert zu sein und die Leere zu lieben;

Meine Augen, meine Ohren, meine Fingerkuppen, meine Lippen;

Alles an mir existiert nur, um dich zu spüren.

Aber natürlich war ich mir damals, als ich noch nicht all zu viel Zeit auf dieser Welt verbracht hatte, noch nicht darüber bewusst.
 

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Da der Helikopter nun mehr oder weniger kurzzeitig „parkte“ und nicht mehr flog, hatte sich die Drehung seiner Rotoren nun verlangsamt, und statt eine mehr oder weniger dichte Scheibe aus Schatten zu bilden, unterbrachen sie die Sonne nur noch jeder für sich, dann und wann die Wärme und den Glanz der im Tageslicht bis aus äußerte herauspolierten Farben fortnehmend.

Dennoch reichte diese Bewegung noch aus, kreisförmige Wellen über die Gräser des flachen Heidelands, dass sich vor- wie hinter dem Zaun, der dieses abgeschiedenen liegenden, zur von einer einzigen Landstraße, an die es fast direkt grenzte, mit der Zivilisation verbundene Grundstück einrahmte.

Die Ausstiegsrampe war ausgefahren, und hinaus stiegen zwei Gestalten, die kaum unterschiedlicher hätte sein können – Voran ging ein uralter Mann in einer anthrazitfarbenen Robe, auf einen extravaganten, aus Eiche geschnitzten Gehstock gestützt, das Gesicht faltig und streng, mit markanten Augenbrauen, die Augen noch nicht, wie etwa eine Dekade später, hinter einem kybernetischen Visor verbogen, sondern nur mit einer dunklen Sonnenbrille versteckt, und hinter ihm folgte ein weiterer Passagier, der zwar ebenfalls silberweißes Haar hatte, dafür aber eindeutig einen ganz anderen Grund haben musste, denn das Wesen, was dem Alten vorsichtig, fast schon zögerlich hinterhertapste, war von Alter und Vergänglichkeit noch nicht berührt worden und gehörte auch nicht zum Königreiche dieses Verfalls, sondern zu jenen Dingen, über die sie keinerlei Macht hatten – Sicher, ausgereift war das Wesen noch lange nicht, und der Prozess würde sich, bis er bereit war, den Daseinszweck allen Lebens, das Ziel aller Evolution zu erreichen und zu versuchen, mehr Leben von seiner Art auf diese Welt zu bringen, wohl noch weiterhin fortsetzten, aber es war trotzdem nichts vergängliches, so sehr seine an der Schwelle der metallischen Rampe verweilenden kleinen Füße auch denen eines etwa fünfjährigen Menschenkindes ähneln mochten.

Der Abgrund zwischen ihm und den Menschen war breiter und absoluter als der Streifen von Leere zwischen der Erde und Alpha Centauri, der Unterschied war größer als die Masse der Galaxis, lag tiefer als die Seele selbst, doch was ungeschulten Augen wohl zuerst auffallen würde, war die ungewöhnlich helle Farbe, die sich nicht nur in seinen Haaren fand, sondern sich auch auf seiner Haut fortpflanzte, ununterbrochen von Makeln wie Hautunreinheiten, Hinweisen auf vorherige Verletzungen wie Schürfwunden oder blaue Flecken, mit denen sich solch kleine Kinder für gewöhnlich beim Spielen ausreichend eindeckten, da waren nicht mal gerötete Stellen oder kleine Unregelmäßigkeiten, keine sichtbaren Poren, nichts davon, der Körper dieses Jungens schien zu perfekt, um selbst zu einer Statue zu gehören, auch Bildhauer waren Menschen, die Fehler machten, und dieses Kind hatte keine, auch wenn „Statue“ dahingehend ein passender Vergleich war, dass er aus einem ganz anderen Material, einer ganz anderen Essenz beschaffen war, und nurch durch das Handwerk von Menschen in eine ihnen ähnliche Form gegossen worden war.

Doch so, wie sich eine noch so naturgetreue Statue schon bei einer einfachen Berührung als Stein verriet, konnte auch die Form dieses Jungens seine wahre Natur nicht daran hindern, aus allen Ecken und Rinnen seiner trügerischen äußeren Hülle hinauszusickern – Ein solches Indiz war zum Beispiel dieser extrem hellen Hautton, der seinen vollkommenen kleinen Körper den Anschein verlieh, dass er die Sonne gerade zum ersten Mal berührte – Und das war von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt, besonders oft hatte er es mit den Strahlen des Zentralgestirns wirklich noch nicht zu tun gehabt, aber das war nicht wirklich die Ursache – Dennoch war es eine der ersten Reaktionen gewesen, erst mal seine Hand herzunehmen und seine Augen, deren tiefes Weinrot ein weiteres Indiz seiner wahren Natur darstellte, vor dem Licht zu schützen; Er war gewohnt an die nie abbrechende Finsternis eines unterirdischen Laborkomplexes, verborgen in einer Ecke der felsigen, eisigen Küsten Skandinaviens, an die sich selten eine Menschenseele verirrte, ohne aus einem bestimmten Grund da zu sein – Von allen Unternehmungen, die SEELE betrieben hatte, war die Existenz dieses Wesens wohl eine der geheimsten überhaupt – allen, es möglichst bald nach dem Second Impact vor Ikaris Nase hinweg zu bergen, war ein kleines Kunstwerk gewesen, aber da war es.

Ironisch war, das Ikari sein eigenes Gegenstück dazu erst viel später fertigstellen sollte, sie aber obwohl sie ihre Probe schon wesentlich länger gehabt hatten, am Ende Ikaris Technologie verwendet hatten, die Anlagen, die er sich trotz ihrer wachsamen Augen im Golghota-Stützpunkt hatte zusammenzimmern lassen. Was auch immer Ikari getan hatte, um sich die bedingungslose Loyalität dieser Akagi-Dame zu sichern, amortisierte sich jeden Tag aufs Neue. Doch das war die Geschichte eines anderen Tages.

Im Moment war das Kind damit beschäftigt, seine Hand irgendwie so anzuordnen, dass sie das Gröbste des grellsten Mittagslichts von seinen Augen fernhalten, diese aber nicht vollständig verdecken würde; Gleichzeitig hatten sich seine kleinen Füße noch nicht vom letzten Streifen der metallischen Rampe, wegbewegt, auf der er noch stand – Zentimeter weiter begannen die hohen Grashalme, der unebene, lockere Boden und all das Leben, dass darin umherkroch, nur einen Schritt weiter, und er würde all das unter den Sohlen seiner nackten Füße spüren, und würde jedes kleine bisschen dieser paar Quadratzentimeter mit seinem Tastsinn erfassen können – Das war eine Erfahrung, die er bewusst erleben wollte, vorbereitet, sich richtig die Zeit nehmend, sie auf ihm einwirken zu lassen, und sie nicht verschwenden, während er noch halb damit beschäftigt war, sich an das Licht zu gewöhnen.

Seine Füße waren übrigens bei weitem nicht das einzige an diesem Kind, was nackt war; Tatsächlich war er fast vollkommen unbekleidet, bis auf einen viel zu großen weißen Kittel, der im Wind der Rotorblätter um seinen kleine Körper herumpeitsche, und dadurch bedingt nicht ganz vermochte, die Frontalansicht zu verdecken.

Selbst der Kittel war eine Spende von einer der Wissenschafter im Labor, eine Art Abschiedsgeschenk, vielleicht von jemandem der trotz dem Wissen um seine wahre Identität von seinem Aussehen getäuscht worden war, und ihn mit etwas Menschlichen verwechselt hatte, mit etwas, dass bedeckt werden sollte, mit einem Kind, das Zuwendung brauchte – „Brauchen“ tat dieses von allem losgelöste, zeitlose Wesen schonmal überhaupt gar nichts, mal ganz unabhängig von seiner Form.

Mit einer entfernten Verwunderung, die nicht ganz bis zur Faszination reichte, und auch nicht frei von einem Unterton von Abscheu war, betrachtete Lorenz sein Geschöpf, wie es mit diesem fast schon gedankenvollen Blick an der Schwelle stehen blieb, während der Wind das durcheinander brachte, was äußerlich lockerem, menschlichen Haar ähnelte, aber auch eine verräterische Qualität an sich hatte, wie ein Bach aus flüssigem Metall, nicht trocken, nicht fettig und schon gar nicht irgendwie splissig, und bei Berührung viel zu glatt, viel zu leicht von den Fingern aufteilend lassen, ohne Knoten zu bilden oder irgendwie hängen zu bleiben.

„Was ist, Tabris?“

„Das hier ist… der Ort, an dem sie leben, richtig?“

„…ich besitze es.“ Antwortete Lorenz trocken, mit einem bestimmten Quantum Abschätzigkeit. „Du kannst dich hier aufhalten, während du auf deine himmlische Mission vorbereitet wirst…“

„Ich weiß, aber… es wundert mich nur… Dass es hier draußen ist… Würden Sie nicht besser in einer Kolonie von anderen Lilim zurechtkommen…?“

„Es lässt sich wohl nicht ändern, dass das Konzept dieser lästigen „Individualität“ von uns Einzelwesen für dich schwer zu begreifen ist… Für nun wird es unseren Zweck genügen.“

„Mh-hm, ich glaube ich habe in der Tat nicht verstanden… Sie wollen bewusst von den anderen getrennt sein, auch wenn es nicht ihre Natur ist… Sie sind eine lange, lange Zeit hier gewesen, haben sich ihr Bild von den anderen schon gebildet, und denken, dass es sich nicht mehr ändern lässt, egal, was ihre Augen und Ohren noch aufnehmen könnten?

Sie denken sie wissen und kennen schon alles, was es zu wissen und zu kennen gibt, und so ist auch die Zukunft, die sie herbeisehnen, ewig statisch… Es gäbe doch keinen Unterschied…

Ich begreife es wirklich nicht…“

Der Junge lächelte, nun endlich einen Fuß auf das Land setzten, mit den Zehen wackelnd, die Textur dieses speziellen Stück Bodens mit der Geometrie seinen Fußes ausfüllend, sich mit Zehen und Beugen hineinschmiegend.

Es folgte der nächste Fuß, und dann wieder der erste, mehrere, vorsichtige Schrittchen und ein stetig wachsenden Lächeln, ein regelrechtes, freudvolles Strahlen, das mit jedem Detail anwuchs, Laute des Erstaunens und der unverfälschten, ehrlichen Begeisterung.

Erst waren seine Schritte ja zaghaft gewesen, das man hätte meinen können, er sei sich nicht sicher, ob seine Füße ihn wirklich tragen würden, aber das war mehr die Überwältigung des Ganzen, der vielen, vielen Eindrücke, schon bald sah man ihn in Kreisen und Schleifen herumrennen, sodass er trotz seiner für sein Alter zu reif, zu groß wirkenden Worte wie ein gewöhnliches, fünfjähriges Kind wirkte, überschäumend vor Freude über die klitzekleinsten Bagatellen.

Lorenz kommentierte jenes scheinbare Paradoxon mit einer gehobenen Augenbraue und einer gerunzelten Stirn.

„Das ist alles so… wunderschön…“ staunte der Junge mit leuchtenden Augen.

„Herr Lorenz, warum haben sie mir nie erzählt, dass diese Welt schön ist?“
 

Hinter ihnen war der Helikopter dabei, wieder abzuheben, und der Schatten der sich beschleunigenden Rotorblätter verband sich wieder zu einer Scheibe, die mehr Fläche überdeckte, als die einzelnen Blätter selbst, aber bei weitem nicht so dunkel war, und in der Tat mehr und mehr zu verschwinden schien, bis sie sich nicht mehr von der Sonnengebadeten Umgebung unterscheiden ließ, als der Helikopter schließlich abhob, und die zwei Passagiere im Fahrtwind zurück ließ, den Alten streng und finster, das Kind mit einem offenen Lächeln, dem Vehikel und seinem Piloten mit seinem kleinen Ärmchen, dass durch den Ärmel des viel zu großen Kittels wie in eine Flagge gepackt wirkte, enthusiastisch hinterherwinkend.
 

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GEIST Laborkomplex Nummer fünf, DARWIN-Garten des Projekts Master, Interim-Report 2.5.8, verfasst vom Stellverstretenden Forschungsdirektor Kuze Tetsuo, Betreff: Projekt SCHUTZENGEL, Subjekt Nummer 23, Code „Tabris“.

Die folgenden Aufnahmen sind nur für die Einsicht durch das Komitee zur Vollendung der Menschheit selbst bestimmt. Die Sanktion für ihre unberechtigte Vervielfältigung auf allerlei Datenträger, seinen sie mechanischer oder biologischer Natur, ist unweigerlich die Vernichtung oder gegebenenfalls Liquidation aller Gefäße, die diese Information unrechtmäßig enthalten.

Die professionelle Ansagerstimme wich einer etwas weniger aufpolierten, geringfügig rauschende Aufzeichnung, auf der größtenteils die ernste, schwere Stimme eines Mannes zu hören war, dessen Alter gegen das Ende seiner vierten Lebensdekade gehen musste.

„Das Projekt schreitet, wenn man das denn keine Blasphemie wäre, fast schon besser voran, als wir es erwartet haben, und es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die Resultate alle unsere Erwartungen übertroffen haben – Trotz seiner Natur erwies sich Code „Tabris“ als durchaus fähig, zu kommunizieren. Schon jetzt ist das Subjekt fließend in mehreren unserer Sprachen, darunter zunächst einmal Englisch, des Weiteren haben wir ihm hauptsächlich der weiteren Dienlichkeit halber Japanisch und Deutsch nahe gebracht. Auch Versuchsergebnisse mit den Simulationskörpern, die sie ebenfalls in diesem Dossier vorfinden, haben unsere Hoffnungen bestätigt – Der Durchführbarkeit unseres Plans steht nichts im Wege, unser Fifth Child ist definitiv einsetzbar, was dann auch für unsere weiteren Pläne gilt. Was seine Fähigkeiten angeht, sind wir immer noch dabei, genau auszuloten, wozu er alles im Stande sein könnte, in wie weit sie statisch sind, und in wie fern sie sich noch weiter entwickeln werden, während sein Körper reift. Die Ergebnisse werden für uns zweifellos niedagewese Einblicke in die genauen Mechanismen der Verbindung zwischen Körper, Geist und Seele darstellen. Noch immer hat die technische Abteilung keine Messgeräte entwerfen können, die eine zufriedenstellende Quantifikation seines AT-Felds erlauben würden, aber es hat sich bereits jetzt abgezeichnet, dass das Subjekt trotz seiner physischen Gestalt in der Lage ist, es wie seinesgleichen zu projizieren, und bereits jetzt in der Lage ist, jede Art von subatomaren Teilchen, jede Kraft, und sogar das Licht und andere elektromagnetische Wellen vollständig abzublocken. Das Phänomen hat Ähnlichkeit mit einem Ereignishorizont, und wurde von der Direktorin als „Bannkreis“ klassifiziert, nachdem unsere Beobachtungen mit den anbei eingefügten, annotierten Ausschnitten aus den Qumran-Rollen abgeglichen und identifiziert wurden. Die Arbeit mit seiner Fähigkeit, die meiste Technologie mit seinem bloßen Willen zu beeinflussen, schreitet auch gut voran – Keiner von NERVs Computern oder Panzertüren sollte das Subjekt besonders lange aufhalten. Ich bin mir sicher, dass Sie für diese Fähigkeit, die wohl eine der angenehmsten Nebenprodukte des SCHUTZENGEL-Projekts darstellt, noch eine ganze Menge anderer nützlicher Anwendungen finden werden. Die Levitation demonstriert es uns bereitwillig, was das volle Ausmaß seiner telekinetischen Fähigkeiten angeht, sind wir uns mittlerweile ziemlich sicher, dass die Stagnation, von die die Frau Direktorin wir im letzten Zwischenbericht geschildert ist, nur vorgetäuscht ist – Das Code Tabris denkt, das wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten vor uns verbergen zu können, ist zwar bei unserer derzeitigen Kenntnis über seinen gegenwärtigen Status nicht wirklich beunruhigend, aber es ist vermutlich doch ein Indiz, das nicht ignoriert werden sollte – Die bisherigen Ergebnisse sind mehr gut genug,um unsere Pläne durchzuführen, deshalb würde ich, wenn es gestattet ist, vorschlagen, das Vorantreiben des Projektes an dieser Stelle abzubrechen, und will hiermit die Zustimmung dieses Komitees einholen.
 

Dennoch scheint sich das Subjekt bis jetzt in keinem Fall offen unkooperativ oder gar rebellisch zu verhalten, so hat es zum Beispiel die detaillierte Datenbank über NERV und andere Details des Projektes, die wir ihm Zwecks seiner Vorbereitung auf seine Mission zur Verfügung gestellt haben, mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Bereitwilligkeit verschlungen, und dabei eine große, unerwartete Leichtigkeit im Umgang mit etwas so menschlichen wie Informationsnetzwerken gezeigt – Wir hatten zunächst vermutet, dass eines der Hauptprobleme bei diesem Projekt sein würde, dass es ihm schwer fallen würde, solche grundlegend menschlichen Konzepte zu begreifen, aber die unheimliche, erschreckende Wahrheit ist, das es darin fast schon besser ist, als wir eigentlichen Menschen.

Die Datenbank ist nur eines der geringeren Beispiele – So war es von allen Stimuli, denen wir Code Tabris ausgesetzt haben, ein unschuldiges Stück Musik, die die stärkste Reaktion hervorgerufen hatte. Es war nicht einmal ein bewusst geplantes Experiment – Es war simple Melodie, welche die Direktorin bei der Bedienung einer Konsole geistesabwesend vor sich hin gesummt hatte. Das Subjekt hat eine regelrechte Fixation dafür entwickelt, und darum gebeten, ein Flügel gebracht zu bekommen, und zu erfahren, wie es zu benutzen sei – Der Auslöser war nach Aussage des Subjekts selbst seine Neugier über einen Flügel, den er bei seinem kürzlichen Aufenthalt in der Residenz des Vorsitzenden gesehen hatte, und es gab an, schon damit experimentiert zu haben, es sich selbst beizubringen.

Weil es wie eine relativ simple Bedingung schien, um das Subjekt kooperativ und beschäftigt zu halten, haben wir dieser Bitte stattgeben, zumal die Direktorin in ihrer jungen Assistentin Miyazawa schnell jemanden fand, der wusste, wie ein solches Instrument zu spielen sei, und sich bereit erklärte, als Lehrerin für das Subjekt zu dienen, auch, wenn sie sich dafür ohne Schutzvorkehrungen der Nähe des Subjekt aussetzen musste.

Morbide wie es klingt, erstaunt es uns immer noch, das Code Tabris, eine Kreatur, deren primärer Daseinszweck darin besteht, uns Menschen zu vernichten, sie immer noch nicht getötet hat, obwohl er mit seinen Kräften jederzeit dazu in der Lage sein sollte. Eine Koexistenz sollte vollkommen unmöglich sein, und doch scheinen wir da etwas zu sehen, dass so sehr wie eine vollkommene, erfolgreiche Kommunikation aussieht… Wir sahen sie schon als die sprichwörtliche Jungfrau, die als Opfer für den Vulkangott in den Krater geworfen worden ist… Miyazawa selbst scheint dies nicht so zu sehen, und auch, wenn die entsprechende Untersuchungen kein Ergebnis gezeigt haben, beginne ich zu vermuten, dass es irgendetwas mit ihrem Kopf angestellt hat… oder vielleicht ist sie einfach nur seinen „Liebreiz“ verfallen…

Seid Miyazawa begonnen hat, dem Subjekt Klavierstunden zu geben, ist das ganze Labor immerzu von Musik erfüllt; aus anderen Teilen des Labors fragt man, was die „himmlischen Klänge“ nur sein könnten, und der Klang hat schon so manchen, der ihn nicht erwartet hatte, spontan zu Tränen gerührt – Wir haben schon einige Mitarbeiter zu dem „Glück“ zwingen müssen, sich eine Woche frei zu nehmen, weil sie sich immer und immer wieder herschlichen, selbst außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitszeiten, nur um diese Klänge zu hören – Ich persönlich habe diese Beschallung bis jetzt vermieden. Ich denke nicht, dass diese Töne etwas sind, das Menschen hören sollte.

Er hat sie längst übertrumpft, und dennoch lässt er sich von Miyazawa weiter unterrichten – Ich fürchte den Tag, an dem es finden wird, dass es von ihr schon alles gelernt hat, was sie es lehren könnte – Außer ihr selbst gehen wir wohl alle davon aus, das Miyazawa dann wohl ein weiteres der vielen Opfer werden könnte, die dieses Projekt schon gefordert hat. Wie alle Beteiligten an diesem Projekt wird man sie wohl an der großen Second-Impact-Gedenkstätte bestatten.

Man könnte meinen, der Gedanke, dass Code Tabris „Klavier spielt“ würde es menschlich erscheinen lassen, zumindest in den Augen seiner „Lehrerin“, aber wäre es ein Mensch, würde ihn ein für die Wartung von Menschen zuständiger Arzt wohl als ziemlich krank im Kopf einstufen – manchmal bringt das Wesen ganze Tage damit zu, immer zu nur Klavier zu spielen, immer weiter, ununterbrochen, nach nichts fragend, nie nach etwas anderen gelüstent, keine Unterbrechungen für Essen, Schlafen oder das Ausscheiden körperlicher Abfallstoffe einlegen – auch wenn es eine menschliche Aktivität ist, könnte es ein Mensch niemals so tun wie er, selbst ein Gespenst würde doch wenigstens für das kommen und gehen des Tages inne halten, und so sind die rationaleren unter uns geneigt, diese… Musik die er produziert, und die abscheulichen Dinge, die sie mit der menschlichen Seele anstellt, durch seine vermehrte Gelegenheit zur Übung zu erklären.

Aber hier im Labor haben wir meistens etwas, für das wir sein Spiel gelegentlich unterbrechen müssen – Wenn Miyazawa Glauben zu schenken ist, will er im Hause des Vorsitzenden schon einmal die gesamten Werke von Beethoven am Stück gespielt haben, in der exakten Reihenfolge, in der sie verfasst wurden – Beethoven, wenn Sie es wissen müssen, ist nämlich sein Favorit…

Wenn man das so sieht, kann man wirklich keinen Zweifel daran haben, das Code Tabris wahrlich vollständig ist, der wahre homo superior, – eine verbesserte Ausgabe des Menschen…

Und damit ist homo sapiens obsolet.
 

Das Subjekt zeigt, wie bereits erwähnt, weiterhin starkes Interesse an der menschlichen Psyche und seinem Verhalten, und hat, nachdem es die NERV-spezifische Datenbank mit besonderem Augenmerk auf diese Aspekte durchgearbeitet hat, darum gebeten, weitere Daten über uns Menschen als Ganzes zu erhalten. Verwunderlich, wie es scheint, denke ich, dass es gut möglich sein könnte, aus diesem Verhalten Rückschlüsse auf das der weiteren Engel zu ziehen, die uns in Zukunft erwarten – was wir hier sehen ist schließlich das Ende des Entwicklungspfades, den sie letztlich nehmen werden…

Was nun dieses Ersuchen des Subjekts angeht, wollten wir, bevor wir eine eigenmächtige Entscheidung treffen, erst mal mit Ihnen abklären, wie sich das mit dem Szenario verträgt.

Meine Empfehlung wäre es jedoch, ihm nicht statt zu geben. Gut möglich, dass dieses Wesen Informationen über uns sammelt, um uns besser vernichten zu können, wenn die Zeit anrückt… wenn wir diejenigen sind, die sie ihm liefern, haben wir das Blut der Menschheit an unseren Händen kleben…
 

GEIST Laborkomplex Nummer fünf, Flügel C, Einrichtung 4a – 22. S2-Graph-Experiment.

Subjekt: Nummer 23, Codename „Tabris“

Leitende Experimenteure: Stellvertretender Direktor: Kuze Testsuo, und die leitende Direktorin.
 

„…Und?“ fragte die hochgewachsene Frau mit einer nach dem Geschmack ihres Stellvertreters unpassenden Leichtigkeit. „…Was hat das Komitee gesagt?“

Kuze, ein Herr von etwa Mitte vierzig, deren Kopfesmitte sich dennoch bereits in eine glänzende Glatze verwandelt hatte, obgleich drum herum noch überraschend dichtes, schwarzes Haar übrig geblieben war, verschränkte seine Arme, wie er es oft tat, wenn ihm etwas nicht gefiel – Seine Vorgesetzte wusste das freilich bisweilen sehr gut zu verstärken, mit ihrer Art, die immer ein wenig aus dem Kontext hinausgegriffen schien – ihr langes, schwarzes Haar trug sie als einen aufwändig geflochteten, krönchenartigen Haarkranz, unter ihrem weißen Kittel saß ein langes, hochgeschlossenes dunkelgrünes Kleid, das mit kleinen, weißen Blüten verziert war.

Sie war überhaupt eine der letzten Verfechterinnen von Kleidern und Röcken, so sehr die gegen Ende der Neunziger zum Mainstream gewordene Wahrnehmung doch meistens das Gegenteil behaupte, fand sie Hosen wesentlich ungemütlicher und einengender.

Der Unterschied zu dem eher kleineren, faltigen Kuze hatte schon seinen Kuriositätswert.

Die beiden standen in einem nicht allzu großen Raum voll mit Konsolen, Maschinengeräuschen und großes, eckiges Towern mit einer Vielzahl an blinkenden Lichtlein – Der Boden war größtenteils von verschiedenfarbigen Kabeln übersäht, hier und da hörte man es piepen, und es gab mindestens einen Schlitz, der immer zu einen Papierstreifen ausspuckte der sich auf dem Boden in einem Haufen aus Schleifen sammelte, und mit einem stetig fortlaufenden Wellenmuster bedruckt war.

„Abgelehnt, und Stattgegeben.“

„Wirklich vielsagend, Kuze-kun.“ Scherzte sie heiter.

„…der Antrag auf Beendigung der… Entfaltung des Subjekts wurde abgelehnt, der für die Datenbank, die Sie ihn haben lassen wurde, wurde angenommen…“

„Aber, aber, Sie klingen ja fast schon etwas widerwillig… Sie zweifeln doch nicht etwa an SEELEs Szenario, oder?“

„K-keinesfalls…“
 

Durch eine dicke Glaswand von den Zweien getrennt in der eigentlichen Testkammer befindlich, aber dennoch keinesfalls unfähig, die beiden zu verstehen, blickte das einem kleinen Jungen ähnliche Wesen seufzend zu den beiden hinüber.

Sein kleiner, ansonsten nur von einer metalisch glänzenden Plane bedeckter Körper war über und über mit Elektroden und den dazugehörigen Kabeln bedeckt, zwei davon waren genau auf seine Wangen geklebt worden, zwei saßen an seiner Stirn, teils von seinen silbrigen Haaren bedeckt.

„Hach… Es scheint alles nach den Plänen der Lillim zu verlaufen…“
 

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„Der Körper ist nichts weiter als das Gefäß der Seele. Die Seele ist der Tyrann und der Körper die Marionette. Aber dem Körper ist das ewige Leben nicht gewährt. Um also nicht in Staub zu verfallen, muß er sich eines anderen Fleisches bedienen. Aus diesem Grund betrügt, erniedrigt und tötet die Seele."
 

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der die Nummer Eins von SEELE für diese Residenz wesentlich häufiger Verwendung gefunden hatte, auch Nutzen privater Natur – jetzt aber würde ihre abgeschiedene Lage den Zwecken des Projekts dienen.

In den Händen ihrer Organisation befand sich Tabris, der Engel des Freien Willens, der letzte Botschafter, der inkarnierte Avatar Adams, und somit der letzte Glockenton, der das Ende der Menschheit herbeiläuten würde, Kontrolle über den Beginn des jüngsten Gerichtes.

Und um diesen wichtigen Schalter nutzen zu können, war es notwendig, in auf seine Aufgaben vorzubereiten, und dies sorgfältig zu tun – Es war anzunehmen, dass er, als letzter der Söhne Adams ein gewisses instinktives Wissen über die Gegebenheiten in der diesseitigen Kosmologie haben würde, er sprach von „Dingen, die er schon immer gewusst hatte“, nein, mehr fest gespürt als so etwas distanziertes, und vor allem menschliches wie „wissen“.

Andererseits war auch Adam nur ein weiteres Geschöpf gewesen, dem die Schöpfer nur einen vorsichtig gewählten Teil ihres Erbes hinterlassen hatten, auch, wenn seine Grenzen schwer auszuloten waren, war er doch nicht allwissend, und um ihren Plan in die Tat umzusetzen kam für SEELE kein Weg daran vorbei, dies gezielt auszunutzen.

Wenn der Botschafter also nicht im Labor war, dann war er zumeist hier, in diesem kleinen Haus nahe Deutschlands nordöstlicher Küste.

Freilich musste der Vorsitzende für die Indoktrinierung und Initiation des vermeintlichen Jungens nicht physisch anwesend sein – Es reichte die übliche Kommunikationsmethode.

Selbst mit den anderen Mitgliedern der Organisation war Keel schon seid Jahren nicht mehr im selben Raum gewesen, diese Bruderschaft hatte schon von Haus aus in den Schatten gewirkt, seid ihre Vorfahren sie vor Jahrhunderten ins Leben gerufen hatten, und die Möglichkeiten der modernen Telekomunikation hatten das Vertuschen von Spuren und der Vermeiden von verräterischen Treffen nur um so leichter zu sein.

Obgleich er für die moderne Wissenschaft und Technologie, die mit ihren von ihren Egos zu Dogmen aufgeblasenen Paradigmen und ihrer sogenannten Logik sogar die Götter im Himmel ersetzten wollten, aber wo es ihm praktisch und annehmlich wurde, da leistete sich auch ein Keel Lorenz gerne mal ein wenig Heuchelei, auch wenn er diese natürlich nicht als solche sah.

Nur die Technologie war es ja, die es ihm erlaubt hatte, die Endzeit überhaupt zu erleben, doch er wäre wohl der letzte, der ein verblümtes Bild von dieser Fehlkonstruktion Mensch haben würde – Seinem Verfall entgegen zu wirken hieß nicht, ihn zu mildern oder gar aufzuhalten, sondern ihn zu verlängern, und unter anderen Umständen würde er ein solches Unterfangen auch fast bellend als sinnlos abtun, aber ihm war das Glück zuteil geworden, diese Organisation in einer gesegneten Zeit zu führen, wo das Ende aller Tage vor den Toren stand wie einst das außerwählte Volk vor den Toren von Jericho, die Trompeten bereits gezückt, an den Gemäuern ratternd, wie ein heftiger Wind, der die Türen in ihren Angeln erbeben ließ.

Hier, hier machte Leben und Vergehen doch tatsächlich einen Unterschied, wenn es nur bis zum Tag der Phrophezeihung reichen würde, an dem der Türen zum Paradies entlich aufgestoßen werden würden.

Wenn dieser Moment gekommen war, würde er das Sakrament des Todes nur all zu gerne entgegen nehmen, dankend, und mit Kusshand.

Bis dahin aber, oder zumindest, bis die im Tabgha-Stützpunkt mit dem Baum seines EVAs begannen, würde sich der trügerisch menschenähnliche Engel hier in diesem Haus aufhalten – auch, wenn es nicht so war, das er diese Villa nie verließ, Lorenz glaubte mittlerweile gut zu wissen, dass er häufiger in der Heidelandschaft umherwanderte, am häufigsten wohl zum Strand hin, um sich das Meer anzusehen, was auch immer er daran finden mochte.

Diese Eskapaden waren jedoch keineswegs von Bedeutung, der Vorsitzende wusste sehr gut, dass der Botschafter schon ziemlich lange hätte laufen müssen, bis er von hier aus auch nur in die Nähe der größeren Zivilisation kommen würde.

Es war nicht so, das er nicht darum gebeten hatte, eine menschliche Konglomeration sehen zu dürfen, ein paar Mal hatte SEELE‘s Nummer Eins dem auch stattgegeben und ihn mit einem Wissenschaftler oder einem Sicherheitsbediensteten in eine der nächsten größeren Städte geschickt, so hatte das übermenschliche Kind zum Beispiel schon gelegenheit gehabt, einem Karnervalsumzug in Hamburg aufmerksam zu studieren oder sich auf der Kieler Woche zu vergnügen, ein mal war er sogar in Flensburg gewesen; Vielleicht bemerkenswert war, dass er gleich einem gewöhnlichen Menschenkind nach kleinen Souvenirs fragte, wobei er immer höflich in seinen Bitten und bescheiden in seinen Wünschen blieb, sodass es selbst abgehärtetem Sicherheitpersonal, dass wusste, was er war, schwer fiel, dem kleinen Jungen seine Wünsche abzuschlagen.

Und ständig bekamen sie gesagt, was sie da doch für einen wohlerzogenen jungen Mann hätten, was für ein charmantes, aufmerksames, liebreizendes Kind das doch war, das man einfach mögen musste.

Er ging sogar so weit, seine Wärter zu fragen, was sie denn gerne tun würden, um sich zu amüsieren, und kam einfach mit, ohne dieses freudvolle, offene Lächeln auf seinen Lippen jemals für mehr als ein paar Sekunden zu unterbrechen.

Das er sich mit den Schriftrollen vertraut machte (Oder vielmehr, den Teilen davon, die seine Kerkermeister von SEELE ihn sehen ließen) ließ sich nicht vermeiden, aber es war nur zu den gelegentlichen Begebenheiten, die den ursprünglichen Besitzer dieser Residenz dazu brachten, einen mehr oder weniger kurzen Aufenthalt dort in seinen dicht gepackten Kalender zu legen, in denen Keel Lorenz beobachten konnte, was er sonst noch so trieb – Bei den Qumram-Rollen hatte er nicht aufgehört, sie waren nur das, womit er angefangen hatte – In seiner Villa hatte Lorenz eine geräumige Bibliothek mit einer hohen Decke, zwei oder drei normale Stockwerke hoch, alles voll mit Büchern in Regalen aus dunklem Tropenholz, aus einer Zeit vor dem Second Impact, als die Menschen noch meinten, Löcher in ihre wichtigsten Sauerstoffreserven hacken zu können.

Traurigerweise hatte es den Second Impact und damit den Wegfall der Meeresalgen gebraucht, um den Menschen Wertschätzung für das letzte bisschen Regenwald nahe zu bringen, dass da noch als letzter Faden zwischen den Überlebenden und der völligen Vernichtung gehangen hatte – Möbel wie diese waren also nun nichts weiter als Artefakte einer vergangenen Zeit, die nicht mehr repliziert werden konnte, ebenso wie der Mensch der sie besaß, auch, wenn an ihm nicht mehr all zu viel menschlich war.

Nun war dieser Raum aber da, voll mit Büchern und dem Wissen darin, eine Sammlung von Jahrzehnten, und das silberhaarige Kind hatte sich, sobald es lesen gelernt hatte, flugs daran gemacht, sich durch die Berge und Stapel aus alten, staubigen Wälzern durchzuarbeiten, meistens Enzyklopedien, Ratgeber oder philosophische Schriften, um seinen schier unerschöpflichen Wissensdust über die Außenwelt zu stillen – Er lernte auch bald, mit dem etwas antiquierten Computer der Villa umzugehen, und hatte fortan seine liebe Freude mit den Wundern des Internets. Da der meiste wirkliche Kontakt, den er mit Menschen hatte, jedoch in den Sitzungen mit SEELEs innerem Zirkel geschah, schnappter err allmählich deren blumiges, großzügig mit Metaphern und philosophischen Referenzen gespicktes Vokabular auf.

Doch auch, wenn die Worte von ihnen geborgt waren, die Philosophie, die er mit ihnen zum Ausdruck brachte, war bedeutend anders.
 

Doch das, was den Jungen an der Kultur der Menschen wohl am meisten begeisterte, war die Musik. Er saß tagelang neben diesem alten Schallplattenspieler, hörte sich im Internet die neusten, modernsten Lieder an, und ließ sich bei seinen Besuchen im Labor allerlei Musik aus den verschiedenen Heimatländern, Kulturen und Subkulturen der dort beschäftigten Wissenschaftler versorgen, doch letzlich hatte es ihm die klassische Musik wohl am meisten angetan. Man könnte es darauf schieben, das diese durch die Schallplatten des uralten Geheimbündlers einer der ersten Arten von Musik waren, denen der Engel überhaupt ausgesetzt gewesen war, und somit einen besonderen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte, wobei der Vorsitzende vor allem die Künster des Romantizismus vorzog, von denen zum Beispiel Wagner oder Brahms ein paar der Berühmtesten gewesen war - Mit der Zeit kristalisierten sich dann aber doch erst subtile, dann deutlichere Unterschiede in dem heraus, was man jetzt persönlichen Geschmack oder tatsächliche Erkennung von objektiver Perfektion durch eine äußere, unbefangene Entität nennen könnte, fand Tabris bei der weiteren Erkundung des klassischen Spektrums entgegen der Tendenzen des Vorsitzenden großen Gefallen an den musikalischen Vertreter von Aufklärung und Erleuchtung,auch wenn die dramatischgefühlvolle, wenn auch bisweilen pompöse Musik der Romantiker für den jungen Botschafter wohl immer einen besonderen Platz einnehmen würde, allen vorran Beethoven, der sich rasch zu seinem persönlichen Favoriten gemausert hatte, obwohl dieser Junge natürlich immer offen für Neues blieb – das war einfach die Art von Persönlichkeit, die er hatte, er war jemand, der die Gelegenheiten, die ihm das Leben bot, so beschränkt oder großzügig sie auch sein mochten, voll auskostete, immer danach strebte, sich mit möglichst vielen neuen Erfahrungen zu bereichern, und immer dazu bereit war, etwas auszuprobieren, was er noch nie zuvor gekannt oder versucht hatte.

Dazu gehörte auch, das er irgendjemanden in Komplex Fünf dazu gebracht hatte, ihm beizubringen, wie man den Flügel spielt – Seid dem saß er tagein tagaus an dem alten Instrument, das Lorenz im Foyer seines Anwesen hatte verstauben lassen – Der alte Mann hatte es selbst nie berührt, sondern es um seiner Tochter wegen angeschafft, die schon seid ewigen Zeiten ausgeflogen war, und inzwischen alt, grau, und selbst Großmutter gewesen war, irgendwo jenseits des Ozeans.

Auch bei ihr hatte es für SEELEs Nummer Eins lange keinen wirklichen Grund gegeben, sie physisch zu treffen, was nicht heißen sollte, dass es in irgendeiner Form ein Zerwürfnis gegeben hatte, auch sie arbeitete am großen Werk und hatte eine seiner ähnliche Liste von Prioritäten, auf der Dinge, die sich nicht mehr lohnten, weil die Schlacht von Harmageddon täglich nahte, vergleichbar weit unten standen.

Ihr hatte auch das Zimmer gehört, das Tabris für seine Aufenthalte hier bezogen hatte. Es dafür mit allen irdischen Annehmlichkeiten herrichten zu lassen, war mehr eine Maßnahme gewesen, die Lorenz getroffen hatte, um einen gewissen Schein zu wahren – für die Öffentlichkeit war das Kind, das gelegentlich in der Villa des Vorsitzenden zu sehen war, der die Aktivitäten seiner Organisation unter anderem durch seine Tätigkeiten als leiter einer milliardenschweren Firma und wohl bedeutendster Medienmogul (was sich auch für die Manipulation der Öffentlichkeit als überraus praktisch herrausgestellt hatte) der Europäischen Union finanzierte, sein Urenkel aus Japan.

Einen solchen Urenkel gab es tatsächlich, doch den hatte Lorenz im Leben nicht gesehen – zu sagen, das der Schwiegersohn seiner Tochter Berenice unangenehm war, wäre vermutlich die Untertreibung des Jahrhunderts, wenn man bedachte, dass es sich dabei um Ikari handelte.

Das seine Tochter in die Familie eingeheiratet hatte, der schon vor ewigen Zeiten prophezeit worden war, das der versprochene Messiah und Herold der Endzeit aus ihren Lenden entsteigen würde, war durchaus strategisch motiviert gewesen, und nicht ohne, das Kontrolle ein Faktor gewesen wäre – nicht das Ikari Hajime, Lorenz‘ Schwiegersohn, nicht bis zum Ende seines Lebens ein loyaler Unterstützer von SEELE gewesen wäre und sich mit Berenice Lorenz ohnehin bestens verstanden hätte, wie es seine Ahnen schon seid Generationen gewesen waren, doch es war ihre Nachkommenschaft, über die man sich eine feste Hand hatte sichern wollen – Schließlich war es seid Urzeiten prophezeit worden, das der letzte Erbe des Namens „Ikari“ auch der Katalysator der letzten Heimsuchung sein würde, der Auserwählte, das lang ersehnte Third Child – Doch ein Faktor, der einen Strich durch diese Pläne gemacht hatte, war Ikari Yui, ein Name, der in den Kreisen von SEELE nie ohne gemischte Gefühle ausgesprochen worden war – Ohne ihr Genie wären die Evangelions, und überhaupt die wissenschaftlichen Grundlagen zum Thema künstlicher Evolution somit das ganze Projekt zur Vollendung der Menscheit schlicht unmöglich gewesen, aber sie war eine Frau, deren warmes, angenehmes Lächeln nie irgendjemanden all ihre Geheimnisse offenbahrt hatte.

Ihre Geldgeber bei SEELE hatten ein naives, aber geniales Wunderkind gewollt, und sie hatte ihnen eines gegeben, ihre Eltern wollten eine gewissenhafte, in allem talentierte Tochter gewollt und sie hatte ihnen eine gegeben, der Lehrer, der ihr das Spiel der Violine nahegebracht hatte, wollte eine aufmerksame Schülerin, die dennoch Weisheit jenseits dem, was ihr Alter in Jahren vermuten lassen würde, und das war es, was er zu sehen bekam, ihr Gatte wollte eine warme, fürsorgliche Quelle von Erlösung und Verständnis, und er hatte eine bekommen.

Aber alle, die sie kannten, selbst ihre engsten Freunde, und sie sagten das umso mehr, umso besser sie sie kannten, waren sich darüber einig, dass es keine einzige Person auf der großen, weiten Welt gab, der auch nur einen Hauch einer Ahnung davon gehabt hatte, wer Ikari Yui gewesen war, wenn sie völlig allein gewesen war.

(Ihr einstiger Mentor, langjähriger engster Vertraute, bester Freund und heimlicher Verehrer Fuyutsuki Kozo brüstete sich vermutlich zu recht im Stillen gerne mit dem Stolz, derjenige gewesen zu sein, der das Meiste über ihre Pläne gewusst und den ganzheitlichsten Blick auf ihr wahres Selbst erhalten zu haben, aber an dem, was sie ihn hatte sehen lassen, waren auch Teile gewesen, die er niemals hatte wahrhaben wollen – Diese gnadenlose Kämpferin, diese Fremde, diese Bestie, die rücksichtslose Schachspielerin, die sich angeschickt hatte, die Leiden und Schicksale von Menschen gegeneinander aufzuwägen wie eine alledem übergeordnete, von irdischem Recht unberührte, allwissende Göttin hoch über gut und Böse, und der Grund, weshalb sie Rokubungi Gendo als den Mann an ihrer Seite und den Vater ihres Kindes erwählt hatte, einen Mann, der sich damit zufrieden gab, sie als eine große, unergründliche Göttin zu sehen, und jedes ihrer Worte und Gesten als absolut und völlig unverdientes Geschenk anzunehmen, dass die himmlische Gnade wie Balsam auf seine sündige Seele geschmiert hatte, und sie mit anbetender Hingabe verehrte, und nicht Fuyutsuki, der versuchte, das Phänomen, dass sie zweifellos war, zu ergründen und zu erklären, und wirklich zu kennen.)
 

Doch verflossene Milch konnte man nie zu kurz betrauern – in gewisser Hinsicht war es ja doch irgendwie passend, das Lorenz den letzten der Engel als Ikaris Sohn ausgegeben hatte – Schließlich waren Ikari und sein Verrat einer der Gründe dafür, dass er diese Kreatur überhaupt hatte erschaffen hatte.

Was den alten Multimilliardär dann jedoch überrascht hatte, war, das der Raum, dem er diesem Wesen zur Verfügung gestellt hatte, auch tatsächlich benutzt worden war.

Er hatte den Engel schon seelig schlafen sehen, oder hatte ihn dabei erwischt, wie er gedankenverloren an irgendwelchem Obst herum gelutscht hatte, hatte ihn erwischt, wie er sich mit Liede zum Detail in menschliche Gewänder eingekleidet hatte, und wie er die Konversation und Interaktion mit Menschen nicht nur zwecks der Zusammenarbeit mitmachte, sondern auch noch explizit herbeizuführen zu wünschen schien, und das war es, was SEELEs Nummer Eins nicht verstand – Es war dennoch klar, dass diese Entität, einst die Quelle der Frucht des Lebens und jetzt noch immer einer ihrer Träger, nichts von alledem wirklich brauchte. Er war bisweilen für Monate allein in diesem Haus, und auch, wenn er angab, dass er Gesellschaft dann doch lieber vorziehen würde, war er unempfindlich gegenüber dem Wahnsinn, der ein tatsächliches, menschliches Einzelwesen in dieser isolation befallen hätte. Und Lorenz und seine Handlänger hatte ihm auch niemals Geld für Verpflegung und dergleichen dagelassen. Manchmal traf er ihn in den selben Kleidern an, in denen er ihn dagelassen hatte, einfach, weil der makellose Körper dieses Wesens nicht mehr zu Prozessen neigte, die letzlich einen Kleiderwechsel nötig machen würde, als eine tatsächliche Statue…

Also warum?

Lorenz selbst, und seine ganze Organisation, sie strebten schon seid den Imperien der Antike danach, das Fleisch mit all seinen Beschränkungen abzustreifen – Er sich hatte sich des Körpers, mit dem er geboren worden war, Stückchen für Stückchen entledigt, hatte alles, was menschlich gewesen war, abschneiden und wegwerfen lassen, in irgendwelchen Nierenschalen angehäuft entsorgen lassen, und es war das nächste, das es zu dem Traum der Vollkommnung gab, bevor der Tag der Prphezeihung gekommen sein würde … und dieses Geschöpf, dieser junge, menschengemachte Gott, der völlig frei und losgelöst war von irdischen Lastern und fleischlischen Genüssen, gab sich ihnen bereitwillig hin, obwohl er die Wahl hatte.

Scheinbar, weil er ernsthaft in irgendeiner Form Freude daraus zu beziehen glaubte!

Lorenz lebte nun schon eine lange, lange Zeit, und in all diesen Jahren war ihm noch nie so etwas Lächerliches unterkommen.

Ob dieses Geschöpf das menschliche Dasein nur deshalb so betörend fand, weil er noch nie in so einem elendigen, unvollkommenden Körper gesteckt hatte, wie der Vorsitzende und der Rest von SEELE? Oder war das nur seine Art, sie in ihrer Unvollkommenheit zu verhöhnen?
 

„Werde ja nicht hochmütig, nur, weil du unsterblich bist, Tabris!“

„Aber Herr Lorenz… Ich würde mir Ihnen gegenüber doch niemals mangelnden Respekt, oder gar Allüren erlauben! Wenn dieser Eindruck erntstanden ist, möchte ich hiermit beteuern, dass ich zutiefst bedauere, und dass es niemals meine Absicht war!“

Und es klang wirklich ehrlich.

Natürlich.

Es stand fest: Lorenz Keel konnte das Wesen, das gemeinhin unter dem Namen „Tabris“ bekannt war, nicht im Entferntesten verstehen.

Aber es war ohnehin nicht an ihm, die Götter zu verstehen, oder gar zu hinterfragen.

Selbst, wenn sie sich aus eigenen Willen dazu herrabließen, unter den Menschen zu weilen, selbst, wenn sie den Tod selbst schmecken lernten waren sie doch noch immer leicht daran zu erkennen, dass sie Dinge taten und tun konnten, zu denen Menschen nie fähig wären.

So diente die Fleischwerdung von Göttern letzlich nur ihrer eigenen Eitelkeit – Die Schöpfer wussten, dass sich Lorenz Keel, wenn er den zu ihrem Olymp gehört hätte, niemals wieder nach der Erde umgedreht hätte, nachdem die Kuppen seiner Zehen sich das letzte Mal von ihrem Grund gelöst hatten.

Es war ohnehin nicht in der Natur von Göttern, verstanden zu werden – Sie existierten fernab von den Menschen, um ihre Gebete zu erhören und ihre Bitten und Ersuche zu erfüllen, und denen gegenüber hatte sich der letzte der Engel bis jetzt sehr aufgeschlossen gezeigt.

Also war alles gut.
 

Und während der alte Fanatiker wieder einmal seiner Wege ging, und wie so oft in einem Helikopter in die Lüfte entschwand, blieb ein einzelnes Kind mit der Haarfarbe eines Greises und der Eleganz und Perfektion eines Halbgottes allein zurück, und seufzte zu sich selbst.

Sein Lächeln verschwand nicht, wirkte aber doch müde, wie die Sorte, die man der Bewältigung eines langen, arbeitsreichen Tages zum Besten geben würde.
 

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Auszug aus dem einleitenden Vorwort der 2014 zum erschienenen Doktorarbeit von Miyazawa Haruhi.

Der folgende Text ist nur für Befugte mit einer aktuellen, von autorisiertem UN-Personal ausgestelltem Ermächtigungschein mit Mindeststufe CCC-41-a.
 

(Die unerlaubte Inbesitznahme, Verbreitung und Vervielfältigung dieser Arbeit ist streng verboten und kann mit Sanktionen bis hin zu Geldstrafen von zehn Milliarden Dollar, lebenslangem Schutzarrest und Exekution geahndet werden.)
 

Es gibt nur eine Möglichkeit, Informationen zuverlässig zu erwerben – Mit einer Hypothese und einem Experiment, um sie auf die Probe zu stellen.

Das ist die wissenschaftliche Methode, der eigenste Schatz der Menschheit und seither ihre stärkste Waffe gegen Krankheit, Angst und Naturkatastrophen.

Das einundzwanzigste Jahrhundert ist eine Zeit, in der wir Wissenschaftler uns nicht mehr so sehr mit der Erlangung von möglichst viel Wissen beschäftigen, sondern mehr damit, die Grenzen dessen auszuloten, was wir überhaupt wissen können, sei es in der Physik, wo wir an die Gegebenheiten der Unschärferelation stoßen, oder in Mathematik und Informatik, wo wir an die Grenzen unserer Fähigkeiten kommen, Dinge zu beweisen oder Verfahren weiter zu perfektionieren. Wir kratzen am Dach der Welt.

Für eine lange Zeit arbeiteten wir Menschen von der Annahme aus, dass wir so vielen nicht wissen, und die großen Fragen der Existenz nicht mehr zu unseren Lebzeiten sehen werden, aber was ich an Stephen Hawkings „großem Entwurf“ interessanter fand als die eigentliche Vermittlung des Wissens war seine glänzende Illustration davon, was die menschliche Wissenschaft, die „Frucht des Wissens“, wie wir in unseren Kreisen wissen, eigentlich ist, und seine Forderung, dass wir uns vielleicht endlich wieder umdrehen und zurückwenden sollten zu den großen Fragen, mit denen wir begonnen haben, und beginnen sollten, die vielen Puzzlesteine, die wir in den letzten 10000 Jahren Zivilisationsgeschichte errungen haben, endlich einzufügen, um unsere Antworten auf eben diese große Fragen der Existenz endlich zu bekommen.

Und in keinem Feld, keiner Disziplin außer vielleicht den Kollegen aus der Physik wie eben Herrn Hawkings ist man der Lösung so vieler dieser grundlegenden Fragen näher als in unserem.

Vor Dr. Ikari Yui’s bahnbrechenden Arbeiten war die „metaphysische Biologie“ lange Zeit nur ein Randgebiet, das nur so gerade überlebend an der Grenze zur Pseudo- und Cargo-Cult-Wissenschaft herumgeblubbert ist.

In dieser Hinsicht sind ihre Arbeiten in der Bedeutung vergleichbar mit der Evolutionstheorie selbst. – Vor Darwin konnte die Biologie nur beschreiben, erst danach war sie in der Lage, ihre Aufzeichnungen und Befunde wirklich zu erklären, ihnen Gründe zuzuweisen. Und die Evolution machte es möglich, zwischen den vielen, immer weiter anschwellenden Teilgebiete der Biologie tatsächlich so etwas wie Querverbindungen herzustellen: Ob Embryologie, Genetik, Systematik, die Erklärung von Stoffwechselvorgängen auf molekularer Ebene, oder ja, die metaphysische Biologie, alles davon hängt über kurz oder lang mit der Evolution zusammen und findet in ihr eine gemeinsame Wurzel.

Einen ähnlichen Sprung an Erkenntnisgewinn und Aussagekraft, ja, überhaupt in der bloßen Fähigkeit, Erkenntnisse zu gewinnen oder Aussagekraft zu besitzen, stellten für das Teilgebiet der metaphysischen Biologie die Arbeiten jener Ikari Yui dar –

Natürlich baute auch sie, wie jeder Wissenschaftler, auf den Werken ihrer Kollegen auf und auf dem Wissen, dass ihre Vordenker bereits für die Menschheit angehäuft hatten, und wenn man sich die tatsächlichen Neugewinne ihre Arbeiten ansieht, macht es den Anschein, als habe sie einfach nur die letzten beiden Punkte verbunden, die das Gesamtbild erkennbar machten, aber das selbe könnte über viele bahnbrechende Arbeiten der jüngeren Geschichte gesagt werden – Einsteins Verdienst bestand zum Beispiel darin, einfache Gesetzte für den Impuls auf vier Dimensionen auszulegen, und erklärte damit den Lichtäther hinweg.

Oft ist es in der Wissenschaft nur eine Frage davon, die richtigen Fragen zu stellen und diese dann nachzuprüfen, oder den Mut zu haben, aus den Ergebnissen, die man erhält, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, den Arm auszustrecken und laut zu verkünden, dass der Kaiser eben keine Kleider anhat.

Dr. Ikaris Arbeiten machten die metaphysische Biologie, bis jetzt nur ein Austauschforum vager Spekulationen und halb-bestätigter Ereignisse, zu einer Wissenschaft mit hochaktuellem praktischem Anwendungspotential – Anwendungspotential, bei dem die Verwendung dieses Wortes fast schon lächerlich klingt, wenn man bedenkt, dass es schon bald unser bloßes Überleben sein würde, dass von unserer Meisterung dieses Wissens und der Erschaffung von EVA abhängen würde – wahrlich, wenn der Mensch die Krone der aus Lillith hervorgegangenen Schöpfung ist, dann ist EVA die Krone der menschlichen Schöpfung, schon dadurch, dass sie uns krönt – Denn so wie es, auch wenn es viele andere Lebensformen gibt, die für ihre eignen Lebensräume viel besser entwickelt sind als wir, und Tiere und Pflanzen, die Dinge können, zu denen wir nicht in der Lage sind, letztlich erst die Menschen waren, die schließlich das wie, weshalb und warum des Lebens enträtselt haben, werden es die EVAs sein, die unseren Sinn und Zweck darstellen, die uns einen Platz in der Ewigkeit sichern

– Fragen von Durchführbarkeit und Pragmatismus zwangen uns, das Licht, das wir gefunden hatten, unter einem hässlichen Lampenschirm zu verbergen und für uns zu behalten; Der größte Teil der Menschheit wird wohl niemals davon erfahren, was diese Männer und Frauen geleistet haben, um uns alle warm und sicher zu halten, und die unglaublichen Wahrheiten, die wir erblickt haben.

Weitere große Namen, an denen kein Weg voranführt, sind neben dem von Dr. Ikari auch Fuyutsuki, Katsuragi, Akagi und Zeppelin-Shikinami. Keine plagiatsfreie Arbeit auf diesem Gebiet, auch diese hier nicht, könnte in irgendeiner Form daran vorbeikommen, ihre Werke zu zitieren.

Mit den Wundern, die die Arbeiten all dieser Menschen für die Relevanz ihres Fachgebiets vollbracht hatten, war es nicht erstaunlich, dass das Labor für künstliche Evolution in Kyoto eine Menge zutun bekam – ganz so, wie es die Herren vom Komitee immer vorhergesehen hatten.

Und wenn viel Arbeit zusammenkommt, wird sie, wie so oft in der Geschichte der Menschheit, geteilt – In Disziplinen, in denen aktuell ein großer Kenntniszuwachs stattfindet, finden sich häufig immer mehr Teilaspekte, was dazu führt, dass sich letztlich die Disziplin selbst in Unterdisziplinen aufteilt, und gerade das war es, was auch schon sehr bald nach dem Second Impact im Labor für künstliche Evolution geschah – Während sich die einen von uns, darunter auch Dr. Ikari, vor allem der Praxis zuwendeten, der tatsächlichen Erschaffung unserer Arche namens EVA, die im Rahmen des Projekts E, und der zu diesem Zweck gegründeten Organisation GEHIRN im schwarzen Mond ausgeführt werden sollte, wendeten wir von Projekt Master und dem DARWIN-Garten uns eher der Grundlagenforschung zu, der genaueren Erforschung der Mechanik von Seelen und AT-Feldern, und den Vorhersagen dazu, was genau diese nächste Stufe der Evolution, die unsere Kollegen herbeizuführen versuchten… Und genauso, wie aus GEHIRN schließlich die zumindest teilweise offene Organisation NERV entstand, wurde aus unserem Zweig des großen Werkes die etwas diskreter operierende Gesellschaft GEIST…

Es ist aber keinesfalls so, dass es, wie bei allen Teildisziplinen des selben Gebiets, keine Überlappungen gäbe – Ein wichtiger Faktor unserer Arbeit waren zum Beispiel auch diejenigen Seelen, welchen schließlich in die Throne der Entryplugs gesetzt werden sollten.

Ja, die auserwählten Kinder, deren Schicksale vorherbestimmt worden waren – Unsere Kinder der Prophezeiung…


 

ZWÖLF JAHRE ZUVOR –
 

Tiefer und tiefer sauste der Aufzug ins Erdreich hinein, größtenteils von Maschen aus Metall begrenzt, wie sie oft vor den Türen und Fenstern geschlossener Juweliergeschäfte heruntergefahren waren.

Auf der Reise nach unten waren zwei Frauen, eine hochgewachsen, ruhig und eine gewisse Eleganz an sich tragend, die durch das lange, schwarze Kleid unter ihrem Laborkittel und ihren unfehlbar geflochtenen, schwarzen Haarkranz nur noch verstärkt wurde.

Ihre Gefährtin hingegen hatte eine gewisse Unbeholfenheit an sich, nicht nur wegen ihrer Jungend oder der dicken Hornbrille über ihren dunklen Augen, oder den einzelnen, blauschwarzen Haarsträhnen, die aus ihrem recht amateurhaften Pferdeschwanz ragten.

„…Dann gehört also auch dieses Projekt „SCHUTZENGEL“ zum Aufgabenbereich von GEIST?“

„Ja, allerdings. Es passt sehr gut mit dem zusammen, was wir hier tun, aber einer der größeren Gründe ist wohl auch, dass die Herren vom Inneren Zirkel uns, die wir direkt unter ihnen arbeiten, gerne mal für Dinge benutzt, von denen sie den Herrschaften von GEHIRN lieber nichts erzählen wollen.“

„Ach so…?“ fragte die jüngere Frau interessiert, sich von dem Anblick jenseits des ihren Aufzug umgebenden Gitters abwendend, der ihre strahlenden Augen bis jetzt eingefangen hatte.

Die ältere Frau – Dire Direktorin – lächelte nur, und sprach mit vielleicht unpassender, ungebrochen ruhiger Heiterkeit weiter.

„SEELE arbeitet schon seit alten Zeiten sehr dezentral – je weniger alle involvierten wissen, umso einfacher lässt sich etwas vertuschen, und umso weniger Schaden entsteht, wenn es Verluste gibt, jemand auffliegt oder aber zum Verräter wird. Auch mir und Kuze-san wurden nur einige wenige der kleinen Puzzlesteine anvertraut – Es heißt schon in den alten Schriften, dass die unmittelbarsten Diener des göttlichen Willens nur das Wissen bekommen, das sie zur Bewältigung ihrer Aufgabe brauchen…. GEHIRN, GEIST, die UN, die IPEA, und selbst SEELEs Kontakte bei den zahlreichen Regierungen und ihrem Militär, all das sind kleine Stücke des großen Werks, die letztlich am Tag der Prophezeiung zusammen kommen sollen… so wie auch wir nur kleine Stücke des Ganzen sind, Splitter der Urseele, des Adam Kadmon, des wirklichen letzten Engels…

Dass die Arbeit von GEHIRN irgendwann man die Öffentlichkeit gelangen wird, wird sich nicht vermeiden lassen, denn die Evangelions, wenn sie denn einmal fertig sind und kämpfend durch die Gegend ziehen, werden sich schwer verbergen lassen. Es ist geplant, dass man, sobald alles bereit ist, ein paar Fäden bei der UN ziehen wird, um eine Art paramilitärische Organisation inklusive PR zusammenzuzimmern, von der dann wohl nur ein paar sehr wenige Individuen überhaupt über das Vollendungsprojekt Bescheid wissen werden…

Es gibt aber auch einige Dinge, die unsere Vorgesetzten überhaupt niemandem verraten wollten, für die es aber auch viel weniger Personal braucht, dem mann dann auch die Existenz von SEELE selbst anvertrauen kann – Dieses Labor ist exklusiv GEIST vorbehalten, aber ein großer Teil unserer Arbeit erfolgt auch explizit in den selben Einrichtungen, die auch GEHIRN benutzt oder benutzen wird, nur eben im Hintergrund, ungesehen von ihren Augen…“

„Dann ist das GEHIRN zwar die physische, die Welt beeinflussende Manifestation der verborgen bleibenden SEELE, aber der GEIST ist etwas subtileres, flüchtiges, das darin umher…geistert. Okay, das… klang in meinem Kopf wesentlich besser…“ gab sich die jüngere Frau, die von einem Namensschildchen an ihrem rosa T-shirt als „Miyazawa H.“ ausgewiesen wurde, schließlich geschlagen, sich verlegen lächelnd am Hinterkopf kratzend und ihren blauschwarzen Rosschwanz so trotz der besten Anstrengungen ihres limonengrünen Zopfbandes weiter vernichtend. „Es war ein, uh, ereignisreicher Tag heute, Frau Direktorin…“

Ihre ältere Gefährtin konnte das nur amüsiert belächeln, aber amüsiert auf eine gutmütige Weise, wie eine Mutter, deren Nachwuchs lispelnd seine herzallerliebste Kleinkinder-Logik demonstriert hatte, vielleicht mit einer Behauptung wie dass sie im inneren ihres juckenden Knies eine Biene haben mussten, die sie von innen immer wieder piekten, oder aber dass in ihrem Bauch ein Roboter wohnte, der Kekse zu Exkrementen verarbeitete.

„Schon in Ordnung, Miyazawa-kun.“ Beruhigte sie ihre Begleiterin. „Du schlägst dich eigentlich recht gut – Ich habe dir so viel erzählt, und du hörst immer noch begeistert zu und stellst Fragen – Die Meisten sind meist schon nach der Second-Impact-Erklärung zu überwältigt, um noch neues Wissen aufzunehmen… Ich bin froh, dass du mein Angebot angenommen hast.“

„Aber wie hätte ich denn nein sagen können, wenn sie mich mit der Frage geködert haben, ob ich nicht die nächste Stufe der menschlichen Evolution sehen möchte, Frau Direktorin…“

Zugegeben, das war nicht der einzige Grund gewesen – Es war auch, weil es gerade sie gewesen war, die gefragt hatte – Eine ködernde Phrase wäre nicht nötig gewesen.

Miyazawas erste Begegnung mit der Frau, die sie nun zu ihrer Assistentin gemacht hatte, war geschehen, als sie noch eine Studentin gewesen war, nicht untalentiert, aber sehr desorganisiert und daher etwas planlos mit der Ablieferung der Übungsblätter – aber diese geduldige Frau mit dem Haarkranz hatte sie sich persönlich herausgepickt und ihr gesagt, dass sie es sehr schade finden würde, wenn Miyazawa die Zulassung zur nächsten Klausur nicht bekommen hätte – ein simple Geste von Wertschätzung, wie sie Miyazawa als eines von fünf Kindern mit einer sehr beschäftigten Mutter und einem häufig abwesenden, unemotionalen Vater selten bekommen hatte. Seit dem hatte diese Frau den Respekt dieser jungen Studentin gewonnen und sie hatte sich in der zweiten Hälfte des Semesters noch einmal richtig ins Zeug gelegt, und sei es nur, um diese Person nicht zu enttäuschen – und kaum, das Miyazawa ihr Diplom eingesackt hatte, kam ihre Dozentin auch und rekrutierte sie gleich für ihre Geheimorganisation, ihr weiteres, großes Vertrauen entgegenbringend, dass sie gewiss nicht zu enttäuschen vorhatte – Sie wollte sich einmal in ihrem Leben nützlich machen, egal wie.

Schließlich basierte diese Wertschätzung auch auf Gegenseitigkeit.

Die junge Frau bewunderte die Selbstsicherheit und unerschütterliche Ruhe ihrer Mentorin, und es gab nichts, dass sie sich sehnlicher wünschte, als irgendwann einmal so zu sein wie sie…
 

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Auszug aus dem 44. Quartals-Abschlussbericht betreffend Projekt SCHUTZENGEL, Abschnitt B, Subsektion betreffend Subjekt 23, Codename „Tabris“ – Verfasst vom stellvertretenden Direktor Kuze Tetsuo.

„Zugegeben, bei diesem Projekt ist von Anfang an nur wenig so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt hatten – Schon vor dem Second Impact konzipierten wir den Aufbewahrungstank, in dem wir das Subjekt nach dessen Erschaffung und Bergung einsperren würden. Einen wichtigen Beitrag leistete hier, ein erwähnenswerter Techniker namens Mitsurugi Minoru, der Jahre später eine verbesserte, auf den neusten Stand der Technik gehobene Version des Systems auch in Bethany Base zum Einsatz brachte.

Wir hatten an alles gedacht, eine Lage tief im Erdreich im Herzen unseres Komplexes, die jede hier verbaute Unze Stahlbeton zu einer Barriere zwischen diesem Wesen und dem Ausgang machen würde, Beständigkeit gegen Hitze, Druck und immense Kraftausübung, die Dimensionen eines Wolkenkratzers, ein hohler Kern der sich durch unseren ganzen Komplex zog wie eine Zellsaftvakuole durch eine Pflanzenzelle, tausende von Kabeln und Schläuchen, Sperrbolzen gehalten von Magneten, wie sie sonst nur bei Teilchenbeschleunigern zum Einsatz kamen – wahrlich, ein Teilchenbeschleuniger, voll mit der instabilsten Urmaterie des Universums und den Mitteln, um diese zu lenken und zu detektieren wäre dazu nicht besser ausgestattet gewesen als dieser Tank.

Wir hatten alle möglichen Formen und Gestalten bedacht, die dieses Wesen, nachdem wir seinen embryonalen Kokon per Presslufthammer aus dem Bakelit gebrochen hatten, in dem man es zwecks Bergung und Transport gepackt hatte, hätte annehmen können – Das die Engel in ihren frühen Stadien menschlichen Embryonen ähnlich sahen, hatten wir alle rein zerebral als eine wissenschaftliche Kuriosität betrachtet, wie Miyazawa sagen würde, auch, wenn ich diese Art von Sprache nicht gerne benutze, einen „Funfact“.

Wir hatten die Implikationen nur auf rein rationaler Ebene realisiert.

Doch je länger wir das Subjekt beobachteten, zunächst von weit weg, mit Tonnen von Metall und Panzerglas zwischen uns auf irgendwelchen Bildschirmen, wie es da irgendwo in den weiten dieses Tankes vor sich hin schwappte, umso mehr wurde uns klar, dass zumindest dieser eine Engel seine menschenähnliche Form niemals abgelegt hatte und auch weiterhin nicht abwerfen würde…

Es hatte die eine Gestalt angenommen, mit der wir wohl als letztes gerechnet hatten – unsere eigene.

Vielleicht lag es an der menschlichen DNA, die die Kollegen von der Katsuragi-Expedition für das Kontaktexperiment verwendet hatten, welches schließlich den Second Impact und somit die Erschaffung des Subjekts zur Folge hatten, eines direkten Sprosses von Adam…

Vielleicht war es auch ein billiger Trick, um sich in unsere Mitte einzuschleichen und uns zu unserer Vernichtung zu führen, ein Feind, der wie wir aussieht, sich zu uns einschleicht und dann erst bei Gelegenheit seine Krallen ausfährt.

Vielleicht lag es auch an uns, und irgendwas, was wir bei der Bergung, Lagerung und Aufbereitung des Subjektes getan haben, hat den natürlichen Entwicklungsprozess gestört, und was wir erhielten, war ein verkümmertes Rudiment, eine vom Frost in der Zeit aufgehaltene Knospe, die niemals ihre natürliche Metamorphose antreten konnte – schließlich hätte dieser Botschafter hier als der letzte von allen erwachen sollen, und wir hatten ihn als ersten erweckt, lange vor der versprochenen Zeit.

Oder vielleicht war das sogar seine natürliche Gestalt – Es war zu erwarten, dass uns die Engel in ihrer DNA sehr ähnlich sein würden, und dass sie uns auch fortwährend ähnlicher werden, ist mit den Rollen vereinbar – Es heißt ja, dass das Yin und das Yang, die zumeist als unvereinbare Gegensätze existieren, sich kurz vor der Rückkehr in ihren ungeteilten Urzustand wie Gesichter im Spiegel angleichen sollen – Und was wir im Falle von Code Tabris sehen, ist die Spitze jener Entwicklung.

Ich persönlich hielt es für das Anliegen der höchsten Priorität dass wir, da es schon in wenigen Jahren für die Menschheit als Ganzes lebensnotwendig sein würde, effektive Anti-Engel-Waffen zu besitzen, unverzüglich begannen, unsere Waffen und Gegenmaßnahmen an dem einzigen kompatiblen Testsubjekt zu erproben, dass wir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung hatten, aber die extensiven Analysen, die ich mir gewünscht hätte, bekam ich erst, als im Eis des Nordpolarmeers der dritte Engel geborgen und um sein Grab herum Bethany Base errichtet worden war.

Da das Szenario für Code Tabris eine ganz spezielle Aufgabe vorsah, wurden wir angehalten zu priorisieren, dass sich das Subjekt intakt entwickelt, bevor wir auch nur daran dachten, ihm das Fleisch von den Knochen zu ziehen – und auch die Direktorin stimmte zu, ja, es machte gar nicht den Anschein, als ob sie oder das Komitee ihre Pläne wegen der… Beschaffenheit des Subjekt besonders viel hätten überarbeiten müssen.

Doch es ist nicht an mir mutzumaßen, was der große Plan über die Zukunft offenbart hatten – Es heißt ja, das Werk der Schöpfer würde sich auf unergründlichen Pfaden entfalten…

Doch dass sich die Form von Code Tabris immer mehr der eines gewöhnlichen, menschlichen Fötus angleichte, brachte uns noch ein ganz anderes Problem ein, eines, das auf der langen Liste dessen, was wir erwartet hatten, ebenfalls ziemlich weit unten war.

Einfach gesagt, war ein menschlicher, oder zumindest menschenähnlicher Fötus war in der Regel wesentlich weniger autonom als der isolierte Kokon eines gewöhnlichen Engels, und der vorherige Satz eine große Untertreibung.

Es wurde später zum Standardverfahren, alles, was biologisch unfertig war und irgendeiner Art von Inkubation bedurfte, in LCL heran zu züchten, aber das war so kurz nach dem Second Impact nicht in einem ausreichenden Reinheitsgrad verfügbar, zumal wir den zweiten Engel noch nicht geborgen hatten und es noch eine Weile dauern würde, bis die dafür nötige Infrastruktur so weit wieder aufgebaut war.

Doch die Alternative, die so nur aufgrund von sehr besonderen Gesamtumständen verfügbar war, klingt vermutlich ziemlich radikal: Eine menschliche Leihmutter.

Und diejenige, die sich bereiterklärte, jene unheilige Leibesfrucht auszutragen, war keine andere als die Person, von der dieser Einfall überhaupt gekommen war: Unsere Frau Direktorin, Ayanami Kagura.
 

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Ja, dieser Name war keinesfalls ein Zufall, aber nicht so, wie man zunächst meinen würde.

Es gab einen Kausalzusammenhang, sicher doch, aber die Verbindung war einer recht indirekten Natur.
 

Es ließ sich wohl am leichtesten so erklären: Irgendwo flatterte ein Foto herum, auf dem sie alle zu sehen waren, die vielen Darsteller in dieser großen Tragödie des Schicksals.

Es war nicht mal eine Zusammenkunft für Leute des Projekts gewesen, zumal einige der Menschen auf diesem Photo noch nicht in die höheren Geheimnisse eingeweiht gewesen waren; Einige von ihnen hatten diese auch niemals erfahren, manche waren noch nicht mal rekrutiert gewesen.

Aber es schien, als ob das Schicksal der Möglichkeit sie alle zumindest einmal zusammenzuführen, nicht widerstehen können.

Das Bild entstand 1999 auf einem Konvent für metaphysische Biologie.

Das so ziemlich alle der großen Geister, die hier anzutreffen waren, früher oder später in der einen oder anderen Form auf SEELEs Gehaltsliste gelandet war mehr als auf irgendwas anderes darauf zurückzuführen, dass die Organisation sehr effektiv darin war, sich solches Talent für sich zu sichern.

Ganz links im Bild waren Dr. Katsuragi Byakuya und sein damals junger, blondschopfiger Protegee und Assistent Edmond Vincennes, die mit ihrer Supersoleniod-Theorie ganz neue Methoden der biotechnologischen Energiegewinnung auszuleuchten vermochten, und eins weiter, Akagi Naoko, Pionierin vieler Diszuplinen, wohl am allermeisten wegen ihrer Leistungen auf dem Gebiet der biologischen Supercomputer bekannt, behängt mit Perlenketten und mit einer Torte von Schminke bedeckt, um ihr Alter davonzuscheuchen.

Der rechte Rand hingegen zeigte, wenig beeindruckt und mit verschränkten Armen, Dr. Kyoko Langley, mit einem kurzen, utilitären Haarschnitt und den eisigen blauen Augen einer einsamen Wölfin, die keiner ihrer Kollegen, sprich: Konkurrenten auch nur einen Zentimeter bei der nächsten Entdeckung schenken würde.

Es war ein offenes Geheimnis, das sie Ikari Yui als ihre übelste Erzrivalin betrachtete, und Tag, Nacht und Dämmerung in ihren Laboren schuftete, um sie in irgendeiner Form auszustechen – Und freilich leistete sie letztlich einen großen Beitrag zum Fortgang des Projektes, zumal es die Daten ihres Experimentes waren, die es letztlich erlaubten, die korrekten Bedingungen für das erfolgreiche Steuern eines Evangelions herauszuarbeiten – Doch sie kam nicht mehr dazu, diese Daten selbst auszuwerten, denn für diese Informationen, für diesen größten ihrer Erfolge, hatte die Frau nur wenige Jahre, nach dem dieses Bild geschossen worden war, den ultimativen Preis zahlen müssen…

Doch das Zentrum des Bildes war ausgefüllt von der wahren Eliteschmiede ihres Faches – Die Arbeitsgruppe um Dr. Ikari Yui, allen voran die Dame selbst, das unbestrittene Zentrum des Bildes, hochgewachsen, mit einer noblen Blässe, unergründlichen Smaragdaugen und einem Lächeln von unerschütterbarer Gelassenheit, und sie begleitend wie ihre Schatten, zwei Männer: Da war erst mal ihr Mentor, und der eigentliche Leiter und Gründer dieses Produktivitäts-Ofens von einer Arbeitsgruppe, Professor Fuyutsuki Kozo, damals noch unwissend über die Verschwörung, in der sich so viele ihrer Kollegen bereits verfangen hatten, zu ihrer rechten, und zu ihrer linken, ihr damaliger Verlobter, Rokubungi Gendo.

Sah man Yui als ein geborenes Genie aus guten Hause und von guten Manieren an, von schon ihres Stammbaums wegen erwartet wurde, dass sie zum Erfolg bestimmt war, dann war er wohl das, was man ein verrücktes Genie nannte, unpoliert, schäbig und grob fahrlässig im Umgang mit Menschen, aber zu genial, als das man einfach ignorieren könnte, was da aus seiner großen Klappe herruswaberte und musste sich seine dunkle, kantige Visage antun, ebenso wie diese klaren, tiefblauen Augen, die in den Rest seines Aussehens gar nicht wirklich dazu passten; In Kontrast zu seiner relativ dunklen Haut wirkten sie fast schon etwas unnatürlich.

Dieser Mann war schon ein Phänomen für sich.

Rokubungi Gendo.

Rokubungi Gendo, der Ketzer, Rokubungi Gendo der Heretiker, der Judas, der unferfrohrene Blick in die Sonne. Der Rabenkönig der Wüstenländer, der Feind der Welt. Das Phänomen.

Allein der Klang davon: Rokubungi Gendo. Ro-ku-bun-gi Gendo

Gendo, zunächst ein erstaunlich harter, dunkler Klang dafür, dass er eigentlich aus relativ weichen Konsonanten bestand, trocken und finster, und dann ein bewusstes Verweilen auf der zweiten Silbe –

Wäre es Musik, wären die eheste Entsprechung wohl die dunklen Orgeltöne eines Kirchenlieds.

Seine Verlobte bevorzugte die Art, wie Dr. Makinami es aussprach, weil sie diese Art hatte, Worte auf ihrer Zunge zu rollen wie Lutschdragees, und ihre kleine Tochter plapperte es ihr mit furchtlosem Eifer nach: „Gendo-kun.“

(Natürlich hätte Makinami ihrem Töchterchen Manieren beibringen können, aber dafür hätte sie erst mal selbst welche haben müssen. Man hätte meinen können, das ein kleines Mädchen mit Genen, die sowohl aus Japan wie auch aus dem Heimatland der feinen, englischen Art stammten, zuerst einmal gute Manieren haben würde, aber Klein-Mari machte ihrem Erbe in dieser Hinsicht keine Ehre.)

Er selbst hörte es am liebsten mit einem ungläubigen, geschockten Unterton, am liebsten als Ganzes und in Version 2.0: Ikari Gendo. Ikari Gendo. Ihres, zu ihr dazugehörig.

Wenn es nur irgend möglich war, eine Aktivität so auszuführen, das er nebenbei auch noch seine Verlobte anfassen könnte, was es zu erwarten, dass er von dieser Möglichkeit gebraucht machen würde, und sich fotographieren zu lassen war eine solche Aktivität, woraus zwingend folgte, das er seinen Arm demonstrativ um sie geschlungen hatte und das schamlose Grinsen auf seinen Lippen schien sagen zu wollen, „Fickt euch, Fickt each doch alle, Ich bin der glücklichste Mann der Welt – Ich habe sie zuerst gesehen, also fickt euch doch alle ins Knie!“

Aber es waren auch ein paar weniger berühmte Mitglieder der Arbeitsgruppe dabei, zwei weitere Wissenschaftlerinnen, die zunächst mit Dr. Ikari zusammen studiert hatten, und dann später ähnliche Forschungen verfolgt hatten – Da war erst mal eine der beiden Frauen, deren Frisur hauptsächlich aus einem mit einer großen, roten Spange zusammengehaltenem Rossschwanz bestand, und einer klatschrot umrahmten Plastikbrille, die ganz klar auch den Geschmack ihrer Tochter beeinflusst haben musste – ober aber diese Frau hatte einfach eine Hand in der Auswahl des Schieleisens gehabt, die ihre Tochter dann um ihre Erinnerung zu wahren bei der Wahl späterer Sehhilfen beibehalten hatte – Die Familienähnlichkeit war jedenfalls auch an der etwas unpassend wirkenden Art zu sehen, mit der diese Frau – Dr. Makinami Murasaki – enthusiastisch in die Kamera winkte, in einer hauptsächlich gelben, aber rosa-karierten Bluse .

Und neben ihr, bedeutend gefasster, mit einem scheinbar aufwändig geflochtenen Kranz aus dunklem Haar und einem weinroten Kleid unter ihrem Laborkittel, das zweite weitere Mitglied ihrer Arbeitsgruppe: Ayanami Kagura, zusammen mit ihrer vormals erwähnten Kollegin das glückliche Päärchen umrahmend.
 

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Die Hausklingel machte sich mit einem mechanischen „Dingdong“ bemerkbar, die Tür wurde kurz darauf geöffnet, und dann – Entzücken.

Hinter der Tür kam eine Frau zum Vorschein, mit kurzen, braunen Haaren,smaragsgrünen Augen und einem Lächeln, das ehrlichgemeinte positive Überraschung ausdrücken sollte, auch, wenn es nicht so überschwänglich war, dass es ihre unerschütterliche Aura der Ruhe zerstört hätte.

Sie trug einen recht plüschigen rosa Pullover und einen längeren, hellbraunen Rock, vermutlich ein besonders geschneidertes Teil, gemacht um große, runde Bäuche wie den ihren zu enthalten. Es gab Menschen, die bekamen von Schwangerschaften hässliche Streifen, merkliche Fettpolster und einen generellen Verlust von Form, schlechte Zähne, miese Laune und ein insgesamt etwas „ausgesaugtes“ Erscheinungsbild, doch diese Frau gehörte zu den glücklichen, die in dieser Situation richtig aufgingen, und noch schöner geworden sein schien, als habe sie nun endlich die vollständige Form angenommen, die schon immer für sie gedacht gewesen war, wie eine Libelle, die nach unzähligen Häutungen endlich ihre Flügel entfaltete.

Ikari Yui hatte schon immer eine unerschütterliche Aura der Weisheit projiziert, schon seit sie ein Kind gewesen war, aber jetzt, wo sie die Geheimnisse des Lebens, die sie bis jetzt nur mit ihrem Verstand ergründet auch mit Körper und Seele gespürt hatte, hatte sich diese Ausstrahlung noch einmal vervielfacht.

Sie war alles andere als klein und zeigte einen gleichmäßigen, dennoch filigranen Wuchs der nur ein weiteres Indiz war, dass sie in ihrem Leben immer nur das Beste gehabt hatte, aber die Besucherin, die sie vor der Tür erwartete, überragte sie sogar noch um ein kleines Stück, auch, wenn ihre Größe ohne die Kranzfrisur nicht mehr so wirklich „unterstrichen“ wirkte, wie mit ihr – jetzt, wo sie ihr schwarzes Haar zu einem einfachen, seitlichen Zopf geflochten hatte, wirkte sie insgesamt etwas weniger unnahbar und professionell, und das relativ weite, kurzärmelige gelbe Kleid, das sie anhatte, half dabei.

Manch einer hätte vielleicht nicht erwartet, dass ihr Haar im nicht-hochgesteckten Zustand so auffällig lang sein würde – Das Ende ihres Zopfes endete kurz über ihren Pobacken und selbst jetzt war es ja noch geflochten.

Verglichen mit ihrem Gegenüber wirkte Dr. Ayanami jedoch trotz Frisur und Outfit ziemlich schlicht – nicht, das sie unattraktiv gewesen wäre, aber ihr Aussehen war jetzt auch nicht wirklich so herausragend, dass der erste Gedanke, den jemand über die hatte, jemals an ihr Gesicht gerichtet sein würde. Sie war so etwa im oberen Drittel von durchsnittlich, und in der Gegenwart von Dr. Ikari schlichtweg überschattet, könnte man sagen.

Es war wohl Dr. Ayanamis wenig zu Neid neigende Disposition, der es zu verdanken war, dass sich die beiden Frauen nun überglücklich mit einer freundschaftlichen Umarmung grüßen konnten.

„Kagura-chan!“

„Yui-chan!“

Und gleich noch eine. Bei deinen lag offenbar beste Laune vor, und sie gingen auch sehr vertraut miteinander um.

„Mensch, Kagura-chan!“ begann die jüngere der Frauen als erste. „Endlich bekomme ich dich mal wieder zu Gesicht! Die letzten Monate hab ich von dir ja kaum noch Emails gekriegt, von etwas anderem ganz zu schweigen…“

„Tja, die Schinderei ruft.“ Begann Ayanami scherzend ihre Erklärung. „Bei uns in Komplex fünf gab es eine Menge zu tun, großer Fisch, großes Projekt!“

„Großer Fisch, hm?“ fragte die Frau mit den kurzen Haaren interessiert.

„Das ist natürlich alles klassifizierte Information. Versuch es gar nicht erst.“ Sie sagte es mit einem Lächeln, aber sie sagte es doch. Die Frau in rosa konnte nicht anders als ein winziges Häubchen von Melancholie auf ihre Heiterkeit drücken zu lassen, nur mit dem gewicht der entsprechenden Menge lockerer Sahne, aber doch merklich. „Das ist wirklich eine Schande. Eigentlich habe ich dich und Murasaki-chan ja in dieses Projekt geholt, um zwischen mir und meinen besten Freundinnen keine Geheimnisse haben zu müssen…“

„Mit dir ist es nicht möglich, keine Geheimnisse zu haben, Yui. Du wirst mir wohl vergeben, dass ich auch meine eigenen haben möchte.“

„Oh, ich vergebe dir, aber das heißt nicht, dass ich nicht weiter meine Ziele verfolgen werde… Einen Versuch ist es Wert, wie Murasaki-chan das wohl sagen würde.“

Ayanami schüttelte den Kopf, aber sie tat es mit einem Lächeln.

„Yui, Yui… Du bist wirklich unverbesserlich…. Aber jetzt wo wir schon mal dabei sind, wie geht es Murasaki-chan? Sie hatte ihren errechneten Geburtstermin doch Anfang April, nicht?“

„Sie hat ihr Kind am 31. März bekommen. Das war eine recht turbulente Angelegenheit, sie hat ihre ersten Wehen noch auf meiner Geburtstagsparty bekommen…“

„Und?“

„Ein gesundes Mädchen. Mari Illustrious. Makinami Mari Illustrious. Wenn du willst zeige ich dir später ein paar Fotos. Du wirst nicht glauben, wie knuffig die Kleine ist… Ich war aller Freundschaft zum Trotz ehrlich versucht, sie gleich selbst mitnahhause zu nehmen…“

„Nur Geduld, Yui-chan. Nur noch ein paar Monate warten, dann hast du endlich dein ganz eigenes Baby.

Aber Illustrious? Na ja, es ist offensichtlich, dass Murasaki-chan das sowieso ganz allein entschieden hat. Das ist wiederum typisch für sie…“

„Allerdings. Aber komm doch endlich rein, kein Grund für dich, dir hier die Beine in den Bauch zu stehen…“

„Oh, danke…“
 

Und sie gingen hinein. Das Haus, in dem Dr. Ikari sich recht bald nach ihrer Hochzeit ihr kleines Nest eingerichtet hatte, war gut ausgestattet und voll mit allem PiPaPo – Es war offensichtlich, dass die bleibe den beiden mehrere Millionen gekostet haben musste, schon allein wegen dem großen Grundstück, von dem Ayanami auf dem Weg zur Haustür einiges hatte durchqueren müssen – Es war ein ganzer, dichter Wald dazugehörig, und auch ein schön bepflanzter Teich; Dennoch war noch Platz für ein Gewächshaus und, was noch nicht dagestanden hatte, als Dr. Ayanami ihre Freundin das letzte mal besucht hatte, fast ein ganzer Spielplatz in allen Bunten Farben, mit Wippe, Rutsche, Klettergerüst, Drehscheiben und allem, was ein Kinderherz sonst noch begehren könnte, inklusive einem Deluxe-Sandkasten mit Sonnendach.

Als ihre langjährige Freundin wusste Dr. Ayanami, dass die Besitzerin dieses Hauses sich praktisch schon Kinder gewünscht hatte, seit sie selbst ein Kind gewesen war, und schon seit Ewigkeiten ihre kleinen Vorstellungen und Pläne für diesen Augenblick vorbereitete – und einer der Vorteile, die man davon hatte, eine geniale Biologin zu sein, die für eine uralte Verschwörung arbeitete, war jede Menge Zaster, um all diese Träume in die Tat umzusetzen.

Ayanami konnte sich praktisch vorstellen, wie ihre Freundin die Grundstücke, die ihre Makler ihnen gezeigt hatte, allein unter dem Gesichtspunkt unter die Lupe genommen hatte, wie viel Spielmöglichkeiten sie wohl einem kleinen Kind bieten würden – Deshalb auch die hohen Backsteinmauern, die den kleinen Racker wohl beizeiten daran hindern sollten, ungeplant auszubüxen.

Dieses kleine Wesen, das im Moment vermutlich entweder schlief, an seinen halbfertigen Daumen nuckelte oder mit seiner Nabelschnur spielte, würde vermutlich jeden Tag mit seinem Gewicht in Liebe überschüttet werden…

Trotz seiner Ausmaße lag das Grundstück selbst am Rande des wohl pikfeinsten Viertel dessen, was einst Hakone geheißen hatte, nun aber der Grundstein für die neue Festungsstadt des Projektes werden sollte, in einer Zeit, wo, etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem Second Impact nur die allerwenigsten Menschen noch ein Dach über dem Kopf hatten.

Yui hatte neben der Türklingel neben dem Gartentor ein urniedliches kleines Schild angebracht, natürlich, des Witzes wegen, in Form eines Ankers – „Hier leben Yui, Gendo und-“ wobei sie den letzten Namen wohl dazugravieren würden, sobald sie sich einen Namen für das Kind überlegt hatten oder das Geschlecht festgestellt war oder so was.

Die Ikaris hatten sich mit dieser Hütte kurz gesagt wirklich etwas gegönnt – Ayanami war nicht der Typ, der glotzen würde, aber sie konnte doch nicht anders, als das alles deutlich zur Kenntnis zu nehmen, während ihre Freundin sie durch den Flur führte.

Auch, wenn die gelegentlich neben den Wänden stehenden Farbtöpfe, und Stapel von noch unbenutzter Abdeckplane etwas aus dem Bild fielen…

„Gendo streicht derzeit das Kinderzimmer.“ Erklärte Dr. Ikari, die schweifenden Blicke ihrer Freundin bemerkend.

„Ach so?“

„Ja, allerdings. Unser kleiner Shin-chan soll ja erst Anfang Juni kommen, aber wenn du dir Gendo ansiehst, könntest du meinen, das der kleine gleich Abitur macht…“

„Dann wisst ihr schon, dass es ein Junge wird?“

„Das letzte Ultraschallbild war etwas… verwackelt. Und vorher haben wir ihn wohl immer in unpraktischen Momenten erwischt. Oder er ist einfach nur schüchtern. Ich war mir von Anfang an sicher, dass es definitiv ein Junge wird… nenn es eine Art Vorahnung. Aber bei der letzten Untersuchung meinte der Arzt, dass er das noch nicht erkennen könne…“

„Und lass mich raten, dein Ehemann ist ganz wild auf ein Mädchen…“

„Wir haben das Zimmer kompromissweise in Gelb gestrichen.“

„Hach!“ meinte Dr. Ayanami mit einem leicht erschöpften Seufzen „Ich war wirklich sehr lang, sehr viel beschäftigt… in diesem Untergrundkomplex vergisst man bisweilen richtig die Zeit, so ganz ohne Sonnenlicht… Was ist noch passiert? Wie geht es den ganzen anderen? Fuyutsuki-sensei? Dr. Akagi?“

„Fuyutsuki-sensei geht es gut, aber Dr. Akagi spürt wohl langsam ihre Midlifecrisis…“

„Midlifecrisis?“

Dr. Ikari wendete sich in einem spielerisch-leisen, schelmischen Tonfall zu ihrer Freundin um.

„Jedes Mal, wenn Gendo sich vorbeugt, um auf irgendeiner Konsole Tasten zu drücken, starrt sie ganz unvermittelt auf seinen zwanzig Jahre jüngeren Hintern.“

„Wirklich?“ Ayanami verzog das Gesicht. „Immerhin brauchst du dir bei so einer „Rivalin“ absolut keine Sorgen zu machen…“
 

Nach einer kurzen Weile erreichten die beiden endlich die Tür zur Küche, die offen und recht modern eingerichtet war – Im selben Raum stand ein langer Esstisch im modernen Stil, an der Herr des Hauses bis jetzt dabei gewesen war, seinen Kaffee zu trinken.

Er blickte, sobald er ihre Schritte im Flur vernahm, von der Fachzeitschrift hoch, die er bis jetzt gelesen hatte, und grinste die beiden Frauen schamlos an.

„Ayanami.“ Sagte er knapp, mit einer gewissen, unterschwellig angriffslustigen Qualität. „Du lebst ja noch.“

„Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Gab Dr. Ayanami direkt zurück, während sie gegenüber des einzigen Mannes in der Versammlung Platz nahm. „Ist bei dir alles Paletti, Ikari? Yui-chan hat mir erzählt, dass ihr beide vorwiegend mit „Nestbau“ beschäftigt wart…“

„Es muss ja auch alles fertig sein, wenn unsere kleine Rei-chan endlich auf der Welt ist…“

Yap, da waren sich die beiden definitiv uneinig.

Aber das war es nicht, was Ayanami direkt noch mal gespielt-beleidigt nachfragen ließ: „Was, Rei? Aber Yui… jetzt fühle ich mich aber wirklich vergessen. Solange war ich auch wieder nicht weg! Ich bin wirklich enttäuscht.“

„Es tut mir Leid, Kagura-chan. Es ist nicht so, als ob ich es vergessen hätte…“

„Würde es euch etwas ausmachen, mich auch einzuweihen?“ verlangte der Herr des Hauses leicht amüsiert zu wissen, nebenbei an seiner Kaffeetasse nippend.

Yui, die sich in der Zwischenzeit an der Kaffeemaschine beschäftigt hatte, um sich selbst und ihre Freundin ebenfalls mit Heißgetränken – durch ihre Schwangerschaft bedingt natürlich von der entkoffeinierten Sorte – zu versorgen, beantwortete sie Frage noch während sie diese servierte: „Kagura und ich haben uns als kleine Mädchen eigentlich mal versprochen, dass wir unsere ersten Kinder nacheinander benennen werden. Aber das würde so oder so nichts werden, da ich mir ziemlich sicher bin, dass es ein Junge wird.“

„Es könnte immer noch ein Mädchen werden…“ warf ihr Ehemann dazu ein, wozu Dr. Ayanami direkt ihre Zustimmung verkündet. „Genau!“

Sie stellte ihre eigene Tasse an den Platz neben dem ihres Ehemanns. „Ich weiß ja, aber nachdem ich es war, die Gendo überhaupt dazu überredet hat, eine Familie zu gründen, wollte ich ihn wenigstens den Namen aussuchen lassen – Er hat selbst darum gebeten, ihn aussuchen zu können, und jetzt wo ich ihn schon mal endlich mit meinem Enthusiasmus angesteckt hatte, wollte ihm zeigen, dass ich das auch zu schätzen weiß…“

„Aber, aber… willst du damit etwa sagen, dass ich nicht immer enthusiastisch bin, wenn es darum geht, dir zu geben, was du willst?“ beklagte sich Dr. Ikaris Ehemann, seine Gattin bevor sie sich setzten konnte, abfangend, in dem er sich zurücklehnte, mit einem Arm nach hinten griff, und damit demonstrativ ihre Wange streichelte.

Die brünette Frau selbst antwortete zunächst damit, das sie ihre eigenen Arme an seinem vorbei über seine Schultern hinweg führte, und sich vorbeugte, sodass ihr Oberkörper seine Stuhllehne nach oben hin fortsetzten, ihre Arme sich über seiner Brust kreuzten und ihre Oberarme sein Gesicht einrahmten.

„Aber natürlich nicht…“
 

„Wirklich, ihr beiden!“ kommentierte Ayanami nur. „Versteht mich nicht falsch, aber ihr hättet euch nie miteinander fortpflanzen sollen… Ihr seid ein paar meiner besten Freunde, aber ihr seid gruselige Leute. Ich wage mir gar nicht auszumalen, was wohl dabei herauskommt, wenn man eure Gene zusammenschmeißt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Welt das überleben wird…“

Dr. Ikari lachte, nebenbei das Gesicht ihres Mannes streichelnd, nachdem sie dazu eine ihrer Hände von seinem Oberteil gelöst hatte.

Es war wirklich offensichtlich, dass die beiden sich keine Gelegenheit nehmen ließen, aneinander zu kleben.

„Also ich sehe da kein Problem, Kagura-chan. Wenn er Gendos gutes Aussehen erbt, und mir in dem Sinne nachkommt, das er musikalisch ist, dürfte das auch mit den Enkelkindern schnell klappen…“

„Hast du auch schonmal darüber nachgedacht, dass euer Kind dein Aussehen und seine Talente abkriegen könnte? Oder deine Talente und seine Persönlichkeit.“

„Schon gut, schon gut…“ meinte der Mann in Rot, dessen Grinsen nun einen sardonischen Touch annahm. „Ich hoffe ja selbst, das unsere Tochter, “ Und dabei blieb er. „…nicht all zu viel von meinen Genen abkriegt. Das Beste wäre, wenn sie exakt wie du aussehen würde, Yui. Einfach wunderschön.“

„…und dafür würde sie dann all deine kleinen Marotten haben, und wäre auch in allem anderen genau wie du – Hingebungsvoll, loyal, zielstrebig und rein…“

Es gab viele Worte, mit denen Ayanami Ikari Gendo beschrieben hätte, und „rein“ gehörte schon mal nicht dazu.

„Aber ich bin mir sicher, dass es sowieso ein Junge wird…“

„Nein, ein Mädchen. Ich bin mir sicher. Nenn es eine Art Väterlichen Instinkt.“

Dr. Ikari und ihre Freundin mussten sich beide sehr zurückhalten, um sich zu lachen.

„…Was denn?“

„Jendenfalls hoffe ich, das unser Sohn“ Und da war sie genauso beharrlich „…deine wunderschönen Augen haben wird…“

„Und all deine Talente, all diese wunderbaren Dinge, die du tun kannst, und deine Wärme…“

Und spätens da griff er auch mit der anderen Hand nach oben und fand auch schnell den Kopf seiner Gattin, die sich bereits weiter vorgebeugt hatte, um kurz darauf einen tiefen Kuss mit ihm zu tauschen – und noch einen. Und noch einen.
 

„Ihr Zwei! Ihr wisst schon, dass ihr erst warten müsst, bis das erste Baby raus ist, bevor ihr gleich das nächste produzieren könnt?“
 

„‘Tschuldige, Ayanami.“ Gab Dr. Ikaris Ehemann offensichtlich überhaupt nicht reuhmütig zurück. „Ich hatte nur kurz vergessen, dass du auch noch da bist.“

Ayanami lächelte nur, während sie die Zwei voneinander lösten, und ihre Kollegin sich endlich an ihren Platz setzte und daran dachte, ihre Kaffeetasse zu leeren, bevor das Gebräu endgültig kalt wurde.

Da hatte sich ihre Freundin wirklich einen exquisiten Bastard gesucht. Es war fast schon süß. Die Meisten fragten sich ja, was die aus gutem Hause stammende, erfolgreiche Dr Ikari Yui mit so einem Delinquenten wollte, aber für Dr. Ayanami war es klar: Da hatten sich zwei gefunden.

Psychopathen, alle beide, es sollte gesetzlich verboten werden, dass sich so was fortpflanzt.

„Aber trotzdem… lohnt sich das denn überhaupt, mit dem Kind? Immerhin steht schon ihn fünfzehn Jahren die Vollendung des großen Werkes an.“

Ja. Dass sah das Ehepaar Ikari da ein kleines bisschen anders.

Aber das hatten sie Ayanami nicht erzählt – Je weniger Leute über ihre kleine Rebellion bescheid wussten, umso besser.

Letztlich war es die Dame des Hauses, welche die Situation rettete, bevor die betretene Stille verdächtig wurde: „Aber, aber, du scheinst doch auch er Meinung gewesen zu sein, dass es sich lohnt. Denk nicht, ich hätte es nicht gemerkt.“

„Was meinst du?“

Mit der Dreistheit vorheriger Kinderstreiche, über die sie sich eine Menge gemeinsame Erinnerungen teilten, griff Dr. Ikari ohne Vorwarnung unter dem Tisch durch und zog etwas an einem Zipfel des Kleides ihrer Kollegin, dass, so aus der urprünglich bedachten Form gebracht, die Konturen des darin eingehüllten Körpers besser zum Vorschein brauchte, als das geplant gewesen war, was dann offenlegte, dass auch Dr. Ayanami begonnen hatte, sich um die Mitte herum zu wölben.

„Ich hoffe jetzt schon, dass unsere beiden Kinder genau so dicke Freunde werden wie wir.“

„Ich fürchte, daraus wird nichts. Das ist nicht meins, das ist ein Experiment. Ich würde es also zu schätzen wissen, wenn ihr dicht haltet. “

Was auch erklärte, weshalb sie den Kontakt zur Außenwelt für die nächsten Monate dermaßen minimiert hatte.

Der Mann in Rot lehnte sich dünn grinsend zurück und man konnte praktisch hören, wie in seinem Kopf die Zahnrädchen zu ticken begannen, wie er mentale Notizen anlegte und alles, was sie gesagt hatte nach Informationen zu durchforsten, um sich ein möglichst komplettes Bild von diesem… Projekt zu machen.

Laborkomplex fünf war einer der größten Schwarzen Flecken in der Karte ihrer Informationen, selbst seiner Frau war darüber nur so und so viel gesagt wurden. Sie wussten bis jetzt, dass die alten Männer dort etwas in Arbeit hatten, und in welche Richtung es etwa ging, aber keine Ergebnisse, keine Details und schon gar nicht, was SEELE mit all dem bezweckte…

Man könnte fast meinen, bei ihm auch soetwas wie einen stillen Respekt für Ayanami sehen zu können, dafür, dass sie sich ihren zielen derart total verschrieben hatte – Das war die Art von drastischem Schritt, den er selbst in die Wege geleitet hätte.

Seine Frau hingegen war von etwas anderem ergriffen, auch wenn sie Pläne immer Hinterkopf hatte, waren es nicht diese, die sie ernsthaft bestürt wirken ließen.

„Oh…“ sagte sie schwer, sich unweigerlich vorstellend, wie das wohl sein müsste… Sie war von dem Gedanken fast schon mehr getroffen, als Ayanami selbst, die es mehr erzählt hatte wie… ein beiläufiger Kommentar über ihre Arbeit, ja.

„Kagura-chan…“

„Komm runter, Yui.“ mischte sich dann der Dritte im Bunde ein, dabei die Blicke beider Frauen auf sich ziehend. „Das sieht dir gar nicht ähnlich, dass du das nicht sofort siehst… denk mal nach, wer ist die Direktorin von Komplex fünf?“

Es gab eine Veränderung in Dr. Ikaris Gesichstausdruck, größenteils das Weichen der mitleidigen Komponente.

„Bingo. Ich glaube nicht, dass die von Projekt Master da irgendwen zu irgendwas gezwungen haben. Nicht, das es den alten Männern nicht zuzutrauen wäre, nicht, dass es, abhängig davon, was dieses Projekt ist, nur ein kleines, verschmerzliches Opfer ist – In unseren Zeiten kann keine „hübsche“, „saubere“ oder „ehrliche“ Organisation überleben – Und ich denke Ayanami weiß es. Wer unterschreibt die Zustimmung für alles, was in Komplex Fünf abgeht? Wer würde denn unterschreiben, wenn GEHIRN dieses Projekt ausführen würde…“

Dr. Ikari verstand zwar, was ihr Gatte andeuten wollte, doch es war das Geschehnis selbst, für das sie kein Verständnis hatte. Trotzdem wurde es gleich darauf von Ayanami bestätigt:

„Das ganze war meine eigene Idee, Yui.“

„Deine Idee? Aber Kagura, wir leben im 21. Jahrhundert. Du bist doch kein… kein Gefäß.“

„Oh doch, der weibliche Körper ist ein Gefäß – genau so wie der männliche.

Was sich in den letzten hundert Jahren geändert hat, ist nur, dass wir selbst darüber bestimmen können, was damit geschieht.

Tatsächlich begreifen wir unsere Körper im 21. Jahrhundert doch mehr als Gefäße als jemals zuvor – Wir „sind“ nicht mehr Hände und Beine und Köpfe, wir „haben“ sie. Und wir benutzen sie auch wie etwas, das wir „haben“. Das kommt daher, weil wir es jetzt können – wir wissen jetzt detailiert, was wir hineintun können und welche Wirkung es warum haben wird, wir haben unsere Triebe und unser Verhalten bis aufs kleinste auf simple biochemische Prozesse zurückgefühlt, und wenn wir wollen, können wir unsere Gestalt sogar begrenzt ändern – die Grenzen sind wirklich nur die Möglichkeiten unserer Technologie. Wir sind sicherlich immer dabei, ihn zu verbessern, mit Sport, Essen, Kosmetika, Drogen… Koffein für mehr Leistungsfähigkeit, Alkohol als „sozialer Schmierstoff“, Verstimmungen und Mängel mit der Produktion oder Aufnahme gewisser Botenstoffe sind nicht mehr unumstößliche Fakten unserer Existenz, sondern Probleme, die wir beheben können.

Auch unser Projekt könnte man als einen Versuch sehen, unsere Formen zu verbessern, als eine neue Technologie, um die Grenzen der anderen zu überschreiten.

Das ist es, was der Mensch tut – und Fortpflanzung ist da nicht anders als andere Funktionen. Heuzutage können wir die Fortpflanzung künstlich beginnen, ja, sogar schon Eigenschaften heraussortieren, die uns nicht gefallen, und unerwünschte Fortpflanzungsprozesse können jederzeit abgebrochen werden – Es ist etwas recht billiges geworden, so ein Fortpflanzungsprozess. Mein Bauch gehört mir, also kann ich genau so gut ein Experiment hineintun, ich war ausreichend informiert.“

„Kagura, Kagura… Leben ist doch nicht billig. Es stimmt, dass es heutzutage leicht zu vernichten ist, und das gilt für all seine Formen. Und wir haben auch begonnen, es besser zu verstehen – Ich bin dem ja keinesfalls abgeneigt. Ganz Umgekehrt: Ich habe mich der Wissenschaft verschrieben, die danach strebt, das Leben zu verstehen, weil es mich so fanziniert. Ich will denke nicht, dass das Leben dadurch billig oder „entzaubert“ wird, das wir es verstehen. Einst dachten wir, nichts Geringeres als phantastische Magie könnte das Leben erklären. Jetzt wissen wir, dass es nicht so ist, heißt nicht, dass das Leben nicht immernoch die selbe phantastische Sache ist, die wir einst für so unglaublich hielten, das nur Magie sie erklären könnte. Mehr noch, der Fakt dass diese ganze Komplexität sich aus einfachen Schritten zusammensetzt, die wir verstehen können, ist doch umso erstaunlicher.

Das Leben hat seinen Wert. Zu sagen, dass wir es niemals abwiegen müssen, dass wir niemals Dinge finden werden, die mehr wiegen, ist tatsächlich naiv, aber auch wenn wir uns dagegen entscheiden, heißt es nicht, das es bedeutungslos war – etwas anderes hatte einfach nur mehr Bedeutung.

Aber das Leben ist wertvoll. Wir sollten das nicht vergessen.

Und wir sollten nicht nachlässig damit sein…“

„Aber Yui, du bist doch dauernd nachlässig mit Leben. Sogar mit meinem. Und sogar mit dem deiner Familie. Es ist, weil du es nicht ganz weißt. Weil du denkst, alle anderen hätten so eine volle Exitenz wie du, es ist, weil du dort oben in deinem Olymp die Erde aus den Augen verlierst. Du hast so viele Hobbys und Talente, einen erfüllenden Job, eine perfekte familie, es ist nur natürlich, dass du optimistisch bist. So optimistisch, dass du dir diesen Meisterpessimisten hier hast antrauen lassen, um dir jeden Tag einen Spaß daraus zu machen, ihn zum besseren zu überzeugen. Aber du weißt nicht, was du alles kaputthauen würdest, wenn du verschwinden würdest. So viele verschiedene Dinge, Universen, die sich um dich drehten.

Du hast einfach so viel um das du dir Gedanken machst, denkst weit in die Zukunft, und beziehst jedes einzelne Menschenleben ein. Fast wie eine Göttin, wie die eine, goldene Sonne, die auf alle herrabscheint, gut oder böse. Aber niemand kann die Sonne ganz für sich haben.

Und das Ergebnis ist, das wir, ohne das du das irgendwie schlecht meinen würdest, nein, gerade wegen deiner großen, noblem Pläne, wesentlich kleinere Teile deiner Welt sind, als du es für uns bist. Für manche für uns bist du ein großer Teil der Welt, für einige wenige, die ganze.

Ich war immer deine sogenannte Freundin, die dir immer nur zugehört hat, und nie selbst was zu erzählen hatte.

Ich habe außer dir und Murasaki eigentlich kaum andere Freunde, und anders als du hab ich mit Liebe und Familie noch nicht so viel Glück gehabt – Es ist noch so, als ob ich neidisch wäre.

Ich habe kein Recht, mich zu beklagen. Wenn ich ehrlich bin habe ich mich wohl nicht so wirklich bemührt, nicht wirklich die Zeit gefunden, in mehr Vetbindungen zu investieren – Wenn ich ehrlich bin, stört es mich auch nicht so sehr, du weißt, das ich nie so ein wirklich großes Sozialbedürfnis hatte – Meine Familie und eins, zwei, drei gute Freunde haben mir eigentlich immer gereicht. Wenn ich mit jemanden zu reden beginnen würde, nur, weil ich mich im Moment einsam fühlte, würde diese Person wesentlich öfter mit mir reden wollen, als ich dazu lust hätte, und es würde so viel geben, woran ich denken müssen würde, es wäre nicht fair, da großartig eine Freundschaft beginnen zu wollen.

Ich nehme dir also nicht übel, was du hast. Genau deshalb will ich dir ja als jemandengegenüberstehen, der so etwa gleichauf ist, und auch ein eigenes Leben hat, bvon dem ich erzählen kann. Deshalb habe ich mich ja dazu überreden lassen, diesem Projekt beizutreten – Weil ich auch mit den großen, tiefen Dingen dieser Welt zu tun haben wollte.

Also bitte, lass mich bleiben, was ich bin, und meinen eigenen Pfad entlanggehen…“

„Wenn unsere Pfade begonnen haben, sich zu gabeln, kann man da wohl nicht machen, aber es gibt da etwas, bei dem du dich irrst, Kagura-chan.

Es stimmt, als ich jünger war, hatte ich wohl nichts, das mir wichtige war, als alles anderen, und vielleicht stimmt es ja, dass aus meiner zugegebermaßen privilegierten Position einiges gesehen habe… aber es ist nicht so, als ob mein Pfad immer der selbe geblieben wäre. Oder vielmehr könnte man sagen, dass ich meinen wirklichen, eigenen Pfad wohl erst vor wesentlich weniger Zeit gefunden habe, als du vielleicht denkst.

Jetzt habe ich da eine von diesen aller wichtigen Sachen…“ behauptete Dr. Ikari warm und weise lächelnd, betont eine Hand auf ihren Bauch legend.

„Und das ist alles nur, weil ich Gendo kennen gelernt habe.“

„Ach Yui, ich fühle mich geehrt…“ kommentierte der Mann, der, nachdem er mit Kaffe und Artikel schon lange fertig war, seine Finger auf die übliche Weise zusammengesteckt hatte, das ganze Gespräch mit einer gewissen Belustigung verfolgt hatte.

Ayanami seufzte und leerte ihre Tsse.

„Wirklich, ihr zwei… Bennenn doch wenigstens irgendein blödes Projekt oder eine Endeckung von dir nach mir, ja? Das reicht mir, auch wenn wir nicht in allem demselben Pfad folgen. Ich habe da schon etwas, das ich mit Y.U.I. abkürzen könnte… “
 

(Ayanami war auch die Trauzeugin bei der Hochzeit der beiden gewesen – Für gewöhnlich war diese Rolle ja dem besten Freund des Bräutigangs vorbehalten, und Ayanami war eigentlich Dr. Ikaris Freundin gewesen, die ihren Verlobten erst über sie kennen gelernt hatte, aber dieser machte keinen Hehl daraus, offen zu sagen, dass er keine wirklichen Freunde hatte, die nicht auch Yuis Freunde waren – Und eigentlich hielten ihn auch die Mehrzahl von Yuis Freunden für den größten Fehler ihres Lebens, und schlosses Wetten darauf ab, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihn endlich rauswarf.)
 

(Außer Ayanami und Makinami gab es wohl wenige, die sie gut genug kannten, um zu verstehen, warum sie sich ausgerechnet zu diesem Mann hingezogen fühlen würde.)
 

(Außer Ayanami gab es kaum jemanden, der sich fragte, ob es nicht Ikari war, die ihren Ehemann nicht genügend zu schätzen wusste.)
 

(Dr. Ikari schätzte ihn.)
 

(Nur auf ihre eigene, komplizierte, auf das Endresultat bedachte Art und Weise.

Er schätze sie natürlich bedingungslos und hätte wohl immernoch den Planeten für sie hochgejagt, wenn sie ihn nur einmal die Woche einen Knochen mit ein paar wenigen Streifen Fleisch daran hingeworfen hätte, aber den Großteil ihrer Wertschätzung für ihn sendete sie auf einer Wellenlänge die er schlichtweg nicht verstand, in Taten, die er niemals verstehen würde. Und das galt in gewisser Art und Weise auch für ihren gemeinsamen Sohn.)
 

VIER JAHRE SPÄTER –
 

„Wenn ich gewusst hätte, dass es so weit kommen würde…“ kommentierte Dr. Ikari Yui nicht ohne eine sich in Grenzen haltende, aber deutlich heraushörbare Melancholie. „…hätte ich etwas nach Kagura benannt…“

Die Frau mit dem schwarzen Haarkranz lag am Boden. Auf ihrem dunkelvioletten Kleid war es nicht so offensichtlich, aber spätestens nachdem es sich auf ihrem Laborkittel und dem Fußboden ausgebreitet hatte, war die rote Farbe des Blutes schwer zu übersehen.

Neben Dr. Ikari warteten noch zwei weitere Figuren im Zwielicht des Raumes, zwei Männer, ihre rechte und ihre linke Hand – Ihr Gatte rückte sich die billig wirkende, dicke Plastickbrille zurecht, die in der Zeit zwischen heute und jedem Tag in ihrer neuen Bleibe zu einem permanenten Accessoire geworden war, die Pistole noch in der anderen Hand haltend.
 

„Wirklich eine Schande.“ Kommentierte er, die Sicherung seiner Waffe wieder an ihren Platz bringend. „Dabei waren wir uns ziemlich sicher, dass sie unserer Sache gegenüber aufgeschlossen sein würde, vor allem, nachdem sie erstmal darüber aufgeklärt hätten, was man alles vor ihr verborgen hatte, deshalb haben wir es ja erst riskiert…

Und dann war das auch noch unsere einzige Chance. Nach diesem Vorfall wird man die Sicherheit in Laborkomplex Fünf unweigerlich hochschrauben, da jetzt noch einen unserer Agenten hineinzubekommen, ohne das es auf uns zurückführbar wird, können wir… kurz gesagt vergessen. Wenn wir die alten Männer wissen lassen, dass der Laden unsere Aufmerksamket erregt hat, werden sie einfach alles belastende Material wo anders hin packen, und wir können die Suche von vorn beginnen…“

Er packte seine Waffe zurück in die Tasche seines Laborkittels.

„Und dabei hätte sie uns noch so nützlich sein können… es stimmt, wir können sie im Wesentlichen verschmerzen, solange wir Akagi haben, die hatte von Anfang an die überlegenen Fähigkeiten, aber ich muss zugeben, dass ich Ayanami wesentlich… angenehmer fand als diese nervtötende alte Frau.“

Der Mann in schwarz und rot schritt über sein Opfer hinweg, ihrer Blutlache nur so knapp wie nötig ausweichend – Wäre da nicht das Detail gewesen, das ihn eine etwaige Besudelung wohl als den Schuldigen verraten hätte, wäre er vermutlich mitten hindurch gestampft.

Er lief hinüber zu einem schreibtischartigen Möbel, in der Absicht, wenigstens Ayanamis Aufzeichnungen noch nach brauchbarem Material abzusuchen, wie ein Aasfresser, der einen Kadaver plünderte.

Die ganze Zeit war sein Tonfall zwar teilweise bedauernd, aber zu keinem Zeitpunkt von großen Emotionen ergriffen gewesen.

„Ich mochte sie fast schon etwas, aber nachdem wir sie eingeweigt hatten, schließt sie sich uns entweder an… oder sie weiß zu viel. Wirklich eine Schande.“

Er griff sich Papiere heraus und legte sie nach und nach auf einen Stapel, als tue er das jeden Tag, wirklich, ein ganz gewöhnlicher Betriebs-Donnerstag, könnte man meinen.

Den dritten im Bunde wunderte das wenig – Es war Fuyutsuki, den die anderen zwei erst vor kurzer Zeit für ihre Sache rekrutiert hatten, und er konnte nicht anders, als verstört auf die Leiche der, aus seiner Perspektive, jungen Frau zu blicken, und seine Enttäuschung zu verbergen.

Seine frühere Lieblingstudentin hatte sich zwar nicht hierran beteiligt, aber sie hatte auch zu keinem Moment etwas dagegen gesagt.

Sie wirkte unglücklich, aber er sah keine Reue.

„…wäre das auch mit mir passiert, wenn ich ihrem kleinen „Angebot“ nicht zugestimmt hätte?“ fragte er in den Raum hinein. Scheinbar hielt es keiner wirklich nötig, ihm darauf zu antworten.

Der jüngere Mann hatte sich seine „Beute“ derweil unter den Arm geklemmt und marschierte an Fuyutsuki vorbei aus dem Raum, scheinbar fertig damit.

Aber Yui sprach noch zu ihrem älteren Mentor – Dieser fragte sich, ob das wirklich allen ernstes ihre Antwort sein sollte.

„Ich frage mich…“ begann sie, durchaus mit einem gesenkten Blick, aber… die schiere Maßstab hier, die Größe dieses Ereignisses… es war zu wenig. „…was Kagura wohl bewogen hat, sich auf die Gegenseite zu stellen…“

„Sie hatte sich ihren Zielen wohl ganz und ganz verschrieben… sie war schließlich bereit, ihren eigen Körper dafür zu benutzen.“ Antwortete ihr ihr Gatte vom Korridor aus.

„Nein, ich glaube nicht dass es das war…“ Sie verengte nachdenklich ihre Augen. „Aber es könnte doch damit zusammenhängen… Als ich ihr die Wahrheit erzählt hatte, war sie doch zuerst geschockt… Sie schien ernsthaft über Angebot nachzudenken, aber als wir dann sagten, dass ihre Aufgabe in unserem Plan vorsieht, dass sie die Infrastruktur von Komplex Fünf bedeutend sabotiert, und was für Information wir von ihr möchten, hat sie plötzlich abgeblockt… Dieses „Experiment“ von vor vier Jahren… was es wohl ist? Ob es wohl hier in Komplex Fünf ist?“

„Wenn Ayanami nocht wollte, das wir darüber bescheidwissen, muss es jendefalls etwas sein, das nur durch seine bloße Existenz unsere Pläne gefährdet. Zumindest in dieser Hinsicht hat sie uns wenn auch unabsichtlich einen letzten Gefallen getan: Wir wissen jetzt, das SEELE noch eine Trumpfkarte in der Hand halten muss, die wir vielleicht eliminieren müssen…“ merkte der Brillenträger an. „Wir stehen in ihrer Schuld.“

Fuyutsuki beschloss, sich primär auf den traurigen Gesichtsausdruck seiner Schülerin zu konzentrieren. Er wollte nicht glauben, dass das hier nun wirklich sein Leben war, dieser große Misstand, den er mit zusammengebissenen Zähnen ertragen musste, ohne eine zufriedenstellende Lösung herbeiführen zu können.

„Es ist wirklich Schade, das Kagura sich vielleicht aus denselben Gründen gegen uns gestellt hat, wegen denen ich diesen Plan überhaupt verfolge…“

Sie seufzte. „Aber macht dir keine Sorge wegen Komplex Fünf, Gendo. Ich bin mir sicher, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten ein- bis zwei Jahren explizit dahin eingeladen werden… Lass uns gehen.“
 

(Mit dieser Vorhersage sollte sie, wie mit so vielen anderen Dingen, auch tatsächlich recht behalten. Nur, dass sie nicht mehr da sein würde, um zu diesem Besuch in den fünften Komplex, genauergesagt den dazugehörigen DARWIN-Garten mitzukommen. )
 

(Sie kam in der kurzen Zeit, die ihr nach diesem Ereignis noch blieb, auch nicht dazu, irgendetwas nach Ayanami Kagura zu benennen)
 

(Also tat er es, für sie, weil sie es nicht mehr konnte.)
 

Was keiner von den Dreien wusste, war, dass sie das vielleicht aufschlussreichste Indiz in diesem Raum dort zurückgelassen hatten – Als er die Schubladen von Ayanamis nach brauchbarer Information durchforstet hatte, hatte er diese vor allen in Ordnern und Mappen vermutet, deren Inhalte sich als bloße Routine-Aufzeichnungen von irgendwelchen Vitalfunktionen herausstellten, aber nicht in dem ungedrehten Bilderrahmen, den er von anderen Sachen bedeckt auf dem Grund der zweiten Schublade vorgefunden hatte.

Und er war auch nicht der Typ, der sich soetwas aus Neugier ansehen würde – für sentimentale Dinge wie Bilderrahmen hatte er ohnehin nie besonders viel übrig gehabt.

Hätte er das Bild aber angesehen, hätte er wohl auf den ersten Blick korrekt schlussfolgern können, was SEELE da im Schilde führte.

Das Bild zeigte einen äußerlich etwa vierjährigen Jungen, der an einer felsigen Küste im Wasser spielte, einen kleinen Jungen mit roten Augen, silberweißen Augen und einem euphorischen, aber doch entspannten Lächeln.
 

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16: [Das weiße Kind II: Tore von Eden]
 

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Nun kommt uns seht uns einmal an

Wir sind gefanden in uns selbst

Und laufen nur im Kreis, doch es könnte anders sein

Wir fordern endlich unseren Preis

Und wollen nicht mehr sterblich sein

Für diese Welt zu schwach, so erschaffen wir uns neu
 

Wir werden noch viel stärker sein

Und sehen auch viel besser aus,

Komm lass uns anders sein, nur ein Schritt, dann sind wir frei.
 

Wenn wir hoch zum Himmel sehn

Können wir uns nicht verstehen

Denn unsere Hirne sind zu klein

Wir wollen keine Menschen sein
 

Jetzt sind wir keine Menschen mehr

Wir werden leben für die Ewigkeit

Und ich glaube, ich glaube wir können fliegen!
 

Jetzt wissen wir alles, haben die Macht

Wir können fliegen um die Welt

Jetzt sind wir Gott sehr nah und stehn fast über ihm
 

Wenn wir hoch zum Himmel sehn

Können wir uns nicht verstehn

Denn unsere Hirne sind zu klein

Wir wollen keine Menschen sein.
 


 

–Welle:Erdball, ‚Wir wollen keine Menschen sein‘
 

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GEIST Laborkomplex Nummer fünf, unterstes F-Level, Primäre Testkammer – 44. AT-Feld-Quantifizierungs-Experiment und 81. Feldstärken-Messung

Subjekt: Nummer 23, Codename „Tabris“

Experimenteure: Stellvertretender Direktor, Kuze Tetsuo, Leitende Direktorin: Ayanami Kagura, und deren Assistentin: Miyazawa Haruhi
 

Die kleine, bleiche Hand wurde von dicken Schellen flankiert, das einst gottgleiche Wesen war in Ketten gelegt, kleine Finger versuchten, vorbereitend eine Art Faust zu bilden.

Es gab da eine Art mechanisches Geräusch.

„18.000 Megawatt!“ kündigte Miyazawas Stimme aus dem gegenüber, und somit möglichst weit weg von dem Subjekt befindlichen Kontrollraum an, einen um bis zu neunzig grad verschiebbaren, links und rechts vom „Festhaltekolben“ an den dazugehörigen Armaturen angebrachten Schiebregler geringfügig weiter hoch schiebend. „Und Schuss!“

Und das Projektil raste los, bereits wesentlich zu schnell, um von menschlichen Augen gesehen zu werden, von blauen Funken umgeben, deren Licht seinen Pfad wenigstens ein Stück weit nachvollziehbar war, und bloß einen Augenblick, nachdem die junge Wissenschaftlerin den Schuss angekündigt war, sah man es schon, durch die ganze, riesige, in sterilem weiß geflieste Halle, breit wie wie ein Bus lang war, und mindestens so hoch, dieses charakteristische achteckige Muster – und abgeprallt!

Was da schließlich in der gegenüberliegenden, linken Ecke des Raums zum stehen kam, war zwar nur eine simple, tennisballgroße Metallkugel, aber davon sollte man sich nicht trügen lassen: Die Vorrichtung, die diese beschleunigt und abgeschossen hatte, nahm den Großteil der dem Testsubjekt gegenüberliegenden Wand ein, und erstrechte sich dahinter noch ein gutes Stück in die Wand hinein – Das hier war die unterste Etage von Komplex Fünf, und diese Testhalle nahm alles von dieser Etage ein, nicht primär wegen den Ausmaßen der Halle selbst, nein, es war das ganze technische Drumherum, dass er ermöglichte, dieses Metallkugeln mit solch hohen kinetischen Energien auszustatten, und trotzdem nicht bei jedem Versuch Löcher in die Wände und den Rest des Komplexes zu schießen, die das ganze Stockwerk für sich in Beschlag nahmen, unter anderem wegen der starken Elektromagneten, die die Kugel einmal abgeprallt wieder verlangsamen sollten, bevor sie die Wände erreichte und dort signifikant mehr Schaden anrichten konnte, als ein paar zerdepperte Fliesen… Was auch garantierte, das die Experimenteure hinter ihrer dicken Glasscheibe sicher sein würden.

Der ganze Versuchsaufbau war in etlichen Aspekten mit einem Teilchenbeschleuniger vergleichbar.
 

Augenblicke, nachdem der Abschuss des Projektils erfolgt war, füllten sich die zahlreichen Monitore vor den drei Wissenschaftlern mit Leben – einer zeigte scheinbar zufällig eingeordnete bunte Flecken, wie man sie bei diesen ganzen Licht-Tricks mit Cellopham zu Gesicht bekam, ein anderer so etwas wie ein regenbogenfarbiges Phasenmuster, andere zeigten haufenweise Zahlen.

„Daten empfangen.“ Bestätigte Kuze, an seiner eigenen Konsole ein paar Knöpfe drückend. „Fahren Sie fort.“

Miyazawa fuhr den Schiebregler noch ein Weiteres Stück nach oben. „19.000 Megawatt!“

Sie machte auf der Tastatur noch ein paar kleinere Angleichungen, basierend auf den Daten des letzten Versuchs. „Und Schuss!“

Diesesmal machte es das Projektil dem Testsubjekt nicht ganz so leicht – Die Kugel prallte nicht sofort ab, sondern schien zunächst mehr in dem Feld „hängenzubleiben“ als hätte dieses eine membranartige Qualität, die in diesem Moment nicht ausreichte, um die Rotation der Kugel zu beenden – Sie rotierte weiter, sprühte weiter blaue Funken, drückte sich weiter in das flackernde Feld hinein… und wurde von ihm letztlich doch abgebremst, und viel wie ein Stein zu Boden, noch nicht einmal eine Mulde hinterlassend.

Zwischen Erleichterung und Erschöpfung lockerte das Versuchskaninchen seine kleinen Fäuste.

(Ayanami, die das ganze Experiment nur überwachte, ein merkliches Stück hinter Kuze und Miyazawa stehend, hatte ihren Blick, kurz bevor dass passiert war, scheinbar vorsorglich abgewendet, als wollte sie nicht sehen, was passiert wäre, wenn das Feld die Kugel nicht gehalten hätte. )

Schon bald darauf lieferten die Detektoren eine weitere Ladung Versuchsergebnisse auf die Bildschirme der Kommandozentrale. Kuze warf kurz prüfende Blicke darauf, lehnte sich dann vor einem Bildschirm mit einem Muster aus farbigen Flächen nach vor und drückte ein paar Tasten, genauer auf einen besonders blau-lastigen Bereich heranzuzoomen.

„Die Daten sehen sehr gut aus. Machen sie weiter mit 20.000.“

„Okay.“ Bestätigte Miyazawa, den Schiebregler jetzt komplett in die vertikale Position bringen. „20.000 Megawatt. Wir sind jetzt bei vollem Leistungsoutput.“

Das Surren der nun an der absoluten Belastungsgrenze laufenden Maschinen wurde deutlich hörbar und dominierte den Raum nun mehr, als das ein Hintergrundgeräusch wäre. Miyazawa wusste merklich lauter sprechen, um noch gut hörbar zu sein: „Und Schuss.“

Dieses Mal gab es zerdepperte Fliesen.

Und Blut.
 

„Zwanzigtausend ist also das Limit?“ fragte Kuze trocken in den Raum hinein, sich nachdenklich am Kinn kratzend.

Kuze unterbrach seine Schlussfolgerungen, als ein unbekanntes Geräusch seine Aufmerksamkeit für sich beanspruchte.

Sofort machte sich ein kühler Lufthauch im Kontrollraum breit – die Kälte kam vom Spalt in der Tür, die den direkten Zugang zur eigentlichen Testkammer bildete, und das Geräusch war der Öffnungsmechanismus gewesen, das klicken mehrerer zwischen Tür und Wand eingebauter Riegel und Verzahnungen – Die Tür selbst ließ sie nur mechanisch öffnen, sie war viel zu dick, als das menschliche Muskelkraft sie hätte öffnen können, und das war aus gutem Grund so –

Genauso brauchte es einen speziellen Sicherheitsschlüssel, um diese Pforte überhaupt zu öffnen.

Einen Schlüssel, den nur Ayanami besaß.

Mittlerweile waren die Messdaten angekommen – Auch, wenn es letzlich durchdrungen worden war, war es nicht so, als ob dieses AT-Feld sofort gebrochen wäre – Es hatte mehr eine membranartige Verformung gegeben, die das Projektil bedeutend abgebremst hatten müssen, bevor die Magneten, die bei voller Leistung ohnehin nur eine begrenzte Abbremsung hätten bieten können, dazu Gelegenheit hatten.

Die involvierte Geometrie sah wirklich interessant aus und berechtigte vermutlich genauere Untersuchungen, und mit Sicherheit zu mindestens den Versuch einer mathematischen Modellierung, und einer Abgleichung mit den bisher bekannten mathematischen Modellen von AT-Feldern. Diese Dynamik könnte im tatsächlichen Kampf gegen die Engel von höchster Bedeutung sein, aber auch bei der Resonanz, die für das herbeiführen der letzten Tragödie nötig sein würde…

Auch, wenn es letztlich getroffen worden war, war das Subjekt sehr wohl dazu in der Lage gewesen, dem „Angriff“ effektiv entgegenzuwirken und bedeutend abzuschwächen.

Und 20.000 war der höchste Output, der mit der Technologie in dieser Einrichtung möglich war. Schon sehr bald würde das Subjekt auch das bewältigt haben, und dieser Wachstumsrate nach zu urteilen würde es spätestens nächsten Monat so ziemlich jeder menschengemachten Technologie mühelos standhalten… und die Herren vom Komitee schienen kein Problem damit zusehen.

Das alles gefiel Kuze überhaupt nicht, aber es nicht an ihm, Fragen zu stellen.

Die Tür schloss sich wieder.

Es war dieses Mal Miyazawa, die den Sicherheitsschlüssel dafür herumdrehte und gleich darauf seiner Besitzerin überreicht – Dr. Ayanami konnte es nicht selbst tun, da sie die Hände voll hatte.

Sie hatte ihren Kittel noch getragen, als sie die Tür eben durchschritten hatte – nun, da sie zurück war, war er fort, gewickelt um das Testsubjekt, das sie mithinein getragen hatte, und bereits jetzt befleckt von dessen durchdrückenden Blut – Es war Rot, wie ihres, aber Kuze ließ sich davon nicht in die irre führen.

So sehr es auch einem menschlichen Kind ähnelte, seine wahre Natur schien schließlich hindurch, in diesen unmenschlichen Augen, in dieser Farblosigkeit von Haar und Haut.

Und vor allem…

Es war nicht nur, dass ein menschliches Kind in dieser Experimentierkammer mit Sicherheit gestorben wäre.

Nein, das war das mindeste – wäre es menschliches Kind, ein unvollkommenes Einzelwesen, egal wie mächtig, wäre unter diesen Umständen mindestens sein Verstand schon vor langer Zeit kollabiert.

Ein Mensch in dieser Situation, insbesondere ein Mensch mit solcher Macht, würde sie unweigerlich abgrundtief hassen. Nein, es war sogar gut möglich, dass sie dieses Wesen durchaus hasste, während sie hier darin herumpiekten, näherte sich mehr und mehr die Zeit der Prophezeiung, und Subjekt 23 hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass es dann höchstwahrscheinlich einen Versuch unternehmen würde, die gesamte Biosphäre dieser Erde restlos auszuradieren.

Es sagte sogar, dass dies seine Bestimmung sei.

Aber ein Mensch könnte seinen Hass niemals so auf die lange Bank schieben und diese Illusion von Freundlichkeit projizieren, ohne das kleinste Gramm Feindseligkeit durchscheinen zu lassen. Einem Menschen würde der Kragen platzen, ein Mensch hätte ein Limit bezüglich dessen, was er ertragen kann, und was er willens ist, zu geben.

Unmöglich, das Kuze dieses… dieses Ding jemals mit einem Menschen verwechselt hätte, er war der Feind der Menschheit, und allen anderen Lebens auf diesem Planeten.

Man könnte diese Arbeit nicht machen, ohne in jeder Sekunde daran erinnert zu werden, dass dieses Ding nicht menschlich war.

Umso weniger wollte Kuze das Schauspiel vor seinen Augen glauben.

Was wohl unheimlicher war als die bloße Existenz dieses unmenschlichen Kindes war es, beobachten zu müssen, wenn andere dieses grundlegend Falsche nicht zu erkennen schienen.

Er konnte nicht anders, als zu denken, dass es eine absichtliche Strategie von diesem Ding sein musste, um sie alle zu ihrem Untergang zu führen.

Miyazawa konnte er noch verstehen, sie war ein naives Kind, aber Ayanami?

Sie hatte nichts besonders erschreckendes gesagt, aber die Art, wie sie dieses sogenannte Kind festhielt, so fest das sein Blut auf ihr Kleid durchdrückte, ihr Gesicht trotz des komplett beherrschten Ausdrucks blass vor Schock, machte es schwer zu glauben – Selbst bei dem Subjekt selbst blieb es nicht unbemerkt.

Er hatte seine unnatürlich weiße Hand voll mit tiefem rot, und hielt es der Direktorin entgegen, um zu illustrieren, was er mit seinen nächsten Worten meinte:

„Sind Sie überrascht, Kagura-san?“

Kagura-san? Selbst nach all der Zeit würde Kuze es nie glauben können.

„…sind sie überrascht, dass meine Form euren doch ein wenig ähnlicher ist, als Sie dachten?“

Sie leugnete es nicht einmal.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Kagura-san. Es mag Ähnlichkeiten geben, ein mein Körper ist nicht wie die, die ihr habt…“

Miyazawa fühlte sich scheinbar dennoch verpflichtet, zu handeln, und griff nach einem Schächtelchen, dass sie am Rande ihrer Konsole abgestellt hatte – Es handelte sich um eine Packung jeder Süßspeise, die gemeinhin als Mikado-Stäbchen mit Zartbitterschokolade bekannt war. Es handelte sich dabei um Miyazawas Leib- und Magenspeise, sodass sie häufiger ein wenig davon mit sich herumtrug, aber die zwei Stäbchen, die sie jetzt daraus hervorzog, waren nicht für ihren eigenen Konsum – ferner hielt sie sie den noch in den Armen ihrer Vorsitzenden befindlichen Testsubjekt hin, während sie mit der anderen Hand durch sein silbernes Haar streichelte.

„Gute Arbeit, Tabbie-chan. Noch mal danke, dass du das so tapfer mitgemacht hast… Hier, für dich!“

Tabbie-chan. Das war nicht das erste Mal, das Kuze das mitbekam, aber er traute seinen Ohren immer noch nicht. „Lassen sie das, Miyazawa.“ Wies er Dr. Ayanamis junge Assistentin zurecht. „Das Subjekt besitzt die Frucht des Lebens. Es ist nicht so, als ob es Verwendung für Stoffwechselbausteine hätte…“

Aber bevor Kuze mit sprechen fertig war, hatte das übermenschliche Kind sich seine Hände bereits an Dr. Ayanamis ohnehin versauten Kittel abgeputzt und den Süßkram in Besitz genommen, unschuldig zum stellvertretenden Direktor hinblickend, während er ungeachtet seiner Worte daran knusperte, fast schon wirkend wie ein gewöhnliches, fünfjähriges Kind, dass nicht eben Projektile abgewehrt hatte, die mit der Energie der gesamten Stromnetze ganzer Länder auf ihn hinzugerast waren.

„Das mag sein, Herr Vizedirektor…“ verteidigte Miyazawa ihren „Schützling“ „…aber das heißt ja nicht, dass er es nicht trotzdem genießen kann, oder? Und er hat es sich ja auch redlich verdient!“ verkündete sie, das menschengemachte Monstrum weiter eifrig streichelnd.

„Vielen Dank nochmal für deine Mithilfe, ja? Dank dir konnten wir eine ganze Menge über AT-Felder lernen, das uns für unsere Verteidigung und unser Überleben von großem Nutzen sein wird…“ Aber Miyazawas überschwänglicher Enthusiasmus ließ mitten im Satz nach.

„Auch wenn du… wahrscheinlich nicht wirklich willst, das wir deine Brüder und Schwestern mit unseren Evangelions besiegen… T-Tut mir leid, Tabbie-chan, krieg jetzt bitte kein schlechtes Gewissen!“

Obwohl erste Tropfen von Blut den Stoff des Kittels der Schwerkraft entgegen entlanggewandert waren und auf den weißen, gefliesten Boden des Kontrollraumes getropft hatte, lächelte der Junge mit einer tiefen, für so ein kleines Kind scheinbar unpassenden Weisheit, von der man aber auch bei wirklichen Kindern schon gehört hatte, häufig mit derselben simplen Natur wie der seiner nächsten Aussage: „Aber wie könnte euch denn böse sein?“

Kuze liefen kalte Schauer über den Rücken. Die Zwei fraßen diesem Ding aus der Hand, und der kleine, glatzköpfige Mann suchte nach Erklärungen. Es musste wohl daran liegen, das Ayanami dieses Ding ausgetragen hatte. Sie hatte zu anfangs eine recht pragmatische Stellung zu dieser… Maßnahme gehabt, aber es war nicht unmöglich, dass die Hormone sie mehr beeinträchtigt hatten, als sie das vermutet hatte.

„Ihr tut nichts anderes, als zu versuchen, eure Existent aufrecht zu erhalten, nicht? Das ist eine der natürlichsten Instinkte, die allen Lebensformen eigen sind… Und ich sehe, dass ihr eure Existenz genießt. Ich habe kein Recht, euch Vorwürfe zu machen… denn wenn ich derjenige werde, der es schafft, der Zeit der Vernichtung zu entkommen, werdet ihr wahrscheinlich verschwinden… Oder ist eure Freude an eurer Existenz etwa in irgendeiner Form weniger wirklich und real, irgendwie weniger wertig als meine Freude daran? Unsere Wünsche sind nicht wirklich gegensätzlich, sie gleichen sich. Das ist in Wahrheit das Traurige, dass wir verdammt sind, zu kämpfen, obwohl wir uns so sehr gleichen…“

Na ja, oder doch nicht wie ein kleines Kind.

Diese Worte waren es, die Ayanami merklich nachdenklich wirken ließen, als sie dem Kind nebenbei ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte und hineinblickte, in die großen, strahlenden roten Augen.

Ob es wohl wirklich unmöglich war, zu koexistieren?
 

(Es hatte mit einer „Familie“ nicht viel zu tun, nicht wirklich – Am Ende des Tages gingen diese Menschen alle nachhause und führten ihr eigenes, privates Leben, indem keines ihrer Testsubjekte einen besonders relevanten Platz einnahm. Wäre einer von ihnen an einen anderen Posten versetzt worden, hätte das wohl sämtliche Interaktionen zwischen ihnen beendet. Und es blieb wohl kaum zu erwähnen, dass wirkliche Freunde und Familienmitglieder einander nicht mit Metallkugeln beschossen.)
 

(Aber es war da, ein Konstrukt, nicht die Art von großen Emotionen, die einen Dummheiten begehen ließen, aber ein freundlicher Umgang, der nicht irgendwie gefälscht war, ein ehrlich geteiltes Lächeln)
 

Er schien sie nicht zu hassen, trotz alledem.
 

(War der Grund dafür, dass er sie nicht hasste, weil er eben kein Mensch war, oder…)
 

(Weil er nichts anderes kannte? Dass normale Familienmitglieder sich nicht mit Metallkugeln beschossen, hatten sie ihm nicht gesagt. Sie planten in der Regel auch nicht, einander zu vernichten, wenn die Zeit gekommen war.)
 

(War er einfach nur ein besserer Mensch als sie?)
 

(Hassten sie ihn denn?)
 

(Kuze fürchtete ihn. Aber hassen…? Man grollt dem Sturm am Horizont nicht, man meidet ihn nur. Das Subjekt war eine Naturgewalt, kein willend bösartiger Täter, er hasste ihn nicht mehr, als er Wölfe oder Krokodile hasste, oder alles, das eben fähig war, einen Menschen zu töten und zu fressen, um selbst weiterexistieren zu können.)
 

(Wann immer Miyazawa mit ihm zusammen war, verbrachte sie eine angenehme Zeit. Manchmal wachte sie morgens auf und freute sich schon darauf, ihn zu sehen.)
 

(Ayanami… Ayanami war sich sehr wohl darüber bewusst, dass es nicht an ihr war, das Szenario anzuzweifeln.)
 

Um die Ergebnisse auszuwerten, mussten sie nicht dort unten in diesem kleinen Kontrollraum bleiben – Ayanami und Kuze verlagerten sich in einen Raum mit Beleuchtung, die dem Tageslicht etwas ähnlicher war, und einen großen Monitor-Tisch für sie hatte, um den sie sich herumsetzten und sich die Ergebnisse hatten anzeigen lassen.

Miyazawa hatten sie geschickt, um das Subjekt waschen zu gehen, und sie fand, dass er sich ein schönes, warmes Bad verdient hatte. Gut möglich, das seine Regeneration bereits abgeschlossenen gewesen war, als er die Wanne wieder verlassen hatte.

In ein simples, weißes Patientenhemd gekleidet hatte Miyazawa ihn dann zu seiner üblichen Klavierstunde mitgenommen, oder das war es wenigstens, was sie angekündigt hatten. Bei diesen Sitzungen fragte er sie gerne aufmerksam, wie er war, wie es in ihrem Leben so lief, und spann daraus immer eine tiefe Konversation über die menschliche Beschaffenheit, und die junge Wissenschaftlerin, die es nicht in sich hatte, zu überlegen, wie „praktisch“ es wäre, ihm gewisse Dinge zu erzählen, oder auch nicht, packte immer freudig aus.
 

Wie dem auch sei, sie war beschäftigt, und wurde für die Auswertung dieser Ergebnisse nicht wirklich gebraucht.

„Wirklich faszinierend…“ kommentierte Ayanami schließlich, wieder mit einem gelassenen Lächeln, mit einem Stapel von Papier an der Tischplatte tippend, um die einzelnen Blätter auf die gleiche Höhe zu bringen.
 

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Auszug aus dem Ergebnisberichts zum 44. AT-Feld-Quantifizierungs-Experiment in Laborkomplex Fünf, Verfasst von Direktorin Ayanami Kagura.

Die aktuellen Theorien von der Entstehung des Lebens gehen schon seid Jahren nicht mehr davon aus, dass die erste Komponente, die entstand, so etwas relativ kompliziertes war, wie selbstreplizierende Moleküle.

Vielmehr geht man davon aus, dass es der Stoffwechsel war, der allem vorrausging.

Viele verschiedene Versuche wurden getätigt, um die Mixtur nachzubilden, die vor Milliarden von Jahren in den Ozeanen vorlag, und viele von ihnen förderten einen erheblichen Bestandteil der heute häufigsten Moleküle zu Tage, unter anderem auch Vesikel aus einer Doppelschicht aus Lipidmolekülen, die im Wesentlichen dem Grundgerüst einer Zellmembran entsprachen, und es wurde eine Tendenz der anderen Biomoleküle beobachtet, sich in diesen Vesikeln anzureichern – Das neue Modell setzte ohne spezifische Bespiele zu nennen, voraus, dass es da eine Reaktion in mehreren Schritten gäbe, von der alle miteinander gekoppelt seien, so dass das zweite Produkt nicht sofort wieder ohne weitere Konsequenzen in seine Ausgangstoffe zerfallen könnte.

Von der Umgebung abhängig, in der man die Entstehung klassischen Lebens vermutet, könnten verschiedene bekannte Reaktionskaskaden diese Rolle übernehmen, und Simulationen zeigten, wie sich über verschiedene Szenarien daraus schließlich eine Art Proto-Zelle entwickeln könnte.

Ein unabdingbarer Faktor bei jeder möglichen solchen Theorie war jedoch eine Art von räumlicher Trennung: Sei es durch kleine Blasen im Gestein oder den vormals erwähnten Lipid-Doppelschichten, ohne irgendetwas, das einen Grad der Trennung zwischen dem werdenden Lebewesen und seiner Umwelt herstellte, würden die potentiellen Metabolite einfach so, wie sie nach dem ersten Schritt werden, wegdissoziieren, statt sich oft genug zu treffen, um mehrere, geschachtelte Reaktionen auszuführen.

Ohne Trennung war so ein Lebewesen nicht von der Ursuppe unterscheidbar, aus der entstanden war.

Nun haben sich diese Vorläufer von Zellen endlos weiter entwickelt, haben Verbunde gebildet, neue Lebensräume erschlossen, und dabei in Form von Blut, Lymphe, Intrazellulärer Flüssigkeit oder Zerebrospinaler Flüssigkeit Analoga dieses ursprünglichen flüssigen Mediums mit sich genommen, in dem sie einst zu existieren lernen.

Die Generation heutiger Forscher ist in der Hinsicht privilegiert, dass wir nun die ganz genaue Zusammensetzung des ursprünglichen Mediums kennen – Wir erfuhren sie nach der Bergung des zweiten Engels, seiner ursprünglichen, bis zum heutigen Tage niemals versiegenden Quelle.

Und wir wissen mittlerweile auch, dass diese Trennung auch dann ein wichtiger Faktor ist, wenn gar kein wirklicher Stoffwechsel vorliegt, wie bei diesem anderen Zweig des Lebens, dessen einzige Existenzbeweise so lange in der Antarktis verschüttet lagen.

Heute haben wir all dies näher beleuchtet, und können diese elementare Idee der „Trennung“ konkretisiert betrachten: Das AT-Feld.

Bei einer Lebensform in ihrer finalen Form, so wie uns, in denen nach dem langen Sprießen und Wachsen des Baumes der Abstammungen des Lebens endlich die Frucht der Erkenntnis zum Vorschein kam, bedeutet es im Wesentlichen den Einflussbereich einer Seele, für uns typischerweise die Grenzen unseres eigenen Körpers, der Bereich, den wir nur durch Ausübung unseres Willens beeinflussen können, wie zum Beispiel unsere Arme und Hände.

Trotz seiner grundlegenden Bedeutung für unsere Existenz sind unsere AT-Felder in unserem täglichen Leben ein feiner, kaum merklicher Bestandteil unseres Lebens, eben, weil sie sich darauf beschränken, unsere Form an ihrem Platz zu halten.

Aber die Gefahr, die und die nahende Bedrohung durch die Engel fürchten lässt, ist deren Fähigkeit, die sie mit allem Göttlichen teilen – Die Fähigkeit, ihr AT-Feld, den Einflussbereich ihres Willens, jenseits des Körpers zu projizieren, den es zusammenhält.

Für die Fähigkeit, Dinge außerhalb des eigenen Körpers seinem Willen zu unterwerfen, haben wir bereits Worte gehabt, aber die meisten davon klingen recht unwissenschaftlich…

Dennoch sind wir jetzt, wie ich im folgenden Report erläutern werde, dennoch erstmals in der Lage, die Mechanik und Dynamik solcher Phänomene bis ins Detail zu beschreiben…


 

„Das ist wie üblich ein geniales Essay, Frau Direktorin…“ kommentierte Miyazawa, mit einer Hand das Zartbitter-Mikado-Stäbchen haltend, an dem sie knabberte, während sie in der anderen Hand einen Ausdruck von Ayanamis Arbeit hielt, die Augen vor Bewunderung glänzend.

„Denken Sie, das…“
 

Kuzes Reaktion war anders:

„Die Macht der Frucht des Lebens… ist wahrlich etwas, das man fürchten sollte…“

„Sind Sie immer noch beunruhigt wegen des Subjektes…?“

„Sie haben diese Macht doch gesehen. Wagen Sie zu behaupten, dass wir dieses Ding noch unter Kontrolle halten könnten, wenn es nötig werden sollte?“

Ayanami behielt nur dieses unerschütterliche Lächeln bei und machte eine vom Amüsement über irgendeine Ironie gefärbte Bemerkung:

„…Heute Morgen hat mich Miyazawa gefragt, ob wir eines Tages alle solche Macht haben werden. Und ob wir sie eines Tages kontrollieren können würden…“

„Adams Macht?“

„Aber, aber, die Fusion ist verboten!“ kommentierte die Direktorin belustigt. „Aber Miyazawa ist ein kluges Mädchen. Und ich habe ihr vor kurzem notgedrungen von den Projekten im Hauptquartier erzählt…“

„Das, woran Ikari derzeit arbeitet? Der Evangelion-Test-Typ?“

Ayanami nickte. „EVA Einheit 01. Es wird wohl noch mindestens ein halbes Jahr dauern, bis es überhaupt bereit ist, getestet zu werden. Ich nehme an, Sie sind vertraut mit der… Besonderheit des Test-Typs?“

„Soetwas haben sie Miyazawa erzählt?“

„Natürlich. Sie ist meine Assistentin. Es ist ihre Aufgabe, mich bei all meinen Projekten zu unterstützen, und dazu ist es nötig, dass sie darüber Bescheid weiß. Anders alle anderen in Arbeit befindlichen oder für die Zukunft geplanten Modelle ist EVA 01 nicht aus Adam kopiert wurden, sondern ein vollwertiger Nachkomme von Lillith, unseres eigenen Ursprungs. Geboren, nicht kopiert, eines Wesens mit dem Original. Und dennoch ist sich Yui-chan ziemlich sicher, damit ein projezierbares AT-feld erzeugen zu können.

Mit einem artifiziell angehobenen Wesen aus unserer eigenen Evolutionslinie…

Und da meinte Miyazawa, dass einige der Experimente, die wir hier im DARWIN-Garten vorbereitet haben, doch in diese Richtung gehen würden… und das wir hier in Subjekt 23 praktisch bereits das erste Exemplar hätten, ein Wesen in unserer Form, mit diesen Kräften, geschaffen von uns…“

„Ist es nicht vermessen zu sagen, das Subjekt 23 unser Werk ist?“

„Wenn wir nicht gewesen wären, wäre er dann hier?“

„Wenn sie es so sehen wollen, ist eine Debatte über Semantik…“

„Jedenfalls hat sich Miyazawa auch mit Murasaki-chans Werken in diese Richtung beschäftigt, und mir daher diese Frage gestellt.“

„Und was haben Sie geantwortet?“

„Das diese Einrichtung un der DARWIN-Garten existieren, um die Grenzen dieser Möglichkeiten auszuloten. Was aber die Verwirklichung dieser Möglichkeiten angeht, brauchen wir die Antworten nicht zu suchen – Das Szenario drückt sich da klar aus: Mit der Menschheit ist der tote Punkt erreicht, und was auch immer es für potentielle Zwischenstufen gibt, ist von dem Punkt, an dem wir derzeit stehen, nicht erreichbar. Der große Plan sieht keine weitere Verwendung für unsere AT-Felder mehr vor.

Und wer bin ich, um das Szenario anzuzweifeln?“
 

(Das waren übrigens auch die letzten Worte, die das Ehepaar Ikari aus ihren Lippen zu hören bekam. „Wer bin ich, um das Szenario anzuzweifeln?“)
 

(Viel später kam Miyazawa auf einem Konvent von Wissenschaftlern des Projekts dazu, eine ähnliche Frage an führende Wissenschaftler von GEHIRN zu stellen. Sie kam nicht dazu, die Antwort von Ikari Yui selbst einzuholen, mit der fast absoluten Autorität, die auf ihrem Gebiet damit einherging – Sie war zu diesem Zeitpunkt schon längst aus dieser Welt entwichen.)
 

(Aber sie hatte das Glück, auf dem letzten Konvent zu sein, der von Makinami Murasaki besucht wurde. Sie hatte ihre kleine Tochter von fünf Jahren dabei, ein recht… eigenes kleines Mädchen.

„Ja, das ist eine mögliche Antwort.“ Meinte sie, als Miyazawa ihr von Ayanamis Meinung erzählte, mit einem Lächeln voller Geheimnisse.

„Aber meine ist wesentlich interessanter: – )
 

(„Das Resultat… Ist etwas, dass für die Augen unserer Enkelkinder bestimmt ist.“ )
 

(Enkelkinder? Das war etwas, woran Miyazawa noch nicht gedacht hatte. Nicht nur, weil sie noch relativ jung war. Sie arbeitete an einem kleinen Teil des Projekts zur Vollendung der Menschheit.

Was lohnte es sich, jetzt noch Kinder zu haben, so kurz vor dem Tag der Prophezeiung?

Sie würden kaum in der Grundschule sein, wenn die Reiter der Apokalypse über die Welt hereinbrechen würden…

Und… Enkelkinder?)
 

(Wie sich einige hier vielleicht denken können, hätte Dr. Ikaris Antwort genau Dr. Makinamis Antwort entsprochen.)
 

„…Aber…“, und so hatte Dr. Ayanami ihre Konversation mit ihrem Stellvertreter an jedem Tag fortgesetzt: „Was Miyazawa da sagt, ist keineswegs ohne Bedeutung. Die Erforschung von menschlichen AT-Feldern ist einer der Schwerpunkte unserer Einrichtung, und einer, der schon sehr, sehr bald sehr relevant werden könnte… Nur dazu wurde der DARWIN-Garten überhaupt geschaffen.“

„Sie reden doch nicht etwa von den auserwählten Kindern?“

„Wovon ich rede, ist, dass ich Miyazawa geraten habe, sich auf das Gebiet zu spezialisieren, wenn es sie do so sehr reizt.“
 

(Als Dr. Ayanami Miyazawa Haruhi unter ihre Fittiche nahm, tat sie das, weil die Studentin sie an ihr früheres selbst erinnert hatte.

Und vielleicht auch aus einem spontanen Anflug von Mutterinstinkt heraus.)
 

---
 

Auszug aus einem Nachtrag im Dossier von Testergebnissen, das einem außerhalb der der üblichen Berichtsintervalle vom Komitee eingefordert wurde. Aus dem abschließendes Gutachten, verfasst wie auf Wunsch der Auftragstreller von Direktorin Ayanami Kagura persönlich.

Beim nächsten AT-Feld Quantifizierungs-Test konnte das Subjekt auch den vollen Leistungsoutput von 20000 Megawatt problemlos abwehren. Die Grenze der Apparaturen in Komplex Fünf war erreicht…

Einige Monate später haben wir für weitere Versuche mit dem Subjekt einen Hochleistungs-Teilchenbeschleuniger abriegeln lassen, wofür ich den Herren vom Komitee noch einmal herzlich danken möchte, aber in den Monaten zwischen diesem Versuch und dem letzten hatte das AT-Feld des Subjektes selbst die äußersten Möglichkeiten menschlicher Technologie übertroffen – Ein AT-Feld mit roher Gewalt zu durchbrechen ist zwar theoretisch möglich, aber im speziellen Fall von Subjekt Code Tabris ist es unwahrscheinlich, das solche Energiemengen seid der Frühzeit unseres Universums überhaupt zusammengekommen sind – wenn dieses AT-Feld so existieren kann, ist es nicht unwahrscheinlich, dass solche Macht unseren Schöpfern zur Verfügung stand, aber hier können wir nur mutmaßen – wir selbst, und ihre anderen Schöpfungen sind letzlich das einzige wirkliche Zeugnis ihrer Existenz. Wir verfügen jedenfalls nicht über sie.
 

„Dann ist es also in anderen Worten unmöglich zu durchdringen?“ fragte Kuze, das Papier durchblätternd.

Ayanami lehnte sich dünn lächelnd in ihrem Stuhl zurück. „Das war es, was die Herren vom Komitee bestätigt haben wollten.“

„Ich nehme an, die Antwort hat ihnen gefallen?“

„Nicht wirklich, nein.“

„Aber… Sie sagten doch selbst, dass das AT-Feld unmöglich zu durchbrechen ist…“

„Unmöglich zu durchbrechen, ja, aber es zu neutralisieren ist eine andere Sache. Es bräuchte einfach nur ein ebenbürtiges AT-Feld.“

„Ein ebenbürtiges Feld? Einen Evangelion?“

„Oh, die Evangelions sind nur schlechte Kopien, und auch so sind es begrenzte, menschliche Seelen, die sich darin befinden werden… Aber es gibt hier auf diesem Planeten genau eine Entität, die ein ebenbürtiges Feld projizieren könnte – tatsächlich ist unsere Welt in dieser Hinsicht relativ einzigartig… Die andere Saat des Lebens, Kuze. Unsere eigene Quelle, Lillith… die sich derzeit in den Komplexen unter dem NERV-Hauptquartier im schwarzen Mond befindet, auch bedingt durch den Bau von EVA 01…“

„Der Bau von EVA 01? Das ist es, was den Herren da oben Sorgen macht?“

„Das ganze ist ein… recht chaotischer Nexus in dem sich viele wichtige Komponenten nah beieinander befinden, selbst Komponenten, von denen wir noch nicht wissen, dass sie wichtig sind… Wenn sie nach Zeitplan fertig werden, ist das Aktivierungsexperiment in acht Monaten angesetzt. Wenn es so weit ist… könnte alles geschehen. Etwas sehr Relevantes wird vermutlich geschehen. Die gute alte Yui-chan plant etwas, und ich denke, die Herren vom Komitee ahnen das Resultat… - Ich schätzte, sie wissen, was passiert, aber nicht, wie genau, oder soetwas in der Art. “

„Und ahnen Sie es?“ Kuze selbst begann dieses Resultat umso besorgnierrengender zu finden, je länger Ayanami dünn vor sich hin lächelte – Das hatte ihn schon allein die Erfahrung gelehrt.

„Aber aber… Es ist nicht an mir, das Szenario zu hinterfragen. Aber vermutlich… wir es mit dieser einen Passage aus den Schriftrollen zu tun haben, die sich stetig geweigert hat, Sinn zu machen – Die Frau, die das Gewand der Göttin an sich nimmt, und die Göttin, die das Gewand der Frau an sich nimmt… Ikari Gendo, Fuyutsuki Kozo, Makinami Murasaki, und am meisten von allen, Ikari Yui. Wer weiß, was diese Leute denken? Keiner weiß, was diese vier wirklich im Schilde führen… und ich kenne sie alle gut genug, um mit Sicherheit zu sagen, dass keiner von den anderen dreien eine Ahnung davon hat, was Yui-chan im Sinne führt…“

„Nicht einmal ihr Ehemann?“

„Der am allerwenigsten. Verwundert Sie das? Ich bin eine alte Sandkastenfreundin von ihr, und ich weiß auch nicht mehr als Sie. Aber gerade das könnte zu Faktoren führen, die noch nicht einmal sie hervorsehen kann… Sie hat ein exzellentes Hirn, unsere Yui-chan. Ihre bessere Hälfte ebenfalls. Sie haben beide ein sehr, sehr gutes Verständnis vom großen und ganzen, von Langzeitprozessen… von der Vorhersage der Zukunft, kurz gesagt. Aber die Logik der beiden hört auf, wo der andere ins Spiel kommt…“
 

---
 

Ayanami hatte nicht gedacht, dass diese Sache sie verändern würde, aber sie tat es.

Zugegeben, es war weniger irgendeine Art von unmittelbarer „Umordnung“ durch die Umwelt, sondern vielmehr etwas Nichtstoffliches wie eine Erinnerung, die sie auf ewig für sich behalten durfte.

Sie fühlte sich klarer in ihren Entscheidungen, schärfer in ihrer Zielstrebigkeit, und Dinge, die sie vorher besorgt hatten, hatte sie nun lange hinter sich gelassen.

Hinfort waren die Sorgen der einen Freundin im Bunde, die nie irgendwas Interessantes zu erzählen hatte, ersetzt durch dieses stille, wissende Lächeln.

Die Träume mussten so etwas wie eine Widergutmachung gewesen sein, um ihr das zu zeigen, was sie niemals sehen würde, und auch, wenn diese bestimmte Ecke ihres Gehirnes, in denen diese Gedanken und Erinnerungen eingespeichert waren, für ihren wachen Verstand niemals wieder Sinn machte, nachdem das dynamische, lebende Stück Ewigkeit ihren Leid verlassen hatte, war sie sich in den Träumem selbst darüber bewusst gewesen, in einer Art bitterlichen Ahnung.

Und diese „Ahnungen“ waren immer erfüllt von Musik und Freuden und Herrlichkeit, von einer Melodie, die wie Gedichte sprach, und Grashalmen und Heidekraut, dass sich im Wind teilte, um den Blick auf einen jungen Mann von etwa fünfzehn Jahren freizugeben, der sich umdrehte und lächelte, verspielter Wind in seinem silbernen Haar, die Meeresküste hinter ihm, untergehender Abend im Hintergrund.

Manchmal kann sie das Wort von seinen Lippen ablesen („Danke“), aber sie weiß nicht, wofür der Dank ist. Manchmal versteht sie dieses eine Wort nicht, aber dafür alles davor, und sie denkt ernsthaft darüber nach, das alles zu beenden, sodass dieser zarte, weinerliche Junge mit den unmöglichen blauen Augen seine Hände nicht mit Blut beflecken musste, und er diese Welt nicht in seiner Verzweiflung als eine Opfergabe an die Flammen darbieten würde, doch als sie die Wärme sah, die die beiden miteinander tauschten, konnte sie sich nie dazu bringen, sich voll und ganz dazu zu überzeugen, und wenn sie am nächsten Morgen aufstand, würde sie nichts mehr wissen, außer, dass es einen guten Grund für dieses dünne Lächeln auf ihrem Mund gab.

Die Zustände, in die sie das alles warf, waren unglaublich, und sie wusste, dass es nicht nur die Hormone sein konnten.

Nicht, wenn Hormone nicht ausreichten, damit sich eine erwachsene Frau am Sitzen an eine Wand oder eine Stuhllehne anlehnte und dann stundenlang so verblieb, einfach, weil sie aus irgendeinem Grund so eine tiefe Freude empfunden hatte, dass ihr nichts einfiel, was sie an ihrem gegenwärtigen Zustand korrigieren musste, oder wenn es häufiger vorkam, dass zu seltsamen Gelüsten und Stimmungsschwankungen auch noch hinzukam, dass die Betroffenen plötzlich Lieder vor sich hin summten, die sie niemals vorher gehört hatte.

Durch und durch Wissenschaftlerin schrieb Ayanami etliche Papiere darüber, von denen eine harte Analysen waren und sich andere mehr lasen wie Tagebucheinträge, immer darauf bedacht, ihren einzigartigen Augenzeugenbericht für die Nachwelt zu bewahren.

Auch, wenn sie bereits errechnet hatte, dass es nicht mal die bei Menschen üblichen neun Monate brauchen würde, waren Komplikationen erwartet wurden, Menschen und Engel, so stand es seit ewigen Zeiten geschrieben, konnten schließlich nicht koexistieren, auch auf molekularbiologischem Niveau nicht.

Doch sie kamen nicht.

Ayanami hatte klar gesagt, dass man im Falle eines Falles dem Erhalt des Subjekts Priorität geben sollte, dass sie davon nur eins hätten, ihre Arbeit aber mit den Daten, die sie dagelassen hatte, fortgeführt werden könnte, aber ihre Befürchtungen waren völlig unbegründet.

Statt elend ans Bett gefesselt zu sein, fühlte sich die Wissenschaftlerin besser als je zu vor und jemals danach, so kam es auch, dass man sie nach Monaten auf Beobachtung trotz ihres… Zustands gehen ließ, um ihre alten Freundin zu besuchen.

Dennoch hatte sie gerade an die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft nur wenig wirkliche Erinnerung, so tief war sie in dieses Traumland aus Lichterglanz und Melodien versunken gewesen, immer häufiger, und immer mehr, völlig verzückt von dem, was die Frucht ihr zeigte, von dem goldenen Schein, der sie bis vor die Tore des Elysiums führte und einen kurzen Blick in die glorreiche Zukunft werfen ließ, deren Grundsteine sie gelegt haben.

„Jetzt naht bald der Moment, an dem sich unsere Wege trennen müssen…“ erzählte ihr ihr zeitloser, silberhaariger Fährmann. „Aber Kagura-san, weine nicht, weil es vorbei ist, lächle, weil es überhaupt geschehen ist…“

Lache, weil es geschehen ist.

Dieses Mal führte er sie in den Garten jenseits dieser goldenen Tore, das war sein Geschenk für sie, von der er wusste, dass sie vor allem nach Wissen strebte, und zeigte ihr die Kinder der Zukunft, zeigte sie ihr, wie Moses das verheißene Land gezeigt worden war, obwohl er es niemald selbst betreten durfte, zeigte ihr die Kinder von heute mit ihren eigenen Kindern an ihrer Seite, bereit, sich auf die Welt auszubreiten, die sie geerbt hatten:

Seiet fruchtbar und vermehret euch!

Da war ein kleines, rothaariges Mädchen mit einem einzelnen Zopf, das sich mit großen Augen umsah; Ihre Kleidung hing in Lumpen, aber ihre Füße standen bis zu den Knöcheln in klarem, endlich blauen Wasser, und die Brise der Meeresküste spielte mit den Stofffetzen, und hinter ihr war ein Teenager mit tief gebräunter Haut, dunklem Haar und erdig braunen Augen, das Feuer einer lange glühenden Wut endlich gelöscht, rechts davon, ein Päärchen mit einem Neugeborenen, etwas abseits, ein dümmlich lächelnde Junger Mann mit einem Vogelnest aus wirrem schwarzen Haar, links, eine junge Frau mit einem Wasserfall aus dunkelbraunem Haar und ein geringfügig jüngeres, zierlicheres Mädchen, deren Haubenfrisur eine etwas seltsame Farbe aufwies…

Und das jüngste Kind, von dem Säugling einmal abgesehen, das kleine Mädchen mit den roten Haaren, dieser keimende Graßspross in einer vermeintlichen Wüste, kniete sich überglücklich in den Strand hinein und begann, fröhlich im Wasser umherzuplanschen, den Dreck der Vergangenheit von ihrem jungen Leben abwaschend, und den Duft der Meeresküste überallhin zu versprühend, der mit dem Second Impact eigentlich für immer aus dieser Welt verschwunden war, jene Katastrophe, welche selbst die Urheimat des Lebens, den Ozean, vollends abgetötet hatte, ohne, dass es den Anschein machte, als ob sich die Schmiede des Lebens jemals wieder entzünden würde.

Der Duft der Meeresküste (Nagisa Kaworu) – Ein wortloses Versprechen von vor allem einer Sache: „Erlösung“.

(„Das Resultat… Ist etwas, dass für die Augen unserer Enkelkinder bestimmt ist.“ )
 

„Nein, ich bin es, die dir danken muss.“ Antwortete sie ihm letztlich, als er sie zum letzten Male aus diesem goldenen Garten herausführte.

„Aber erlaube mir nur noch eine Frage, Tabris… nein, Kaworu… Hast du am Ende Liebe gefunden?“

Alle finden an Ende Liebe.“

„Ja, aber hast du sie gefunden?“

„So stark, dass sie den Tod wert ist.“

„Und wie ist er so, der, den deine Seele liebt?“

„So sehr, sehr… menschlich.“

Und Ayanami lächelte ihr dünnes, wissendes Lächeln. „Das sieht dir ähnlich.“
 

Das musste… in den letzten Stunden davor geschehen sein.

Dieses Kind mochte nicht auf den klassischen Weg in sie hinein gekommen sein, aber hinaus kam es auf die altmodische Weise. Ayanami Kagura war wohl die erste Frau in der Geschichte der Menschheit, deren Jungfernhäutchen gerissen war, als sich der Geburtskanal für die Niederkunft dieses Jungens gedehnt hatte.

Und selbst dort hatte Ayanami nicht ganz begriffen, was mit ihrer physischen Präsenz in der Gegenwart geschah, in ihrer Erinnerung gab es nur ein paar Schnappschüsse von der halben Mannschaft von Komplex Fünf, inklusive natürlich des „klassischen“ medizinischen Personals, und wie sie sich alle über sie gebeugt hatten.

Die vielen Töne, Lieder und Melodien verwirrten sie nicht unerheblich – Eine Geburt sollte doch eigentlich Schmerzen bereiten, und nicht… Freude.

Sie musste an dieses kleine, rothaarige Mädchen denken, an diesen unmöglichen Avatar einer strahlenden Zukunft, mit ihren strahlenden Augensternen.

Wer sie wohl gewesen war?

Es stand ihr wohl nicht zu, mehr zu wissen.

Das war vermutlich alles, was man ihr verraten konnte, ohne dass das falsche Wort am falschen Ort irgendeine verhängnisvolle Spirale auslösen würde.

Das war keine Rechtfertigung, um sich zu beklagen, nicht, nachdem sie schon so viel Gnade empfangen hatte.

Weine nicht, weil es vorbei ist, lächle, weil es geschehen ist.

Dann – Aus. Vorbei.

Es war nur natürlich.

Es waren von Anfang an seine Melodien gewesen, sein Licht und seine Herrlichkeit.

Sie hatte sie sich nur von ihm ausgeborgt.

Sie ließ sich erschöpft sinken in das fahlgraue Licht der Realität, und beinahe hätte sie ihre Arme ausgestreckt, in der Erwartung, ihn halten zu dürften, aber irgendjemand – Kuze? – hatte das Kind schon mitgenommen, für erste Untersuchungen und weitere Verwahrung, während man auch sie von hier weg rollte, vermutlich in Gefilde mit etwas mehr privatem Raum.

Das Kind war auch nur geborgt gewesen.

Bizarr war, das sie seine sachten Bewegungen in ihrem Inneren, diesen… Funken mehr vermisste, als den Glanz und das Licht und die himmlischen Fanfaren.

Yui hatte recht gehabt, sie hatte das hier unterschätzt, und sinkend in diesem Gefühl von abrupter Entzauberung konnte Dr. Ayanami auf einmal die abstrusen Handlungen verstehen, zu denen Frauen, die ihre Kinder verloren hatten, fähig sein könnten.

Nachdem man das einmal gefühlt hatte, konnte man nicht zu dem Zustand zurückkehren, in dem man die Reise begonnen hatte.

Man konnte nicht zurückgehen und wieder wie eine Frau leben, die niemals Leben getragen hatte.
 

Ein letztes Stimmchen in den Hinterkammern ihres Schädels schätzte, dass es eigentlich gut war, dass sie den Jungen in diesem vermutlich ziemlich… hormonalen Zustand nicht gesehen hatte. Sie wusste, wie Bindungen funktionieren, grundlegende Hirnchemie war in ihrem Fach ein Muss. Sie wusste die Phänomene, sie weigerte sich, Gefühl dazu zu sagen, es war eine Frage des Stolzes, als solche zu erklären und konnte sich denken, dass sie wieder klar sehen würde, sobald dieser biochemische Nebel erst gelichtet war, und sie würde sich dann sobald sie sich ausreichend ausgeruht hatte, vermutlich daran machen, sich des neuen Testsubjektes zu besehen.

Oder vielleicht würde sie ihn auch in die Arme nehmen, zu ihm sprechen und ihm Lieder vorsingen.

Oder Beides.

Bevor sie dem Schlaf ins Garn ging, fragte sie sich noch einmal entfernt, wer wohl dieses kleine, rothaarige Mädchen gewesen war.
 

(Kurz bevor Ikari Yui ihrem Gatten und ihrem Mentor nachfolgte, und somit den Ort des Verbrechens verließ, hielt sie, noch außerhalb der Türschwelle, einen Moment beinahe ehrfürchtig inne. Dieses letzte, dünne Lächeln, mit dem das Gesicht ihrer Freundin für immer erstarrt war, gehörte zu den Dingen, die selbst sie nicht erklären konnte.)
 

---
 

Als wir von Dr. Ayanamis Tod erfuhren, waren wir alle geschockt.

Die plötzliche, unerwartete Art, auf die es geschehen war, die Brutalität der Tat selbst, und die aufreibende Tatsache, dass alle Indizien darauf hindeuteten, dass sie ihren Mörder gekannt und selbst in den Raum hineingelassen hatte, den sie nicht mehr lebend verlassen hatte.

Alle hier in Komplex Fünf waren betroffen – Denn auch, wenn wir alle lange Zeit unter der Erde gearbeitet haben, wenn wir wussten, das das Ende bevorstand, war es sicht so, als ob wir nichts von unserer Menschlichkeit übrig gehabt hätten. Das wäre nicht die Art von Organisation, die Dr. Ayanami geführt hatte.

Doch nun galt es, ihr Werk fortzusetzten, und das bald, denn mit der Fertigstellung der ersten Evangelions oder zumindest ihrer Kontrollsysteme bangte sich der Zeitpunkt an, an dem von Projekt Master erwartet werden würde, die Ergebnisse zu liefern, für die es begonnen worden war.

Obwohl Vizedirektor Kuze als die nächst best qualifizierte, verfügbare Person Dr. Ayanamis Posten als Direktor von GEIST übernahm, blieb er dennoch hauptsächlich seinen alten Forschungsgebieten und Aufgabenbereichen treu – Keine von ihnen war unwichtig und unerheblich, und Vizedirektor… nein, Direktor Kuze war mit ihnen betraut worden, weil er der beste auf seinem Gebiet war.

Und diejenige, die das meiste über Dr. Ayanamis Forschungen Bescheid wusste, war ohnehin die Person, die ihr dabei schon seit fast einem ganzen Jahr tagtäglich zur Seite gestanden hatte – Ich.

Ich muss zugeben, dass ich ernsthaft begann, mich zu fragen, ob Dr. Ayanami das hier nicht irgendwie …geahnt hatte, als sie mich vor einer Weile, über einige… knackigere Details des Projekts aufgeklärt hatte.

Es gab ihm unserem Gewerbe nur selten glückliche Zufälle.

Trotz meiner Versuche, die Lücke, die unsere Direktorin zurückgelassen hatte, dauerte es doch mehrere Jahre, bis ich zur neuen Vizedirektorin gemacht wurde, und fast zehn Jahre bis zu meiner eigenen Promotion, aber dennoch muss ich, so krank es doch irgendwo klang, zugegeben, das es wohl gerade Dr. Ayanamis Tod war, der mir eine Chance gab, als Wissenschaftlerin zu strahlen und meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, denn basierend auf Dr. Ayanamis Vorarbeit waren Direktor Kuze und ich tatsächlich in der Lage, das Projekt wie geplant durchzuführen, und ich kann sagen, dass ich meinem Ziel, so zu werden wie sie, bedeutend näher gekommen bin…

Ich denke mittlerweile, dass sie wahrscheinlich so der so wollte, dass ich ihre Arbeit früher oder später fortsetzte, und ich betrachte es als eine Ehre aber…

Ich hätte mir gewünscht, dass es eher später als früher sein würde.

Tabbie-chan… ich meine, Code „Tabris“ hielt sein Lächeln zwar aufrecht, vermutlich für den Rest von uns, aber es nahm für eine ganze Weile merklich melancholischen Touch an, der etwas brauchte, um wieder zu weichen.

Es war also nicht so, als habe es ihn nicht getroffen – und dennoch war er es am Ende, der mich getröstet hat, egal, ob meine Pläne zunächst andersrum aussahen.

„Weine nicht, weil es vorbei ist, lächle, weil du Kagura-san überhaupt begegnet bist, weil sie überhaupt hier war.“

In dem Moment war es mir ziemlich egal, in wie fern seine Fähigkeit das so zu sehen, so zu sagen damit zusammenhing, in wie fern er menschlich war, oder nicht.

Kam das nicht auch bei gewöhnlichen Kindern gelegentlich vor, dass sie beizieiten etwas ungewöhnlich Tiefgründiges sagten?

Es war mit in diesem Augenblick wirklich egal, Tabris war, Engel oder nicht, einfach …Tabris, und als solcher jemand der… wirklich inspirierend sein konnte.

Ja, inspirierend war das Wort, im selben Zusammenhang wie man es verwendete, wenn man in Nachrichtungen oder Dokumentarsendungen von Kindern erfuhr, die irgendein schlimmes Schicksaal erlitten hatten, Krebs oder eine Behinderung oder sonst was, aber trotzdem noch strahlend und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken konnten, gerade weil ihre Situation sie den Wert der Dinge gelehrt hatte…

Dass ich es war, die den Jungen bis her „verwaltet“ hatte war wohl auch einer der Faktoren, die meinem Vorrankommen wohl zugutekamen…

Was den Jungen selbst angeht, wollte es mir nie so ganz in den Kopf, dass er wirklich, wie Direktor Kuze mich immer gerne erinnert, ein Monster sein soll, dessen Daseinszweck es ist, die Menschheit zu vernichten – Leugnen tat er es nicht, aber das ganze klang ziemlich abstrakt und weit weg, und wenn man es so betrachtete, so, entfernt, abstrakt und unfähig, große, anklagende Klumpen von Emotion zusammenzuziehen, dann konnte man auch nicht übersehen, dass das große Projekt ja die Vernichtung allen Adam-basierten Lebens vorhersieht.

Seine Vernichtung.

Man könnte natürlich sagen, dass wir viele sind, und er nur einer, und das unsere Interessen daher überwiegen sollten, aber es stimmte ja auch, dass er technisch gesehen genau so eine „abgeschlossene Einheit“ bildete, wie wir alle zusammen.

Das waren keineswegs Zweifel an unserem Recht, für unser Überleben zu kämpfen oder gar Zweifel am großen Projekt, nein, absolut nicht, da sind wir uns einig: Völlige Vernichtung durch die Engel ist nicht gut!

Ich rede mehr davon, wie das die Art beeinflusst, auf die ich ihn sehe – Manchmal gucke ich ihn an, und da ist nichts anderes als der wohl freundlichste, wohlerzogenste, aufmerksamste Junge, den man sich vorstellen könnte – Aber wenn ich gesagt hätte, dass ich ihn auch als solchen sehe, hätte ich mich wohl der Heuchelei schuldig gemacht – würde ich hier irgendwo ein normales Kind in solchen Umständen sehen, müsste doch mein erster Gedanke sein, dass ich es irgendwie von hier weg schaffen würden müsste, richtig?

Aber auch solche Empfindungen und Gedanken kamen eigentlich nicht, auch, wenn ich mich geneigt sah, ihm immer Souvenirs von der Außenwelt mitzubringen, wenn er danach fragte, und versuchte, Vorwände dafür zu finden, mit ihm nach draußen zu gehen.

Aber ich schätzte, dass ich ihn wohl trotzdem nicht als einem Menschenkind ebenbürtig wahrnahm, nur wie etwas, das mein Gehirn halt als süß oder liebenswert verarbeitete, weil es Ähnlichkeit zu Menschenkindern hatte.

Ich werde natürlich immer sagen können, dass uns die Umstände keine Wahl ließen, und dass ich durchaus wusste, was er war.

Und der Junge selbst?

Die Jahre vergingen, und er wuchs herran, auf, wie man sagen könnte, sehr ironische Art und Weise – Aus diesem erstanlich weisen kleinen Jungen wurde über die Jahre ein junger Mann, dessen Charme man sich praktisch nicht entziehen konnte. Es hätte unser verhasster Feind sein sollen, der Ableger Adams, aber wenn man mit ihm in einem Raum war, schien es beinahe unmöglich, ihn nicht zu mögen.

Höflich, freundlich, hilfbereit, offen für neues, dankbar und kultiviert, eine Person von großen Worten, der so ziemlich alles, was er sagte, wie eine tiefe, philosophische Weißheit klingen lassen konnte, eine tiefgründige Person, ein Mann des abstrakten, der sich nach Schönheit verzehrte wie Menschen nach Luft und Wasser, die Sorte, die für ein ideal sterben würde, die einen philosophischen oder moralischen Sieg einem tatsächlichen dankend vorziehen würde. Fähig, in den düstersten Orten und Sachverhalten die Schönheit zu sehen, und fähig, in Menschen zu lesen wie ein Büchern, tugendhaft, wenn es je jemand gewesen ist, geradezu das verklärte Ideal eines jungen Mannes, den Verstand eines Gelehrten, die Seele eines Märtyrers, der Wesenskern eines perfekten Freundes, oder, von meinem Blickpunkt aus, eines idealen kleinen Bruders, schätze ich, wahrlich ein Engel, aber von der Sorte, wie man sie aus den alten Legenden kennt.

Es erscheint falsch, dass das die Gestalt unseres Feindes ist, das Gesicht unseres Gegenspielers – Der Feind sollte doch widerborstig und garstig sein, und abstoßend, eben wie etwas, das mit dem Logos unserer Welt nicht zusammen passt und nur in einer grundlegend anderen Welt existieren kann, in der für uns kein Platz mehr sein wird, und wenn das die Wahrheit ist, beginne ich mich zu fragen: Wenn das der Feind ist, mit dem wir nicht koexistieren können,was sind wir da? Was sagt das über uns? Was sind wir dann?
 

Ein Stück weit ist es wohl sinnlos, sich das zu fragen. Ich weiß zuerst einmal, dass ich nicht sterben will, und selbst, wenn mir danach wäre, sind da immer noch all die anderen. Möglichkeiten, bei denen wir draufgehen, kommen also von vorne herein nicht in Betracht.
 

– Dr. Miyazawa Haruhi, verfasst Anfang 2015.

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(1) Ich finde Gendo’s permanent grinsende, ultradreiste jüngere Inkarnation aus Episode 21 absolut geil. Verdiente nur mal eine Erwähnung.

(2) „Subjekt 23“ ist hier ein kleiner Gag für die Verschwörungs-fans unter euch. Es ist natürlich die Nummer der Illuminati.

(3) Das kleine Zitat vor dem kleinen Abschnitt über Kaworu’s Aufenthalt in Keels’s Villa ist aus dem Videospiel „Vagrant Story“.

(4) Habt ihr euch nie gefragt, wo Gendo den Namen „Ayanami“ her hatte? In Q gibt es dafür interessanterweise eine Erklärung, die ich hier nicht verraten will, die aber mit bestimmten Details aus dem Original, die ich gerne verwenden würde, nicht kompatibel wäre. Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Naja, hiermit wären dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

(5) Ich gehe einfach mal davon aus, dass die übliche Geburtstag-des-Sychronsprechers-Konvention auch für Mari gilt. Des übrigens hat man zwar in den ganzen Booklets und so weiter zwar nicht erfahren, aus welchem Teil Großbrittaniens Mari nun kommt, aber Sadamoto hat in einem Interview mal von einer Szene/Vorgeschichte erzählt, die es so nicht ins finale Skript geschafft hat, dass Mari aus einer blasierten englischen Familie stammt. Das wird die armen Schotten, Iren und Walisen sicher wieder unheimlich freuen…

(6) Und der zweite Teil dieses Schinkens hier erwartet euch in 17: [Instrumente von Schicksal und Vorsehung]

(7) Und schon mal als Vorwarnung – da es schon mehrmals vorgekommen ist, das ich mich mit der Formatierung vertan hatte und deshalb breite Teile kursiv waren bzw. sich beim letzten Kapitel sogar die Freischaltung wegen sowas verzögert hat, (dieses hier war zu diesem Zeitpunkt schon zum Großteil fertig) steige ich ab dem nächsten Kapitel von Formatierungscodes auf die neue Funktion, formatierten Text zu copy-pasten, umzusteigen, um weitere Formatierungsunfälle zu vermeiden. Da diese jedoch noch in der Alpha-Version ist, könnte es unter Umständen vorkommen, dass die nächsten Kapitel irgendwie komisch aussehen – Da die vermutlich kontinuierlich daran arbeiten, kann es nur noch besser werden.


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Mosura
2013-05-29T22:18:02+00:00 30.05.2013 00:18
Danke, deine Erzählweise ist inspiriernd.
Von:  -Tsubasa-
2013-02-04T21:05:54+00:00 04.02.2013 22:05
Um ehrlich zu sein bin ich kein großer Fan von ewig langen Flashbacks, aber deine Idee mit Kaworus Vergangenheit ist ganz interessant
Trotzdem hoffe ich, dass es im nächsten Kapitel wieder mehr um die Hauptstory geht
Von:  Magnus
2013-02-04T15:11:42+00:00 04.02.2013 16:11
wieder mal recht interessant.


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