Unforgivable Sinner von xRajani (Remake) ================================================================================ Prolog: Die Legende Johtos -------------------------- Nicht erschrecken. Pokémon Quest, Johto no Densetsu und Unforgivable Sinner hängen, was den historischen Legendenhintergrund betrifft, zusammen. Daher unterscheiden sich die Legenden nur am Schluss etwas. ____________________________________________________________________________ Jede Region hat ihre eigenen Geschichten, wie jedes Lebewesen, das auf der Erde wandelt. Eine Legende, die so alt ist wie die Welt selbst, wird in allen Ländern erzählt. Und doch unterscheidet sie sich… So lasst mich über diese Geschichte vom Beginn unserer bekannten Welt berichten: Bevor die Welt existierte, war sie in die düsteren Schatten des Chaos gehüllt. Es herrschte tiefste Dunkelheit, in der es weder Leben, Fröhlichkeit, Freude und Glück noch Tod, Traurigkeit, Leid und Pech gab, sondern bloß ein ewiges Nichts. Kein Licht vermochte das Chaos zu durchdringen und doch brachte jene Finsternis eine Kreatur hervor. Arceus, so pflegten die Menschen unserer Vorfahren jenes göttliche Wesen, dessen gleißender Schein das Nichts vertrieben hatte, zu nennen. Aus dem Ei, welches Arceus erschuf, entsprangen Palkia und Dialga. Sogleich vermochten sich Raum und Zeit auszudehnen, als ihre Herzen begannen zu schlagen. Durch dieses Werk aber schwanden die Kräfte der obersten Gottheit und aus seinem schwindenden Licht wurde Mew geboren. Die Gottesmutter und zugleich die Göttin des Lichts und der Fruchtbarkeit begutachtete das unfertige Werk, das noch immer von einem Schleier der immerwährenden Dunkelheit bedeckt war. So sandte sie Cresselia und Darkrai. Es war die Geburtstunde von Licht und Finsternis, denn dort, wo es Licht gab, herrschten auch die Schatten, und wo Schatten lebendig waren, wurden sie von Licht durchdrungen. Ja… So gegensätzlich Cresselia und Darkrai auch sein mochten, ihre Schicksale sollten bis in die Ewigkeiten aneinander gebunden sein. Noch immer war die Erde wirr und wüst und so erweckte Mew die Titanen des Himmels, der Erde und des Meeres. Rayquaza schied die Bläue der Welt in den weiten Himmel und die tiefen Gewässer. So wurde die unendliche Weite des Himmels geboren. Nun sammelte Kyogre das Wasser an einem Ort und das Land erstreckte sich durch Groudons Macht. Bereits in jener Zeit herrschte eine Fehde zwischen den göttlichen Kreaturen, so überliefern es zahlreiche aus Hoenn stammende, heilige Schriften. Dieser jahrelange Kampf erzürnte das sanfte Gemüt Mews und so verbannte sie die Kämpfenden auf den Grund des Meeres und ins Herz eines Vulkans. Ein Siegel eines jahrtausendlangen Schlafes sollte ihre Mächte vom Antlitz dieser Welt tilgen. Obhut über Land und Meer wurden nun Ho-oh und Lugia zugetragen, die Mew entsandte, um über das Werk der in Schlummer gefallenen Titanen zu wachen. Anschließend wurden die niederen Pokémon geschaffen, die Wiesen, Wälder, Berge, Höhlen, Wüsten, Steppen, Seen und Flüsse, sowie den Ozean und den Himmel besiedelten. So kehrte in den Herzen der Menschen und der Pokémon, die zu Freunden und Gefährten wurden, Frieden ein. Und obwohl keine Zwietracht die Herzen der Geschöpfe durchzog, schufen die obersten Gottheiten die Halbgötter: Lavados, der Hüter des Feuers und des Werk Ho-ohs. Zapdos, der Gebieter über Blitz und Donner. Arktos, die Herrin über Schnee und Eis. Entei, der König der Pokémon. Raikou, der Herr über Donner und Blitz, gleichsam mit Zapdos. Suicune, die Tochter der Nordwinde und Beschützerin der Flüsse und Seen. Selfe, die Verkörperung des Wissens. Vesprit, die schöne Seele der Gefühle. Tobutz, der gesunde Geist des Willens. Regigigas, welches aus Magma, einem Eisberg und einem Felsen drei weitere Pokémon erschuf, genannt: Registeel, Regice und Regirock. Gemeinsam sind die Vier die Behüter alter Reliquien. Nicht zu vergessen ist die Schöpfung unserer Gattung. Zuletzt wurde die Existenz des Menschen ins Leben gerufen. Dank dem Wissen der Götter blühte die ihnen zugeordnete Welt rasch auf. Die Pokémon, die Freundschaft mit den Menschen schlossen und jene zu ihren Gefährten wählten, halfen ihnen die Schönheit der Natur zu entdecken, sodass sie Leben in ihr zu finden vermochten. Im Laufe der Jahre entwickelten sich Dynastien und Hochkulturen. Die Menschen strebten nach Macht und doch vermochten die alten Legenden niemals in Vergessenheit zu geraten, denn jede dieser Sagen lebte in den Herzen der Menschen weiter. Um den Göttern ihren Dank zu zeigen, erschufen die alten Völker prachtvolle Heiligstätten und die Legenden wurden stets weitererzählt. Alle Welt sollte wissen, wie der Kreislauf des Lebens begonnen hatte. Gewiss aber brachte jedes Land seine eigenen Geschichten hervor und jedes Land sollte andere Götter lobpreisen. So erbaute das Volk Hoenns prächtige Schreine, um dem Sonnengott Groudon und dem Meeresgott Kyogre zu danken, den Göttern von Zeit und Raum, Dialga und Palkia, erschufen die Menschen des heiligen Landes Shinou prachtvolle Tempel, und das Johto’sche Volk errichtete zu Ehren des göttlichen Phoenix Ho-oh, der Wärme und Leben schenkte, den Zinnturm und den Bronzeturm, um Lugia zu huldigen. Doch dieser Frieden war bloß ein Trugbild der Wirklichkeit. So schön wie diese Harmonie auch war, sollte sie schon bald zerstört werden. So gegensächlich Feuer und Wasser sein mochten, standen sich Raum und Zeit in einer ewigen Blutsfehde gegenüber. Dieser Krieg, der aus dem Herzen Shinous entsprang, streckte schon bald seine gierigen Krallen nach der Welt aus und sollte das Schicksal aller Menschen und Pokémon verändern. Die unerbittliche Schlacht der lichteren Hohepriester, die Dialga und Palkia dienten, dehnte sich auf die Menschheit aus. Hass schürte sich unter den Menschen und Neid keimte auf. Tief bohrte sich die Zwietracht in die Herzen der Menschen, nistete sich dort ein und ließ sie zu willenlosen Marionetten ihres eigenen Verstandes werden. Ja, dieser Krieg vermochte eine unüberwindbare Kluft zwischen den Menschen zu reißen. Ob jung oder alt, Frauen oder Männer, griffen sie zu den Waffen und bekämpften sich. Doch der Krieg, den sie zu führen gedachten, führte sie, wuchs vor ihnen aus den tiefsten Spalten der Schluchten auf. Wie ein Nebel, ja wie ein graues Gespenst rüttelte er am Glauben der Menschen. Jene dunkle Schlacht nährte sich aus negativen Gefühlen, labte sich an Angst, Hass und Leid, welche fortan regierten. Und aus der Asche jener zerstörten Welt erhoben sich Dialga und Palkia, begannen sich bis aufs Blut zu bekämpfen. Doch es war keine Schlacht, die endete, wenn der Schwächere sich unterwarf. Nein, es war eine Schlacht um Leben und Tod. Das lang gehegte, Jahrtausende alte Gleichgewicht der Mächte war durch das Erwachen jener Gottheiten gestört. Stünden sich Raum und Zeit im Kampfe gegenüber, so würde Chaos die Welt regieren, bis nur noch Asche zurück blieb. So stand es geschrieben. Wer vermochte dem Zorn eines Gottes zu widerstehen? Niemand vermochte dies zu tun. Menschen und Pokémon hauchten in dieser Schlacht ihr Leben aus. Wie lange sollte dieser Wahnsinn noch andauern? Aber darauf hatten bloß die Götter eine Antwort, die unberührt, wohl mit einem höhnischen Lachen, der vollkommenen Vernichtung der Welt beiwohnten. Als selbst der letzte Hoffnungsfunke zu erlöschen drohte, stießen die Menschen ein Stoßgebet zum Himmel empor. Und als alle Zuversicht aus den Herzen der Menschen entwichen war und die Erde im Chaos zu versinken drohte, erstrahlte zartes Licht vom Himmelsfirmament herab und kündigte das Jüngste Gericht der Gottesmutter Mew an. Ins Leben gerufen war jene Kreatur, die heute als Todesgott verschrien war. Giratina. Ihm war die Last auferlegt worden Raum und Zeit Harmonie zu bringen. Doch auch Giratina wusste keinen Ausweg. Und so versammelten sich, hoch über den Wolken und weit entfernt vom Anblick des blutigen Krieges, vier Gottheiten: Giratina, der Herrscher über das Zwielicht und Bewahrer des Gleichgewichts. Rayquaza, der König des Himmels. Ho-oh, der Gott des Feuers und des Lebens. Lugia, die Hüterin des Meeres und der Winde. Vereint vermochten sie nicht gegen Dialga und Palkia zu gewinnen, doch beschlossen sie ein Abkommen. Sie erwählten vier Menschen. Die Wächter. Zu beschützen und zu dienen war ihre Aufgabe. Und ihnen war die Bürde auferlegt worden, dem Werk, welches die Vier Vereinten nicht zu vollenden wussten, den Frieden zurück zu bringen. In einer anschließenden Schlacht, als Palkias und Dialgas Kräfte nachzulassen schienen, wurden sie letztlich bezwungen und ihre zerstörerische Macht wurde dank Giratinas Kräfte vom Antlitz der Welt verbannt. Und trotz der Euphorie des Sieges hatte jener seinen hohen Preis. Giratinas Kräfte schwanden, sein Herz schlug immer schwächer… So ließ die Wirkung des Siegels nach und brach. Und Giratina hauchte sein Leben aus, verschwand im Exil des Nichts, des Zwielichts. Tragödien spielten sich in der Welt ab. Unzählige Menschen und Pokémon gaben ihr Leben in einem Krieg, dem niemand Einhalt zu gebieten vermochte. Welchen Preis mussten die Menschen für ihr nie enden wollendes Streben nach Macht zahlen? Macht schmälerte das Urteilsvermögen, ließ sie anfällig und verletzlich werden. Doch sie opferten ihre Familie, ihre engsten Gefährten und ihr eigenes Leben für diese Ideale. Es war eine kühle und raue Nacht, als ein Sturm sich über der See zusammenbraute. Dichte Gewitterwolken verfinsterten das Firmament und schon bald erhellten grelle Blitze den in tristes Grau gewandeten Himmel. Obwohl der nie enden wollende Regen die Küste zu überschwemmen drohte, wurde ein unscheinbarer Flechtkorb an den Strand gespült. Ein Kind, in schäbige Stofffetzen gehüllt, lag darin, welches von einer verwitweten Frau aufgenommen wurde, die abseits von den Siedlungen des Seevolkes lebte. Das Mädchen, das von zarter, schmächtiger Gestalt war, wuchs rasch heran, und ihre Ziehmutter nannte sie Aleera. Das blauschwarze Haar fiel ihr über die Schultern, und ihre Augen waren mandelförmig und dunkel. Dass in ihren Adern nicht das Blut des Seevolkes fließen konnte, war ihrer Ziehmutter und ihr früh klar gewesen, denn deren Haare waren blond oder rot und ihre Haut deutlich heller, während Aleeras Gesicht einen sanften Braunton aufwies. Voller Argwohn dem Mädchen gegenüber erkannten die Menschen im Dorf, dass Aleera immerzu von einem mysteriösen Schleier umgeben war. So glaubten sie, dass sie übernatürliche Kräfte besäße und dem Dorf Unheil brächte. Als sich jener Gedanke tief in ihre Herzen bohrte, herrschte eine karge Zeit, in der es kaum Nahrung und noch weniger Wasser gab. Krankheiten suchten die vom Seevolk besiedelte Küste heim. Unzählige Leben waren ihr Opfer und rafften dahin. Aleera traf einen Jungen, der kaum älter sein mochte, als sie es zu jenem Zeitpunkt gewesen war. Er vertraute ihr seinen Namen an, Rakun, und war verwaist. Seine Eltern waren tot, gestorben an der Seuche. All jene, die erkrankt waren, nannte das Volk „Unglücksbringer“, die Verderben und Tod brachten. Gebrandmarkt durch jenen Titel sollte Rakun keinen Frieden finden, obwohl sein Leben am seidenen Faden hing. Aus Mitleid getrieben nahm Aleera sich dem Jungen an, linderte unwissentlich mit jenen gefürchteten Kräften die Wunden. Es war die tief verborgene Furcht in den Herzen des Seevolkes, die vor achtzehn Sommern gekeimt war und nun Blüte trug. Aus Angst sperrte man Aleera in ein dunkles Verließ und obwohl Aleeras Ziehmutter um Vergebung bat, verurteilte der Dorfälteste Aleera zum Tode. Aus diesem Grund fesselte man das Mädchen und schickte sie mit einem Pokémon des Wassers auf das offene Meer hinaus. Dort warf man sie in die Tiefe, und sie vermochte, unfähig zu schwimmen, nicht zu überleben. Doch aus den Abgründen des Meeres kam ein Pokémon zum Vorschein, welches nach der Legende einst aus dem brennenden Bronzeturm floh. Lugia, so nannte man die sagenumwobene Göttin des Wassers, nahm das bewusstlose Mädchen in ihre Obhut. Fähigkeiten, die in den Adern jedes, von einem Gott berührten Kind ruhten, sollten sich in Bälde entfalten, ja sollten die eiskalten Ketten aus Stahl sprengen. Eines Leuchtfeuers gleich brachten die erwachten Wächter Licht ins Dunkle, durchdrangen gar mit ihren lichteren Kräften die finstersten Schatten. Ihnen waren der Glaube und der Mut geschenkt worden, jenem grausamen Töten und dem sinnlosen Kampf zwischen Palkia und Dialga ein Ende zu setzen, denn dieser Krieg hatte von Menschen und Pokémon seinen blutigen Tribut gefordert. Die Pfade, die beschritten worden waren, waren gesäumt mit Leichen. Gewiss, es war die Natur des Menschen, die ihm so in die Wiege gelegt worden war, seine Wege mit Toten zu pflastern. Und doch erweichten die Gebete die Herzen der Götter. Und so woben sie im Gleichklang der Stimmen jener Wächter einen uralten Zauber, der, sollte er keine Wirkung finden, die Berufenen und alles Lebende auszulöschen vermochte. In der ruhelosen Stille der Schlacht durchbrach ein Hoffnungsfunke das finstere Firmament und schenkte der Sonne neue Kraft. So umwarb ein wundersamer Schleier aus gleißendem Licht die kämpfenden Titanen. In sich gekehrt hielten Dialga und Palkia inne, wanden sich aber unter Pein, als ihre Seelen ruckweise ihren Leibern entrissen wurden. Diese Fragmente wurden jenen eingehaucht, die heute als sagenumwobene Hüter der Seen gepriesen wurden. Vereint vermochten sie die unbändige Macht Dialgas und Palkias zu bändigen. Und ihre Körper… Man sagt, dass jene tief im Herzen des Kraterbergs, abseits von der Menschheit, verborgen seien. Die Erde war verwüstet, der Krieg gewonnen und doch hatten die glorreichen Erlöser einen hohen Preis zu bezahlen. Ihr Lebensfunke wurde schwächer, bis dieser schließlich vollends erlosch. Welchen Preis sie für die Errettung dargebracht hatten, sollte bis ans Ende der Tage unvergessen bleiben, denn jenen, die vom Schicksal geleitet waren, war die Bürde auferlegt worden, in den Stunden höchster Not der Welt erneut den Frieden zurückzubringen. Ihre Spuren verwischten und doch waren sie niemals aus den Herzen der Menschen verschwunden. Die Zeit würde die längst vergessene Legende der Wächter ins Leben zurückrufen. Ja… Schon bald würde sich die Geschichte wiederholen. Kapitel 1: Wenn Träume zerbrechen --------------------------------- „Juwelenkraft!“ Entschlossen fauchte die beigefarbene Rassekatze, während der Stein auf ihrer Stirn aufglühte. Scharfkantige Diamantensplitter, die im Scheinwerferlicht matt glänzten, sammelten sich um ihren schlanken Leib. Mit Geisterhand geführt, schossen sie wie sirrende Pfeile auf ein drachenähnliches, gelbes Pokémon herab. „Ampharos, halt dagegen mit Ladungsstoß!“ Entschlossen brüllte der Elektrodrache auf und zog die Arme eng an den Körper, während der rote Kristall auf seiner Stirn aufleuchtete. Funken zuckten am Körper des Ampharos’ entlang, konzentrierten sich zu einer fließenden Energie, die jäh das demütig funkelnde Juwel verließ. Der Kollision beider Attacken folgte ein Knall, der das Kampffeld in einen dichten Nebelschleier hüllte. Den Zuschauern als auch den Koordinatoren wurde der Blick durch den undurchdringlichen Rauch verwehrt. Bloß das schwache Leuchten von Ampharos’ Kugel verriet seinen Standort. Jener Moment verschaffte Haruka jedoch einen Augenblick des innerlichen Jubelns. Nach einem langen Schlagabtausch, indem sie zahlreiche, gar kostbare Punkte eingebüßt hatte, bot sich nun eine Lücke in der Verteidigung ihres Gegners! „Ampelleuchte, schnell!“ Abermals schimmerte das in seiner Stirn eingefasste Schmückstück und wurde in die wundersamen Farben des Regenbogens getaucht. Durch das Glühen aber gewarnt, fuhr Snobilikat, das gegnerische Pokémon, zischend herum. Der Angriff des geschmeidigen Katers und das folgende Ausweichmanöver Ampharos’ hatten ihn mit dem Rücken zur Wand getrieben. Entschlossen ballte die junge Koordinatorin die Hand zur Faust. Dieses Mal sollte ihr Angriff gelingen, bestimmt! Snobilikats jetzige Lage sollte ihrem Trainer keine günstige Möglichkeit bieten um einen Gegenschlag ausüben zu können! „Arkani, schütze Snobilikat mit Flammenwurf!“, befahl ihr Gegner, ein weißhaariger Junge, der bloß ein Jahr älter war als sie selbst, aber doch ihr im Können ebenbürtig war. Zustimmend grollte der gestreifte Feuerhund, entblößte dabei die Fangzähne, während es in seinem Rachen brodelte und kochte, solange bis ein glühender Strahl entfesselt wurde. Ruckartig glitten Harukas Blicke zu Ampharos. Ihre Entschlossenheit schmolz im glühenden Odem dahin, wie Eis in der Sonne, als ihr Pokémon einen schmerzvollen Schrei ausstieß. Gierig lechzten die Flammen an seinem Körper und hinterließen, neben den Kratzspuren des Snobilikats, zahlreiche Brandwunden. Doch so leicht ließ es sich nicht unterkriegen! Schwer atmend, aber noch nicht bezwungen, kniete der Drache auf seinen Knien und erhob sich schwankend wieder. Wie in Zeitlupe schweiften Harukas Augen zur Anzeigetafel, und sie spürte, wie ihr Herzschlag in ihren Ohren zu dröhnen schien. Zwei Minuten noch! Die Hände der brünetten Koordinatorin begannen zu zittern. Nicht mehr viel Zeit blieb ihr, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Doch war es nicht eine Utopie, dass sie diesen Kampf noch zu gewinnen vermochte? Es war schier unmöglich den Sieg davon zu tragen. Kouki, ihr Gegner, hatte noch keines seiner Pokémon verloren, während Ampharos den Gegnern, Arkani und Snobilikat, alleine gegenüber stand. Und er zeigte keine Schwäche, ließ niemals die Fassade seiner Verteidigung bröckeln. Aber es war jene Tatsache, die Harukas Mut nicht schmälerte, sondern stattdessen anzufachen schien. Sie wollte diesen Kampf gewinnen! Welch Schande war es, wenn sie ihre Qualifikation für das große Festival durch amateurhafte Fehler verpasste! „Schlitzer, Snobilikat, los!“ Erhaben richtete die Rassekatze ihre roten Augen auf Ampharos und begab sich in die Hocke, bis ihre Pfoten sie schließlich kraftvoll in die Luft beförderten. Während er wütend fauchte, fuhren die Krallen des Katers bedrohlich auf Ampharos herab. Harukas Gedanken überschlugen sich. Ihr kam es so vor, als befände sich in ihrem Kopf ein dichter Nebeldunst, der sich in binnen weniger Sekunden gänzlich geklärt hatte, nachdem ihr ein Weg eingefallen war, um Snobilikats Angriff zu stoppen. „Blende sie mit deinem Blitz!“ Ampharos knurrte und ließ die Schwanzspitze aufgebracht umher zucken. Um die kristallartige Kugel sammelten sich Lichtpartikel, die sich zu einem plötzlichen und grellen Lichtblitz vereinten. Aus weiser Vorrausicht hatte Haruka den rechten Arm gehoben, um die Augen mit der Hand abzuschirmen, und obwohl sie diese geschlossen hatte, durchdrang die Helligkeit ihre Lider. Durch das grelle Licht, welches Snobilikats und Arkanis Augen wohl schädigen mochte, jaulten die Pokémon schmerzerfüllt auf. Ihre verzerrten Schreie hallten in der Wettbewerbsarena von Olivania City wider. Ein kalter Schauder überkam das Mädchen, als der Aufschrei ihr gesamtes Sein erschütterte. Ihr Körper begann unkontrolliert zu beben. Sie glaubte zu ahnen, welche Schmerzen Arkani und Snobilikat durch Blitz nun erlitten, und sie zweifelte daran, ob sie möglicherweise eine falsche Entscheidung getroffen hatte, um einen Schritt näher zum Sieg zu gehen. Doch war es nicht die Bestimmung von Pokémon gegeneinander zu kämpfen? War es nicht die Pflicht der Menschen sie gegeneinander aufzuhetzen? Rasch schüttelte Haruka den Kopf, um diesen lästigen, gar philosophischen Gedanken, zu verjagen. Jede Sekunde war kostbar, und sie durfte ihre Zeit nicht durch unsinnige Phantasien verschwenden! Ampharos’ ermahnendes Knurren lenkte Harukas Aufmerksamkeit gänzlich auf den Kampf zurück. Als Zeichen, dass sich seine Trainerin vollends auf den Kampf konzentrierte, nickte das Mädchen. Noch immer durch den Blitz kurzzeitig erblindet, hieb Snobilikat aufgebracht fauchend um sich. Zu sehr war die Katze in Rage, als dass Koukis beschwichtigende Worte sie zu beruhigen vermochten. Eine Minute noch! Obwohl Haruka etwas in ihren Inneren rebellierte das hilflose Pokémon anzugreifen, warnte die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf diesen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Donnerschlag auf Snobilikat!“ Mit schräg angewinkelter Pfote, die von Elektrizität umgeben wurde, preschte der Elektrodrache auf seinen Gegner zu. Dann schoss die zur Faust geballte Pfote vor, traf mit solcher Wucht auf Snobilikats Kopf, dass die Katze, welcher ein weiterer Schrei aus der Kehle entwich, meterweit über den Boden rutschte, bis sie letztlich kraftlos liegen blieb. Ein schrilles Signal ertönte, als Snobilikat sich dem Schlaf hingeben hatte. „Das war’s wohl für Snobilikat!“, rief die Moderatorin lässig. „Und beginnt die heiße Phase des Finales! Ob Haruka noch aufholen kann?“ Obwohl Haruka den Kampf noch nicht für sich entschieden hatte, atmete das Mädchen auf. Die erste Hürde war genommen, doch nun hieß es Arkani schlagen zu müssen. Konnte sie es noch schaffen? Wie groß standen ihre Chancen noch mit einem abgekämpften Pokémon, das große Mühe hatte sich aufrecht zu halten. Aber aufgeben? Niemals! Während sich Arkani Ampharos zuwandte, hoben sich die Lefzen und entblößten die perlweißen Fangzähne der Hündin. Aus ihrer Brust stieg ein grollendes Knurren auf. Ampharos war bewusst, dass dies eine Warnung war. Arkani dachte nicht daran aufzugeben, so wie der Siegeswille den Elektrodrachen nicht verließ. Als hätten sich die Koordinatoren zu jenem Zeitpunkt abgesprochen, befahlen sie mit durchdringender Stimme gleichzeitig ihren Pokémon: „Eisenschweif!“ Stahl auf Stahl traf aufeinander, nachdem die Pokémon aufeinander zu gerannt waren und sich anschließend kraftvoll vom Boden abgestoßen hatten. Funken stoben zur Seite, als prallten zwei Schwertklingen zusammen, während Arkani und Ampharos sich verbissen einen Machtkampf lieferten. „Feuersturm, Arkani!“ In rot flimmerndes Licht wurden die Fangzähne des Flammenhundes gehüllt, während sich in seinem Maul ein lodernder Feuerball bündelte. „Kontere mit Ladungsstoß!“ Demütig funkelte Ampharos’ Kristall auf, der von kleinen Blitzen umgeben wurde. Als Arkani den fünfzackigen Stern entfesselte, entlud sich auch Ladungsstoß. Durch die aufeinander prallenden Energien entstand Rauch und verwehrte den Koordinatoren den Blick auf das Kampffeld. Erst als sich jener gelichtet hatte, offenbarte er, dass beide Pokémon, sowohl Arkani als auch Ampharos am Boden lagen, und sich schwer keuchend auf die Beine rappelten. „Ampharos, halte durch!“, rief Haruka ihrem Pokémon zu. „Sternschauer!“ Erneut sammelten sich Funken um Ampharos’ Leib, die allmählich die Gestalt von Sternen annahmen. Hernach schickte der Elektrodrache sie mit einem entschlossen Aufschrei auf Arkani herab, die die Feuerhündin umzingelten und auf sie einprasselten. Zufrieden stellte Haruka fest, dass sich der Punktebalken ihres Gegners mehr und mehr verringerte. „Schütze dich mit Flammenrad!“, befahl Kouki geistesgegenwärtig. Grell lodernde Flammen brachen aus Arkanis Fell hervor und binnen weniger Sekunden löste sich der Sternschauer in der drückenden Hitze gänzlich auf, bis bloß nur noch Staub herab rieselte. „Und Morgengrauen!“ „Was?!“ Entsetzen spiegelte sich auf Harukas Gesicht wider. Nun hatte Kouki seine Trumpfkarte ausgespielt. Hatte sie sich etwa zu früh gefreut? Hell, wie ein Stern am trüben Morgenhimmel, leuchtete Arkani auf. All ihre Wunden schlossen sich wie auf magische Weise, und die Hündin strotzte, als das Licht wieder verblasste, vor Energie. Unmerklich ballte Haruka die Faust. Ampharos’ mühseliges Keuchen drang deutlich an ihr Ohr. Egal wie sie sich anstrengte, sie sollte einfach nicht mehr die Kontrolle über diesen Kampf gewinnen! Kouki schaute Haruka bittend in die Augen, aber ihm war bewusst, dass er dieses Trauerspiel zu Ende bringen musste. „Beende es! Flammenblitz und Knirscher!“ Mannshohe Flammen brachen erneut aus Arkanis Pelz und hüllten es wie ein Schutzschild ein. Gierig leckte das Feuer an ihre Pfoten, verkohlte sie jedoch nicht, im Gegensatz zu dem sandigen Boden. Mit einem kehligen Knurren machte Arkani einen Satz nach vorne, direkt vor Ampharos. Dann sprang sie dem Elektrodrachen an die Kehle. Ampharos brüllte vor Schmerz auf und ruderte panisch mit den Armen, um sich zu befreien. Doch die Hitze lechzte an seinem Körper und entzog ihm jegliche Energie. So sank Ampharos kraftlos zu Boden, seine Knie berührten den Sand, ehe das Pokémon mit einem dumpfen Aufprall zusammen brach. Ein schrilles Signal besiegelte Harukas Niederlage. Ihre gelbe Balkenanzeige wich einem tristen Grau. Die Koordinatorin schritt mit gesenktem Kopf zu Ampharos und beugte sich zu ihrem Pokémon herab. Lächelnd strich sie dem gelben Pokémon über den Kopf. „Gut gemacht“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Dann spürte sie wie unaufhaltsam die Tränen über ihre Wangen flossen. Kapitel 2: Zwischen Traum und Realität -------------------------------------- Nach der Siegerehrung kehrte Haruka betrübt ins örtliche Pokémon Center zurück. Während sie die Straßen entlang wanderte, war bereits der Abend hereingebrochen. Die Sonne, die glühend im Meer versank, tauchte Olivania City in ein flammendes Abendrot. Zu einer leuchtenden Einheit verschmolzen Himmel und Meer und waren bloß durch ein dünnes, kaum sichtbares Band voneinander getrennt. Friedlich trieben Fischerboote in weiter, ungreifbarer Ferne des Horizonts auf dem tief blauen, beinahe schwarzen, Gewässer. Bloß ein schmaler Streifen wurde in die Farben des Feuers getaucht. Dem Sonnenuntergang, der sich ihr bot, schenkte Haruka keine Aufmerksamkeit. Zu jeder Zeit hätte wohl jener Anblick ihr den Atem geraubt und ihr Herz gewärmt, doch an diesem Abend blieb es kalt, das schöne Panorama erregte ihr Interesse nicht. Während die Brünette auf Ampharos und Eneco zu schritt, die in der nahezu leeren Eingangshalle auf sie warteten, trug sie zwei gut gefüllte Futterschalen. Sie hockte sich auf die Knie, sodass ihre Beine den kühlen Fliesenboden berührten, und stellte die Schüsseln nieder. Bevor sie sich erhob, streichelte sie ihren Pokémon über den Kopf. „Hier ist euer Lieblingsfutter“, wisperte Haruka mit kaum vernehmlicher Stimme. „Esst.“ Ampharos beugte den langen Hals auf das Futter herab, schnupperte. Dann jedoch zog der Elektrodrache die Schnauze kraus und verschmähte, wie Eneco, sein Futter. „Lasst den Kopf nicht hängen“, versuchte Haruka ihre Pokémon sanft aufzumunternd, doch jene senkten niedergeschlagen die Köpfe und starrten enttäuscht auf den gefliesten Boden des Pokémon Centers. Seufzend lehnte sich das Mädchen zurück, wirkte ruhig und gleichgültig, obwohl sie sich abgespannt und enttäuscht fühlte. Ihr war nicht nach Lächeln zumute, trotzdem tat sie es; trug der Öffentlichkeit wegen an ihrer Niederlage Würde. Warum? Die Öffentlichkeit verlangte es. Deswegen durfte sie keine Schwäche zeigen. Vor allem nicht ihren Rivalen gegenüber. Welche Worte würde Shuu an sie richten, wenn er von ihrem Versagen wüsste? Würde er sie in den Arm nehmen und sie trösten? Oder würde jedes seiner höhnischen Worte ihr Herz zum Erstarren bringen? Unmerklich schlossen sich ihre Hände zur Faust und die Fingernägel bohrten sich unsanft in ihre Haut. Rasch verdrängte sie den Gedanken, dass Shuu ihr als Freund zur Seite stand, nicht als Rivale. Gewiss würde er sie verspotten! Jede seiner Bemerkungen sollte einen Pfeil des Schmerzes in ihr Herz rammen. Ein Schluchzen entkam ihrer Kehle und warme Tränen suchten ihren Weg über ihre geröteten Wangen. Sie wollte nicht mehr stark sein. Sie wollte schwach sein, sich nicht in einer eisernen Maske kleiden und sich verstellen müssen. „Haruka?“ Beim Klang ihres Namens zuckte die Angesprochene zusammen und wischte sich in wilder Hast mit dem Handrücken die Tränen fort, dann hob sie den Kopf und blickte in gütige, weinrote Augen, die das Mädchen besorgt musterten. Sogleich spürte sie, dass eine Hand sanft auf ihrer Schulter ruhte. Mit gemischten Gefühlen, dem Trost und der Abscheu, betrachtete sie jene Hand. Schließlich hob sie ihren Blick und betrachtete den Koordinator, der in Jeans und einer für die äußerlichen Temperaturen eher unpassende Jacke gekleidet war. Silberweiße Haare fielen ihm in das blasse Gesicht, aus dem bloß die roten Augen lebendig heraus stachen. „Kouki.“ Ungewohnt kühl sprach die Koordinatorin den Namen ihres Freundes aus, der für ihre bittere Situation verantwortlich war. Dank ihm blieb ihr das Privileg am großen Festival teilzunehmen verwehrt. Kouki, der ihre Ablehnung zu spüren vermochte, nahm die Hand von ihrer Schulter, während er zurück trat. Wortlos blickte der Weißhaarige sie an, bloß mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. Und wieder tat sie es; ein Lächeln umspielte ihre erschöpften Gesichtszüge, obwohl sie in ihrem Inneren protestierende Worte vernahm. Es war eine Fassade, eine Lüge, ihm keine Schwäche zu zeigen, und trotzdem tat Haruka dies. Sie betrachtete Kouki, der sie mit angehaltenem Atem anstarrte, öffnete dann aber seinen Mund und atmete erleichtert aus. Seine angespannte Körperhaltung löste sich und lachte kurz auf. „Ich… Ich habe für einen Moment geglaubt, dass du auf mich wütend bist.“ Entrüstet quittierte Haruka seine Aussage mit einem verärgert Schnauben, blieb aber dort, wo sie war, noch immer Kouki anstarrend. Warum sollte sie nicht wütend sein? War es nicht er, der ihren Traum binnen weniger Minuten zerstörte? Sie hatte gar das Recht Zorn auf ihn zu verspüren! „Du warst eben besser“, erwiderte Haruka abweisend. Monate hatte sie sich in Johto aufgehalten, war von Stadt zur Stadt gereist, um die nötigen Bänder zu sammeln. Gewiss gab es Höhen und Tiefen, Siege und Niederlagen, aber die Koordinatorin hatte stets einen Ausweg gefunden. Und nun endete ihre Reise in Olivania City einen Monat vor dem großen Festival. „Das stimmt nicht!“ Vehement schüttelte Kouki den Kopf und sah sie anklagend an. Sie war besser als er gewesen, von Anfang an. „Und du weißt, dass es nicht stimmt.“ Die saphirblauen Iriden waren starr auf das Antlitz des Jungen gelegt. „Warum sollte es nicht stimmen?“ „Nun ja…“ Dem Blick, der ihn beinahe zu zerschneiden drohte, wich Kouki beschämt aus und sah zu Boden. Er verstummte und wusste nicht, welche Worte er an sie richten sollte. Ungeduld packte die Koordinatorin und ließ ein kurzes, kaum merkliches, Zittern durch den Körper gleiten. Sie erhob die Hand, ballte sie zur Faust, ehe sie sich sogleich wieder entspannte. „Du weichst mir aus!“ Schatten des Kummers bedeckten Koukis Augen, als er seine einstige Reisegefährtin ansah. „Du bist doch wütend“, formten seine Lippen fragend, auch wenn es nicht nach einer solchen klang. Vielmehr war es eine Feststellung, einer Erkenntnis, so sollte man meinen. „Beantworte meine Frage!“ Noch war sie ruhig. Ob dies aber so bleibt, wenn er nicht antwortete, war ungewiss. Kouki war sich bewusst, dass seine Weggefährtin kein Mensch vieler Worte war, wenn sie zornig war. Und noch besser wusste er, dass jedes falsche Wort sie mehr erzürnen würden. So senkte er seine Blicke und bedachte seine Worte mit Sorgfalt, die er an Haruka richten wollte. Bis zu einem gewissen Moment war sie ihm tatsächlich überlegen gewesen, doch jene Tatsache änderte sich binnen einer Minute. Obwohl das Mädchen die Dominantere gewesen war und daher beinahe das Finale für sich entschieden hatte, hatte sie mehr und mehr die Kontrolle über den Kampfverlauf verloren. Hätte er Rücksicht auf sie nehmen sollen? Schwäche zeigen und sie mit Absicht gewinnen lassen? Nein! Emotionen innerhalb eines Wettstreits waren hinderlich. Freundschaften wurden zu bitteren Rivalitäten. Dies war das Gesetz, die harten Regeln dieses Business. Ihm einen Vorwurf machen, konnte sie nicht, hatte nicht das Recht dazu. „War es wieder der Traum?“, vernahm Haruka schließlich seine wispernden, vorsichtigen Worte des Jungen. Einige Herzschläge lang sah die Brünette Kouki an, dann wich sie dieses Mal seinen Blicken aus und starrte auf einen entfernten Punkt, der nur für sie sichtbar war. Das Mädchen fühlte, dass es ihr unangenehm war über die wahren Gründe ihrer Niederlage zu sprechen. Ihr Herz sagte ihr, dass sie sich ihm anvertrauen sollte, aber ihr Verstand verbot es ihr. Seit Monaten quälten Träume den Schlaf der Koordinatorin und schienen ihr beinahe den Verstand zu rauben. Wenn sie erwachte, war sie aufgebracht und ihr Körper von Schweiß bedeckt. Zurück blieb stets nur ein bedrückendes Gefühl. War es absurd, wenn sie Nacht für Nacht dieselben Träume durchlebte? Verhöhnten die Menschen nicht diejenigen, die ungeahnte Kräfte besaßen? Konnte sie ihm die Wahrheit sagen oder würde er sie verhöhnen – so wie Shuu es täte? Abermals legte der Weißhaarige seine Hand ihr auf die Schulter, verstärkte den Griff, als sich ihr Blick nicht hob. „Haruka, ich bin dein Freund“, sprach Kouki eindringlich. „Oder vertraust du mir nicht?“ Wie tausende Stimmen hallten seine Worte in ihren Gedanken wider. Mal waren sie ein leises Wispern, die binnen weniger Sekunden in anklagenden Protest umschlugen. Vertraue ich ihm?, fragte sich das Mädchen. Sie wusste es nicht, warum sie zögerte. Waren sie keine Freunde, die sich einander vertrauen und sich zuhörten, wenn der Andere Probleme hatte? „Ja.“ Gut fühlte es sich an ihm die Wahrheit nicht zu verschweigen. Sie war erleichtert, auch wenn noch immer ein Funke der Zweifel blieb. „Ich vertraue dir.“ Als sie dem Freund das erste Mal von den Träumen erzählt hatte, war sie – wie die vielen anderen Male auch – mit einem Schrei erwacht. Oft durchlebte Haruka diese Nachtmahre und jeder dieser Träume zehrte mehr und mehr an ihren Kräften. Die oftmals schlaflosen Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen; sie litt an ständiger Müdigkeit, Antriebslosigkeit und am Verlust der Konzentration und der Leistungsfähigkeit. Die Tatsache, dass die Nachtmahre stets zwei Varianten innehatten, bedrückte das Mädchen, ließen es nachdenklich, gar abwesend, wirken. Welche Bedeutung hatten diese Träume bloß? Jedoch hatten jene stets den gleichen, leicht erkennbaren Ablauf: Immer und immer wieder fand sich Haruka beim ersten Traum auf einer Klippe wieder und jener endete mit dem Brüllen einer in dunkle Schatten gehüllte Kreatur, die sie aus tief schwarzen Iriden anstarrte. Der zweite Albtraum, der vielmehr eine Momentaufnahme des Ereignisses, als eine Abfolge von Geschehnissen war, beunruhigte Haruka mehr. Sie wusste nicht, was es genau war, doch nachdem sie aus diesem erwachte, ließ das zurückbleibende Gefühl sie den ganzen Tag nicht aus den Klauen. Die Koordinatorin hielt sich in einer Höhle auf, war aber von einem grellen Licht geblendet, welches sich auf eine Stelle fixierte. Regungslos lag der leblose Leib eines Geschöpfes am Boden, blutverschmiert und bizarr verrenkt, während der Kopf des Geschöpfes auf dem Schoss eines Mädchens ruhte, dessen Gesicht nicht zu erkennen war. Die Vision brach, mit dem klagenden Heulen eines Pokémon und dem Verlangen jemanden zu retten, ab. Wen sollte bloß sie retten? „Es war wieder der Traum“, hauchte Haruka wispernd. Wieder spürte sie, dass sich die Tränen ihren Weg über die Wangen bahnten. „Was haben die Träume zu bedeuten?“ Unerwartet regte sich in dem Weißhaarigen das schlechte Gewissen, obwohl er wusste, dass er keine Schuld trug. Doch er bedauerte, dass er keinen Rat wusste. Daher zog es Kouki vor zu schweigen. Was hätte er auch tun sollen? Sie trösten? Sie umarmen? Nein. Er konnte sie nicht beschwichtigen. So flüsterte er ein leises „Es tut mir Leid“, was die junge Koordinatorin mit einem sanften Lächeln erwiderte. „Warum entschuldigst du dich? Du hast mich fair geschlagen.“ „Aber…!“ Ein kurzes, heiteres Lachen entrang sich Harukas Kehle. Sie schaute ihren Gefährten lächelnd an. „Kouki, kümmere dich nicht um mich. Du solltest dich auf das Festival konzentrieren“, sagte das Mädchen fürsorglich. Dies war kein Ratschlag, welcher Freunde den Anderen rieten, sondern dies war eine Forderung, die die geschlagene Koordinatorin forderte. Sollte er dies nicht beherzigen, beschwor er wohl den Unmut des Mädchens spüren zu wollen. Betrübt sah er Haruka an, nickte kaum merklich, nachdem er die wahre Botschaft ihrer Aussage begriffen hatte. „Wirst du denn kommen?“ „Natürlich.“ Sie nickte. „Ich lasse mir doch nicht entgehen, wenn du Top-Koordinator wirst!“ Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Koukis Lippen. Ja, der Gedanke bald zum Top-Koordinator aufzusteigen, hatte tatsächlich seine Reize, war jedoch bedeutungslos, weil Haruka nicht teilnehmen durfte. Doch diese Tatsache vertraute er der engen Freundin nicht an. „Es… Es wird dann Zeit für mich.“ Um sie nicht ansehen zu müssen, wich er ihren Blicken aus, wandte sich ihr aber wieder zu, als sie sich wortlos erhob. Einige Augenblicke sahen sie sich schweigend an, dann umarmte Kouki das Mädchen, welches es willig geschehen ließ, zum Abschied. „Bis bald“, sagte Haruka knapp. Sie war nicht gut darin Abschiedsworte zu finden. „Bevor ich gehe, möchte ich dir noch etwas geben.“ Neugierige Blicke, die seinen Kummer hinfort spülten, fühlte Kouki nun auf sich ruhen. Insgeheim musste er lächeln. Ihm war bewusst, dass Haruka Geschenke vergötterte, obwohl er sie erst seit einem knappen halben Jahr kannte. In diesem Zeitraum hatte er aber gelernt all ihre Makel zu verstehen und… Ja, sie, Haruka, lieben gelernt. Doch dass seine Gefühle mehr als nur auf freundschaftlich waren, wusste das Mädchen nicht. „Mach die Augen zu“, forderte Kouki sie auf. „Und halt mir deine Hand hin.“ „Was soll-“ „Tu’s einfach und meckere nicht rum.“ Erst sah Haruka ihn irritiert und unsicher an, dann folgte sie seinem Geheiß mit einem zustimmenden Nicken. Das Mädchen schloss die Lider über den saphirblauen Augen und streckte, wenn auch zögerlich, den linken Arm aus. Sogleich fühlte sie, dass Koukis Hand die ihre umschloss und etwas Raues auf ihrer Handfläche ruhte. Vorsichtig schloss sie ihre Finger um den kratzigen Stoff und versuchte zu erahnen, was es wohl sein mochte. „Kouki, darf ich die Augen wieder aufmachen?“, fragte die Brünette vorsichtig, aber der Koordinator erkannte, mit einem Grinsen auf den Lippen, die Neugier in ihrer Stimme. „Ja“, willigte der Angesprochene ein. „Aber schau das Geschenk erst an, wenn ich gegangen bin, ja?“ Erneut entgegnete das Mädchen ein zaghaftes Nicken und trat anschließend rasch heran, um ihn wieder die Arme um seinen Hals zu legen und ihn an sich zu ziehen. Dann lösten sich die Freunde voneinander und verabschiedeten sich. „Wir sehen uns beim Festival“, sagte Haruka lächelnd. Wortlos lächelte Kouki, streichelte Ampharos und Eneco kurz über die Köpfe, bevor der Koordinator der einstigen Gefährtin den Rücken zuwandte, die ihm noch lange hinterher schaute. Sich ihrem Schicksal ergebend, seufzte das Mädchen. Die Niederlage rückte immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen machte sich nach Koukis Gehen ein Gefühl der Einsamkeit in Haruka breit. Monate war sie mit ihm durch Johto gereist, hatte gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt, und doch war ihr Abschied so gefühlsarm vorgekommen. Oder täuschte sie sich? Vielleicht bedeutete sie Kouki nicht so viel, wie sie stets gedacht hatte? Und nun da sie gegen ihn verloren hatte und am großen Festival nicht teilnehmen konnte, würde Haruka bloß nur noch eine Erinnerung für ihn sein. Nichts weiter. „Das war ja eine billige Vorstellung“, sprach eine arrogante Stimme, die Haruka unwillkürlich zusammen zucken ließ. Den Kopf jener Person zu wenden, brauchte sie nicht. Sie kannte diese Stimme, und schlagartig fühlte Haruka, wie sich ihr Körper anspannte. „Möglich“, erwiderte sie beinahe kühl. Dann drehte sich die braunhaarige Koordinatorin um. „Dich hätte ich nicht erwartet… Shuu.“ Ein abfälliges Lächeln zierte Shuus Lippen, als er Schritt für Schritt auf sie zukam. „Was tust du hier?“ „Ich habe mein Training für das große Festival unterbrochen, um diesen Wettbewerb beizuwohnen“, antwortete der Junge ruhig, sprach hochgestochen und arrogant. Seine smaragdgrünen Augen ruhten auf dem Antlitz des Mädchens. „Schließlich möchte ich erfahren, ob ich ernsthafte Konkurrenz im großen Festival habe.“ Aufgebracht begannen ihre Hände an zuzittern. War er wirklich wegen ihr gekommen? Oder hatte Shuu geahnt, dass sie in Olivania City verloren würde? „Dann muss ich dich enttäuschen“, sprach Haruka mit belegter Stimme. „Ich habe verloren.“ „Ich wusste es.“ In gewohnter Geste strich sich Shuu eine Strähne aus dem Gesicht. „Bei deiner Leistung war eine Niederlage nur gerecht gewesen.“ Scharf sog das Mädchen die Luft zwischen ihren Zähnen ein. Sie schalt sich für den Gedanken, dass er sie eventuell trösten könnte. Wie kam sie auf diese absurde Idee? „Idiot!“, fauchte Haruka. Shuu lachte kurz auf und ließ sich auf die Sitzbank nieder. „Deine Leistung entsprachen eben nicht dem hohen Standard der anderen Koordinatoren. Es war fair. Wie willst du also beim großen Festival erfolgreich sein?“ Aufgewühlt starrte die Koordinatorin ihn an. In ihrem Kopf erklang ein flehendes „Hör auf“, doch keines dieser Worte kam über ihre Lippen. Mit tränenverschleierten Blick wandte sich das Mädchen ab und eilte wortlos aus dem Gebäude hinaus. Einfach nur weg von ihm! Kaum war sie hinaus getreten, begrüßte ein kühler Windhauch die enttäuschte Koordinatorin. Hastig schritt sie weiter. Asphalt wich dem Sand des Strandes, der sich südlich an Olivania Citys Küste schmiegte. Besinnlich schloss Haruka die Augen und atmete die frische Abendluft ein. Einen Herzschlag lang, gab sie ihrer Wut und Enttäuschung hin und Tränen rannen ihre Wangen herab. Wohin sollte ihr Weg sie nun führen? Es war bloß ein knapper Monat, bis das große Festival begann. Sollte sie Koukis Versprechen brechen und nach Hoenn zurückkehren? Sand knirschte unter den Füßen einer Person, die sich ihr näherte. Haruka schrak durch dieses nächtliche Geräusch furchtsam zusammen und neigte ihren Kopf. Erneut erblickte sie den jungen Koordinator, dessen Gesicht von kurzem Haar umrahmt wurde, welches in einem Smaragdgrün daher kam, wie seine Augen. „Läufst du davon?“, fragte jener unvermittelt. Rasch wich Haruka seinen durchdringenden Blicken aus und wischte sich das Mädchen die Tränen, die ihre Wangen benetzten, mit dem Handrücken fort. „Idiot“, gab sie erneut mit erstickter Stimme von sich. „Warum? Weil ich die Wahrheit sage?“ Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen oder wollte er sie etwa demütigen? „Wenn du erfolgreich sein willst, dann arbeite an dir.“ Tief sog Haruka die kühle Luft ein. Sie wusste, dass Shuu nicht nachgäbe, doch diese Erniedrigung wortlos über sich ergehen lassen, würde sie auch nicht! „Ach ja? Wer hat denn beim Kanto Festival im Halbfinale gegen mich verloren?“, rief sie spöttisch. Shuu strich sich arrogant eine Strähne aus dem Gesicht und lachte höhnisch auf. „Im Gegensatz zu dir habe ich seit diesem Zeitpunkt hart an mir gearbeitet und heule nicht vor mich hin!“ Üble Beschimpfungen gingen Haruka durch den Kopf, die sie jedoch aus Vernunft nicht aussprach. Sie hatte auch hart an sich gearbeitet. Diese Niederlage war ein Missgeschick gewesen. Nichts weiter! „Fakt ist, dass ich damals gewonnen habe!“ „Typisch. Amateure müssen immer in der Vergangenheit wühlen“, erwiderte Shuu kühl. Sein Blick streifte Harukas zitternde Hände, was von der Annahme seiner Worte zeugte. „Warum bist du hier?“, durchbrach sie schließlich das Schweigen. Schwach umspielte ein Lächeln Shuus Lippen. „Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass du beim großen Festival mitmachst, nicht wahr?“ Wie aus dem Nichts zückte der Koordinator eine Rose hinter seinem Rücken hervor und reichte sie Haruka, die ihn irritiert anstarrte. „Was soll das heißen?“ „Du hast mal wieder verdammtes Anfängerglück“, erwiderte Shuu und machte eine kurze, theatralische Pause, in der Haruka schon protestierende Widerworte geben wollte, aber ihr Rivale beschrieb eine wegwerfende Handbewegung, die das Mädchen wieder zum Schweigen brachte. „In Anemonia City findet in drei Tagen ein Wettbewerb statt.“ Die Koordinatorin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, sondern fühlte nur noch Freunde. „Was?!“, rief sie ausgelassen und hatte wahrlich das Verlangen Shuu um den Hals zu fallen. Dieses Gefühl unterdrückte das Mädchen aber rasch. „Du hast mich verstanden.“ Amüsiert grinste der Koordinator Haruka an. „In Anemonia City findet der letzte Wettbewerb vor dem großen Festival statt.“ Kaum waren diese Worte ausgesprochen, umfassten seine Finger einen Pokéball, den er galant in die Höhe warf. Aus dem ausströmenden Licht formte sich ein grüner Drache, der seinen drahtigen Körper dehnte und streckte. „Libell~dra!“, stieß das Pokémon hervor und hockte sich nieder, um seinem Trainer den Aufstieg zu erleichtern. „Ich werde dort sein und erwarte dich. Enttäusche mich nicht.“ Bevor sich der Erddrache kraftvoll vom Boden abstieß, unterzog er Haruka einer langen Betrachtung. Dann klappte das Pokémon die Flügel aus und der Sand wurde durch die Krallen, die sich hernach in den Boden gruben, aufgewühlt. Mit ein, zwei Flügelschlägen stieg Libelldra mit einem klangvollen Gesang in den schwarzen Himmel empor. Zurück blieb bloß ein aufgewühltes Mädchen, das nicht wusste, was es fühlen oder denken sollte. Sie blickte einige Zeit dem Koordinator hinterher, dann aber senkte sie den Blick, um liebevoll die Rose zu betrachten. Sanft strich sie über die Blütenblätter und drückte die Rose an ihre Nase. Sie strömte einen herrlichen Duft aus. Schließlich zog der Wind ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt und ihr wurde bewusst, wie kalt es doch war. Sie entschied sich wieder ins Pokémon Center zurück zukehren, da fiel ihr Blick auf den kleinen Stoffbeutel im Sand, den Kouki ihr gegeben hatte. Sie beugte sich herab und lockerte die Bänder. Ihre Finger umschlossen einen kühlen Stein, dessen Oberfläche glatt und von feinen Äderchen durchzogen war. Neben dem mysteriösen Stein lag ein kleines Stück Papier. Neugierig wie Haruka war, zögerte sie nicht und faltete es auseinander. Leise las sie den Inhalt, der in einer ordentlichen Schrift geschrieben war, die sie von einem Jungen nicht gewohnt war: Benutze diesen kostbaren Mondstein weise. Ich hoffe doch, dass er dir nützlich sein wird. Und ich hoffe noch immer, dass du deinen Weg ins Festival findest. Ich glaube an dich! Kouki Harukas Hand schloss sich um den Mondstein und richtete ihre Augen gen Himmel. „Idioten“, wisperte Haruka tonlos. Ihre Jungs… Insgeheim lächelte das Mädchen über diesen Gedanken, während es zum Pokémon Center zurückkehrte. Kapitel 3: Falsches Herz, treues Herz ------------------------------------- Als Haruka die Lider über ihren blauen Augen aufschlug, stieg grauer, nebelartiger Dunst in die Lüfte, der sich, wie von Geisterhand geführt, wabernd vorwärts bewegte. Einige Herzschläge lang starrte das Mädchen in die Dunkelheit und nahm bloß die Kälte wahr, die wie tausend Nadeln in ihre Haut schnitt. Es war die Furcht, die Haruka wie einen Dorn in ihrem Herzen spürte, als sie zaghaft ihren Blick schweifen ließ, aber der dichte Nebel hielt sie in seinen kalten Krallen gefangen. Haruka fühlte sich blind, so als hätte man ihr das Augenlicht genommen. Dem Nebel zum Trotz machte sie einen vorsichtigen Schritt vorwärts, verzog jedoch das Gesicht, als sie spürte, dass der knirschende Kies unter ihren nackten Füßen in die Haut schnitt. Trotzdem setzte sie ihren Weg fort und ignorierte den Schmerz. Etwas trieb sie unablässig voran, erlaubte ihr, nicht inne zu halten. Jäh lichtete sich der Nebel, und Haruka erschrak, als sie merkte, dass der Boden unter ihren Füßen nachließ und bröckelte. Entsetzt sah sie in die Tiefe eines gähnenden Abgrundes und erahnte in der schäumenden Gischt eines schwarzen Meeres schroffe Felsklippen, die wie Reißzähne wirkten und darauf warteten sie aufzuschlitzen. Ihr Herz schlug panisch gegen ihren Brustkorb, so als wollte es sie zerreißen. Vor Schreck stolperte Haruka zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den sandigen Schotter. Mit geweiteten Augen starrte sie auf das Meer hinaus, welches von tiefer Finsternis erfüllt war. Scharfe Steinsplitter bohrten sich in ihre Haut, aber der aufflammende Schmerz erschien auf einmal so bedeutungslos. Auf einmal ertönte aus den Untiefen des Meeres ein seltsamer Laut, der zu einem rauen Grollen heran schwoll und die Erde erzittern ließ. Im schwarzen Gewässer bildete sich jäh ein dahinschnellender Schemen, welcher mit dem Kopf die Oberfläche durchbrach und in die Höhe stieß. Gischt umhüllte den silbern glänzenden Leib des Wesens, das seinen langen Hals krümmte und Haruka aus tief schwarzen Augen anstarrte, die vor Angst gelähmt den Atem anhielt. Panik kroch durch ihre Gliedmaßen, als die Kreatur den schweren Kopf senkte. Es öffnete den Fang, während sich die Stacheln, die sich entlang seiner Wirbelsäule zogen, aufstellten, entblößte scharfe Reißzähne und stimmte ein lang gezogenes Brüllen an. Und Haruka schrie. Sie kniff die Augen zusammen und schützte ihren Kopf mit den Armen. Unversehens durchflutete grelles, warmes Licht die Trostlosigkeit und blendete das Mädchen so sehr, dass ihr die Helligkeit selbst mit geschlossenen Augen noch Schmerzen zufügte. Gleichsam zerbarst etwas in ihrem Inneren, als sich das Geschöpf zum Himmel empor reckte. Aus seinem geöffneten Maul ertönte ein Wehklagen, das sich mit Harukas gellendem Laut vereinte. Ihr Leib zuckte krampfhaft, als eine unerwartet heftige Pein sie ergriff. Kraftlos sank sie in sich zusammen. Ein weiterer Schrei versuchte aus Harukas Kehle zu entkommen, doch kein Ton entwich ihr. War es ein Traum? Nein, es konnte kein Traum sein. Er lähmte ihren Geist, vergiftete ihn und brachte sie beinahe um den Verstand. Er war gewiss die Realität! So rasch wie die Pein gekommen war verließ der grausame Schmerz das Mädchen. Noch immer kniete sie am Boden. Ihre Glieder fühlten sich schwer und gleichsam taub an. Ihr Körper zitterte und Haruka hoffte, nein betete, aus diesem wahr gewordenen Albtraum aufzuwachen. Geschwächt hob sie ihren Kopf. Das helle Licht, welches sie zuvor geblendet hatte, war verschwunden. Auch das tiefe Brüllen der Kreatur war verstummt. Doch sie glaubte noch immer, dass die durchdringenden Augen jenes Wesens auf ihr ruhten, so als erforschte ihr Blick die tiefgründigsten Ebenen ihrer Seele. All ihre Geheimnisse, tief gehegten Wünsche und Gefühle… Sie fühlte sich plötzlich seltsam enttarnt. Verraten! Als sich der Nebel um ihren Geist legte, klärte sich auch ihr Blick. Stille umgab das Mädchen, so als wäre jegliches Geräusch aus ihrem Leben geschieden, wie das Licht, welches Menschen am Leben hielt. Blind tastete Haruka sich vorwärts und fühlte unter ihren Fingerspitzen kaltes Gestein. Sie raffte sich kraftlos auf ihre schwankenden Füße, stolperte zur schroffen Felswand, die ihrem unsicheren Stand das Wissen von Halt gab. Eng an das Gestein geschmiegt bewegte sich Haruka langsam vorwärts, doch immer wieder musste das Mädchen Halt machen und zu Atem kommen. Obwohl sich ihr entkräfteter Körper nach Ruhe sehnte, drängte ein fremdartiges Gefühl Haruka weiter fortzuschreiten und keine Pause zu machen. Es war, als ob ein Instinkt das Mädchen hetzte. Und wie durch ein Wunder wurde der schier endlose Tunnel unerwartet von Licht durchflutet, liebkoste Harukas geschundenen Leib und gab ihren Beinen die Kraft aufrecht zu stehen. Sie senkte die Lider, schützte ihr Gesicht mit der Hand, sodass das tiefe Blau ihrer Augen abgeschirmt wurde. Kaum hatte sich Haruka ins Licht begeben, gewöhnten sich ihre Augen rascher als gewöhnlich an die neue Helligkeit. Haruka hob ihren Blick, ließ ihn über die Felswände empor schweifen und sah, dass sich Tageslicht wie fließendes Gold durch zahlreiche Spalten in die Höhlen ergoss und die Wände funkeln ließ. Sie fand diesen Anblick atemberaubend, doch gleichzeitig kam eine Erkenntnis, welche erneut die Panik in ihr weckte: Wo war sie? Viel hatte sie bereits gesehen, aber diesen Ort, diese Höhlen, kannte sie nicht, waren ihr fremd. Plötzlich fuhr Haruka herum, als ein tiefes Grollen, schmerzverzerrt und voller Qual, ertönte. Und da wurde ihr bewusst, dass das golden schimmernde Licht, das die Felsen herab floss, sich auf einen Punkt fixierte. Haruka, die erneut die Helligkeit mit vorgehaltener Hand abschirmte, trat zögernd an das silberne Wesen heran, das die Augen flehend zum Himmel empor gerichtet hatte. Unter schweren Atemzügen hob und senkte sich sein Leib. Gleichsam zuckten die dunklen Stacheln, die sich an der Wirbelsäule entlang zogen, endeten jedoch, als der Körper in einen langen Schwanz überging, an dem an seiner Spitze zwei seitliche Dornen sprossen. Tiefe Furchen hatten sie bereits in den Erdboden geschlagen, nachdem das Geschöpf sich unter schrecklicher Pein gewunden hatte. Sie konnte dem Drang nicht widerstehen - war es Neugierde? - der sie zu jener Stelle trieb, bis sie unter ihren nackten Füßen etwas Feuchtes, Dickflüssiges fühlte. Voller Abscheu schreckte Haruka zurück, als sie realisierte, was diese Flüssigkeit war. Sie fühlte sich warm, klebrig und zäh an. Und sie fand eine Assoziation für diese Flüssigkeit in ihren Gedanken: Blut! Über den Steinboden ergoss sich ein Meer aus Blut, das im Licht wie ein strahlender Rubin glitzerte und sich unter dem bizarr verrenkten Körper der Gestalt rasch ausbreitete. Ihr Kopf schnellte in die Höhe und sie blickte das Geschöpf an. Das letzte Lebenslicht war aus ihm gewichen, wanderte zu den göttlichen Eltern empor. „Wer bist du?“, riss unerwartet eine weibliche Stimme Haruka ins Hier und Jetzt zurück. Sie klang brüchig vor Schmerz und Kummer, als hätte man die Trauernde in ihrer Ruhe gestört. Saphirblaue Augen starrten Haruka vorwurfsvoll und anklagend an, während ihr das braune Haar, bewegt von einem sanften Luftzug, ins Gesicht fiel. Ein Ebenbild ihrer selbst! Und sie schrie. Aufgebracht rannte Haruka durch die Straßen Olivanias. Zur Mittagsstunde, als sich die Sonne dem Zenit näherte, hatte sie das Pokémon Center verlassen. Nachdem die Trainerin ihre Habeseligkeiten zusammengeklaubt und sich vergewissert hatte, dass nichts in ihrer einstigen Unterkunft zurückbliebe, rannte die Koordinatorin nun in überstürzter Hast die Hauptstraße der Hafenstadt entlang, ließ das Gebäude des Pokémon Centers und der nah gelegenen Wettbewerbshalle hinter sich zurück. Rege Betriebsamkeit herrschte auf den Straßen Olivanias. Meist waren es Mütter mit ihren Kindern, die auf den Weg zum Marktplatz waren, der sich in der Nähe des Hafens befand. Haruka hörte bereits aus der Ferne das Dröhnen eines Schiffes, das kurz vor dem Ablegen war. „Verdammt!“, murmelte das Mädchen, als es das Geräusch wahrgenommen hatte, und beschleunigte ihren Lauf, obwohl die müden Beine protestierend rebellierten. Dennoch untersagte Haruka das Bedürfnis sich an eine Straßenlaterne zu lehnen, um zu Atem zu kommen. Sie fluchte, als die Straßen, je näher sie dem Küstenstreifen kam, immer schmaler wurden und sich rascher mit Menschen füllte. Unsanft drängelte sich Haruka durch die Massen, ignorierte die Beschimpfungen und kam nur mühsam voran, mit dem Blick auf den Schornstein eines Schiffes gerichtet. Der Hafen war nicht mehr weit. Nur noch ein Stückchen… „Heh! Kannst du nicht aufpassen?“, pöbelte ein junger Mann sie an, als Haruka gegen seine Brust gelaufen war. Durch den Stoß prallte sie ab und kam hart auf dem Steinboden auf. Benommen sah sie zu dem Fremden empor, der sie wütend anstarrte und keine Anstalten machte, ihr aufzuhelfen. Mit gesenktem Kopf rappelte sich Haruka wieder auf die schmerzenden Beine und stammelte eine leise Entschuldigung. Sie spürte plötzlich die Blicke der Passanten auf sich ruhen, fühlte, wie ein unangenehmes Prickeln über ihren Rücken rann. Gewiss würden die Menschen sie als das Mädchen erkennen, dem das Privileg, am großen Festival teilzunehmen, verwehrt blieb, nachdem es am gestrigen Tag eine herbe Niederlage gegen den besten Freund eingesteckt hatte. Nun beugte sich der dunkelhaarige Mann zu ihr herab, starrte ihr in das Gesicht und verzog mürrisch seine Mundwinkel. „Wie bitte? Ich kann dich nicht hören! Was sagt man noch?“ Haruka glaubte im Erdboden versinken zu müssen. In diesem Moment hegte sie nur einen Wunsch: Den Blicken der Menschen entfliehen. Das Einzige, was man ihr nicht anmerken durfte, war ihre Verlegenheit. Daher reckte sie ihr Kinn vor und begegnete dem Blick des Mannes herausfordernd. „Entschuldigen Sie, Sir, dass ist mir furchtbar unangenehm“, sagte die Koordinatorin, dieses Mal mit lauter und selbstbewusst klingender Stimme. Zur Antwort erntete Haruka nur ein entrüstetes Schnauben, aber ehe sich der Fremde doch zu einer Erwiderung entschloss, fügte das Mädchen rasch hinzu: „Tut mir Leid, ich muss weiter - tschüss!“ Haruka vollführte einen schnellen Sternschritt, wich den entgegen kommenden Personen aus und rannte die Promenade hinab, ohne den Protestrufen Beachtung zu schenken. Die Händler hatten ihre Lager auf der Allee, die an der Küste entlang führte, aufgeschlagen. Die Wagengruppen und Stände wirkten wie wahllos über die Straße verstreute Farbtupfer. Ein steter Menschenstrom zog sich an der Promenade entlang, doch trotz der Enge war die Luft erfüllt von den lauten Rufen und dem Gelächter heiterer Menschen, die sich an die Marktstände drängelten und somit die Straßen verstopften. Der Schnee war platt getrampelt, was ihm eine nahezu glasige Oberfläche verlieh. An anderen Stellen war er durch Reifenspuren geschmolzen. Einerseits überwältigt, andererseits genervt, hielt Haruka inne, als sie die Betriebsamkeit sah, und zögerte, verunsichert, ob sie an ihrem Ziel noch rechtzeitig ankäme. Dass am heutigen Tag Markt war, hatte das Mädchen vollkommen vergessen. Aus ihren Gedanken wurde das Mädchen gerissen, als sie jemand anrempelte. Verärgert sah sich die Koordinatorin um und blickte aufgeregt kreischenden Kindern hinterher, die quer über die Straßen tollten. Schließlich seufzte sie ergeben, und Haruka begann sich in das Getümmel des Wochenmarktes zu stürzen, der über den gesamten Globus den Status einer Berühmtheit genoss. Ganz gleich ob Stadtbewohner oder Touristen, sie besuchten gerade aus diesem Grund den Markt und erfreuten sich stets, besonders in den Wintermonaten, seiner Schönheit, dann wenn Weihnachten – das Fest der Liebe - vor der Tür stand. Hier wurde frisches Gemüse und Obst feilgeboten, dort Brot, und neben Sense, Spitzhacke und Schaufel waren provisorische Ställe aufgebaut, in denen Pokémon standen, die für die Landarbeit sehr beliebt waren. Frauen kauften Stoffe, während nebenan die Ehemänner Tauros und Miltank begutachteten. Bloß einen kurzen Moment streiften Harukas Blicke die zahlreich dargebotenen Waren, dann richteten sich ihre Augen auf den an der Promenade nah liegenden Hafen. Die Fähre, an der im Wind flatternden Fahne erkennbar, auf der ein wellenähnliches Gebilde mit einem Lapras gestickt war, befand sich noch immer am Dock und war noch nicht ausgelaufen; ein Grund, der Haruka erleichtert ausatmen ließ. Etwas Zeit, die Hoffnung, dass sie noch nicht zu spät war, blieb ihr also noch. „Entschuldigung“, murmelte sie, während sie sich vorwärts durch die Menschenmasse schob und missachtete die Blicke, die ihr zuteil wurden, als sie sich in entgegen gesetzter Richtung ihren Weg bahnte, stets darauf bedacht, sich nie grob oder unfreundlich durch den Strom zu bewegen. Plötzlich aber schreckte Haruka ein Dröhnen auf und veranlasste, dass sie ihren Kopf hob und zum Hafen sah, hoffend, dass die blaue Fahne noch immer im Wind schlug. Diese wurde aber im ausgestoßenen Rauch des Schornsteins vollkommen verhüllt, ein Zeichen, dass die Fähre in wenigen Augenblicken den Hafen verließ. Zuerst vor Schreck versteinert, riss sich die Koordinatorin aus ihrer Starre und setzte ihren Kampf durch die Menschen weiterhin fort, hoffend und betend, dass sie nicht zu spät war. Noch einmal stieß der Schornstein der Fähre dichten Smog in die Luft, als die beängstigende Enge schließlich wich, und Haruka die angedockten Schiffe und Boote im Hafen Liegen sah. „Halt!“, rief die Koordinatorin heiser, während ihre Stimme vor Verzweiflung zittrig klang, und gönnte ihren schmerzenden Gliedern nicht die geringste Erholung. Unentwegt rannte sie auf die Anlegestelle der Fähre zu, auch wenn ihr bereits bewusst war, dass sie – wieder ein Mal – zu spät war; das Schiff war schon zu weit vom Land entfernt, als dass sie unversehrt und mit trockener Kleidung an Deck gelangen konnte. Ihr Lauf nahm daher ein abruptes Ende, als sie am Rande des Docks angelangt war. Um ihrer Enttäuschung Luft zu machen, fluchte Haruka laut, ignorierte, dass jemand ihren üblen Verwünschungen, die man dem offenherzigen und freundlichen Mädchen niemals zugetraut hätte, sein Ohr schenkte. Mehr über sich selbst als auf die Pünktlichkeit des Fährschiffes, schimpfte die Koordinatorin und fühlte sich matt und erschöpft, als ihr Atem zuneige ging. Mit einem kläglichen Seufzer sank sie zu Boden, während ihre Beine, die nun protestierend nach Ruhe verlangten, unter ihr fort schlafften. Sie harrte einen Moment aus und starrte mit regungslosem Blick zu den Schiffen, dann schweiften ihre Augen in die Ferne, auf einen Punkt, der nur für sie sichtbar war. Besinnend schloss Haruka die Augen, um ihren aufgewühlten Gedanken Herrin zu werden, doch dann begegnete sie einem anderen beängstigendem Gefühl. Jenes Gefühl, das sie wie ein dunkler Schatten begleitete, wollte nicht weichen. Stets drängten sie sich in den Vordergrund, bestimmten ihren Alltag und verwirrten ihre Gedanken. Unentwegt kehrten die Bilder, die Erinnerungen ihres Traumes, zurück; die Angst vor dem schwarzen Meer, welches durch ihre Angst genährt wurde, das im Sterben liegende Geschöpf und das Mädchen, dessen Gesicht ihrem so täuschend ähnlich war… Haruka fasste sich an die Brust und krallte ihre Finger in den Stoff. Ihr Herz, schon durch den Lauf zum Hafen zum Rasen gebracht, pochte so laut, dass sie fürchtete, ihre Brust würde zerspringen. Dann aber löste sich aus ihrem tiefen Ärger und Enttäuschung ein unkontrollierter Tränenfluss, den sie nicht zu bändigen wusste. Sie beschwor sich, stark zu sein, und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, um sich den lästigen, salzigen Tränen loszuwerden. Schließlich begann sie aber hemmungslos zu weinen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Haruka fühlte, wie sich durch den Tränenstrom all ihr Kummer löste, wie er mehr und mehr bedeutungslos wurde. All ihre Gedanken an das große Festival, an das Versprechen zu Kouki und an Shuus gestrigen Abschiedsworten wurden ihr gleichgültig, besaßen kein Gewicht mehr. Ihr kam es vor, als war sie bislang einem Pfad gefolgt, den sie nicht hätte wählen sollen, so als wollte das Schicksal ihr einen üblen Streich spielen. Ebenso jäh wie sie von ihren Gefühlen überwältigt worden war, verspürte Haruka keine Kraft mehr, um ihrer endgültigen Ausscheidung aus dem Festival zu betrauern. Regungslos saß sie da, ihren Kopf der geschwächten Wintersonne zugewandt. Ihre getrübte Wahrnehmung hatte noch nicht Mal gemerkt, wie sich Psiana, die den Gefühlsausbruch ihrer Trainerin bemerkt hatte, aus ihrem Pokéball befreit hatte. Nun schmiegte sich die Lichtkatze mit ihrem Körper liebevoll an Harukas Seite. Ihr geteilter Schweif strich sanft und tröstend über den Rücken, während der Kopf sich an ihren Arm drückte. Als Haruka die tröstenden Versuche schließlich bemerkte, zuckte das Mädchen leicht zusammen und blickte Psiana überrascht an, die sich nun auf die Hinterpfoten setzte und ebenso starr ihre Trainerin taxierte. Schließlich hob Haruka Hand, um Psiana dankbar über den Kopf zu streichen, die das Haupt der Berührung regelrecht entgegen reckte und ein wohltuendes Geräusch anstimmte. Es war jenes vertraute Schnurren, das Haruka stets in die Realität zurückholte, sie beruhigte und ihr ein Lächeln schenkte. Nachdem Haruka Psiana ausgiebig unter dem Kinn gekrault hatte, tasteten ihre Finger anschließend nach ihrem Rucksack, fühlte den kleinen, rauen Beutel, den Kouki ihr bei seinem Abschied gegeben hatte. Was würde er wohl sagen, wenn sie nicht zum Festival erschiene, ganz gleich ob sie Teilnehmerin war oder sich als Zuschauerin unter das Publikum mischte? Würde Kouki ihre Entscheidung verstehen? Dann flammte ein brennender Schmerz in ihrem Daumen auf, als sie sich an etwas schnitt. Leise fluchend sah Haruka sich das dünne Rinnsal an, das ihrem Finger herab floss, und saugte beherzt das Blut von dem Einstich ab. Behutsam griff sie schließlich nach der Rose, die bereits zu welken begann, aber noch immer verströmte sie einen bezaubernden Geruch, der Haruka unmissverständlich an Shuu erinnerte, der sie wegen ihres Versagens wohl tadeln würde, wenn er diese Nacht noch in Olivania City verbracht hätte, anstatt bereits nach Anemoia voraus zu fliegen. Gewiss wäre ihr Rivale sehr enttäuscht von Haruka, und dieser Gedanke schmerzte sie mehr als die Tatsache, dass sie nicht am Festival teilnehmen konnte. Er sollte Haruka als junge Frau sehen, nicht als Versagerin. Sie wollte ihm imponieren! Plötzlich wurde das Mädchen durch das Zetern einiger am Himmel kreisenden Vogelpokémon aufgeschreckt und blickte zu der sich nähernden Schar der Wingull und Pelipper. Neugierig wie Wingull eben waren, wagte eines von ihnen sich nahe an Haruka heranzukommen. Zunächst argwöhnisch musterte es die Zweibeinerin, achtete auf jeden ihrer Bewegungen, aber als sich Haruka nicht zu bewegen schien, zupfte es an ihrer Kleidung. Als Haruka jedoch genervt den Arm zurückzog, und Psiana den Vogel mit einem barschen Fauchen verscheuchte, flog Wingull protestierend auf; die Schar stimmte mit lautem Geschrei in seine Panik ein. Das fliederfarbene Fell der Lichtkatze sträubte sich verärgert, als sie die dreisten Vögel grollend taxierte. Als die Wingull durch Psianas Drohungen sich nicht beeindruckt zeigten, griff Haruka gereizt nach kleinen Steinen und schleuderte diese auf die Vögel, die nun mit einem empörten Kreischen auseinander stoben. „Ich nehme an, du hast die Fähre verpasst“ ertönte plötzlich eine männliche Stimme, die Haruka alarmiert zusammenzucken ließ. Zunächst glaubte sie, es wäre die spöttisch arrogante Stimme von Shuu, aber als sie sich umwandte, sah sie in das zerfurchte Gesicht eines alten Herrn, der sie mit einem breiten Grinsen anblickte. „Ach ja, die Vögel tragen keine Schuld daran, dass du die Fähre verpasst hast.“ Schweigsam warf sie dem Schwarm, der sich allmählich entfernte, verstohlene Blicke zu, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, als er überraschend fragte: „Ich nehme doch mal an, dass du zum Wettbewerb willst, der in übermorgen in Anemonia stattfindet?“ Während Haruka durch die unerwartete Gesellschaft wortlos nickte, schlich die Lichtkatze um ihre Beine und warf dem Fremden misstrauische Blicke zu. Psiana kräuselte leicht die Lefzen, dennoch drang kein Laut aus ihrer Kehle. Sie traute den Unbekannten nicht, der ihrer Trainerin ungehobelt gegenübertrat. Nervös wich Haruka dem Blick des Mannes aus, der sie eindringlich musterte, und fühlte sich unwohl bei Gedanken, dass er ihren Heulkrampf miterlebt haben könnte. Ihre Unsicherheit überspielend, schnippte sich die Koordinatorin eine Strähne, die ihr durch den frischen Seewind ins Gesicht geblasen wurde, weg. „Ich wollte zum Wettbewerb“, korrigierte Haruka den Fremden. „Jetzt nicht mehr.“ Während der Mann Haruka prüfend ansah, brach er in schallendes Gelächter aus. Die Koordinatorin verzog missmutig die Lippen, wandte den Blick wieder ab und fühlte sich lächerlich gemacht. „Lachen Sie mich aus?“ „Auslachen? Ganz und gar nicht!“, verteidigte sich der Fremde, aber seine Antwort stellte Haruka nicht zufrieden. So schnell wie er auch erheiternd wurde, wurde der Mann auch wieder ernst. „Ich will dir helfen. Das ist alles.“ Zweifelnd sah Haruka den Mann an, glaubte seinen Worten nicht zu trauen, aber irgendetwas sagte ihr, dass er es ehrlich meinte. Dennoch tat sie ihrem Argwohn kund: „Helfen? Ich kenne Sie doch gar nicht!“ „Eben darum! Vertrau mir.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem herzlichen Lächeln, während er ihr aufheiternd zu zwinkerte. Haruka wusste nicht, was es war, dass sie dem Fremden Glauben schenkte, ohne nach seinem Namen zu fragen. Das Seltsame war sogar, dass ihr der Name unbedeutend vorkam, sondern vielmehr neugierig war zu erfahren, wohin der Mann sie brachte. Als sie eben diesen Gedanken an ihn richtete, schwieg er bloß. Nicht wissend, ob sie ihm wahrhaftig Glauben schenkten durfte, war sie ihm erst zögernd gefolgt. Psiana gefiel diese Entscheidung ganz und gar nicht. In Katzenmanier stellten sich ihre Schnurrhaare nach vorne und fauchte scharf. Um ihren Willen durchzusetzen, ließ sich die Katze an Ort und Stelle auf die Hinterpfoten sinken, während ihre funkelnden Blicke sich auf ihre Trainerin richteten. Dass Haruka ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, verstörte und entsetzte Psiana zugleich. Verunsichert zischte sie ein weiteres Mal, doch das Mädchen gedachte nicht sich erneut zu ihrer Prinzessin umzudrehen. Fassungslos sprang Psiana mit gesträubtem Fell auf die Pfoten und stieß ein bedrohliches Fauchen aus, entschied schließlich widerwillig Haruka zu folgen. Diese bescheuerten Zweibeiner! Zunächst ließen sie den Hafen hinter sich und anschließend folgten sie der Promenade, an denen sich ungepflegte Häuser säumten, und kehrten Olivania City den Rücken. Sie hatten den Strand erreicht und staksten nun durch den feuchten Sand, kamen aber dennoch bloß mühsam voran. Angewidert ließ Psiana ein Brummen ertönen, als sie die ersten feinen Körner zwischen ihren Ballen spürte, die unangenehm an diesen empfindlichen Stellen rieben. Dem Missfallen der Gefährtin zollte Haruka keine Beachtung, sondern bemühte sich vielmehr den Schritten des Mannes mitzuhalten, der sich beinahe mühelos durch den Sand bewegte. Die seichteren Ebenen, die durch die Flut aufgeweicht waren, erleichterten das Vorwärtskommen ungemein, obwohl an manchen Stellen die Feuchtigkeit stand und kleine und große Pfützen bildete. Schließlich blieb der Unbekannte so abrupt stehen, dass Haruka beinahe gegen seinen Rücken geprallt wäre, wenn sie den unerwarteten Halt nicht rechtzeitig wahrgenommen hätte. „Wir sind da“, verkündete der Mann knapp und warf dem Mädchen einen flüchtigen Blick zu. Irritiert glitten Harukas Augen über die Umgebung, sahen die schäumenden Wellen in der Ferne und nahmen den tristen Wolken verhangenden Himmel über dem Horizont wahr, der bittere Kälte versprach. Jener Ort, der zu dieser Jahreszeit von Menschen gemieden wurde, sollte ihr Hilfe versprechen? Und welchen Grund mochte der Fremde haben, um ihr, ein ihm ebenso unbekanntem Mädchen zu helfen? „Warum wollen Sie mir helfen?“, wollte das Mädchen daher wissen, aber als sich Haruka zu dem Mann umwandte, war er nicht mehr zu sehen, stand nicht hinter Haruka, so wie sie es angenommen hatte. Zunächst ließ sie ihre Blicke über den Sand schweifen, sah die Spuren, doch jene verloren sich, je näher sie den ausrollenden Wellen kamen. Schließlich hob Haruka den Kopf, sah, wie sich der Fremde allmählich von ihr entfernte. „Warten Sie!“, rief Haruka dem Mann hinterher, aber er schien ihre Worte nicht mehr zu vernehmen. Ungestört setzte er seinen Weg fort, ohne sich ein weiteres Mal zu der Koordinatorin umzusehen, die nicht wusste, was sie nun tun sollte. Einen kurzen Moment besann sich Haruka auf das Gespräch, was sie mit dem anscheinend namenlosen Mann wenige Minuten zuvor geführt hatte. Lapras! Hatte er nicht etwas von einer Herde Lapras gesprochen, die am Strand von Olivania City ruhten? „Zu dieser Zeit kommen jedes Jahr eine Schule von Lapras um gen Süden zu wandern. Eigentlich sind sie sehr friedlich gestimmte Pokémon, aber die Menschheit hat ihre Herzen misstrauisch gemacht… Wenn du sie überzeugen kannst, werden sie sicherlich eine Gestrandete wie dich zu deinem Ziel bringen. Immerhin liegt Anemonia City auf ihrer Reiseroute!“ Doch als sich Haruka umdrehte und hinaus aufs Wasser blickte, sah sie keine Pokémon im Meer rasten. Vielleicht hatte sich der Mann ja geirrt…? Nein, irgendetwas rührte sich im Inneren des Mädchens, während es hinaus starrte, sagte Haruka, dass dort draußen im Meer etwas war – etwas, dass sie beobachtete. Haruka schritt nahe ans Wasser heran, bis sie merkte, dass das kühle Nass an ihre Füße schwappte und ihre Socken feucht wurden. Sie blickte herab, hob etwas ihren linken Fuß und betrachtete ihr durchnässtes Schuhwerk. Dann legte sie unerwartet ein Summen ins Ohr, das nicht an das Sirren von Bibor erinnerte, sondern ein Melodie und von tiefer Friedlichkeit sprach. Obwohl ihr Herz in Aufruhr gewesen war, schien es sich zu beruhigen und begann in einem sanfteren Takt zu schlagen. Haruka hob wieder ihren Kopf, als sie den Gesang vernahm und sah in den tieferen Regionen des Meeres graue Schatten. Sich an ihren Traum erinnernd, schrak das Mädchen zurück und glaubte sich erneut der Panik gegenüberzustehen, die es verspürt hatte, als es aufgewacht war. Doch in Wahrheit war es keine Angst, bloß Neugierde und der Frieden, den sie beim Klang des fremden Liedes gefühlt hatte. Trotz dieser Tatsache ertappte sich Haruka, als sich ihr Herz erneut beschleunigte, während Gebilde die Oberfläche durchstießen und einen lang gezogenen Laut ausstießen. Es war kein Leidesklagen, vielmehr war es ein ruhiger Gesang, die in Harukas tiefstem Inneren widerhallte. Haruka wagte es kaum zu atmen und mit den Augen zu zwinkern, als sie begriff, was dort aus dem Tiefen des Meeres kam, und da wusste sie, dass der Mann, dem sie zuvor misstraut hatte, die Wahrheit gesprochen hatte. Feine Tropfen, die im Licht sanft glitzerten, stoben umher, als das Pokémon die Oberfläche mit der Schnauze durchstieß und nun seinen langen Hals reckte. Nässe perlte an der blauen Schuppenhaut ab, und der Panzer, der robuster als Diamant war, schützte den Plesiosaurier. Zögerlich tauchten weitere Lapras vereinzelt auf, die sich scheu ihrer Umgebung besahen, hoben dann jedoch gleichsam ihre Köpfe und ließen einen auf- und abschwellenden Gesang erklingen. Kaum trug der Wind jene Töne fort, begriff Haruka, wie groß die Gruppe der Lapras in Wirklichkeit war. Sie vermochte sie nicht zu zählen, bloß schätzen konnte sie ihre Zahl – vielleicht waren es zwanzig oder sogar mehr? Das erste Lapras wandte sein Haupt und sah Haruka aus klugen Augen entgegen, die leicht zurück schrak, als sie den Blick des gealterten Pokémon auf sich spürte. Abschätzend und kühl betrachtete der Plesiosaurier das Mädchen, das glaubte in den Seelenspiegeln des Lapras das inne wohnende Misstrauen zu erblicken. Scheu wich sie den Augen aus und ließ sie stattdessen über den kräftigen Leib gleiten, der zahlreiche Narben und Risse am Panzer aufwies. Zweifel beschlichen Haruka, die die Forschungen über jenes Meeresgeschöpf in Frage stellten, und sie fragte sich, ob Lapras wahrhaftig die Menschensprache verstehen konnten oder waren dies bloße Einbildungen törichter Menschen, die vom Glauben befallen waren, dass sie die Pokémon verstehen? Haruka wusste es nicht, zögerte aber ihren Wunsch an die Lapras zu äußern; aus Angst, dass die Worte der Wissenschaftler nicht der Wahrheit entsprachen. Ungeduldig stellte Psiana ihre Ohren und Schnurrhaare nach vorne, zog die Lefzen zurück und ließ ein gereiztes Fauchen erklingen, das Haruka gänzlich aus ihrem Gedanken wach rüttelte. Sie sah zu Psiana herab, deren Augen die Zweibeinerin finster anfunkelten, so als würde Psiana jeden Moment ihre Krallen in ihr Bein versenkten, wenn sie nicht ihr Anliegen endlich schilderte. So hob die Koordinatorin ihr Haupt, suchte fieberhaft nach Worten, die nicht allzu frivol klangen. Wie sollte sie einem Pokémon ihre missliche Lage erklären? Ein weiteres, warnendes Fauchen drängte das Mädchen zu einer Entscheidung, die es rasch treffen sollte. Entweder würde sie ihr Anliegen äußern oder die Lichtkatze wetzte ihre Krallen an ihrem Bein… Ihr Entschluss auf die erste Möglichkeit. Letzteres empfand sie doch als sehr schmerzvoll. „Ich… Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, aber“, begann Haruka verunsichert, als sie die Augen des Anführer mit fester Bestimmtheit auf ihr ruhen fühlte, „ich brauche deine Hilfe.“ Ihre Blicke wanderten zwischen den anderen misstrauischen Lapras umher. Aufgewühlt sah sie dem Lapras in die Augen, die einen Moment, so glaubte die Koordinatorin, viel sagend aufflackerten. Ob ihre Worte zu dem alten Geschöpf durchdrangen? Schließlich hob der Plesiosaurier anmutig seinen Kopf, öffnete das Maul, und es begann ein tiefes Summen. Warum sollten wir dir helfen, Menschenkind?, wisperte eine eindringliche Stimme, die geradewegs Harukas Gedanken durchzogen. Sie hallte in ihrem Kopf wider, begleitet vom leisen Singsang, der den Wortlauten eine eigenartige Resonanz gab. Sie war tief und ernst, aber dennoch vernahm Haruka sie deutlich, während ein kühler Schauder ihren Geist durchfuhr. Wie erstarrt blickte sie Lapras an, das nun bekümmert die Augen niederschlug. Sieh, was euresgleichen mit uns gemacht haben, forderte das Geschöpf rau. Wir sind Gejagte. Trophäen wir ihr uns nennt. Nun frage ich dich, warum sollten wir dir helfen? Erneut wurde Haruka von Unruhe ergriffen, als ihre Augen auf die argwöhnischen, gar scheuen, Lapras verweilten, die hinter ihrem Anführer zu suchen gedachten. Sie waren gezeichnet von Angst, Verachtung und Tod. Es war ein Trauerspiel mit anzusehen, wie sehr die Pokémon unter der Habgier der Menschen litten. Die Regierung versuchte zwar gegen die Lapras-Jagd vorzugehen, aber was sollten sie gegen Jäger tun, die Pokémon als Sammelobjekt oder als Delikatesse ansahen? Bei dem Gedanken wandelte sich ihr Unbehagen in Wut. Mühsam konnte sie jenen Zorn auf Menschen, die Pokémon zu ihren eigenen, egoistischen Zwecken missbrauchten, zügeln. Sie war nicht wie alle anderen Menschen! „Nein! Nicht alle Menschen sind böse!“, widersprach Haruka vehement, voller Leidenschaft, sodass manche Lapras ihre Lefzen kräuselten, bereit das Mädchen zurecht zu weisen, sollte es etwas Unkluges vorhaben. Doch der Anführer neigte seinen Hals seinen Vertrauten zu, bedeutete sie mit einem kurzen Klang zur Ruhe und wandte sich hernach dem Mädchen zu, dessen Gemütswechsel Lapras deutlich spüren konnte – diesen Zorn und zugleich diese Zuneigung. Während Lapras sein Haupt absenkte, funkelten seine dunklen Augen dem Mädchen geheimnisvoll entgegen. Ach wirklich? Warum sollten wir gerade dir helfen? Anmutig hob das Leittier sein Haupt und starrte Psiana, die Lapras mit starrem Blick taxierte, an. Du gehörst zu jenen, die Pokémon zu ihren Sklaven machen. Drohend zog die Lichtkatze die Lefzen hoch und fauchte scharf. Ihre Schweife peitschten durch die Luft. Zu jeder Zeit war Psiana bereit die Krallen auszufahren und sie über Lapras’ ungeschützte Haut zu ziehen. All ihren Mut zusammen nehmend, wagte Haruka zu widersprechen: „Nein, die Pokémon sind Freunde! Psiana und alle meine Pokémon sind gerne bei mir, wir sind Kameraden!“ Psiana drehte den Kopf und sah zu dem Mädchen auf, während sie zwar die Drohgebärden verstummen ließ, aber dennoch nicht davon absah, den Schweif bedrohlich hin und her zucken zu lassen. Während sich das Männchen in Bewegung setzte und geradewegs auf Haruka zu schwamm, schwappten sanfte Wellen an ihre Füße. Zunächst schreckte sie zurück, als sich die weise Kreatur ihr näherte. Doch seine dunklen Seelenspiegel zogen sie in den Bann. Ihnen wohnte eine Sanftmut inne, die Haruka überraschte und faszinierte. Wie zu einem Angriff – so mutmaßte Psiana, die Lapras warnend angrollte – öffnete das Meerestier das Maul. Du hast ein ehrliches und starkes Herz, sprach Lapras ruhig, und dein Mitgefühl an das Leid, das ihr Zweibeiner uns angetan habt, schätze ich sehr. Sein stolzes Haupt empor hebend, drang ein sanftes Lied in das tiefste Empfinden ihres inneren Bewusstseins ein, versprach Haruka Ruhe und Geborgenheit, die sie vergessene Erinnerungen ihrer Kindheit wachriefen. Jene, von denen sie stets geglaubt hatte, dass sie zu jung war, um sich an diese Momente erinnern zu können. In diesem Augenblick aber wurde die Koordinatorin von jenen Gefühlen überrollt, deren Heftigkeit sie zu überwältigen drohte. Bereits nach wenigen Herzschlägen aber nahm das Schwindelgefühl ab und zog sich wie seichte, ausrollende Wellen wieder vollends zurück. Alles was blieb, war bloß der beschleunigte Takt ihres Herzens in ihrer Brust, und das Empfinden von Zugehörigkeit. Deine Gedanken verraten, dass du zu jenem stinkenden Dorf möchtest, das ihr Anemonia nennt. Ist dem so? Wie gelähmt blickte Haruka den Plesiosaurier an und schwieg, da kein Wort ihre Lippen verließ. Ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie einen drei, vier Herzschläge lang ihre Augen schloss um mit den vielfältigen Sinneseindrücken zu recht zu kommen. Der Verstand verbot ihr den vergangenen Minuten Glauben zu schenken. Als Psiana jedoch energisch am Stoff der Socken zerrte, schlug das Mädchen die Lider auf. Beherzt maunzte die Lichtkatze, drängte sie zu einer Erwiderung. „In Anemonia City findet ein Wettbewerb, der mir sehr wichtig ist“, bejahte Haruka und glaubte erneut nicht, ob Lapras die Bedeutung ihrer Wünsche richtig einzuschätzen vermochte. „Ich darf ihn nicht verpassen“, fügte sie zerknirscht hinzu und ballte die Faust. Recht hatte sie. Diese Chance durfte sie nicht verstreichen lassen, wenn sie wirklich am Festival teilnehmen, gar zur Top-Koordinatorin aufstreben wollte. Vor allem aber wollte sie ihrem Rivalen Shuu diesen Triumph nicht gönnen. „Kannst du – oder ihr – mich mitnehmen?“ Wie ein gespanntes Stahlseil zuckte der lange Hals des Plesiosauriers umher, ehe sein Blick wieder auf der Koordinatorin ruhte, die noch immer unruhig in seine Augen schaute. Lapras vermochte Harukas Nervosität zu riechen. Wie der bleierne Geschmack von Meeressalz lag die Anspannung auf seiner Zunge. Das Mädchen war bewegt von wahren Hintergründen ihres Tuns und erfüllt von einer Leidenschaft, was Lapras zunehmend faszinierte. Sie war anders, als jene gefühllosen Menschen, die ihm zuvor begegnet waren. Daher senkte Lapras seinen Kopf und schlug die Augen nieder, nachdem er seine Wahl getroffen hatte. Dann möchten wir dir helfen. Es waren bescheidene Worte, die Harukas Herz schneller schlagen ließen. Zunächst konnte sie nicht glauben, welches Vertrauen der Plesiosaurier ihr entgegen brachte. Dann war es so, als fiele eine schwere Last von ihren Schultern; eine Last, die ihr zuvor als eine unüberwindbare Bürde erschienen war. Binnen weniger Sekunden war dieser erdrückende Kummer gewichen, so als bräche ein Wirbelsturm über ihre Gefühle herein. Lachend streckte Haruka ihre Hände in den Himmel und sprang ausgelassen in die Höhe, während ihr ein kehliger Freudenjauchzer entkam. Wasser und Matsch spritzten dem Mädchen entgegen, als ihre Füße wieder den schlammigen Untergrund berührten, und besudelten alle Kleidung und Schuhe. Doch Haruka scherte sich nicht darum. Ihre Klamotten würden auf offenem Meer ohnehin vor Feuchtigkeit klamm werden. Warum sollte sie sich also um ihren Zustand kümmern? Als Haruka ihren Übermut und Freude gestillt hatte, wandte sie sich Lapras entgegen, welches die Lefzen leicht kräuselte. Es schien, als lächelte das Pokémon sie gutmütig an. Sie erwiderte das Lächeln. „Danke!“ Bis an die seichten Stellen bewegte sich Lapras an das Ufer heran und näherte sich somit Haruka, die erwartungsvoll der Reise entgegen fieberte. Steige auf meinem Rücken. Die Reise wird andauern, bis sich die Sonne dem Wasser zuneigt. Der Gedanken bis zum Anbruch der Nacht auf dem offenen Meer zu sein, bereitete Haruka doch Furcht, und sie zögerte trotz Lapras energischer Aufforderung. Als sie jedoch das ungeduldige Schnauben des Plesiosauriers vernahm, trat sie zaghaft an das Pokémon heran, legte die flache Hand auf die kühlen Haut und fuhr mit den Fingerspitzen über die kleinen Schuppen, die von feiner Beschaffenheit waren. An manchen Stellen war die Oberfläche rau, an anderen glänzte sie matt. Schließlich umfassten Harukas Finger einen längeren Hornauswuchs des Panzers und zog sich behutsam auf Lapras Rücken. Sie ließ sich zwischen zwei Auswucherungen nieder und hielt sich mit einer Hand, die um den vorderen Fortsatz geklammert war, fest. „Psiana, komm her“, forderte Haruka schließlich die Lichtkatze auf, die unruhig in Sicherheit vor der Nässe auf und ab schritt. Psiana fauchte gereizt, sträubte ihr Fell und weigerte sich näher zu kommen. Leicht lächelnd hob Haruka den Pokéball des katzenhaften Pokémons, sodass der rote Lichtstrahl die Konturen des Psianas einfing, damit sie einen trockenen Ort hatte, während ihre Trainerin das Meer durchkreuzte. Halte dich gut fest, vernahm sie Lapras Geiststimme in ihren Gedanken, und die Koordinatorin bejahte knapp. So erhob Lapras majestätisch sein Haupt, öffnete das Maul und stimmte, gleichsam mit seinen Kameraden, ein uraltes Reiselied an. Graue, dichte Nebelschleier hielten die Gruppe in ihren Fängen und tilgten jedes Licht und Geräusch, welches noch so zart versuchte durch das Gewölk hindurch zu dringen. Wie eine sanfte, trügerische Decke kroch sie dahin und schien als nähme sie kein Ende, gerade so als tasteten dürre Finger sich vorwärts, um alles, was sich ihnen in den Weg stellte, zu verschlingen. Ungewöhnliche Kälte umwehte Harukas Gesicht, die in einen wohltuenden Schlummer gefallen war, als sie sich bewusst wurde, dass ihr nichts auf Lapras Rücken geschähe, wenn sie die Augen schloss. Nun aber schreckte die Koordinatorin hoch und glaubte sich in einem Albtraum zu befinden. Schon lange war das angenehme Reiselied verklungen, und jetzt spürte Haruka wie die Anspannung wie Unheil bringende Wolken über ihren Gefährten lag. Vorsicht war geboten, denn die Lufttrübung verwehrte jeden Blick auf das, was vor ihnen lag. Bloß ein leises Plätschern nahm Haruka wahr, die furchtsam ihre Hand um den Hornauswuchs spannte, während über ihre Lippen ein flacher Atem kam. Geisterhafte Schattengebilde tauchten unerwartet in der Ferne auf; schroffe Felsklippen, die wie Fangzähne aus dem trüben Wasser ragten, als stammten sie von einem uralten Seeungeheuer. Unruhig wanderten Harukas Augen umher, suchten das Übel, schienen es aber nicht ergreifen zu können. Beruhige dein Herz. Eine Stimme aus weiter Ferne klang in ihren Gedanken wider, die Haruka ob des Schreckens, den sie im ersten Augenblick empfand, nicht einzuordnen vermochte. Es sind bloß Felsen, rollten Lapras amüsierte Worte durch ihren Geist. Ihre Augen schließend und Lungen mit kühler Luft füllend, atmete die Koordinatorin tief ein, um ihr rasch schlagendes Herz zu besänftigen. Schließlich hob sie den Kopf und versuchte im grauen Nichts etwas zu entdecken. Oder eine Ahnung zu erhalten, wo sie sich befanden. War Anemonia City bereits nahe, und sie sahen es bloß nicht? Aber nein, sonst wären die Felsriffe der umliegenden Inseln, den Strudelinseln, nicht so nahe. Plötzlich schreckte Lapras hoch, und auch Haruka riss unerwartet den Kopf herum. Ein Schrei! Panisch. Furchtsam. Schmerzerfüllt. „Was ist los?“, fragte die Koordinatorin verängstigt, erhielt aber keine Antwort. Und da vernahm Haruka ein lautes Tosen, und sie spürte, wie Lapras Bewegungen unkontrollierter, angestrengter, wurden, als schwömme es verbissen gegen eine starke Anziehung an. Der Nebel, der nun lichter wurde, gab nun willentlich Preis, was vor ihnen lag: Ein gewaltiger Mahlstrom, dessen Durchmesser Haruka nicht zu schätzen vermochte, geschweige gelang es ihr einen klaren Gedanken zu fassen. Schäumende Gischt sammelte sich spiralenförmig um einen Punkt, dem Zentrum, welches alles, was um ihn lag, sich einverleiben wollte. Während das Mädchen in die tiefe Schwärze des wirbelnden Wassers blickte, fühlte es die nahende Panik in ihren Gliedmaßen, die es beinahe zu lähmen schienen. „Kehr um“, flüsterte Haruka leise zu Lapras, das in grimmiger Entschlossenheit gegen den Strudel kämpfte. Doch während quälende Sekunden verstrichen, rückte ihr Schicksal näher und näher, bis Haruka spürte, wie ihr Angsttränen über die Wangen flossen. „Lapras, kehr um!“, schrie sie den Plesiosauriern aufgewühlt an, dessen Widerstand allmählich nachgab. Sein Bewusstsein fühlte sich erschöpft und matt an, kraftlos. Haruka wandte panisch den Oberkörper um, sah die anderen Lapras, die ebenfalls den Strudel gesichtet hatten, gegen den Sog ankämpften. Noch konnten sie der Gefahr entrinnen, aber stattdessen folgten sie ihrem Anführer treu. Die Arme hochreißend fuchtelte sie wild mit ihnen umher. „Verschwindet!“, schrie das Mädchen aus Leibeskräften gegen das Tosen der Wassermassen an, und es erhoffte sich, dass die Lapras auf die Worte eines Menschenkindes hörten. Manche ließen sich von ihren Rufen von ihrem Vorhaben ihrem Herrn zu folgen, nicht abbringen. Andere hielten verwirrt, beinahe orientierungslos, inne und sahen sich unentschlossen an. Dann wandte sich Haruka von ihnen ab und spürte, wie der Sog Lapras erfasste und, trotz seiner Bemühungen, ihn zum Inneren brachte. Schließlich erstarb die Gegenwehr. Ich kann nicht, kam die gewisperte Antwort, leise und ausgelaugt. Etwas hält mich zurück… Ich kann nicht. Es tut mir Leid, Menschentochter. Während Haruka sich verzweifelt an Lapras Hals klammerte, starrte sie ohnmächtig in das schäumende Wasser, weinte stumme Tränen und wartete darauf, dass der Strudel sie verschluckte, und die Todesqual rasch endete. Wie war es so zu sterben, wenn man nicht mehr atmen konnte? Als das Getöse beinahe unerträglich wurde, löste Haruka ihre Hände von Lapras, da es ohnehin nichts brachte sich festzuhalten, und presste sie auf ihre Ohren. Dann, mit voller Wucht, wurde die Koordinatorin unter das eisige Wasser gedrückt, so sehr, dass ihr einen Augenblick der Atem ausblieb, als sich die Eiseskälte um sie legte, die binnen weniger Sekunden seine Gliedmaßen taub werden ließ, vollkommen in Schock erstarrt. Hilflos konnte Haruka nur hinnehmen, dass sie, wie ein wehrloser Spielball in den Krallen eines Snobilikats, fortgerissen wurde. Bereits nach wenigen Sekunden war ihr Sauerstoff verbraucht. Wilde Panik brach über sie herein, als sie merkte, dass sie zunehmend in Luftnot geriet, und kämpfte eines Verzweiflungsaktes gleich ironischerweise gegen den machtvollen Sog des Strudels an. Doch ihr Widerstand erstarb so rasch wie er aufgekommen war. Das ist das Ende, raste ihr durch die aufgewühlten Gedanken und schloss die Lider, beschwor ihre Erinnerungen. Man sagte, dass im Anblick des nahenden Todes das gesamte Leben wie ein Film sich erneut abspielte. Nun kamen Bilder in Haruka auf, die ein tiefes Gefühl von Trauer wach riefen; Erinnerungen an ihre Familie; ihre Eltern und ihren Bruder, schöne und schlechte Momente. Sie dachte an ihre Pokémon und Freunde, die ihr in guten und schlechten Tagen zur Seite gestanden hatten. Zuletzt erblickte sie aber Shuu, der den Rücken zu ihr gewandt hatte, sich schließlich zu ihr umdrehte. Schwach erkannte die Koordinatorin ein Lächeln auf seinen Lippen, und sein Auftauchen wühlte das Mädchen innerlich auf, ließ Haruka jäh verzweifeln. Aus tiefstem Herzen wünschte sich Haruka, dass sie ihm jemals gesagt hätte, was sie für ihn empfand. Noch so viel wollte sie ihm beweisen und vor allem sagen. Nun aber war es zu spät, konnte ihm nicht mehr sagen, was sie fühlte. Als Haruka mit jenem letzten Gedanken die Augen schloss, vermochte sie bloß einen flüchtigen Blick auf einen düsteren Schatten zu erhaschen, der sich ihr rasend schnell näherte. Ihr geschwächtes Herz machte einen angstvollen Sprung, als das silberne Schimmern des Leibes in ihre Augen stach und als das Geschöpf mit dunklen Augen in die ihren starrte, die Lefzen gekräuselt und die Zähne gebleckt. Doch in diesem kurzen Moment ergab sich Haruka der Bewusstlosigkeit. Kapitel 4: Das Laster namens Stolz ---------------------------------- Spät in der Nacht war Shuu bereits in Anemonia City angekommen. Nachmittags, es war bestimmt achtzehn Uhr gewesen - er hatte nicht sonderlich auf die Uhrzeit geachtet -, war er unter den Augen eines Mädchens, dessen Name Haruka lautete, in Olivania aufgebrochen. Ohne einen weiteren Blick auf Haruka zu werfen, die ihn unzählige Male an den Rand seiner Geduld gebracht hatte, war er auf dem Rücken seines Libelldras in die Luft abgehoben. Beinahe unermüdlich, so erschien es Shuu, hatte Libelldra seinen Trainer durch die anbrechende Dunkelheit getragen. Doch als die Lichter der Kleinstadt in Sicht waren, hatte Libelldra abermals den Takt seiner Flügelschläge beschleunigt, obwohl seine Muskeln vor Anstrengung erhärtet waren und jede Faser seines drahtigen Körpers sich dagegen aufgebäumt hatten. Schließlich spürte Shuu die Erleichterung, die durch den Drachenleib strömte, als die Klauen den nassen Boden aufgewühlt hatten. Seine Hand ruhte auf den Schuppen, die kalt, aber nicht feucht, waren, und der Trainer fühlte das Zittern der Muskeln. Tröstend fuhren Shuus Finger die Konturen der harten Beschuppungen nach, ehe der Drache seinen Hals gebeugt und ihn aus kraftlosen Augen angesehen hatte. Shuu verstand die lautlose Botschaft, die er in den roten Iriden lesen konnte. Auch er war an diesem Abend durch den langen, nächtlichen Flug müde und erschöpft gewesen. Dass das Pokémon Center in der Nähe war, war eine Wohltat gewesen, daher suchte er rasch das baldige Nachtquartier auf, um sich und seinen Pokémon eine erholsame Nacht zu gönnen. Seinem Umfeld schenkte der Koordinator keine Beachtung. Shuu war zu müde und so spät vermochte er noch nicht mal die Hand vor Augen zu sehen. Bald schon endete die Ruhe und somit sollte Nervosität seinen Einzug finden in das Leben des Koordinators und seiner Pokémon. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass die Nacht kühl gewesen war, vielmehr war es aber der Wind, der ihn zu schaffen gemacht hatte. Unbarmherzig hatte er an seiner Kleidung gezerrt, und die Kälte stach wie tausend Nadeln in seine Haut, trotz der warmen Daunenjacke, die er sich kurz vor dem Wintereinbruch zugelegt hatte. Shuu besah sich seiner Finger, die sich wie all seine Glieder noch immer gefroren anfühlten, obwohl bereits der nächste Tag angebrochen war. Die Sonne stand schon hoch im Zenit und vertrieb die am Himmel treibenden Wolkenfetzen. Trotzdem brachte sie keine Wärme. Sie war zu schwach um Arktos’ Atem zu vertreiben. Dass bereits Schnee gefallen war, überraschte Shuu keinesfalls. Es war bereits Dezember und in anderen Regionen stand Weihnachten vor der Tür. Einem solchen Fest hatte Shuu in seinem bisherigen Leben noch nicht beigewohnt, sondern war damit vertraut, dass es bloß ein besonderer Tag für Pärchen war. Daher nannte man es auch „Fest der Liebe“. Nur aus Erzählungen und schlechten Liebesfilmen kannte er die prunkvollen Feierlichkeiten, die andere Menschen auf dieser Welt zelebrierten. Während der Weihnachtszeit waren die Häuser und Straßen mit Lichtern geschmückt und hoch ragende Tannenbäume triumphierten über den Köpfen der Menschen. Es wurde gesungen, getanzt und gefeiert. An jenen Tagen machte man Freunde und Familie Geschenke, egal ob groß oder klein. Es war eine befremdliche Vorstellung in solch einem Ausmaß Weihnachten zu verherrlichen, denn er war gewohnt, dass vielmehr das Neujahrsfest ausgiebig gefeiert wurde. Natürlich wurden Häuser und Wohnungen ebenfalls geschmückt. Dazu verwendeten seine traditionsbewussten Eltern stets Pflaumenblüten, Bambus und Kiefer. Am Silvesterabend genoss man die vertraute Gesellschaft im Familienkreis und mit Freunden. Anders als in anderen Ländern zelebrierte man das Neujahr nicht mit einem Feuerwerk, sondern man besuchte am nächsten Morgen einen Tempel oder Schrein. Trotz des beißenden Frostes, der seit zahlreichen Tagen über die Region fegte, mochte Shuu Johto, nicht wegen der Tatsache, dass er entschlossener denn je war dieses Festival für sich zu entscheiden. Nein. Es war etwas anderes, etwas Besonderes, als er bislang angenommen hatte. Natürlich war Shuu unzähligen Jugendlichen und erstaunlichen Pokémon begegnet, aber es war etwas, was ihn in unaufhörlicher Anspannung versetzte, sollten seine Gedanken ans Festival abschweifen. Dieses unbehagliche Gefühle rasch verdrängend, gelangte Shuu in die Lobby des hiesigen Pokémon Centers, welches im Gegensatz zu jenen, die er in Dukatia, Teak oder Olivania gesehen hatte, beängstigend klein war. Dem ungeachtet verströmte es eine angenehme Atmosphäre und vermittelte dem Koordinator die Ansicht in vertrauter Umgebung zu sein. Die Lobby war harmonisch eingerichtet und wurde liebevoll gepflegt, dennoch war Shuu überrascht welch Aufsehen ein bevorstehender Wettbewerb erregte. Es schien geradewegs, als würden sich nicht nur Koordinatoren an diesem einsamen Ort, einer einfachen Kleinstadt, welche weltweit Fischhandel betrieb, zu versammeln. Auch andere Trainerklassen, so bezeichnete er sie in diesem Augenblick, schienen großes Interesse an diesem letzten Wettbewerb der Saison zu hegen. Unbewusst umfassten seine Finger eine silberne Schatulle, die sich mit einem klickenden Geräusch leise öffnete. Seine Augen flackerten auf, als sie die fünf verschiedenfarbigen Bänder betrachtete, die er gemeinsam mit seinen Pokémon im zurückliegenden Jahr errungen hatte. Unverhohlener Stolz trat ihm in das Gesicht. Er brauchte keine Bänder mehr. Die Zusicherung am Festival teilzunehmen, war ihm beschieden. Wer hätte auch etwas anderes erwartet? Doch manche sollten an diesem Ort eine herbe Enttäuschung erleben. Während die meisten Koordinatoren eine Niederlage ereilte, vermochte bloß einem der Sieg vergönnt zu sein. Wer dies wohl sein mochte? Unweigerlich schweifte seine Blicke umher, versuchten ein vertrautes Gesicht, aus dem blaue Augen hervorstachen, ausfindig zu machen. Unzufrieden verzog Shuu die Lippen. Nirgends konnte er es sehen – oder sollte er besser sie sagen? Eifrig schüttelte Shuu den Kopf und trat der jungen Krankenschwester entgegen, die den Kopf hob, als sie seine Anwesenheit bemerkte. Sie sah unsagbar erschöpft aus. Die Augen wirkten müde, strahlten nicht, und die Haut unter ihnen war dunkel. „Guten Morgen“, grüßte sie den Trainer. Trotz der Übermüdung war sie freundlich gesinnt. Shuu konnte der Ärztin jene ansehen. Sein Blick streifte kurz eine digitale Anzeige. Es war beinahe dreizehn Uhr! So als ob Joy seine Gedanken erahnen konnte, fügte sie mit einem schiefen, aber dennoch sanftem und verständnisvollem Lächeln hinzu: „So einen langen Schlaf möchte ich auch mal haben!“ Sie unterdrückte ein Gähnen, das versuchte zu entwichen, ehe sie Shuu ansah. „Du möchtest sicher deine Pokémon abholen.“ Den Scham seines späten Aufstehens unterdrückend, nickte Shuu wortlos. Anstatt sich genüsslich im Bett zu räkeln, hätte er die frühen Morgenstunden zum Training nutzen sollen! Um sich der körperlichen Gesundheit seiner Gefährten zu vergewissern, hatte er in der Nacht seine Pokémon noch abgegeben. Shuu konnte sich nicht erlauben, wenn seine Pokémon Mängel aufwiesen. Sie sollten in ihrer ganzen Schönheit und Stärke vor die Jury treten, nicht in ihrem unvollkommenen Aussehen und Kraftlosigkeit! Daher erwartete er dem Urteil der Ärztin gespannt entgegen. Shuu bezweifelte aber, dass sie etwas an seiner Erziehung und Pflege auszusetzen hatte. „Deinen Pokémon geht es hervorragend, nichts zu beanstanden“, berichtete diese knapp. „Dein Libelldra ist auch ausgeschlafen.“ Mit einer raschen Bewegung schnippte sich Shuu eine Strähne aus dem Gesicht, während sich ein überhebliches Lächeln auf seine Lippen schlich. „Haben Sie etwas anderes erwartet?“ Gleichgültig erwiderte Joy sein Lächeln, sagte: „Das nächste Mal solltest du vielleicht einfach auf die Fähre warten, um Libelldra zunächst zu schonen“, und reichte ihm die Pokébälle, die er ohne ein Wort des Dankes annahm. „Deine Chancen stehen gar nicht mal so schlecht“, äußerte die Schwester anmaßend, bevor Shuu kehrt machen konnte. Sie wusste um die Arroganz des Koordinators. Sie war wie ein Vorbote für den Teenager. „Ich nehme mal an, dass du am Wettbewerb teilnimmst?“ Shuu hielt inne. Ihm war der blasierte Unterton der Ärztin nicht verborgen geblieben. Seine Augen funkelten verärgert. „Nein, ich habe meine fünf Bänder“, antwortete er schroff. Überrascht flackerte der Blick der Schwester auf, die gar ihre nebensächliche Beschäftigung ruhen ließ, um den Grund für seinen Aufenthalt, den er als hochbegabter Koordinator gewiss besser zu nutzen vermochte. „Ach? Was machst du denn hier in Anemonia City?“ Durch den anmaßenden Unterton der Krankenschwester verärgert, setzte er zu einer Erwiderung an, stockte jedoch sogleich. Shuu dachte näher über diese Frage nach. Zuvor hatte er nicht wirklich über sie nachgegrübelt. Wer hätte unter den bekannten Gesichtern, die eventuell unter den Koordinator weilten, seine Anwesenheit schon bemerkt und sich über den Grund erkundigt? Nun aber wollte sich Shuu überzeugen, warum sein Weg ihn hierhin geführt hatte, weswegen er wirklich hier war. Gewiss nicht um sich die Zeit zu vertreiben, denn er hätte diese auch in ein intensives Training investieren können. Trotzdem aber benötigte Shuu kaum mehr Vorbereitungen für das Festival. Er fühlte sich bereit, gewappnet für alles Kommende, das ihn möglicherweise erwartete. Erneut stellte sich Shuu die Frage, um eine Antwort zu finden. Warum war er hier? Interessierte er sich aus Furcht für die mögliche Konkurrenz? Nein. Bisher hatte Shuu keine ernsthaften Gegner entdecken können, dessen Chancen beim Festival unter guten Sternen standen. Vielmehr galt seine Aufmerksamkeit einer Person, die ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen hatte. „Es ist der letzte Wettbewerb“, rechtfertigte sich der Koordinator, auch wenn ihm bewusst war, dass dies nur die halbe Wahrheit gewesen war. Ihm war es unangenehm, offen auf seine Anwesenheit bei diesem Wettbewerb angesprochen zu werden, obwohl kein Anlass gegeben war. Immerhin besaß Shuu bereits seine fünf Bänder. Warum sollte er, ein hochtalentierter Koordinator wie er sich bezeichnete, sich also die Mühe machen, um nach Anemonia zu gelangen? Als Schwester Joy keine Gegenfrage stellte, atmete Shuu leise erleichtert auf und entspannte die Hand, die sich zur Faust geballt hatte. „Danke für ihre Arbeit“, fügte er hastig hinzu, drehte der Ärztin rasch den Rücken zu und ging, missachtete dabei die Warnungen, die Schwester Joy ihm noch nachrief. Kaum hatte er das Gebäude verlassen, wurde er von einem Luftzug begrüßt, der seine Frisur vollkommen zerzauste. Nachdem er die eisige Kälte in seine Lungen strömen ließ, bildeten sich dichte Wölkchen vor Nase und Mund, und Shuu sah ihnen zu, wie sie eins mit der Luft wurden. Rasch wickelte der Koordinator seinen Schal fester, damit jener ihm genügend Schutz zu bieten vermochte, und stakste durch den hohen Schnee. Dieser war niedergetrampelt und kennzeichnete so einen, mehr oder weniger, begehbaren Weg. An manch anderen Stellen ragte die weiße Decke des Flaums beinahe bis zu seinen Knien auf. Davor nicht zurückschreckend, schritt Shuu trotzig die Hauptstraße der Stadt entlang, die aus Anemonias Herz hinausführte und ihm geradewegs aus der Stadt, die zwei Gesichter hatte, leitete. Bis diese sich in eine weitere Straße gabelte, ging er sie ab, um in die äußeren Bezirke zu gelangen, und entfernte sich zunehmend von der Küste. Dem Koordinator hatte man gesagt, dass außerhalb der Stadt, wenn man einen halbstündigen Fußmarsch in Kauf nahm und sich nördlich hielt, an eine günstige Stelle gelangte, die sich hervorragend zum Trainieren eignete. Die Anwohner nannten sie Sandkuhle und erzählten, dass dort gar der Karatemeister, der Arenaleiter, seine Kampftechniken erprobte. Shuu hatte entschieden, dass er dort zum Zeitvertreib ein oder zwei Stunden trainierte. Was sollte er auch anderes tun? Nichtstun war jedenfalls nicht sein Stil. Trotz des ebenerdigen Bodens kam Shuu aber nur mühselig voran. Der Schnee, welcher unter seinen Füßen knirschte, erschwerte das Gehen. Er musste Acht geben, um auf dem mit Eis überzogenen Pflastersteinen nicht auszurutschen. Blaue Flecken oder gar Prellungen gehörten zu den wenigsten Dingen, die er so kurz vor dem Festival brauchte. Daher kam er nur beschwerlich voran. Shuu hatte es aber auch nicht wirklich eilig. Schließlich begann der Wettbewerb erst übermorgen Mittag und der Rest seines Aufenthaltes lag noch vor ihm. Zu allem Überfluss hatte der Schneefall wieder eingesetzt, und die feinen Flocken trübten seine Sicht ein. Er hatte den Innenbezirk Anemonias, in dem arm und reich aufeinander trafen, soeben hinter sich gelassen, als der Wind erneut auffrischte. Der Schnee wurde ihm ins Gesicht gepeitscht, sodass er den Kopf senken musste. Die Innenstadt und sein Hafen waren nun nur noch als eine graue Silhouette zu sehen, welche sich von der tristen, grauen Winterlandschaft abhob. Die Windböen waren zwar weitaus schwächer, als er schon bei manch andere Stürme erlebt hatte, dennoch empfand er das Wetter durchaus unangenehm, und Shuu wünschte sich sehnsüchtig die Wärme eines knisternden Kamins herbei. So wichen der steinerne Boden und die gepflegten Wege einem sandigen Untergrund, der das Fortschreiten anstrengender werden ließ. Unlängst fühlten sich Shuus Beine wie betäubt an, trugen ihn aber weiterhin tapfer zu seinem Ziel. Jegliches Zeitgefühl hatte den Koordinator verlassen. Irgendwann hielt er kurz inne und legte den Kopf in den Nacken. Dabei bemerkte Shuu, dass der Schnee wieder waagerecht in sein Gesicht rieselte und ihm nicht entgegen peitschte. Hoch aufragende Bergmassive, die sich irgendwo über ihm im Himmel verloren, erhoben sich vor dem Koordinator, die sich so nah aneinander reihten, als würden sie sich gegenseitig Wärme spenden, um gegen die eisige Kälte zu trotzen. Die schroffen Felsklippen glitzerten in der Sonne silbern, als ihre Strahlen das auf dem Gestein liegenden Weiß berührten. Und irgendwo, ja in weiter Ferne, glaubte Shuu Meerrauschen zu hören und erfreute sich daran, dass die Umgebung wieder wirtlicher wurde. Mehrere Kilometer vom Strand entfernt befand sich der besagte Ort, den ortsansässige Trainer in seiner Gegenwart erwähnt hatte: Die leicht gezuckerte Erde neigte sich den Dünen in einer sanften Senke herab, die auf der gegenüber liegenden Seite von einer hoch aufragenden Felswand gegen den beißenden Wind zu schützte. Die Wände wirkten bröcklig, waren jedoch mit spitzen Felsen durchsetzt. An manchen Stellen wehrte sich gar die Grasbewachsung und setzte sich durch, wodurch ein Grün, das leicht bräunlich war, hervorspähte. Shuu besah sich diesem weitläufigen Ort mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Anwohner hatten nicht gelogen. Es war ein guter Platz für ein ordentliches Training! Doch da fiel seine Aufmerksamkeit auf etwas, einen grellen Blitz, der plötzlich einen Herzschlag lang aufflackerte und durch die Nebel verhangende Luft zuckte, gefolgt von einem tiefen Grollen, der wie wütender Donner klang. Der Koordinator erhaschte bloß einen kurzen Blick auf eine dunkle Gestalt, welche eine feuerrote Mähne nach sich zog und seinem Kontrahenten an die Kehle sprang. Dann verschwand sie auch schon aus seinen Augenwinkeln, war wie eine geisterhafte Erscheinung vorbei gehuscht, aber die Geräusche, durchdrungen von kehligem Knurren und schrillen Schmerzensschreien, deuteten auf einen Kampf hin. Vorsichtig begab sich an den Abstieg in die Senke, dessen Boden stellenweise von Frost überzogen war. „Beende diesen Kampf!“, durchschnitt eine weibliche Stimme die Luft scharf und entschlossen. Nicht wirklich überheblich, aber auch nicht unbedingt sanft. Ihr Klang verlieh den befehlenden Worten eine schier unerschütterliche Resonanz, so als wäre das Ende des Kampfes das unausweichliche Schicksal, welches erfüllt werden musste. Jedenfalls schien es der Fremden nicht an Autorität zu mangeln. Bevor Shuus Aufmerksamkeit dem ihm bekannten Mädchen galt, wandte er sich dem Ringen zu. Im Staub war ein Raichu zu Boden gegangen, unter dessen gedrungenem Leib der Schnee geschmolzen war. Sein Schweif peitschte wild umher, während die Elektromaus seinen Gegner grimmig anfauchte. Beinahe übermächtig erschien dieser im Gegensatz zu Raichus zierlicher Erscheinung. Als sei er ein Gespenst, welcher sich in einer sterblichen Hülle unter den Lebenden bewegte, hinterließ die schlanke Gestalt des dunkelgrauen Fuchses einen schauerlichen Eindruck. Seine Augen, die in einem so intensiven Eisblau strahlten, dass seinem Gegenüber das Blut in den Adern gefror, waren von einer bedrohlichen, roten Linie umzogen. Die übrigen anwesenden Trainer hatten einen Kreis geformt und schienen darauf zu wetten, wer aus diesem Kampf siegreich hervortrat. Man vermochte nicht zu behaupten, dass das Glück seitens Raichu und seinem Trainer war. Zoroark öffnete den Fang, um sich kurz mit der Zunge über die Lefzen zu lecken, deren Winkel sich nun nach oben gezogen hatten. Die feuerroten, abstehenden Haare seines Kopfes, welche seinen Leib lieblich umflossen und am Ende zu einem Zopf zusammengebunden waren, sträubten sich, während seiner Kehle ein weiteres Knurren entwich. Es hob die Klauen, die so rot waren, als wären sie in Blut getaucht worden. Jäh rann eine finstere Energie seinem rechten Vorderlauf herab, sammelte sich und formte sich zu einer Schattenhand. Ein letzter Schrei besiegelte Raichus Niederlage, nachdem der zuckende Schmerz beinahe seinen Verstand geraubt hatte. Doch Zoroark stellte sich mit Raichus Kraftlosigkeit nicht zufrieden. Seine Fänge vergruben sich in den Leib der Elektromaus und bohrten sich wie Dolche in Raichus zarte, braune Haut. Hilflos hing die Elektromaus zwischen den Reißzähnen des finsteren Fuchses. Das Maul war zu einem stummen, panischen Schrei geöffnet. Dann schritt die Fremde ein, ging entschlossen auf den Schattenfuchs zu, der sie drohend anknurrte. „Rajesh!“ Zoroark, auch auf den Namen Rajesh hörend, entgegnete der energischen Zurechtweisung seiner Trainerin bloß ein wütendes Zischen. Mit gesträubtem Nackenfell wandte er sein Haupt dem Mädchen zu und starrte es mit gebleckten Zähnen zornig an, als wollte das Unlichtpokémon seine Beute gegen seine Trainerin verteidigen. Obwohl sich Zoroark nun in einer offenkundigen Angriffsposition begab, bereit zum Sprung, schien die junge Frau aber seinem durchdringenden Blick und den Drohgebärden furchtlos standzuhalten. Der Schattenfuchs ließ sich auf alle Viere fallen, warf den Kopf nach links und rechts, als wusste er nicht, ob er angreifen oder inne halten sollte. Schließlich wandte Zoroark seine eisblauen Augen von ihr ab, als er begriff, dass er nicht zu gewinnen vermochte, und grollte murrend. Der entstandene Druck seiner Fänge ließ an Raichus Hals nach als Zoroarks Reißzähne sich in das zarte Fleisch geschlagen hatten. Plump ließ Rajesh die Elektromaus stöhnend zu Boden fallen und richtete sich nun zu seiner gesamten Körpergröße auf, die sehnigen Muskeln waren wie zum Sprung angespannt. Unwirsch kräuselte Zoroark die Lefzen. Shuu kannte die Trainerin. Ihm war bekannt, dass sie Harukas beste Freundin war. Unwillkürlich erschauderte er ob des Raubtierinstinkts des Schattenfuchses, von dem er bereits in anderen Wettbewerben Zeuge geworden war, als seine und Zoroarks Blicke sich einen Herzschlag lang kreuzten. Er hatte Zoroark aber nicht aus nächster Nähe betrachten können. Wie stark Zoroark wohl in Wirklichkeit war? Mit diesem Gedanken wandte er sich um. Als sich das Mädchen über das Raichu beugte und eine bläuliche Flasche hervorholte, spannten sich die Muskeln an, die unter dem langen Mantel zum Vorschein kamen. Obwohl es bitterkalt war, trug die junge Frau eine luftige dreiviertel Hose, die ihr bloß knapp über die Knie reichte. Es stieg schwacher Dunst auf, als sie den Inhalt des Trankes auf die Wunden des Pokémons sprühte. Die Elektromaus fauchte missbilligend, sogleich aber wurden seine Atemzüge flacher, ruhiger. Das nachfolgende Gespräch, das sich zwischen ihr und dem Jungen, dem Raichu gehörte, entwickelte, zollte Shuu keinem Interesse und musterte stattdessen die Trainerin. Schlank und durchschnittlich groß war das Mädchen, das ihn um knapp zwei Haupteslängen fast überragte. Der sportliche und feminine Körper wurde von zwei langen Beinen getragen, auf denen sie sich leichtfüßig und elegant bewegte. Sie schien stets zu wissen, was sie tat, machte ob ihrer Überlegenheit keinen Hehl daraus, dass ihr Gegenüber nicht den Hauch einer Chance gegen sie hatte. Dennoch schien sie im Antlitz des nahenden Sieges ruhig, beinahe erhaben, zu klingen. Unbewusst schmunzelte Shuu, als seine Gedanken zu Haruka abschweiften. Sollte die tollpatschige Koordinatorin tatsächlich seiner großzügigen Ermahnung folgen, war die begabte Trainer und Freundin Harukas sicherlich ihr Gegner. Ein Sieg war daher unmöglich für Haruka. Als der Gegenüber der jungen Frau mit einem schwachen Kopfnicken in Shuus Richtung deutete, der noch immer seine Blicke auf ihr ruhen ließ, drehte sich die Fremde um. Zunächst wirkte sie überrascht, dann wandelten sich ihre Gesichtszüge in ein steinernes Grinsen. „Was starrst du so, wie ein psychopatisches Kukmarda?“ Mandelförmige Augen sahen ihm entgegen, und der Iris, die in einem sanften Blau daher kam, wohnte etwas Eisiges inne. War es Verachtung? Der Koordinator straffte sich und reckte das Kinn selbstbewusst vor. „Die Freude liegt ganz auf meiner Seite“, schenkte Shuu ihr ein abweisendes Lächeln, „Aika.“ Während sie auf ihn zuging, wippte der geflochtene Zopf ihrer blonden Haarpracht im Takt ihrer Schritte leicht. „Du schmeichelst mir ungemein, Selleriekopf“, entgegnete diese ruhig, mit einem leichten Lächeln auf ihren Lippen. Konnte man zwischen den Zeilen lesen, so erahnte man den bissigen Unterton, der in ihrer Stimme lag. Jener blieb dem Koordinator nicht verborgen, beschwor sich aber dennoch gelassen zu bleiben. „Besser Selleriekopf als Strohhirn“, sprach Shuu kühl aus. Insgeheim schrie es in ihm die junge Frau für ihr prüdes Verhalten zurechtzuweisen, jedoch widerstand Shuu den Stimmen seiner Gedanken und übte sich in Gelassenheit. Ausgelassen lachte Aika erheitert über den Konterschlag des Jungen, schnippte lässig ihre Haare aus dem Gesicht und sah Shuu herausfordernd an. „Da du beides bist, macht es ja sowieso keinen Unterschied.“ Entrüstet schnaubte Shuu, seine Vorsätze, Ruhe zu wahren, vergessend. „Ach? Glaubst du?“ „Was soll man von einem mittelbegabten Koordinator, wie du es bist, erwarten?“ Äußerlich blieb Shuu gelassen, aber in seinem Inneren tobte ein erbitterter Kampf zwischen Freundlichkeit und Zorn. Trotzdem lächelte er, ließ sich nichts anmerken. „Wenn es ein Wettbewerb für dumme Sprüche gäbe, würdest du sicherlich den ersten Platz besetzen und“, gab Shuu verärgert zurück, „es scheint unverschämtes Anfängerglück gewesen zu sein, dass du die Silberkonferenz gewonnen hast. Deine Leistung war dagegen eher…“ Er fuhr sich durch die Haare und machte anschließend eine wegwerfende Geste. „Ohne jegliche Klasse. Dein Gegner hatte eine deutlich bessere Taktik – wie hieß er noch mal?“ „Shin.“ Abweisend verschränkte die junge Frau, die bereits neunzehn Sommer erlebt hatte, die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. „Wäre es nicht angemessener, wenn wir gegeneinander kämpfen würden, um dich von deinem hohen Thron zu stoßen?“, schlug Aika nun beinahe beiläufig vor. Shuus Kämpferherz machte einen Satz. Genau nach dieser Herausforderung hatte er gesucht. Nun bot sich gleichsam die Gelegenheit Aika die Stirn bieten zu können. „Nur zu, wenn du das Echo ertragen kannst.“ „Du bist ja idiotischer als ich dachte, aber irgendwie gefällt es mir auch, dennoch“, schmunzelte das Mädchen, „wer nicht hören will, muss fühlen. Ich werd dein Unkraut schon zurechtstutzen!“ Shuu ignorierte die Bemerkung und entfernte sich von ihr, um Position zu beziehen, die grünen Augen auf Aika geheftet. Ein Rückzieher war ausgeschlossen. Diese Demütigung würde er nicht erdulden! „Was hältst du von einem Doppelkampf?“ Zustimmend nickte sie. „Klar, gerne.“ Shuu streckte die Hand aus und beugte knapp in guter Manier das Haupt. „Ich mache den Anfang“, lächelte Shuu kühl, obwohl sein Stolz es ihm verbot dem Mädchen einen Vorteil zu verschaffen. „Moment! Heißt es nicht sonst Ladies first? Ich wähle meine Pokémon zuerst!“ Ihre Finger legten sich um zwei Pokébälle, während Shuu inne hielt und ihre Anmaßung mit einem empörten Schnauben quittierte. Welch Hochmut sich dieses Weib gönnte! Glaubte sie etwa, dass er nicht bestehen könnte, wenn er nicht wusste, welche Pokémon sie in den Ring schickte? Dann riss Aikas Stimme den Koordinator aus seinen Zorn. Er konzentrierte sich vollends auf den bevorstehenden Kampf. Ihm war bewusst, dass er töricht handelte, schließlich war sie – Aika – die Gewinnerin der diesjährigen Meisterschaft nach einem spektakulären Kampf. Sie hatte ihrem Gegner namens Shin, einem jungen Mann aus Isshu, bereits von Beginn ihre Überlegenheit spüren lassen. Eine Trainerin ohne jegliche Klasse war sie nicht. Shuu hatte sie lediglich aus der Reserve locken wollen. Aber ebenso war ihm klar, dass sie aus Isshu kam, einem entfernten Land auf der anderen Seite der Weltkugel stammte. Die dort vorkommenden Pokémon waren ihm fremd. Shuu kannte ihre Eigenarten und Fähigkeiten nicht, was ihn im ersten Moment die Nervosität aufkeimen ließ. „Rajani“, holte die Blonde entschlossen aus und warf den Pokéball in die Höhe. Eines grellen Blitzes gleich öffnete sich jener, aus dem nun ein dunkles Pokémon hervor sprang. „Und Ki-“, setzte sie ihren Ruf fort, unterbrach aber, als unerwartet ein Lichtstrahl die Augen der Jugendlichen blendete, während ein widerhallendes Klicken ertönte, gefolgt von einem zügellosem Vogelschrei. Kaum war das Licht erloschen, seufzte Aika ergeben. „Also dich brauche ich eigentlich nicht, Akash“, sprach sie zu dem reptilienähnlichen Pokémon, welches nun ruckartig seinen Kopf umwandte. Sein gelbes Federkleid plusterte sich gekränkt auf, während die Krallenfüße die von Eis überzogene Erde aufkratzten und der kräftige Schwanz einen Schneehaufen dem Erdboden gleich machte. Sein Maul öffnete sich einen Spalt breit, sodass Reihen dolchartiger Zähne zum Vorschein kamen. Wieder seufzte Aika, als das Pokémon trotzig die Zähne bleckte, mit einem fröhlichen Schimmer in den Augen aufblitzend. Shuu konnte nicht anders, als voller Bewunderung seine Blicke über die Pokémon streifen zu lassen. Seinen Augen waren auf dem scheinbaren Elektropokémon – oder vielleicht besaß es sogar Unlichtzüge? – gerichtet. Schwache Blitze und Funken zuckten um den schwarzen Pferdekörper und sammelten sich an der gezackten Mähne, die sich vom Kopf bis Rücken entlang zog. Flackernd leuchteten die silbrigen Streifen der Zebrastute auf, während sie auf die Hinterhand stieg und schrill wieherte. Nun wanderte sein Kopf zu ihrem anderen Gefährten. Der Körper des vogelähnlichen Pokémons, zu dem er gleichzeitig die Bezeichnung „Reptil“ in seinen Gedanken fand, wirkte schmächtig, dennoch vermochte dies nicht die Kraft zu mindern, die dieser Leib aufbringen konnte. So lang wie der Körper selbst war der Schwanz, der unruhig wie ein Stahlseil unter Spannung hin- und her zuckte. Die Muskeln der Hinterläufe waren angespannt, wirkten stark und muskulös, und sie gingen in kräftige elfenbeinfarbene Klauen über, die eine gefährliche Nahkampfswaffe darstellten. Shuu musste aufpassen: Im gelben Fell verborgen endeten die Flügelknochen in einer vierkralligen Klauenhand. Das Pokémon öffnete die blau gefiederten Schwingen und wirbelte unter ungeduldigem Fauchen Staub auf. Schalkhaft aufblitzende Augen funkelten Shuu kämpferisch an. Aus seiner Faszination blickte der Koordinator nachdenklich auf, gleichzeitig aber wurde ihm bewusst, wie wenig er doch von dieser Welt gesehen hatte – wie wenig Pokémon er begegnet war. „Schläfst du ein?“, versuchte Aika zu sticheln, lächelte aber besänftigend. „Ich glaube, du hast diese Pokémon noch nie gesehen, oder?“ Shuu bejahte diese Frage mit einem knappen Nicken. „Okay.“ Sie zeigte auf das Zebra, welches ruhelos Blitze um seinen Körper fließen ließ. „Das ist ein Zebritz und vom Typ Elektro wie du sicher schon vermutet hast.“ Sie wandte ihre Augen dem Urvogel zu, der kokett seine blau gefiederten Schwingen an den Leib legte, als die volle Aufmerksamkeit auf ihn oblag. „Akash ist ein Aeropteryx. Er ist vom Typ Flug und Gestein. Klar alles?“ Wieder nickte Shuu wortlos dem Mädchen zu, während er vollkommen in sich gekehrt war und abwog, welche Pokémon ratsam waren zu wählen. Dass dies ein Doppelkampf war, war ohne jegliche Bedeutung. All seine Pokémon waren darauf trainiert mit jedem des Teams zusammenarbeiten zu müssen. Shuu hatte sich entschieden. Mit einer eleganten Bewegung warf er zwei Bälle in die Höhe. Jener, den er zuerst in die Höhe katapultierte, war ein einfacher Pokéball und der andere war von goldener Farbe, ein Hyperball. Zunächst lag die Aufmerksamkeit der Blonden auf den schwachen Schatten eines fliegenden Pokémons, wohl seinem Libelldra, welches mit wenigen Flügelschlägen in die eisige Luft stieg. Sie erahnte den dahinschnellenden, grün geschuppten Leib, der sich klar und deutlich von der weißgrauen Landschaft abhob, während Libelldras helle Stimme zwischen den Felsklüften widerhallte. Schließlich bremste die Drachin ihren Flug und schwebte herab. Die Flügelmembran war von ebenso grüner Farbe, wie der drahtige Körper des Libelldras. Bloß den an Rändern waren die Ansätze rötlich. Der Drachenleib endete in einen kräftigen, Dornen besetzten Schwanz. Das Zweite seines gewählten Teams war ein wunderschönes Vulnona. Majestätisch, mit aufgereckten neun Schweifen, stolzierte die Füchsin auf die Gegner zu. Als die Kreatur anmutig den Kopf anschließend hob und entschlossen aufjaulte, schlugen mannshohe Flammen aus ihrem Fell. Gierig lechzte das Feuer an ihren Haaren, verbrannten es jedoch nicht, im Gegensatz zu dem Schnee und dem zum Vorschein kommenden Sand. Zwar verkohlte das Gras zu ihren Pfoten, doch überspringen tat die Glut nicht. Trotz der entstandenen trockenen Hitze wirkte der goldene, gut gepflegte Pelz feucht und kühlte den Eis überzogenen Boden unter ihren Pfoten ab. Als die Feuchtigkeit in Vulnonas Haaren kondensierte, umgaben sanfte Nebelschleier die Kitsune und ließen sie geisterhaft und schön zugleich wirken. Durchdrungen wurde jedes einzelne Haar jedoch von gleißenden Sonnenstrahlen, welche das Fell regelrecht zum Glühen brachten. Der leuchtende Feuerball am Firmament erstarkte, während Wolken in Fetzen gerissen wurden und sich der Himmel schlagartig aufklarte. Geschickt fing Shuu die Bälle wieder auf, wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und grinste spöttisch: „Sieh mal an, zittert dein Zebritz etwa. Gibt es schon auf?“ „Von wegen!“, lachte Aika hell auf. „Reiß dich zusammen, mir ist auch kalt. Wenn du dich bewegst, geht das schon weg.“ „Bist du dir sicher?“, harkte Shuu nach, bewusst seinem Gegenüber provozierend zum Angriff zu bewegen und die größte Schwäche eines jeden Menschen hervorzulocken: Unachtsamkeit. „Ich bin nicht zum Streiten hier, Selleriekopf!“ „Ich auch nicht, daher beginn“, sprach der Koordinator und machte wieder eine wegwerfende Handbewegung, „du bestehst ja auf gute Manieren.“ Aika wandte sich von Shuu ab. „Oh wie charmant, dann zieh dich warm an!“, erwiderte sie süffisant und drehte sich zu ihrem Aeropteryx. „Los, dem Libelldra hinterher!“ Vor Freude die Zähne fletschend, spannte das Aeropteryx die Muskeln an und nahm rund sechs, sieben Meter Anlauf, ehe sich der Urvogel kraftvoll vom Boden abstieß. „Drachenklaue, Akash, auf geht’s!“ Seine Flügel entfachten einen Staubwirbel und trugen ihn in Windeseile in die Höhe, geradewegs mit gespreizten Krallen auf Libelldra zu, welches seine rechte Schwinge anlegte und zur Seite schwenkte. Verärgert stieß Akash ein wütendes, gar frustriertes Fauchen aus und versuchte das Tempo erfolglos zu drosseln. „Deine wunderschöne Stahlflügel, Libelldra!“, befahl Shuu scharf, dennoch sprach er ruhig. Niemals zögern. Niemals Zeit vergeuden. Dem Gegner keinen Augenblick der Ruhe gönnen. Vorsätze, die er sich stets in die Gedanken zurück rief. Er streckte seine rechte Hand aus, so als wollte er nach Vulnona greifen, die leicht in die Hocke gegangen war und lauernd in dieser Position ausharrte, bereit zum Kampf. „Und du, Vulnona, Flammenwurf!“ Kaltes Licht fiel auf die strahlend silbernen Flügel der Erddrachin, die sich mit einem energischen Aufschrei auf Aeropteryx stürzte. Dieses jedoch legte die Federflügel an und ließ sich plump wie ein Stein zu Boden fallen. Unmittelbar vor dem Aufprall öffnete der Urvogel diese wieder und raste an Libelldra vorbei. Derweil kräuselten sich Vulnonas Lefzen, während ein tiefes Grollen ihrer Kehle empor stieg. Perlweiße Zähne kamen zum Vorschein, die in rötliches Licht getaucht wurden. Faustgroß war dieser Feuerball, welcher beständig heran wuchs. Als Vulnona jenen als Flammenstrahl entfesselte, erklang ein tief aus der Brust kommender melodischer Laut. „Doppelteam!“ Zischend traf die Hitze auf Zebritz Ebenbilder und gingen binnen weniger Sekunden in helle Flammen auf. Feine, golden glitzernde Asche funkelte auf. Knurrend drehte Vulnona den Kopf und ließ jedes dieser Täuschungen in Schadenfreude im heißen Odem verglühen. Wenige Herzschläge später war keines mehr von ihnen übrig. Shuu biss sich auf die Unterlippe und sah sich um. Verärgert knurrte die Füchsin und ließ angespannt die Blicke umherschweifen. Wo war das Echte? Aika grinste frohen Mutes. „Anstatt deinen Pokémon so viel Aufmerksamkeit entgegen kommen zu lassen, solltest du die des Gegners besser im Auge behalten!“, warnte die Trainerin und deutete mit einem Finger gen Himmel. „Sieh nach oben.“ Shuu riss seinen Kopf empor, dennoch zu spät. Zebritz, genannt Rajani, hatte sich vom Boden abgestoßen. Nun trafen die Hufe Vulnonas Kopf und verfehlten knapp die Schläfen des Pokémons. Schmerzerfüllt jaulte die Füchsin auf und taumelte benommen rückwärts, fing sich im letzten Moment wieder. Angriffslustig stellte Vulnona die Ohren nach vorn und bleckte die Zähne. „Du glaubst doch nicht, dass Vulnona so eine Attacke beeindruckt?“ Untermauert wurde seine Frage durch ein erregtes Knurren der Füchsin und Libelldras plötzlichem Aufschrei, als sich das Aeropteryx in den Hals des Drachens verbissen hatte. Krallen kratzten über Schuppen und verursachten ein markerschütterndes Quietschen, während Libelldra und der Urvogel dem Erdboden in rasanter Geschwindigkeit näher kamen. Libelldra gab Aeropteryx einen kraftvollen Tritt in den Bauch, wodurch Akash die Drachin freigab und hernach ins Schlingern geriet. Akash hatte an Höhe verloren und wohl angenommen, dass Libelldra ihn weiter in die Tiefe treiben wollte, wo er den Angriffen des Erddrachens ausgeliefert wäre, weshalb er rund vierhundert Meter nach Nordost geflüchtet war. Doch als Aeropteryx bemerkte, dass Libelldra ihm nicht folgte, stieg er wieder höher. Shuu hielt die Hand vor sein Gesicht, um das erstarkte Sonnenlicht abzuschirmen. „Feuerodem, sofort!“ Jetzt legte Libelldra die Flügel an und stürzte sich auf ihn. Grüne Flammen schossen aus ihrem Maul, die elfenbeinfarbenen Krallen hatte sie ausgefahren. „Ausweichen!“, bellte Aika ihren Befehl und wandte sich nun geschwind an Zebritz: „Lenk Libelldra mit Ladestrahl ab, Rajani!“ Shuu lachte. Er konnte nicht anders als höhnisch aufzulachen. Hatte sie vergessen, dass Libelldra sowohl Drachen- als auch Bodenzüge innehatte, wodurch sein Pokémon immun gegen Stromstöße wurde? Funken sammelten sich um Rajanis Körper, während sich die stampfenden Hufe in den Boden gruben. Dann entlud sich die Energie schlagartig und durchstach die trübe Luft eines Lichtblitzes gleich. Zu hören war Libelldras desorientierter Schrei, gleichzeitig fand Shuu aber einen Moment der Freude: Brandspuren waren an Aeropteryx Federflügeln, und der Reptilvogel jammerte gequält. Seine schönen Federn! Innerlich jubelte der Koordinator. Trotz des Ablenkungsmanövers hatte Feuerodem sein Ziel nicht verfehlt! Die Trainerin begann amüsiert zu grinsen, als sie in seiner verschlossenen Mimik dennoch den Augenblick des Glücksgefühls fand. So rasch sollte er sich nicht wieder freuen können, wenn sie mit ihm fertig war! „Freu dich nicht zu früh“, warnte Aika eindringlich. „Steinkante!“ Ein Glühen formte sich um Akash, welches sich um seinen Leib sammelte, bis sich ein strahlender Ring gebildet hatte, aus dem ein rotierender Kreis spitz leuchtender Steine hervor gingen. Wütend brüllte der Reptilvogel auf und sandte jene Speerspitzen auf Vulnona herab. Jeder dieser Brocken war groß und scharf genug, um die Füchsin gefährlich zu verletzen und mit einem einzigen Treffer außer Gefecht zu setzen. Doch Shuu gab jenen keine Gelegenheit dazu: „Zurückschlagen mit Energieball!“ Knisternd formte sich vor Vulnonas Maul eine Energiekugel, in dessen Inneren ein dunkler Kern aufflackerte, und stetig heranwuchs, begleitet von einem intensiven Funkenregen. „Mach schon!“, drängte der Koordinator sein Pokémon. Trotz der Ungeduld ihres Trainers blieb die Feuerfüchsin gelassen und wagte gar Shuu mit gekräuselten Lefzen ihre Zähne zu zeigen. Mit tödlicher Ruhe betrachtete Vulnona abwartend die mit jedem Herzschlag näher kommenden Steinsplitter, sah ihnen mit einem kämpferischen Ausdruck in den flammendroten Iriden kühn entgegen. Instinktiv warf sie anmutig den Kopf herum und stimmte einen melodischen Klang an, der von einem tiefen Grollen geprägt war, während sie den Steinbrocken die grün funkelnde Sphäre knurrend entgegen schleuderte. Als die Attacken schließlich aufeinander trafen, zerriss ein lauter Knall die Luft. Die Sicht war kurzzeitig verschwommen, doch eine aus Vulnonas Rachen züngelnde Flamme stach durch den dichten Rauch und streifte Zebritz’ linke Flanke. Das Elektropokémon öffnete das Maul, aus dem ein gellender Schrei entwich, strauchelte und drohte sein Gleichgewicht zu verlieren. „Dra…“ Nein, diese Attacke war zu langsam, und er durfte diesen günstigen Moment nicht verstreichen lassen. Es musste alles schnell gehen. „Stahlflügel!“ Entschlossen stieß die Drachin ein hohes Brüllen aus und ließ sich plump in die Tiefe fallen. Und so verwandelten sich Libelldras Schwingen in reines Metall, die Zebritz wie eine Sense in die Seite schnitten. Dann drehte der Erddrache ab und begann erneut seine Kreise zu ziehen. „Auf was wartest du, Akash? Aero-Ass!“, rief Aika ihrem Pokémon zu, das rund achthundert Fuß über ihren Kopf auf den nächsten Befehl abwartete und beim Klang seines Namens den Kopf zu ihr wandte. Fauchend beschleunigte Aeropteryx schließlich und jagte Libelldra in rasanter Geschwindigkeit hinterher, welches seitlich versuchte auszubrechen, als sie den Reptilvogel rasch näher kommen sah. Doch dann verschwammen Akashs Umrisse wenige Herzschläge lang und rammten unerwartet Libelldras unbehütete Flanke. Shuu spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte. Mit jedem verstrichenen Augenblick kamen Libelldra und Aeropteryx dem Erdboden näher – und ein schmerzhafter Aufprall erschien ihm als unvermeidbar. Er musste handeln! Warum versuchte sich Libelldra seinem Gegner nicht zu entledigen? „Was tust du, Libelldra? Halte es dir mit Flammenwurf vom Leib!“ Fauchend krümmte die Drachin den Hals. Die Luft begann zu rauschen, als sich ihre Lungen füllten. „Weg da! Schnell!“ Kapitel 5: Fluch und Segen -------------------------- Im nächsten Moment hüllte ein lodernder Flammenstrahl Aeropteryx ein. Zu hören war bloß sein durchdringender Schrei, als die plötzliche Helligkeit seine Augen blendete. Er ließ rasch von Libelldra ab und wich nach rechts aus, weg vom dem grellen Feuer. Shuu ballte die Faust und fühlte, wie er die Oberhand zu gewinnen schien. „Vulnona, Solarstrahl!“ „Zeitverschwendung!“, äußerte Aika sich spöttisch. Anmaßend grinste der Koordinator und wischte sich mit einer raschen Handbewegung eine störende Strähne aus dem Gesicht. „Ich sagte doch bereits, dass du mich nicht unterschätzen solltest.“ Seine Augen wanderten zu Vulnona, die ihr Maul geöffnet hatte, aus dem helles Licht drang und sich zu einer Kugel formte. So rasch wie noch nie war die Energie geladen, die sonst Sekunden, nein Minuten, benötigte. „Nur wenige Vulpix und Vulnona wissen, wie sie diese Fähigkeit nutzen können. Dürre nennt man sie“, belehrte Shuu triumphierend die Trainerin, die wie gelähmt ausgeharrt war. „Brauchst du ’ne Einladung, Vulnona?“ Erneut knurrte die Füchsin zurechtweisend und entlud diesen monströsen Strahl, geformt aus reinem Sonnenlicht. Aika gönnte Shuu diesen Moment des Triumphes nicht. „Rajani, Stromstoß, halt Vulnona auf!“ Erschöpft keuchte Rajani auf, wollte ihre Trainerin aber nicht enttäuschen. Energisch stampften die Hufe in den Boden, und sie wieherte schrill. Zudem verbot es ihr Stolz verlieren! Daher sammelte Rajani ihre verbliebene Kraft, die sich zuckend um ihren Leib legte. Donnernd galoppierte das Zebra auf Vulnona zu und rammte die Füchsin mit vollem, elektrisierenden Körpereinsatz zur Seite. Panisch jaulte Vulnona auf, als sie die Kontrolle über den Solarstrahl verlor. „Felsgrab, Akash!“ Unerwartet brach der Boden unter Vulnonas Pfoten und spitze Steine ragten in den Himmel auf. Sie schlossen Vulnona eines Gefängnisses gleich ein. Eng war der Platz zwischen dem kalten Gestein und schmal waren die Spalten zwischen ihnen, wenig Sauerstoff und noch weniger Platz zum Agieren. „Jetzt Steinkante, mein Hübscher!“ Natürlich verstand Shuu die Not, in der sein Pokémon steckte. Sekunden, höchstens eine Minute, blieben ihm noch, um Vulnonas Niedergang zu verhindern. Und plötzlich überkam ihn ein seltsames Gefühl, was Shuu nur selten empfand. Nur einmal konnte sich der Koordinator an jenen Moment erinnern, als er es das erste Mal so intensiv gespürt hatte: Im Halbfinale des Kanto-Festivals. Shuu stand mit dem Rücken zur Wand, fühlte sich bedrängt und wusste keinen Ausweg. Wie konnte er bloß Vulnonas blamierende Niederlage vereiteln? Sich in Bruchteilen von Sekunden zu klaren Gedanken zusammen rufend, entschied Shuu zu handeln. Viel Zeit hatte er nicht, um diesen Angriff zu kontern, ohne die Gesundheit seiner Gefährten zu riskieren, was ihm schier unmöglich erschien. Oder doch? Seine Blicke schossen zu Libelldra hinauf. Beseelt vom puren Kampfgeist, weigerte sich Shuu aufzugeben. „Libelldra, Drachenklaue, du musst Vulnona da raus holen!“ Die Erddrachin fühlte das endlose Vertrauen ihres Trainers, ja den Wunsch zu siegen. So stieß Libelldra pfeilschnell herab. Verbissen hieb sie auf die Felsen ein, die unter der Wucht der Schläge bröckelten. Nur schwache Risse bildeten sich in der Oberfläche. Langsam. Zu langsam! Die Steinspitzen kamen in rasender Geschwindigkeit auf Libelldra und Vulnona zu, welches sich beinahe verzweifelt aus dem Gefängnis befreien wollte. „Verdammt“, murrte Shuu leise und entschied sich einen ausweglosen Konter zu versuchen. „Hyperstrahl!“ Alles genau kalkuliert. Der Koordinator wusste, welche Zeit Libelldra benötigte, um Hyperstrahl vorzubereiten. Meist waren es zwanzig Sekunden, manchmal fünfzehn, kam aber nie unter jene kostbare Zeit. Doch dieses Mal wuchs die Erddrachin über sich selbst hinaus. Bereits nach drei Atemzügen entwich ihrem Maul ein gewaltiger Energiestrahl, dessen Lohe die Felsbrocken restlos pulversierten. Während Shuu irritiert sein keuchendes Pokémon beobachtete, hob Aika ihre Hände und begann zu applaudieren. Sie konnte einen anerkennenden Pfiff nicht unterdrücken. „Nicht schlecht. Deine Pokémon überraschen mich immer wieder.“ Ein Lob aus ihrem Munde hörte sich an wie eine Lüge. Nicht viel hatte gefehlt und Shuu hätte seinen Selbstvertrauen verloren. Doch nun trat er mit neu gewonnener Kraft aus jener Krise hervor. „Befrei Vulnona“, schickte er Libelldra an, das mit gezielten Hieben die Festung zum Einsturz brachte. Die Füchsin kroch unversehrt aus den Trümmern hervor, drückte ihren Leib sanft an den der Drachin und presste die Schnauze an ihren Hals. „Kuscheln könnt ihr später“, mahnte Shuu sein Pokémon, das nun lautlos von Libelldra weg schritt. Ihr Nackenfell sträubte sich, während sich die Lefzen zu einem bedrohlichen Knurren verzogen. Mit den Fingern fuhr sich Aika durch den Pony, der ihr ins Gesicht herab fiel. Sie blickte Shuu leicht lächelnd entgegen, der stets für eine Überraschung gut war. Nicht zu verleugnen war es, dass er trotz seiner Arroganz, ein hervorragender Koordinator war. Diesen Eindruck hatte Aika bereits gewonnen, als sie das erste Mal Zeugin seiner Vorführungen und Kämpfe geworden war. Beinahe mit mathematischer Genauigkeit kannte Shuu seine Pokémon. Jede Einzelheit, ja jeder Makel, war ihm bewusst und konnte sie im Kampf ver- oder abwenden. Trotzdem sollte Shuu niemals ihre wirkliche Anerkennung spüren. Für sie war dieser Bengel bloß ein aufgeblasenes Fasasnob, das die Hormone weiblicher Zuschauer in Aufruhr brachte. Er war ihr unsympathisch. Ganz einfach. „Bilde dir bloß nichts auf mein Kompliment ein.“ Shuus Mundwinkel verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. „Ich brauche dein Lob nicht. Ich weiß, dass ich gut bin.“ Schallend lachte Aika auf, konnte sich vor Belustigung kaum bremsen, bis Rajani ihr einen zurechtweisenden Blick zu warf. „Schon gut, ich konzentrier mich ja wieder.“ Entrüstest schnaubte das Zebra. Und wenn nicht, wusste sie, welche Saiten sie aufziehen musste, um Aikas gänzliche Aufmerksamkeit zu haben! Verlegen räusperte sich die Blonde. „Nun ja, die Aufwärmphase ist jetzt vorbei!“, hielt Aika dem Koordinator vor Augen, der sie bloß nüchtern ansah. „Ach wirklich?“ „Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Schockwelle, Rajani!“ Erneut schwebten Funken um Zebritz’ Leib und je mehr Sekunden verstrichen, desto mehr glühten sie immer stärker, bis grelle Blitze entlang der Mähne zischten. Bloß einen Lidschlag später breiteten sie sich augenblicklich aus und trafen die Feuerfüchsin an ihrer ungeschützten Längsseite. Der Stromschlag fuhr durch Vulnonas Körper und ließ ihre Gliedmaßen unkontrolliert zuckten. Jaulend sank die Kitsune auf den Boden. „Reiß dich zusammen, nur noch ein bisschen!“, ermunterte Shuu sein Pokémon barsch. Jammernd kauerte Vulnona auf dem Boden, während ihr Körper von Muskelzittern heimgesucht wurde. Der Koordinator ballte ungeduldig die Faust, als sich Vulnona nicht zu rühren vermochte. „Los, steh auf, sofort!“ Demütig beugte Vulnona das Haupt, als ihre Blicke auf den harten Ausdruck in Shuus Augen traf. Sie wusste, dass ihr Trainer sie nicht mit Schlägen, sondern mit Verachtung bestrafte. Empört stieß die Blonde ein Schnauben aus. Bereits viele Menschen waren ihr in ihrem Leben begegnet, die ihre Pokémon ähnlich respektlos behandelt hatten. Für Aika war es stets ein Mysterium, warum sie trotzdem den Anweisungen ihrer Trainer folgten, anstatt jenen Ungehorsam und Hass zu zollen. Pokémon waren Freunde, keine Untergebenden. Sie waren fühlende Wesen, die sowohl Traurigkeit, Schmerz und Pech als auch Fröhlichkeit, Freude und Glück verspürten. „Ist es dir vollkommen egal, welche Schmerzen dein Pokémon hat? Man sagt nicht ‚Los, steh auf, sofort’, sondern man erkundigt sich nach dem Wohlbefinden seines Pokémons!“, herrschte Aika ihn erzürnt an, aber dieser Vorwurf ließ Shuu kalt. Sicher hatte Vulnona große Schmerzen, das wusste er. Doch all seine Pokémon, nicht nur Vulnona, ertrugen jenes Leid, um für Shuu zu siegen. „Ach was? Erzähl mir etwas Neues“, gab der Junge kühl zurück. „Kümmere dich um deine eigenen Pokémon und belehr mich nicht, wie ich meine Pokémon zu behandeln habe.“ Aika kannte seine Gefährten nicht. Daher war ihr ein Urteil untersagt. Nachtara, Roselia, Vulnona, Libelldra, Smettbo und Absol wussten schließlich um den Ehrgeiz des Koordinators Bescheid, der auch stets das innere Feuer in ihren Herzen entfachte. Sein Wille zu siegen, war auch ihr Wille, ganz gleich welch rüden Worte er an sie richtete. Dass Shuu sie liebte – auf seine Weise - war ihnen bewusst. Im ersten Moment lachte Aika höhnisch auf. Hernach verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem verächtlichen Grinsen, sie ärgerte sich aber weiterhin über die Arroganz und Engstirnigkeit des Koordinators. „Na, wenn du meinst. Es ist mir trotzdem ein Rätsel, dass deine Pokémon dir überhaupt folgen.“ Shuu schaute sich um und schnappte leise Worte der wenigen Schaulustigen auf, die sich ebenfalls in der Sandkuhle aufhielten, aber ihr Training pausieren ließen, um diesem Schauspiel – oder hitzigem Wortgefecht? - beizuwohnen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Blonde, plötzlich das Gefühl habend, diesen Kampf rasch zu beenden, als bei diesem kalten Wetter Kaffeekränzchen zu halten. „Hast du nichts Besseres zutun, als mit mir Smalltalk zu führen?“ „Wozu die Eile? Ich habe dich schon Mal besiegt. Es dürfte also nicht so schwer sein, es wieder zu zutun.“ Eine Flamme, durchzogen von einem tiefen Blau, züngelte aus Libelldras Maul, und Shuu musste sich zusammenreißen, um nicht ähnlich zornig zu reagieren. „Kontern, Akash!“ Schillernde Energiekügelchen sammelten sich im Kreis um Aeropteryx, rotierten in der Luft, bis er die faustgroßen Sphären sodann auf eine Reise schickte. Manche von ihnen trafen auf Drachenpuls auf, und die Kräfte der Attacken rangen um den Sieg. Schließlich entschieden sie sich gleich stark zu sein und gingen in einer dröhnenden Explosion ineinander über. Viele von ihnen trafen Libelldra. Die Drachin aber schützte sich mit den Flügeln, wollte keinesfalls der Kraftreserve unterliegen. „Wehr den Rest mit Stahlflügel ab – und Irrlicht, Vulnona!“ So prallte die gleißende Energie an den stählernen Schutzschilden ihrer Schwingen ab und schickte sie gar auf einen erneuten Flug, erreichten jedoch Akash nicht. Dieses hatte sich mit geschmeidigen Flügelschlägen bereits höher in die Lüfte geschraubt. Hernach richtete sich die stolze Füchsin in einer fließenden Bewegung zu ihrer vollen Größe auf und reckte die neun Schwänze empor, an deren Spitzen sich kleine, blaue Flämmchen bildeten, die einen kalten, silbernen Schein auf die Umgebung warfen. Dann schoss Vulnona die Irrlichter ab, die nun Aeropteryx nachjagten, welches versuchte sich in luftigere Höhen in Sicherheit zu bringen. Die Flügel eng an den Leib gepresst, schnellte er zwischen den Irrlichtern umher. Viele von ihnen verfehlten den Urvogel knapp, manche von ihnen versengten Akashs Federn. Aika legte den Kopf in den Nacken und versuchte einen Blick auf ihn zu erhaschen. Rund zweitausend Fuß schwebten Aeropteryx und Libelldra über ihren Köpfen. Das Auf- und Abschlagen der Flügel erzeugte ein rhythmisches Geräusch. „Hitzewelle!“ Mit dem Aufblitzen ihrer klugen Augen löste Vulnona eine Welle rot glühender Flammen aus dem innersten Kern ihres Körpers, der heiß genug war, um Gold oder sogar Platin zu schmelzen. Jene Lohe entzündete das verdorrte Gras und brachte den Schnee und Sand zum Schmelzen, während Zebritz von flammenden Windböen gestreift wurde. Nur ein kurzer Triumphmoment blieb Vulnona. Unerwartet vermochten ihre Pfoten ihr Gewicht nicht mehr zu tragen, und da fühlte sie die plötzliche Erschöpfung. Die Füchsin ließ sich zuerst auf die Hinterläufe nieder, dann sank ihr Leib zu Boden und konnte nicht mehr die Kraft aufbringen, sich zu regen. „Anscheinend hast du etwas aufzuholen“, stellte Aika grinsend, „steht es Eins zu Null für mich.“ Widerwillig erlaubte sich Shuus Stolz Vulnonas Niederlage zu akzeptieren, auch wenn es eine Frage der Zeit gewesen war, bis seine Füchsin nicht mehr in der Lage war, zu kämpfen. Es entsprach zwar nicht den Leistungen, die sich Shuu erwünscht hatte, vor allem im Hinblick auf das Festival, dennoch lobte er sein Pokémon ausgiebig, auch um den Anschein zu wahren, dass er ein sorgender Trainer war. Folglich aber zwang er all seine Konzentration auf die entscheidenden Minuten. „Du brauchst mich nicht daran erinnern, dass ich dich noch immer besiegen kann“, sprach der Koordinator kühn aus. Natürlich waren seine Chancen nun geringer, weil er bereits eines seiner Pokémon verloren hatte. Trotzdem schmälerte dies nicht seinen Ehrgeiz. Noch immer war alles möglich - theoretisch. Praktisch gedacht musste seine folgende Strategie wohlbedacht gewählt sein, um keine Lücke in seiner Verteidigung zu zulassen. Shuu jubilierte innerlich. Jetzt aber brauchte er seine Gedanken nicht mehr länger abzuwägen und keine Rücksicht nehmen, sondern konnte nun auf Libelldras breit gefächertes Attackenarsenal zurückgreifen, ohne Vulnona zu gefährden. Noch aber gönnte sich der Koordinator mit seiner Gegnerin zu spielen, um auf einen günstigen Augenblick warten – der berühmt berüchtigten Überraschungsmoment. „Dafür, dass du mit dem Rücken zur Wand stehst, kannst du noch großspurige Sprüche klopfen“, amüsierte sich die Blonde. „Sonst ist das mein Part.“ Sie lachte kurz auf, merkte jedoch auf, als Zebritz ungeduldig und kampfeslustig den Boden aufscharrte. „Aber die werden dir auch noch im Hals stecken bleiben. Treib Libelldra zu Boden!“ Die Lefzen zurücklegend, stürzte sich Aeropteryx auf Libelldra, das einen erstickten Schrei ausstieß, als der Urvogel blitzschnell auf sie herab gefahren war. Um Aeropteryx zu entkommen, versuchte sie seitlich auszubrechen, doch dies gelang ihr nicht. Akash ließ ihr keine Gelegenheit dazu, denn immer weiter hetzte er die Erddrachin in die Tiefe. Während Shuu die erfahrene Trainerin mit seinen Blicken taxierte, ballten sich seine Hände zu Fäusten, und vermochte der angestauten Aggressionen nur mit Mühe zu verbergen. Angespannt beobachtete Shuu sein Libelldra, das sich wie ein ungeschicktes Junges durch die Luft treiben ließ. Es ergab keine logische Erklärung, welches Ziel sie verfolgte. Führte Aika mitten in einem Kampf etwa eines ihrer lästigen Spielchen? „Schüttel’ den lästigen Parasit ab!“, schrie Shuu schroff zu seinem Pokémon. Anstatt weiter vor Aeropteryx zu fliehen, wendete Libelldra schließlich und pöbelte den Kleineren fauchend an. So eine leichte Beute war sie nicht! Dann stürzte sich Libelldra brüllend auf ihren Kontrahenten und ging mit gefletschten Zähnen auf den Urvogel los. Wie zwei frontal kollidierende Meteoriten krachten Libelldra und Aeropteryx gegeneinander, traten sich mit den Hinterbeinen gegenseitig in den Bauch und schleiften ihre Klauen über den Leib des Anderen. Akashs Krallen verursachten ein scheußliches Quietschen, als sie über Libelldras Schuppen kratzten. Akash war deutlich kleiner als Libelldra, hatte aber kräftigere Hinterbeine und vermochte in den Lüften wendiger zu agieren. Es gelang ihm, sich Libelldra einen Augenblick auf Distanz zu halten. Dann aber umklammerten sich die Gegner erneut und rangen darum, wer zuerst den Hals des anderen zu fassen bekäme, während Libelldra und Aeropteryx weiter in die Tiefe trudelten. Voller Kampfeslust schlugen sie sich gegenseitig die Schwänze um die Ohren. Inzwischen waren sie durch eine niedrige Wolkendecke gebrochen und rasten in hohem Tempo auf den Boden zu. Shuu wurde unruhig. Sie schienen die Tatsache, dass sie kurz vor einem schmerzhaften, gar tödlichen, Aufprall waren, nicht zu bemerken. „Schnell, du musst sie auseinander bringen, Rajani“, sprach Aika rasch. „Ladestrahl!“ Shuu starrte zu dem erschöpften Zebra, das während des Luftkampfes einen Augenblick gefunden hatte, um wieder zu Atem zu kommen. Nun aber sammelten sich in Zebritz’ Fell knisternde Funken, die wie ein explodierender Lichtblitz der Energiestrahl die Umgebung plötzlich erstrahlen ließen. Tanzende Sterne sah Shuu kurzzeitig vor seinen Augen, und der Koordinator versuchte sie mit seiner Handfläche vor dem grellen Schnee zu schützen. Ebenfalls geblendet kreischte Aeropteryx panisch auf, ließ rasch von Libelldra ab, als Ladestrahl ihn nur knapp verfehlte, und landete, mit eng an den Leib gepressten Flügeln, auf einen erhöhten Felsvorsprung. Es dauerte einen Moment bis der Urvogel seine Orientierung zurück gewonnen hatte. Dann riss er ruckartig seinen Kopf zu seiner Trainerin herum. Die Pupillen seiner Reptilaugen waren zu dünnen Schlitzen verengt, als er sie mit lang gezogenen Klagelauten protestierend ausschimpfte. „Tut mir Leid, mein Schöner“, sagte sie zärtlich zu ihm, der wie eine Schlange wütend zischte. Mit aufgeplustertem Federfell wandte sich Akash beleidigt ab. Allmählich schwächte die Schneeblindheit ab, und Shuu ließ den Arm wieder sinken. Er beachtete Aika nicht. Sein Blick ruhte auf Libelldra, das mit mühseligen Flügelschlägen in der Luft ausgeharrt war. Durch die roten Augenklappen, die die Erddrachin in Wüsten vor Sand schützte, hatten sie nun Libelldra vor dem grellen Ladestrahl bewahrt. Trotzdem: Shuus abschätziger Blick verriet ihm, dass Libelldra ihren Grenzen nah war. Weitere heftige Schlagabtausche würde seine Niederlage bedeuten. Um einen kühlen Kopf zu bewahren, schloss Shuu einen kurzen Moment die Augen und füllte seine Lungen mit eisiger Winterluft. Sie schärfte seinen Verstand, ließ ihn klar denken. „Libelldra, konzentriere dich“, tadelte der Koordinator sein Pokémon. Hätte die Erddrachin mehr Acht gegeben, wäre sie niemals die Gejagte gewesen! „Jetzt zeig uns Erdbeben!“ Einen beharrlichen Schrei stieß Libelldra aus ihrer Kehle, legte die Schwingen an den Körpern an und ließ sich wie ein Stein zu Boden fallen. Die von Eis überzogene Erde riss ächzend rund um die Drachin auf, die den langen Schweif auf den Grund krachen ließ und dabei einen Schneehaufen dem Erdboden gleich machte. Spitze Felsen ragten wie Reißzähne aus dem Boden, während sich eine Bruchlinie seinen Weg zu Zebritz suchte. „Pass auf, Rajani, weich aus!“, warnte Aika mit vor Anspannung zittriger Stimme. Zebritz bäumte sich auf und wollte ihnen leichtfüßig entfliehen. Doch da rumorte die Erde unter den Hufen und brach entzwei. Zebritz fand keinen Halt mehr und klemmte sich die Hinterläufe in einer klaffenden Felsspalte. Shuu fuhr sich lässig durch die Haare. „Zeige uns einen wunderschönen Stahlflügel und beende es!“ „Akash, halt es auf! Kraftreserve!“ Sich erneut in die Lüfte erhebend, wandelten sich Libelldras Flügel in glühendes Metall. Die Welt drehte sich, als die Drachin nach rechts rollte. Die Energien zischten an ihr vorbei, ohne Schaden anzurichten. Hernach sauste Libelldra im Tiefflug und streckte Zebritz mit metallenen Flügelklingen zu Boden. Stöhnend brach das Elektropokémon zusammen. Selbstbewusst starrte Shuu der Trainerin entgegen. Das Gefühl, einem unüberwindbaren Gegner gegenüber zu stehen, welcher bereits die diesjährige Meisterschaft siegreich für sich entschieden hatte, verschwand allmählich. Unterschätzen tat Shuu sie dennoch nicht und leugnete auch nicht, dass sie eine wahnsinnig talentierte Trainerin war, die bereits unzählige Auszeichnungen gewonnen hatte. Trotzdem vermochte Shuu nicht die Schadenfreude zu unterdrücken. „Na, vom Champ der Meisterschaft hätte ich etwas mehr erwartet“, provozierte der Koordinator bewusst. Er brauchte den Nervenkitzel. „Du lässt nach, was?“ Aikas Fingernägel bohrten sich in die Handfläche. Sie war von seinem triumphierenden Grinsen angewidert und es bedurfte ihre gänzliche Mühe ihn zu ignorieren. „Steinhagel!“, befahl sie knapp, dem Wunsch nachgebend, ihm endlich seine Grenzen aufzuzeigen! Aeropteryxs Krallen streckten sich einer senkrecht aufragenden Granitwand entgegen und suchten jede Unebenheit, um sich festzuhalten. Als die Klauen über die schroffe Oberfläche des nackten Felsen schleiften, erzeugten sie ein schabendes Geräusch. Sein Kopf fuhr herum, und der Reptilvogel stieß einen zügellosen Schrei aus. Kaum war dieser verklungen, dehnte sich Stille zwischen den Kämpfenden aus. Unwillkürlich spannten sich Shuus Muskeln an. Quälend langsam verstrichen die Sekunden. Bloß das Rauschen des Windes nahm er deutlich wahr. Alles anderen waren in den Hintergrund getreten und verloren an Bedeutung. Seine Nerven glichen einem stählernen Seil, welches in der Feuersbrunst eines Groudon allmählich dahin schmolz, und Shuu schnaubte missbilligend, während er das schleichende Bedürfnis, verächtlich zu lachen, mit einem höhnischen Grinsen, zu unterdrücken versuchte. Versuchte das Mädchen ihn lächerlich zu machen? Irgendwo grollte ein Donner und ließ Shuu aufmerken. Er hob den Blick zum klaren Himmel, der sich langsam mit grauen Wolkenschleiern wieder zu zog, nachdem Vulnonas Einfluss auf die Sonnenkraft stetig schwächer geworden war. Doch dann begriff der Koordinator schlagartig, dass es keine sich nähernde Gewitterfront war. Er schaute furchtsam zu seinen Füßen. Zunehmest geriet der Boden unter seinen Füßen in Aufruhr und rumorte, wie das wütende Brüllen eines Raikou. Die Erde erzitterte, bis sich zahlreiche, kantige Felstrümmer aus ihr gelöst hatten, die so groß und schwer wie Geowaz waren. Mit einem zischenden Fauchen schickte Akash die Steinbrocken nun auf eine Reise, und sie folgten gehorsam dem Ruf ihres Herrn. Shuu zögerte nicht. „Greif an! Stahlflügel!“ Wieder formten sich die Schwingen zu stählernen Klingen, während Libelldra einen Schwindel erregenden Sturz wagte, um dem Steinhagel die Stirn zu bieten. So leichtfertig wie ein Schwert die Metallringe eines Kettenhemdes durchtrennten, fuhren die eisernen Flügel durch die Felsen. Shuu und Aika mussten Acht geben, um nicht von den gespaltenen Brocken getroffen zu werden, und wichen ihnen geschickt aus. Die Trainerin hob den Kopf empor. „Steig über Libelldra und anschließend Steinkante!“, befahl sie rasch. Und so gehorchte Aeropteryx. Der Reptilvogel schraubte sich hoch empor und verweilte auf einer höheren Position als Libelldra. Da glomm erneut ein, aus dem sich binnen weniger Sekunden Gesteinsplitter lösten und auf die Erddrachin zu rasten. „Abtauchen!“, bellte Shuu barsch. „Und Stahlflügel!“ Libelldra zog den rechten Flügel an den Körper und rollte sich in einer eleganten Umdrehung zur Seite, bekam nur am Rande mit, wie Steinkante tiefe Krater in den Boden schlugen. Mit einem energischen Wutschrei stieg Libelldra in die Lüfte und schnellte flink auf Aeropteryx zu, während sich ihre Schwingen erneut in strahlendes Silber wandelten. Winselnd legte Akash den Kopf in den Nacken. Stahlflügel war unsanft auf seine rechte Federschwinge geprallt, und sein Klagen schlug in erschrockenes Jaulen um, als Aeropteryx ins Schlingern geriet und in die Tiefe stürzte. „Reiß dich zusammen, Akash, du schaffst es! Aero-Ass!“ Der Schreck ließ nach, und Akash fasste wieder Konzentration. Bevor Aeropteryx wie ein geölter Blitz erneut in die Luft raste, fauchte er keck die Erddrachin an, die ein tiefes Grollen aus ihrer Kehle aufsteigen ließ. Dass der Urvogel sie in wenigen Herzschlägen unerwartet rammen konnte, war Libelldra bewusst. Besonders wachsam beobachtete sie das freche Aeropteryx. Plötzlich beschleunigte Akash, und Libelldra spannte unwillkürlich die Muskeln an. Dann prallten Libelldra und Aeropteryx zusammen. Die Erddrachin erbebte, als Akash gegen ihren ungeschützten Bauch trat. Libelldra versuchte sich ihrer zu erwehren, indem sie mit ihrem Schweif nach ihm schlug. Sie schnappte nach seinem Hals, den der Urvogel blitzschnell zurückzog, dann kratzte sie über seinen Brustkorb und versetzte ihm mit den Flügel einen kraftvollen Schlag. „Drachenpuls!“ „Du auch, Libelldra!“ Aeropteryx krümmte den Hals, während er sein Maul aufklappte. In seinem Rachen glimmte es bläulich auf, indem es binnen weniger Sekunden brodelte und kochte. Fauchend erwiderte Libelldra den Flammenstoß. „Vorwärts, Libelldra, zeig ihnen deine wundervolle Drachenklaue!“, schrie Shuu an und beobachtete weiterhin den Himmel. Ruckartig zog Libelldra die Schwingen an den Leib, schloss das Maul und tauchte unter Aeropteryxs Drachenpuls hinweg. Kampfeslustig knurrend stürzte sich die Erddrachin auf den Gegner, die Krallen in blutiges Licht getaucht. „Wehr dich!“, befahl Aika. Die Hände hatte sie vor ihrem Mund zum Resonanzkörper geformt. Kreischend versuchte Aeropteryx Libelldra einzuschüchtern, doch der Drache ließ sich nicht beeindrucken. Mit scharfen Klauen hieb sie nach dem Urvogel und schleifte jene mit Genugtuung über seinen Körper. In fester Umklammerung trudelten sie in die Tiefe. Fauchend schaffte Akash, Libelldra sich einen Augenblick vom Leib zu halten und brachte sich in Sicherheit. Shuus Freude war bloß von kurzer Dauer, als er begriff, dass Libelldra nun dem Reptilvogel schutzlos ausgeliefert war. Aeropteryx schoss mit angelegten Flügeln auf die Drachin zu, drängte sie mal in diese, mal in jene Richtung. Auf den Befehl des Koordinators versuchte Libelldra mehrmals ihm zu entwischen, aber jedes Mal stieß Akash auf sie herab, schnappte oder schlug mit dem kraftvollen Schwanz nach ihr, damit Libelldra gezwungen war den Kurs wieder zu ändern. „Lass dir das nicht gefallen und gib dir Mühe, Libelldra!“, tadelte Shuu sein Pokémon. „Stahlflügel!“ Aika ballte die Faust und ein zorniges Funkeln legte sich in ihre Augen. „Wehr es mit Drachenklaue ab!“ Es glich einem Tanz aus Klauen und messerscharfen Stahlklingen, die beim Aufprall ein quietschendes, lang gezogenen Schleifen ertönen ließen, als Libelldra und Aeropteryx umeinander her jagten, bis ihnen die Zungen aus dem Maul hingen, die Schwänze erschlafften, die Flügelschläge erstarben, und sie nur noch durch die Luft segelten. Lange vermochten Libelldra und Aeropteryx diesen Kampf nicht mehr fortführen zu können, so warnte Shuus Verstand. Rasch musste er den Sieg – oder die Niederlage – herbeiführen. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, die Trainerin war ein Fluch, wenn man ihr gegenüberstand. Nicht umsonst war sie Champion der Silberkonferenz und galt bei ihren Gegnern als selbstsicher und gewitzt. Aika war eine begnadete Trainerin, die seit ihrem dreizehnten Lebensjahr eigenständig war und mit ihren Pokémon zusammen lebte. Sie wusste, was sie tat, was sie ihren Gefährten abverlangen durfte und wie sie ihre Konkurrenz zum Verzweifeln brachte. Sie war Fluch und Segen zugleich. Trotz aller Geringschätzung, die auf Gegenseitigkeit beruhte, lernte der Koordinator in diesem Kampf sogar sie zu respektieren. Doch so ruhig und gelassen, egal in welcher Situation sie auch sein mochte, verlor Aika allmählich ebenfalls die Geduld. Auch ihr war bewusst, dass dieser Kampf langsam zu neige ging. „Verdammt! Kraftreserve!“ Shuus Lippen verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. „Wird da jemand etwa nervös?“, reizte der Koordinator die junge Frau, die seinen Blick kühl erwiderte. „Hyperstrahl!“, ergänzte er gelassen. Erneut züngelte ein mächtiger Energiestrahl aus Libelldras Maul und sprengte Aeropteryxs gesammelten Energien, ehe sie an Kontur gewannen. Dann erfasste die Druckwelle Libelldra und Akash. Angsterfüllt schrie Libelldra auf und vermochte sich dieser Kraft nicht zu erwehren. Der letzte Angriff lähmte ihren Leib. Ihre Glieder fühlten sich unsagbar schwer an. Shuus Herz pochte, das Blut dröhnte in seinen Ohren und das Adrenalin, welches durch seine Venen rann, hatte die Welt seltsam verzerrt. Da spürte er, wie sich seine Kiefermuskeln schmerzhaft verhärteten, seine Hände sich zu Fäusten ballten und Zorn ihn erfüllte. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen angespannt. Doch ihm blieb nur eines: Die Hoffnung nicht verlieren. Wieder fielen beide vom Himmel herab, traten und bissen sich, kratzten mit ihren Krallen über die Haut und Schuppen des Kontrahenten. Shuu atmete schwer. Alles deutete auf seine Niederlage hin, aber der Koordinator wollte dies nicht akzeptieren. „Drachenpuls auf seine Flügel!“ Wie Musik klang Aeropteryxs entsetzter Schrei, und es verlor an Bedeutung, dass beide Pokémon auf den Erdboden prallten und keine Kraft mehr fanden, sich aufzuraffen. Der Schrecken einer unerbittlichen Trainerin verrauschte, und auch der Ärger über all die Konflikte, die sie geführt hatten. Die Ohnmacht ihrer Partner war wie eine Befreiung aus eiskalten Ketten. Kapitel 6: Im Zeichen des Wassers --------------------------------- Haruka befand sich in der Finsternis, genauer gesagt in einem Tunnel. Ihre Blicke schweiften umher, aber sie konnte nichts sehen, und trotzdem erinnerte sie der Gang an einen U-Bahn-Schacht. Nur war jener dunkler und mit Wasser geflutet, und sie schwamm darin. Bei jener Erkenntnis erschauderte das Mädchen, dennoch war das Nass nicht kalt, genau genommen fühlte es sich nicht wie Wasser an. Es war warm und zähflüssig. Ein fernes Flackern erregte jäh Harukas Interesse. Dort, in der Weite, schimmerte ein heller Lichtkreis, und irgendwie wusste sie, dass sie entscheiden musste, ob sie sich darauf zubewegen oder sich umdrehen und in die andere Richtung gehen wollte, in der ebenfalls Licht leuchtete, wenngleich schwächer und weniger einladend. Es war bloß eine Frage der Wahl. Beide Wege waren möglich, und sie musste die Entscheidung treffen. Dann hörte Haruka eine Stimme. Sie kam aus der Richtung, in der das schwächere Licht strahlte. Sie konnte zwar nicht sehen, wer dort draußen war, aber sie wusste, dass ihr dort keine Gefahr drohte. Es war eine männlich klingende Stimme, die an ihre Ohren drang und immer wieder ihren Namen sprach, dennoch konnte sie nicht wahrnehmen, wer es war, der sie zu sich rief. Der Schein aber schwoll an und verformte sich zu einer Gestalt, einem Geschöpf. Sogleich keimte in ihrer Brust Hoffnung auf. Wie eine zerbrechliche Blüte gedieh die Zuversicht, die dem Mädchen Kraft und Mut schenkte. Haruka versuchte der Kreatur durch den Tunnel entgegen zu schwimmen, aber sie konnte nicht. Ihr Körper fühlte sich leer, taub, an, so als wären ihre Gliedmaßen gelähmt. Panisch strebte Haruka gegen die Paralyse anzukämpfen, aber ihre Gegenwehr erstarb rasch, als sie begriff, dass es keinen Sinn machte. Voller Furcht schrie sie um Hilfe, aber ihre Stimme versagte, wollte ihr nicht gehorchen. Entsetzt sah Haruka der aus dem Licht entstandenen Gestalt entgegen, die sie regungslos anstarre, sich jäh umwandte und in die gegensätzliche Richtung schritt. Die Koordinatorin vermochte nicht zu erkennen, was dieses Geschöpf war, aber sie spürte, dass sie das Wesen nicht aus den Augen verlieren durfte. Und plötzlich erfüllte eine schreckliche Angst das Mädchen. Angst, dass die Gestalt gehen würde und sie allein ließ. Wieso konnte sie sie nicht sehen? War sie denn blind?! Doch jetzt, ja, jetzt rief die lichtene Person nach ihr, hatte das Mädchen entdeckt, und obwohl sie noch immer niemanden sehen konnte, wusste sie, dass sie ihr helfen wollte. Und wenn sie nur eine letzte Anstrengung unternahm, einen letzten Kraftakt, dann würde ihr Körper ihr wieder gehorchen… Während seine Knie auf kalte Marmorstufen lagen, ruhte sein Blick auf einer antiken Statue, die mit geöffnetem Maul stolz ihren Kopf zum Himmel empor reckte. Die Hände auf den Oberschenkeln gebettet, verweilte der junge Mann regungslos in dieser Position und betrachtete die Skulptur nachdenklich. Wann war endlich die Stunde der Erlösung gekommen? In dem aus Mosaik zusammengesetzten Fenster brach sich das Licht und warfen es in schillernde Farben kleckerweise auf den Boden. Es ließ das Gestein so gleißend silbern strahlen, dass es schien, als würde Mondlicht lieblich die hochragenden Schwingen, die beinahe die Decke berührten, umfließen. „Warum haben wir dich erzürnt?“, murmelte der Priester, der kaum dreißig Sommer erlebt hatte, in die Leere und schlug die Augen nieder. Furcht lag in seiner Stimme, so als beschämte ihn seine Formlosigkeit. Er betete, dass seine kühne Gedankenlosigkeit den Zorn der Göttin nicht schürte. Finster war es an diesem Ort, dem eine Aura der Ruhe inne wohnte. Bizarre Schatten von lodernden Fackeln tanzten an den Wänden, die an beiden Längsseiten in den Nischen angebracht waren. Sie wirkten gleichzeitig bedrohlich und schön zugleich, aber Helligkeit spendeten sie kaum. Plötzlich zuckte ein greller Lichtstrahl am Himmel und erleuchtete die Skulptur einen vergänglichen Moment. Dem Blitz folgte nun der Donner, der verärgert grummelte. Angst umklammerte sein Herz, und er neigte ehrfürchtig den Kopf und schloss die Augen. „Verzeih mir, Lugia.“ Er schwieg. Mit gesenktem Haupt verließen Worte, die bereits vor langer Zeit aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden waren, seinen Mund. Wenige Menschen vermochten diese heute noch zu verstehen oder gar zu sprechen. Durchbrochen wurde diese Lautlosigkeit durch dem fortdauernden Prasseln des Regens und dem Brüllen des Sturmes, der im Freien seinen Zorn entfaltete und wütete. Es war seine Stimme, die die bleierne Stille durchbrach. Sie war ein Lied, eine wohlklingende Melodie des Sanftmutes und Dankes, welche von Frieden, Harmonie und Gleichgewicht der Mächte sang. Erneut zürnte grollender Donner, und ein leuchtender Blitzschlag erhellte jäh einen Herzschlag lang den Tempel. Aus Furcht wagte der Priester nicht den Kopf zu heben, sondern beugte sein Haupt tiefer zu Boden. Unablässig formten seine Lippen Worte, die die Wut der Göttin besänftigen sollten. Einzelne Perlen, entsprungen aus seiner konzentrierten Anstrengung, rannen seiner Stirn herab. Im fahlen Flammenschein wirkte die Haut des jungen Mannes blass und kalt, minderte jedoch nicht die Feinheit seiner Gesichtszüge. Dunkle Schatten unter seinen Augen zeugten von seiner Müdigkeit. Plötzlich nahm er einen kühlen Windhauch war, der sanft seine Haut liebkoste und mit seinen Haaren spielte, und ließ ihn respektvoll aufblicken. Nun befand sich der Priester nicht mehr in den schützenden Wänden des Tempels. Er wusste nicht, wo er war. Als etwas seine Aufmerksamkeit erregte, schimmerten die grauen Augen voller Hochachtung, während der Brustkorb sich nur schwach regte. Er traute sich aber nicht einen tieferen Atemzug zunehmen. War es die Müdigkeit, die ihm eine Illusion vor Augen hielt, oder war es die Realität? Vor seinem Antlitz schwebte Lugia, die Göttin des Wassers, deren Schuppen von hellem Silberlicht durchdrungen waren. Dunkle Platten zogen sich der Wirbelsäule entlang, die am Rumpf in einen langen Schwanz übergingen. Jener endete in dolchartigen Dornen. Lugia, von blauen Nebelschleiern umwoben, senkte ihr Haupt und starrte den Priester aus schwarzen Augen an. Dann warf die erhabene Göttin den Kopf herum und brüllte so laut als grollte ein Donnerschlag. Und in seinem Inneren vibrierte Lugias Lied und verklang in der Ferne – das Zeichen! Der Priester blinzelte und sah in die zwielichtige Dunkelheit, die bloß vom schwachen Fackelschein durchbrochen wurde. „Oh Lugia… Hab Dank“, hauchte er lautlos und verneigte sich vor der steinernen Statue der Wassergöttin. „Euer Hochwürden“, sprach eine Frau den Priester achtungsvoll an, „das Mädchen kommt zu sich.“ Dieser wandte ruckartig sein Haupt und blickte die Frau, deren Gesicht von Furchen geprägt war, mit schreckensgeweiteten Augen furchtsam an. Er hatte ihre Schritte auf dem Marmorboden nicht wahrgenommen. „Ist alles in Ordnung, mein Herr?“ Mit hämmerndem Herzen in der Brust betrachtete er die alte Frau gebannt, die ihn sorgenvoll nicht aus den Augen ließ. Dann aber senkte er rasch den Kopf und schien fieberhaft nach Worten zu suchen, die allerdings nicht über seine Lippen kommen wollten. Zu aufgewühlt waren seine Gedanken. Er vermochte das Geschehende nicht in kausale Zusammenhänge zu fassen, so als ob Lugia ansinnte, dass er jenes Wissen in seinem Herzen behütete. Besänftigend lächelte der Priester. „Tara, sei unbesorgt“, erwiderte er freundlich, konnte ihr aber die Unruhe nicht nehmen. „Das Gewitter hat mich lediglich erschreckt“, fügte er rasch hinzu und erhob sich. Mit einer hastigen Handbewegung strich er sich die Falten seines indigoblauen Kimonos glatt und zupfte die feine, golden wirkende Unterbekleidung zurecht. In derselben Farbe wie jene Seide waren die verschnörkelten Muster, die für das geübte Auge ein kunstvolles Lugia darstellten. Auf dem Steinboden gaben die Geta, traditionelle Sandalen aus Holz geschnitzt, ein regelmäßiges Klacken von sich, während der junge Priester Tara in das Studierzimmer folgte. Unter hohen Decken reihten sich unzählige Bücher und Schriftrollen, die aus einer Zeit stammten, in der die Menschen noch an alte Göttermärchen glaubten. So roch auch die Luft jenes Zimmers: Ein trockener, beinahe muffiger Duft umwehte den Priester. Zweifellos der Geruch von altem Papier. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, über den ebenfalls zahlreiche Schriftstücke, mit verzierten und wertvollen Einbänden, verstreut waren. Daneben befand sich ein Sessel; Sitzfläche, Arm- und Rückenlehne waren mit Leder überzogen. Rotbraun war das verzierte Holz jener Möbelstücke, die einen unverkennbaren altenmodischen Stil hatten. In einer anderen Ecke des Gemaches lag ein Futon ausgebreitet, eine auf dem Boden platzierten Matratze, die tagsüber in Schranken verstaut wurde. Noch heute fanden althergebrachte Futons ihren Nutzen in modernen Haushalten. Angrenzend an diesem Schlaflager brannte eine kleine Nachttischleuchte, die mehr Helligkeit spendete als die Kerzenflammen. Der Priester kauerte sich vor dem Futon nieder, die Knie auf einem Kissen gebettet und betrachtete das Gesicht des Mädchens. Es wirkte sehr blass, die Lippen bedenklich blau und die platt gelegenen braunen Haare waren mittlerweile getrocknet. Ein schwaches Zittern rann durch die Muskeln des Mädchens. Zuerst bewegten sich zaghaft die Finger, die sich in den Stoff unter ihr krallten, schienen aber sich zu lockern, als sie merkten, dass es warm und trocken um sie herum war. Auf ihrer Stirn ruhte ein feuchter Lappen, nach dem Tara griff, um ihn erneut in kühles Wasser zu tauchen. Jenes Geräusch ließ erneut eine Regung durch ihren Leib fahren. Die Augenlider flatterten leicht, während sie wie durch einen dichten Nebelschleier, der ihren Verstand und Geist lähmte, leise Atemzüge wahrnahm und eine Hand auf ihrer Schulter ruhte, die bestimmend, aber behutsam, an ihr rüttelte. „Wach auf“, forderte der Priester das Mädchen auf, das seit einigen Stunden das Bewusstsein verloren hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, dass es Tara und ihm gelungen war, ihren Körper zu wärmen, der durch das kalte Meereswasser rapide unterkühlt war. Sonst hätte er möglich einen Tod zu beklagen gehabt. Als sich schließlich der Nebel um ihren Verstand zu lichten begann, öffneten sich ihre schweren Lider, und sie blinzelte in die Helligkeit, die sie einige Herzschläge lang zu blenden schien. Die Tränen schossen ihr in die Augen, und das Mädchen kämpfte gegen sie an. Die Ellenbogen gegen den Boden stützend, versuchte es sich, mit all ihrer Kraft empor zu stemmen, doch ihr Körper fühlte sich so schwer wie Blei an und ihr war so furchtbar kalt. „Wo… Wo bin ich?“, hauchte sie kraftlos und keuchte zugleich schmerzerfüllt auf. Ihre Finger tasteten sich mit verzerrter Miene an den Kopf. „Langsam, Mädchen“, sagte der Priester mit gedämpfter Stimme und drückte sie mit sanfter Bestimmtheit nieder. Sie rührte sich aber nicht. „Du bist in Sicherheit“, fügte er lächelnd hinzu. Den irritierten Blick der Jugendlichen spürte der Diener Lugias auf sich ruhen. Ihre blauen Augen waren so tief wie Ozeane und strahlend wie helle Saphire. „Wer sind Sie?“ Als die kleine Lampe, die neben dem Mädchen stand, einen Moment zu flackern begann, wurde das Gesicht des Priesters in unheimliches Licht getaucht. Besorgt hob der junge Mann den Kopf und lauschte dem Gewitter, dessen zorniges Grollen langsam in der Ferne verhallte. Bloß die zuckenden Wetterleuchten erhellten noch schwach die Umgebung. Ein erneutes stummes Dankesgebet richtete er an Lugia, deren Groll besänftigt worden war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen. „Nenn mich Kylah“, stellte sich der Diener Lugias vor. Ein Lächeln umspielte seine erschöpften Gesichtszüge. „Darf man auch deinen Namen erfahren?“ „Haruka“, erwiderte die Jugendliche schüchtern, die Kylahs Blicken scheu auswich und sich auf das Lager niederlegte. Kurz schloss sie die Lider über ihre Augen, dann öffnete sie wieder und hielten an der kunstvoll verzierten Decke inne, die eine Malerei eines jungen, schwarzhaarigen Mädchens zeigte. Ihr Schatten war eine Silhouette eines Geschöpfs, dessen schlangenartiger Körper bloß in vereinfachten Formen wiedergegeben war. An seinen Schultern wuchsen kraftvolle Schwingen empor und boten dem Mädchen Schutz vor Gefahren. Steinerne Säulenreihen stützten das hohe Dach, welches in drei Querschiffen geteilt war. Haruka war jene Architektur irgendwie vertraut, die sie an eine Kirche erinnerte, dennoch zweifelte sie. Bei der näheren Betrachtung des kirchenähnlichen Bauwerks bemerkte Haruka, dass das Gestein nicht grau war, sondern einen sanften Blauschimmer hatte. Kylah spürte ihren Blick auf sich ruhen, als sie ihre Augen wieder auf den wohl gebauten, aber feminin wirkende Gestalt richtete. „Wo bin ich?“, formten ihre Lippen erneut, beinahe verzweifelt. „Und was ist passiert?“ Seine einst verzogenen Lippen eines Lächelns wurden Kylah ernst. Die blauen Augen flackerten auf, während er in Harukas verschrecktes Antlitz sah. „Du erinnerst dich nicht?“ Irritiert sah Haruka den Fremden an, woraufhin Kylah leise seufzte. „Nun gut“, er wandte sich an Tara, die noch immer seinen Rücken flankierte. „Würdest du uns alleine lassen?“ Diese verbeugte sich, trat einige Schritte zurück und sagte: „Ja, mein Herr“, und zog sich langsam zurück. Kylah nahm wahr, wie sich die schweren Türen schlossen. Haruka sah ihr einen Augenblick nach, dann hob sie die Augen. „An was soll ich mich erinnern?“ Ein schwaches Lächeln erschien auf den Gesichtszügen des Mannes. Er beugte sich vor und einige Strähnen in sein Gesicht. „Du frierst“, stellte Kylah fest, als er sah, dass Haruka ihre Arme fest umklammerte. „Möchtest du Tee? Das wärmt dich auf.“ Zögernd nickte Haruka, die sich langsam aufrichtete, darauf bedacht, keine erneute Schmerzwelle auszulösen. Kylah half ihr dabei. „Du solltest dich noch etwas schonen. Dein Körper hat eine enorme Belastung aushalten müssen.“ Das Mädchen nickte nur und nahm die warme Tasse Tee entgegen, die der Priester ihr erreichte. Zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf, die sie nicht zu ordnen vermochte. Kylah beobachtete Haruka, wie sie starr in die Flüssigkeit stierte, als hätte sie vergessen, wie sie ihre Arme zu bewegen hatte. „Trink“, forderte Kylah sie bestimmt auf, „und dann werden wir reden, sobald du einige Stunden geschlafen hast.“ Und Haruka fiel in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume, über deren Inhalt sie nach dem Erwachen nichts mehr hätte sagen können und von denen sie nur noch wusste, wie furchtbar sie gewesen waren. Träume, von denen nichts als Schrecken blieb. Im ersten Moment fühlte Haruka Erleichterung, als sie urplötzlich erwachte und den leuchtenden Mond im Zenit stehen sah. Zwei ungefähr gleichgroße Flecken wirkten wie ein Gesicht, das auf sie herabblickte und sie beobachtete. Dann fuhr Haruka auf, sah sich um – und dann packte sie das Entsetzen, denn es brannten keine Fackeln mehr an den Wänden, und auch Kylah und Psiana waren nirgends zu sehen. Die schützenden Tempelmauern waren einem tristen Grau gewichen, durchbrochen vom Schweigen der Stille. Sie war vollkommen allein. Haruka stand auf. Nicht einmal Spuren einer Ruine oder ihrer Lagerstätte waren zu sehen. Dort, wo bei ihrem Einschlafen die Große Halle gewesen war, stand das Gras kniehoch, dazwischen wuchsen einige Gräser, sodass dort innerhalb der letzten Wochen und Monate ganz gewiss kein Tempel erbaut gewesen sein konnte. Sie stellte auch fest, dass auch ihre Decke nicht mehr vorhanden war. Gleiches galt für ihre Halbseligkeiten, die sie neben ihren Kopf gelegt hatte, als sie einschlief. Es schien so, als hätte sie einfach im Gras gelegen. Etwas unschlüssig machte Haruka einen Schritt vorwärts. Ihre Beine fühlten sich bleiern an, und ein unangenehmes Drücken machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Im ersten Moment wollte sie Psiana mit einem entschlossen, intensiven Gedanken rufen. Sie forschte mithilfe ihrer inneren Kraft nach dem Verbleib ihres Pokémon, dann aber hielt sie inne. Möglicherweise handelte es sich um eine Fortsetzung ihrer wirren Träume, und in der Realität war sie gar nicht erwacht, sondern lag noch immer auf ihrer Schlafstätte im Tempel. Wenn dies zutraf, würde ein Rufgedanke an ihre Psiana nur für Unruhe sorgen und mit Sicherheit den Schlaf der Katzenfreundin stören. Haruka machte ein paar Schritte vorwärts. Es war windstill. Kein Blatt raschelte im nahen Wald, kein Ast knackte, weil sich irgendein Pokémon dort bewegt hätte. „Kylah, Psiana?“, fragte Haruka verunsichert. „Wo seid ihr?“ Sie tat das mehr, um den Klang ihrer eigenen Stimme zu hören und sich selbst damit zu versichern, dass dies kein Traum war, als dass sie tatsächlich eine Antwort erwartet hätte. Und sie erhielt auch keine Antwort, während sie einen Fuß Schritt vor Schritt vor den anderen setzte. „Haruka!“, rief plötzlich eine helle Stimme ihre Namen, den ihre Eltern vor fünfzehn Jahren gegeben hatten. Das Mädchen wirbelte herum. Doch am Waldesrand stand niemand. Kein Windhauch ließ die Blätter rauschen, kein Rascheln der Büsche und Sträucher drang an ihre Ohren und kein Windhauch spürte sie auf ihrer Haut. Alles war still, wie in einer tödlichen Erstarrung erkaltet. Noch immer war sie allein, so schrecklich allein. Eine Tatsache, die Haruka zutiefst beunruhigte. „Komm…“, wisperte es in ihrem Geiste, leise, aber eindringlich, als ließe die Stimme keinen Widerstand zu. „Komm zu mir.“ Obwohl in trister Einsamkeit gefangen, fühlte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte, die Hände feucht wurden und die Atmung sich verlangsamte, während eine wilde, unbeständige Angst von ihr Besitz ergriff. Und als die flüsternde Worte in ihren Verstand eindrangen, rannte sie. Das bleierne Gefühl in ihren Beinen verstärkte sich mit jedem Meter, den sie hinter sich brachte. Es war, als ob sie immer schwerer wurden, je schneller sie zu laufen versuchte. Dichtes Gestrüpp wuchs zwischen den Bäumen. Schon nach wenigen Schritten blieb Haruka in den dornigen Sträuchern hängen, die das Unterholz fast undurchdringlich machten. Einen Moment verharrte sie und lauschte. Die absolute Stille, die in diesem Wald herrschte, wirkte gespenstisch, ja unerträglich. Dornen hatten sich in ihre Unterarme gebohrt. Sie blutete an mehreren Stellen und fühlte den Schmerz. Allein das sprach dagegen, dass sie noch immer träumte, aber doch war es anders. Haruka vermochte es nicht in Worte fassen zu können. Die vollkommene Stille war kaum zu ertragen. Alle Geräusche, die Haruka vernehmen konnte, verursachte sie selbst. Sie kämpfte sich weiter durch das Gestrüpp. Das Licht des Mondes drang nur hier und da mal durch das Blätterdach, und so konnte sie manchmal kaum die Hand vor den Augen sehen. „Komm… zu mir.“ Haruka gelang es, sich aus dem Dickicht zu befreien und stolperte weiter vorwärts. Und da war plötzlich nichts mehr unter ihren Füßen, auf dem sie Halt zu finden vermochte. Furchtsam ruderte sie mit den Armen, hoffend, dass ihre Finger etwas ertasteten, woran sie festhalten konnte... Aber sie schrie, als die Schwerkraft sie in den Abgrund zog. Eine bodenlose Tiefe, die scheinbar nie enden wollte, dann aber schloss sie ihre Augen und nur noch schwarze, tröstliche Finsternis war um sie herum. Als Haruka ihre Augen wieder öffnete, stand sie aufrecht und spürte keinen Schmerz ob des Aufpralls, der eigentlich tödlich gewesen wäre. Erneut nahm sie ihre Umgebung in Augenschein. Der Wald war verschwunden, und nun nahm sie das sanfte Rauschen von Wellen, begleitet vom dröhnenden Meereswind. Sie war… am Meer? Haruka senkte den Blick auf ihre Füße, während ihre Zehen sich in den weichen Untergrund gruben. Sand fühlte sie unter ihren Füßen. Weder kalt noch besonders warm waren die von der Sonne erhitzten feinen Körner, die sie keinesfalls unangenehm empfand. Der Sand, der salzige Meeresgeruch und das klangvolle Wellenrauschen erinnerten Haruka vielmehr an schwüle Sommertage, an denen das kühle Nass Linderung verschaffte. Ihre Augen wanderten dem Horizont entlang, bis sie auf etwas trafen, was ihr Innerstes erschütterte und den Herzschlag unwillkürlich beschleunigte. Unweit des Strandes ragte ein hoher Fels empor, der an dem die Wellen mit ohrenbetäubender Intensität krachten, sodass weiße Gischt empor stob. Jene Klippe, an der sie nahezu jede Nacht im Schlaf stand. Dann aber zog etwas Weißes ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Horizont. Es trieb auf den Wellen hin- und her wie die Beute, die in den Klauen eines Raubtiers gefangen war. Haruka konnte nicht sagen, was dort draußen war, denn ihre Augen vermochten es nicht klar zu sehen. Ihr war es verwehrt näher zu treten, um ihren Augen die Möglichkeit zu geben, zu erkennen, was dort draußen, unter hohen Wellen und tosendem Winde, auf dem Wasser trieb. Als dieses Etwas unerwartet von einer Welle empor und anschließend zur Seite wegkippte, begriff sie: Ein heller Bastkorb, der im Inneren mit weißem Stoff gefüttert war, schwappte dort unter dem Willen des Ozeans hin- und her. Und dort war ein Bündel hineingelegt worden. Ein… Kind? Plötzlich schwoll das Wüten des Sturmes an. Irgendwo am Himmel grollte der Donner und Blitze zuckten, während die Wellen erzürnt gegen die Felsklippen brandeten und im weißen Schaum auseinander stoben. Heftige Sturmböen zerzausten ihr Haar, welches ihr strähnig ins Gesicht hing. Es hinter die Ohren zu streifen, hätte sowieso nichts gebracht – der Wind hätte sie ohnehin wieder durcheinander gewirbelt. Sodann kehrte die Stille zurück, die ihr allmählich so vertraut war. Nicht einmal ein Luftzug kräuselte sanft die Wasseroberfläche. Wie erstarrt waren die tosenden Wogen und wirkten nun wie ein glatter Spiegel. Den Blick von diesem Schauspiel wandte sie ab – und da erreichte sie ein Windhauch und spielte mit ihren Haaren, als fühlte sie den Atem eines anderen in ihrem Nacken. „Du bist gekommen“, vernahm sie eine weiche, ruhige Stimme, die im völligen Gegensatz zu Harukas wild pochendem Herzen stand, „Haruka.“ Wie erstarrt blieb das Mädchen stehen und rührte sich nicht. Zu große Angst hatte Haruka, als dass sie Ruhe zu bewahren vermochte. Hatte sie den Mut sich umzudrehen? Sie wagte es. Und was sie sah, war eine Frau, deren Gesichtszüge jugendlich, ja beinahe kindlich wirkten, aber dennoch schien sie älter als Haruka zu sein. All ihre Schritte waren voller fließender Anmut. Jedes noch so bedeutungslose Bewegung, wie das Zurückwerfen ihrer silberblau schimmerndes Haare, war schön. „Auf diesen Augenblick habe ich Jahrzehnte gewartet und jetzt“, sprach die Frau in einer Stimme, die sehr zu ihrer Weiblichkeit passte. Sie war nicht tief, aber auch nicht hoch. Sie war eines Engels gleich, kam ihr ein allzu passender Vergleich in den Sinn, „treffen wir uns endlich!“ Eingeschüchtert wich Haruka zurück, während sie ihr aufgebracht schlagendes Herz zu besänftigen versuchte. Daher schloss sie einen Moment die Augen und zwang sich zu einem Moment der Ruhe. Als die Koordinatorin sie wieder öffnete, sah sie eine schwebende große Gestalt, die mächtiger und zugleich anmutiger war, als alles was sie bisher gesehen hatte. Silbern erschien der Leib, getragen von kraftvollen Schwingen, während unentwegt Regung in dem langen Schwanz war, der in zwei seitliche Dornen überging, denn mal pendelte jener nach links, mal rechts und dann wieder links… „Fürchte dich nicht, Menschentochter.“ Das Maul öffnete sich. Sanft waren die animalischen Züge der Kreatur, die auf Haruka herabsah, genauso wie es ihr samtiger Tonfall war. Dieses beklemmende Angstgefühl, das ihr den Hals zuschnürte, ließ sie weiter zurückweichen. Die scharfen Reißzähne warteten doch nur, sie zu zerfetzen! Dennoch… Dieses Wesen hatte auf sie… gewartet? Wer war dieses Geschöpf – oder sollte sie sagen, was? „Ihr Menschen bezeichnet mich als eine Gottheit. Lugia, die Göttin des Wassers“, vermochte dieses furchterregende Wesen ihre Gedanken zu erforschen. „Doch mein wahrer Name lautet Sedna. Ich bin die Hüterin der Ozeane, die seit der Verbannung Kyogres und Groudons über die Meere wacht.“ Haruka traute sich kaum zu atmen, so beengend war das Gefühl, das ihre Kehle zu schnürte. Ihr Herz raste während ihre Finger klamm vor Kälte, aber gleichzeitig schweißnass waren. Eine brennende Hitze, ausgehend von ihrer Furcht und der Aufregung, hatte sich in ihrem Körper breit gemacht. Eine sagenumwobene Göttin, welche sie aus zahlreichen Märchen kannte, war leibhaftig vor ihr, und alle gezeichneten Bilder, die bloß auf Nacherzählungen stützten, gingen ihr durch die Gedanken, aber keine kam der wahren Gottheit gleich. Nicht ein Geschichtenerzähler, der in ihrer Kindheit oft nach Blütenburg kam, um auf Festen seinen sagenhaften Legenden- und Mythengeschichten den Kindern zu erzählen, hatte je die Wahrheit gesprochen. Und jene Göttin hatte auf ihre, Harukas, Ankunft gehofft? „Ge… gewartet?“, kamen ihr die erlösenden Worte zögernd über die Lippen. Die Lefzen zogen sich amüsiert zurück, gerade so, dass die Zähne nicht sichtbar wurden. „Ja, ich habe gewartet. Nur auf dich.“ Haruka war wie gelähmt. Sie vermochte kaum einen klaren Gedanken zu fassen, denn ihr Geist war auf sonderbarer Weise ruhelos und leer. Worte zu finden, die sonst sofort ihr in den Sinn kamen, waren verschwunden, und Sätze zu bilden, fiel ihr so unsagbar schwer, als wäre all das Wissen, was sie in ihrem bisherigen Leben gelernt hat, nie gewesen. Sie hatte Angst. Solch große Angst, dass diese ihre Gedanken betäubte. Haruka wollte schreien und aus diesem vermaledeiten Traum erwachen, aber ihrer Kehle entsprang kein Laut. Als wäre das Wasser weiche Erde, setzte Sedna auf der spiegelgleichen Oberfläche auf. Ihre kraftvollen Schwingen schmiegten sich an ihren stromlinienartigen Körper, dabei hielten die gütigen Augen auf dem furchterfüllten Mädchen inne. „Haruka“, sprach die Göttin, welcher die Menschen den Namen ‚Lugia‘ gaben, das Mädchen an, „du irrst dich. Unsere Begegnung ist kein Traum, aber es ist auch nicht die Realität. Dein Körper ruht, während dein Geist sich von deiner sterblichen Hülle löste und sich nun im Zwielicht befindet.“ Erneut rückte Haruka von Sedna ab und stolperte über einen faustgroßen Stein. Entsetzt kroch das Mädchen rückwärts. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte kläglich. All ihre Worte ergaben keinen Sinn. Sie träumte! All dies war bloß das Werk ihres ermüdeten Körpers, welches sie nach ihrem Erwachen wieder vergaß! Doch… Den Sand ließ sie zwischen ihren Fingern hindurch gleiten. Jedes noch so kleine Korn fühlte sich so real an, da der Sand weder kalt noch besonders warm war. Sedna beugte den langen Hals und ihr Atem berührte sanft Harukas Haare. „Lass dich nicht von deinem Herzen täuschen, Haruka, denn in deinen Träumen hast du unzählige Male meinen Geist gestreift und ich den deinen“, ertastete Sedna die Erregung des Mädchens. Dann hob sie wieder den Kopf empor, öffnete das Maul. „Es ist dein Schicksal.“ Haruka keuchte und fasste sich an den Kopf, weil sie schon lange nicht mehr verstand, was sie glauben oder fühlen sollte. Es war ihr Schicksal, eine Gottheit zu treffen? Aus welchem Grund mochte dies sein? Daher brachte sie bloß ein heißeres „Warum?“ heraus. „Der Erde steht ein großes Unglück bevor, denn eine Tragödie aus längst vergessener Zeit wird sich wiederholen, und nur die wahren Auserwählten können sie verhindern“, fuhr Sedna fort. In Schweigen hüllte sich Haruka und flüchtete in die Stille, welche ihr sie nun als sehr tröstlich empfand. Sie gab ihr Zeit, um in ihren Gedanken wieder klar zu werden, und begann sogar die Situation zu akzeptieren. Den Lauf der Zeit zu ändern, vermochte sie ohnehin nicht, und ob es ihre Bestimmung war, die Erde vor Unheil zu bewahren, kam ihr wie in einem Fantasybuch vor. Plötzlich reckte Sedna ruckartig den Kopf dem schwarzen Himmel entgegen und stieß ein wehklagendes Brüllen aus, während sie ihre Flügel fächerte und empor schwebte. Die Schwingen verursachten kräuselnde Wellen auf der Wasseroberfläche. „Haruka… Meine Zeit ist gekommen. Ich muss dich verlassen“, wisperte die Göttin sanft, beinahe mütterlich. „Wir werden uns wiedersehen.“ Sednas Schrei riss Haruka jäh aus ihren Gedanken. Einerseits sah sie in jener grotesken Situation eine Illusion ihrer Träume, aber andererseits empfand Lugias Gegenwart als Trost ihrer Furcht, denn Sedna war ihr so vertraut. Sie wollte nicht, dass Sedna sie alleine zurück ließ und dennoch… Sednas Stimme erstarb und wie ein greller Lichtblitz verblasste ihre silbern strahlende Gestalt. Und alles, was blieb, war Finsternis… Kylah blieb bei Haruka. Er war noch immer an ihrer Seite, als sie nach einiger Zeit plötzlich aus dem Schlaf schreckte und sich rasch aufsetzte. Das Mädchen wirkte nervös, so als hätte es im Schlaf Welten erkundet, die Panik in ihm ausgelöst hatten. Den Priester schien Haruka nicht zu bemerken, daher räusperte sich Kylah leise, aber trotzdem zuckte die Koordinatorin furchtsam zusammen. „Ganz ruhig“, sagte der Priester sanft. „Du hast nur geträumt.“ Angespannt sah sich Haruka um, ehe sie sich Kylah zu wandte. „Scheint so…“, erwiderte das Mädchen so leise, dass es bloß ein schwaches Murmeln war. Ihre Atmung normalisierte sich allmählich, daher war das Luftholen nicht mehr ungleichmäßig und stockend, sondern es war nun ruhig, tief und regelmäßig. Trotzdem vermochte Haruka nicht Ruhe zu finden. Sednas Worte wollten ihre Gedanken nicht loslassen. Der Erde steht ein großes Unglück bevor, denn eine Tragödie aus längst vergessener Zeit wird sich wiederholen, und nur die wahren Auserwählten können sie verhindern, hatte sie Haruka prophezeit. Was es auch immer war, es war anders, als ihre bisherigen Träume. Dennoch war es kein gewöhnlicher Traum gewesen, dass wusste sie. Es fühlte sich zwar unwirklich an, aber gleichzeitig kam es doch der Realität nahe. „Schon wieder“, fügte Haruka, mehr oder minder, verärgert hinzu. Es waren Hirngespinste – nichts weiter! Kylah betrachtete das blasse Antlitz des Mädchens. Ihre Gesichtszüge waren vor Erschöpfung gezeichnet. In den letzten Tagen hatte sie wohl kaum Schlaf gefunden, so vermutete der kundige Priester. Dunkle Ringe unter ihren Augen zeugten von jener ständigen Müdigkeit. „Schon wieder?“, vergewisserte er sich. Jedes noch so feine Zucken ihrer Mundwinkel konnte Kylah deuten. Unwillen und Verärgerung, aber auch Unsicherheit und Angst beherrschte das Mädchen. Haruka schwieg, unsicher ob sie dem fremden Mann vertrauen durfte oder konnte, dem sie das erste Mal an diesem Tag begegnet war und bloß wenige Minuten zuvor kennen gelernt hatte. Dennoch drängte es sich nach so langem Stillschweigen über diese Nachtmahre ihr auf, sich jemanden anzuvertrauen. „Ich habe seit Tagen und Wochen Albträume. Ich… Ich träume immer das Gleiche.“ „Immer den gleichen Traum?“, zweifelte Kylah, denn Menschen, die stets in dieselben Welten traten, sobald sie Schlaf fanden, waren ungewöhnlich und beunruhigend. Doch der Priester spürte, dass ein Hauch von Schicksal an ihr haftete. Als Haruka ob seiner Erstaunen langsam nickte, lächelte er und forderte: „Erzähle mir von diesem Traum.“ Haruka willigte ein. Es fiel ihr nicht schwer, sich an die zahlreichen Einzelheiten ihres Traumgebildes zu erinnern, welches sie Nacht für Nacht durchlebte und stets mit klopfenden Herzen nach dem Erwachen endete. Ebenso schilderte sie ihm die groteske Vision, die sie soeben im Schlaf heimgesucht hatte, aber Haruka verschwieg Kylah die Begegnung mit Lugia. Etwas hielt sie davon ab. Als sie mit ihrer Erzählung geendet hatte, bedachte er sie mit einem kritischen, aber nachdenklichen Ausdruck. Sein verschleierter Blick glitt schließlich hinauf zu dem kunstvollen Deckengemälde. Jene Malerei zeigte Aleera. So war der Name des schwarzhaarigen Mädchens und der erste Wächterin seit der Großen Schlacht. Dass diese Visionen rätselhaft waren, konnte Kylah nicht verleugnen. Womöglich war es ein weiteres Zeichen Lugias… „Das… Das ist doch nicht schlimm… oder?“ Es war eine törichte Frage, aber sein Schweigen hatte das Mädchen beunruhigt. Dachte er darüber nach in welche Anstalt sie verweisen konnte? „Ich möchte dich nicht ängstigen, aber Träume oder Visionen, was es auch immer in deinem Fall ist, sind gewiss außergewöhnlich. Allerdings vermag ich kein Urteil über ihre Bedeutung zu fällen“, war bloß die einzige Erwiderung, die Kylah ihr in jenem Augenblick vermitteln konnte. „Falsche Deutungen können fatale Folgen für den Betroffenen haben, daher solltest du fachkundige Hilfe der Geishas in Teak City ersuchen.“ Geistesabwesend verstummte Haruka und lauschte den heulenden Winden. Sie wusste nicht, was es war, aber vor ihrem inneren Auge blitzte nur einen Herzschlag lang eine Erinnerung auf, die sie nicht zu zuordnen wusste. Etwas, was das Wach sein zu einer Qual werden ließ, denn dessen Fragment beherrschte ihre Gedanken. Der Traum wurde unbedeutend und rückte allmählich in Vergessenheit. Nun weniger furchtsam folgte Kylah ihren Blicken wortlos, als ihre Augen zum kleinen Fenster wanderten. Es dämmerte bereits. Die Wintersonne war bereits als glühender Feuerball im Horizont unter. Nur das letzte Leuchten, das das Meer in blutiges Rot tauchte, kündigte an, dass allmählich die Nacht Einzug hielt. „Schön, nicht wahr?“, erriet er ihre Gedanken mit einem Lächeln. Tief im Inneren des Mädchens wollte etwas „Ja“ erwidern, wie es auch spürte, dass ein anderer Teil sich ein „Nein“ ersehnte. Stattdessen sagte Haruka nichts und wandte sich ab, als legte sie schweigend eine Distanz von ein paar Schritten zwischen ihnen zurück. Die Beine eng an den Körper gezogen und das Kinn auf ihre Knie gelegt, kauerte Haruka auf ihrer Schlafstätte. Sie wollte nicht reden. Mit leerem Blick starrte sie das helle Lodern einer Fackel an, die tanzende Schatten auf die steinerne Wand warf. Es schien geradezu, als wären die fauchenden Flammen lebendig, und das geruhsame Knistern, das das Mädchen an ein Lagerfeuer erinnerte, erweckte ein Gefühl von Sicherheit und Wärme. So schloss Haruka einen Moment ihre Augen und verfiel in eine Art Trance, zwischen Schlaf und Wachsein wandelnd. Jäh durchbrach ein empörtes Miauen die bleierne Stille, und Kylah erhaschte eine rasche Bewegung in der anderen Ecke seines Studierzimmers. Die Pfoten, auf dem Gestein vollkommen lautlos, fingen den Sprung aus einer Höhe, die gewiss drei Meter betrug, federnd und geschmeidig ab. Vollends schleichend, gaben die Tatzen kein Laut wider, während die Katze sich mit blitzenden Augen näherte. Stolz und erhaben trug sie ihren geteilten Schweif hoch empor gereckt, der leicht bei jeder Bewegung ihres anmutigen, schlanken Leibes hin- und herzuckte. Das kurze, fliederfarbene Fell wirkte im schwachen Feuerschein matt und struppig, minderte jedoch nicht die Würde jenes Katzenwesens. Auf jedes Geräusch achtend, waren die Ohren gespannt nach vorne gerichtet. Wie strahlende Amethyste sah die Lichtkatze Kylah eindringlich entgegen, und das Juwel, der auf ihrer Stirn platziert war, fing die tanzenden Flammen auf und brachte es in ein sanftes, mysteriöses Glühen. Das energische Maunzen riss Haruka aus ihren trübsinnigen Gedanken. Als hätte man sie in ihren Grundfesten erschreckt, sah sie Psiana entgegen. Mit einem bösen Funkeln, das ihren Augen inne wohnte, betrachtete die Katze ihre Trainerin. Die Schnurrbarthaare stellten sich nach vorne, während ein leises Knurren ihrer Kehle entkam. „Psiana….“ Nicht wissend, warum sie Psianas Groll auf sich gezogen hatte, streckte Haruka vorsichtig ihre Finger der Katze entgegen. Anklagend sah sie diese an, dann aber doch unterlag sie ihrem inneren Konflikt zwischen Zorn und unendlicher Erleichterung. Stürmisch schmiegte sich Psiana an ihre Hand, stupste sie nachdrücklich an, als wollte sie sagen: „Streichle mich endlich!“ Dieser Bitte kam Haruka lachend an und drückte ihr Pokémon frohgemut an sich. Kylah sah ihnen schweigend zu. „Dein Psiana ist nicht von deiner Seite gewichen“, sprach er schließlich. „Es hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen.“ Psianas Lefzen zuckten. Sie legte die Ohren an und öffnete leicht den Fang. Niemand sollte es wagen, sie als ein „Es“ zu bezeichnen! Schließlich war sie keines dieser Matschhaufen namens Ditto! „Sie“, korrigierte Haruka rasch, um die Katze nicht in ihrem Stolz als Kätzin zu kränken. „Sie legt auch großen Wert darauf, als eine Dame bezeichnet zu werden.“ Der Priester legte die Hand an die Brust und verneigte sich überschwänglich. „Verzeih, du wundervolles Wesen.“ Alle Vorsicht vergessend, streckte er eine Hand nach ihr aus. Wieder zuckten Psianas Lefzen. Gewiss sollte diese Schmeichelei ihre schöne Katzenseele liebkosen, doch diese Worte – oh diese schrecklichen Worte! – waren bloß beißender Hohn in ihren Ohren! Zornig fauchte Psiana und ließ ihre samtigen Pfoten nach vorne schnellen, aus denen scharfe Krallen hervor blitzten. Genüsslich fuhr die Katze ihre Klauen Kylahs Hand herab und ihre Reißzähne bohrten sich tief in das zarte Fleisch seiner Hand. Schlagartig breitete sich brennend stechender Schmerz aus, und Kylah stieß erschrocken einen belegten Laut aus, während er unwillkürlich diese zurückziehen gedachte, doch Psiana ließ ihn nicht frei aus ihrer Umklammerung. Weiterhin pochte die fürchterliche Pein in seiner Rechten. „Psiana! Lass los!“, rief Haruka tadelnd aus, die polternd mit ihrer Hand auf Holz schlug. Zusammenzuckend erschreckte Psiana und gab Kylah frei. Murrend starrte sie ihre Trainerin an. Jene Gelegenheit nutzend, befreite er seine Hand leise auf seine Unachtsamkeit fluchend aus der Gefangenschaft der Katze und begutachtete die tiefen Kratz- und Bissspuren. Wie Feuer brannten sie, welche an den Wundrändern rot und geschwollen waren. Als wäre nichts gewesen, legte sich Psiana auf Harukas Kopfkissen und leckte ihr seidiges Fell, die Schimpftiraden ihrer Trainerin vollkommen missachtend. Das Mädchen wandte sich zu dem Priester um, der mit seiner geschundenen Hand in eine Wasser gefüllte Schale tauchte. Unerträglich loderte der Schmerz auf, als stachen tausend feine Nadeln in die Wunde. Kylah sog scharf die Luft zwischen den Zähnen in seine Lungen. Erleichtert atmete er aus. Das kühle Nass linderte das Brennen der Kratzspuren. „Es-es tut mir leid! I-ich weiß nicht, was in sie gefahren ist!“ Gutmütig lächelte Kylah, während er sich ein feuchtes Tuch um die zerfurchte Hand schlang. Freilich war es seine eigene Achtlosigkeit, denn ihm war bewusst, welch großen und verletzbaren Stolz katzenartige Pokémon hatten. Leicht waren sie gekränkt und ebenso rasch waren sie auch wieder besänftigt. „Dich trifft keine Schuld, ich war unvorsichtig, obwohl ich es besser wissen musste, dass meine Worte Psiana reizen“, beschwichtigte er die Sorgen des Mädchens, das ihn noch immer zweifelnd ansah. Kylah wandte sich an die Lichtkatze, die seine Blicke funkelnd erwiderte. Dann kehrte Psiana dem lästigen Menschen den Rücken, ließ sich wieder nieder und säuberte ausgiebig ihre Pfoten. Schließlich galt die Aufmerksamkeit des jungen Priesters dem Mädchen, über die er so wenig wusste. Zuvor war sie zu schwach gewesen, um ihm die Fragen, die auf seiner Seele lastete, zu beantworten. Es vermochte kein Zufall zu sein, dass am selben Tag, an dem sich Lugias Zorn erhoben hatte, er ein Mädchen vor dem Ertrinken rettete. Sein wacher Geist sagte ihm, dass dies ein Werk des Schicksals war, welches unentwegt, unter den wachsamen Blicken der Götter, seine Fäden spann. „Darf ich dich was fragen?“ „Natürlich. Fragen Sie ruhig.“ Misstrauen lag in ihrer Stimme. Kylah konnte es Haruka nicht verübeln. Schließlich kannten sie sich bloß wenige Stunden, obwohl dem Mädchen offensichtlich bewusst war, dass es jenem Mann ihr Leben zu verdanken hatte. Ihre Haltung war nicht vollkommen abwehrend, eher zurückhaltend und ängstlich. „Du stammst nicht aus Johto, nehme ich an? Woher kommst du?“, verlangte Kylah zu wissen. „Nein, ich bin aus Blütenburg City“, antwortete Haruka schließlich zögernd. „Das liegt an der Westküste von Hoenn.“ „Hoenn also?“, murmelte Kylah mehr zu sich selbst. Unwillkürlich glitt sein Blick zu jenen heiligen Schriften, die zusammengerollt auf seinem Schreibtisch lagen, doch er unterdrückte den Drang, aufzuspringen, um sich die Zeilen einer uralten Prophezeiung ins Gedächtnis zu rufen. Rasch verdrängte er diese Gedanken. Noch war die Zeit nicht reif. Die Stunde nicht gekommen. „Du bist Koordinatorin“ Es war mehr eine Tatsache als eine Frage. Kylah deutete mit einem Fingerzeig auf ihre mittlerweile getrockneten Klamotten, auf denen eine blausilberne Schatulle lag. Das Symbol des Jotho’schen Festivalkomitees war auf der Oberfläche eingraviert. Es war eine einfache, aber kunstvolle Schleife. Verträumt harrten Harukas Blicke auf dem Etui aus, dann nickte sie zögerlich. Irgendetwas beschäftigte das Mädchen, das spürte Kylah deutlich. Es schien, als würde Haruka in Gefilden wandeln, in denen seine Worte sie nicht zu erreichen vermochten. Er schloss daher einen kurzen Moment lang seine Augen, versuchte nach ihrer Aura zu greifen, doch jene glich einem Wirbelsturm aus Energien. Griff er nach ihnen, so verpufften sie fauchend, als würde man Nebel fangen wollen. Sie wirbelten um ihn herum, flüsterten wie leise Winde und dann stand er vor einem klaffenden Abgrund. Irgendwo glaubte er eine Melodie zu hören, die ein längst vergessenes Volk seinen Toten sangen, wenn ihre Leiber dem Meer überlassen wurden. Langsam öffnete Kylah seine Augen. Haruka saß noch immer regungslos auf ihrer Schlafstätte und schien nicht in der Gegenwart zu wandeln. „Warst du auf dem Weg nach Anemonia?“ Erneut wich Haruka Kylahs wachsamen Augen aus, vermochte aber nicht die Tränen zurückhalten, die wie schimmernde Perlen über ihr Gesicht rannen. Kylah streckte die Hand nach ihr aus und wollte sie behutsam nach ihrer Schulter berühren, sie trösten, nahm aber jäh das tiefe Grollen und die funkelnden Amethyste Psianas wahr, die ihn offenkundig warnten, sein Vorhaben umzusetzen. Um das Gemüt der Lichtkatze gütlich zu stimmen, unterließ Kylah, sie wieder zu verärgern. „Was ist passiert?“, fragte der Priester nun vorsichtiger, darauf bedacht, dass seine Worte das Mädchen nicht noch mehr aufwühlten. Haruka aber reagierte nicht. Sie wollte ihm erzählen, was geschehen war, aber es war, als wäre jemand anders in ihren Körper geschlichen, der ihren Verstand unter Kontrolle nahm. Jene Haruka, die lachen und weinen konnte, die reale Haruka, war verschollen; verloren gegangen in den Tiefen des Ozeans. „Wusstest du nicht von der Unwetterwarnung?“ Etwas in ihr wollte „Nein“ schreien, aber es schien, als hätte dieser Jemand ihre Stimmbänder gelähmt. Sie war nicht mehr Herrin ihres Verstands. Kein Laut vermochte aus ihrer Kehle zu dringen. Eng an die kühle Wand gelehnt, hatte Haruka noch immer die Beine an sich gezogen und die Arme über ihre Knie verschränkt. Haruka sah den Priester nicht an, sondern vergrub ihr Gesicht ablehnend an ihren. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, wollte einfach ihre Ruhe haben, denn sie fühlte sich, als drängte Kylah sie wie ein verwundetes Rattfratz in die Enge. Daher erhob sich Kylah beinahe lautlos. Bloß sein Gewand raschelte, als er den indigoblauen Stoff raffte. „Ich lasse dich allein.“ Mit jenen Worten trat er zur Tür. Noch immer schwieg Haruka. Sie starrte mit leerem Blick auf eine Miniaturstatur Lugias, während ihre Finger sich in die raue Stoffdecke unter ihr krallten. Kylahs Worte waren unbedeutend; sie hallten wie aus weiter Ferne, die über eine unerreichbare Ebene verklangen und kaum mehr als ein Flüstern zu hören waren. Gleichsam mischten sich dem Wispern warnende Rufe unter, die jedoch von dem ohrenbetäubenden Geräusch tobender Wassermassen vollends verschluckt wurden. Plötzlich schrak Haruka auf, und ihr war auf einmal so, als wären die Temperaturen binnen weniger Minuten in die Minusgrade herab geklettert. Schemenhaft vermochte sie das Grauen zu ertasten, welches sie nicht an sich heran lassen wollte. Haruka wusste bloß, dass sie die Einsamkeit furchtbar erdrückend war, wenn Kylah den Raum verließ. Ihre Blicke suchten verzweifelt nach ihrem Retter, der soeben die Tür durchschritten hatte und jene lautlos schließen wollte. Noch ruhte die Hand auf der Klinke. „Warten Sie!“, rief Haruka bittend. Warum sollte er warten? Drohte das Wissen der letzten Stunde, ihr die Luft zu zuschnüren? „Ich… möchte nicht allein sein.“ Kylah kam ihrem Wunsch nach und nahm wieder seinen Platz an ihrer Seite ein. „Ich habe dich bewusstlos am Ufer aufgefunden“, sprach er irgendwann aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte sein Kinn auf die ineinander verhakten Hände, während er Haruka nachdenklich anschaute, so als suchte er etwas in ihren Augen, nach einer Wahrheit, die in den Tiefen ihrer Saphire verborgen war. „Oder besser gesagt, wenn mein Jugong dich nicht gefunden hätte“, fügte er schmunzelnd hinzu. Doch so rasch er einen humorvollen Ton eingeschlagen hatte, ebenso schnell wurde Kylah wieder ernst. „Jedenfalls kannst du von Glück sagen, dass du noch lebst. Es hätte nicht viel gefehlt und du wärst ertrunken.“ Der Priester fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare, die sich wallend über seinen Rücken bewegten, und spielte mit einer Strähne, während er auf eine Antwort Harukas wartete, die seinen grauen Augen versuchte auszuweichen. Tränen, so klein wie Perlen, rannen stumm ihren Wangen herab und tropften auf die Leinen ihrer Bettdecke. Feuchte, dunkle Flecken sammelten sich bereits. Noch immer drängte sich Haruka in ihrer abwehrenden Haltung gegen die Wand, aber ihr Kopf ruhte nun auf ihren Knien. Sie wirkte apathisch, die Augen fern auf etwas gerichtet, was bloß für ihre Sinne wahrzunehmen war, gleichzeitig war ihr Körper gespannt, als befürchtete sie jederzeit eine Gefahr. Irgendetwas verstörte das Mädchen so sehr, dass es nicht darüber sprechen wollte – oder konnte. Entweder versuchte sie sich an das verschüttete Wissen der letzten Stunden zu erinnern oder sie wollte jenes abscheuliche Gedankengut krampfhaft vergessen. Kylah wusste es nicht. Er konnte lediglich nur Vermutungen anstellen, keine festen Aussagen, wie sehr Harukas Psyche gelitten hatte. Vielleicht hatte er die Kraft, um den Schmerz ihrer Seele zu lindern? „Egal, was du verdrängen möchtest, erzähle es mir. Ich will dir helfen“, bot Kylah mit sanfter Stimme an. Er wollte sie nicht bedrängen, denn sie sollte aus freiem Willen, den Mut finden, um ihr mögliches Trauma zu erzählen. Haruka sah den Priester nur an, der ihrem bohrenden Blick standhielt. Dann drehte sie sich weg. „Ich… Ich kann mich nicht erinnern“, behauptete die Koordinatorin wispernd. Ihre zitternde Stimme strafte ihre Worte Lügen. Sie wusste, was geschehen war, hatte aber so schreckliche Furcht vor den Erinnerungen. Sie raubten ihr den Atem, drohten sie unter ihrer Last zu ersticken. „Du kannst dich nicht erinnern oder du willst es nicht?“ Kylah wollte sie nicht drängen, doch wollte er auch verhindern, dass sie sich vollends abkapselte und vor sich hin vegetierte. Es war freilich die Natur des Menschen, schmerzhafte Erlebnisse aus seinen Gedanken zu verdrängen. Mensch flüchtete sich in eine eigene Realität, geboren aus seinen Fantasien, die bloß seinem Verstand inne wohnten. Niemanden ließen Traumatisierte an sich heran, sondern schotteten sich vollends aus der gewohnten Umgebung ab und lebten ihr eigenes, einsames Leben, stets zwischen Extremen wandelnd. Nur die Flucht verhieß Linderung für die verwundete Seele, während der Körper wie betäubt, empfindungslos, war. „Versuch es.“ Haruka zögerte, als stände eine abscheuliche Qual hinter den Worten, die ihre Lippen nicht verlassen mochten. „Irgendwie ist alles so… so durcheinander…“, begann das Mädchen stockend und schloss seine Augen für einen Herzschlag lang, dann öffnete es sie wieder, darauf hoffend, neuen Mut gefunden zu haben. „Ja, ich… Ich war auf dem Weg nach Anemonia, aber irgendwie bin ich mir nicht sicher...“ „Bleib ruhig, erzähle es mir von Anfang“, besänftigte Kylah das Mädchen. „Woran kannst du dich erinnern? Warum warst du auf dem Weg nach Anemonia?“ „Ich… Ich weiß nicht…“, schluchzte sie erneut, wollte nur fliehen vor jener Wahrheit, die sie zutiefst beunruhigte. Die Tatsache, dass sie in Oliviana den Wettbewerb verloren hatte und ihr letzte Hoffnung in Anemonia steckte, wollte sich Haruka nicht eingestehen. Kylah seufzte innerlich. Seine Augen blieben gedankenverloren an dem Etui hängen, in dem Haruka ihre offiziellen Wettbewerbsbänder aufbewahrte. Dann wandte er sich ihr wieder zu. „Du bist Koordinatorin und hast zuvor in Oliviana teilgenommen“, stellte er ein weiteres Mal fest. Es diente vielmehr zur Findung der Gewissheit. „Und verloren.“ Haruka schreckte auf. Schändlich ertappt fühlte sich das Mädchen. Sie, eine durchaus erfahrene Koordinatorin wie es in manchen Fachzeitschriften geschrieben stand, hatte ausgerechnet in einem Wettbewerb verloren. Jene letzte Herausforderung hätte ihr letztens Band verheißen! Schon allein der Gedanke, was die Medien über sie schreiben könnten, genügte, um ihr der letzten Mut rauben. Selbst Kylah hatte von ihrem Versagen gehört! Jener mochte zwar von jeglicher Zivilisation abgeschieden leben und sein Dasein als Priester fristen, dennoch war er des Lesens mächtig und war auch mit anderen Medien wie Fernsehen oder Internet vertraut. „Ich habe gehört, dass in Anemonia ein Wettbewerb stattfinden soll. Du willst sicher dort antreten, denn“, zögernd öffnete Kylah die Schatulle, in der Haruka ihre Bänder aufbewahrte; es waren vier, „dort willst du dein letztes Band gewinnen.“ Geistesabwesend starrte Haruka in die leuchtenden Flammen einer Fackel, die bizarre Schatten auf die Wände warfen. Jene bedeutsamen Gebilde tanzten wie wundervolle Schemen, ja belebten Harukas Geist. Sie war gewissermaßen froh, dass Kylah nicht in der Wunde herumstocherte, so wie es Shuu am gestrigen Abend getan hatte. Der Gedanke, dass sie das Versprechen nicht einzuhalten vermochte, schmerzte Haruka. Doch war es überhaupt ein Versprechen, was sie ihm gegeben hatte? „Du warst auf dem Weg dorthin, oder?“, tastete sich Kylah behutsam vorwärts, denn das Mädchen hatte zuvor nicht auf seine Äußerung reagiert. Zögernd, aber wortlos, nickte Haruka zaghaft. Nur schemenhaft vermochte sie klare Bilder in ihren Gedanken aufblitzen zu sehen. Sie waren abstrus und vermischten sich mit Eindrücken, die Haruka nicht zu deuten wusste. Ihr Geist fühlte sich leer, aber auch nicht ausgelastet an, vielmehr war er wie in einem tiefen Schlummer verfallen, der bloß langsam verging. Doch je mehr Haruka sich konzentrierte, desto klarer wurden ihre Gedanken. Langsam malten sich Bilder vor ihrem inneren Auge; schwache Umrisse, die sie immer deutlicher zu erkennen vermochte, gleichzeitig wuchs beständig ihre Furcht. Wie ein Raubtier lauerte sie Haruka auf. „Und warum?“ Gewiss war es eine dumme Frage, denn wenn sie eine Koordinatorin war, dann ist es selbstverständlich, dass sie bloß wegen dem Wettbewerb nach Anemonia wollte. Vielmehr versuchte Kylah durch gezielte Fragen ihre Erinnerungen hervorzulocken. „Ich… Ich verlor gegen meinen besten Freund und…“, sie stockte und dachte an Shuu, was ihr einen erneuten Stich versetzte. Der Priester streckte seine Finger und berührte das Mädchen zaghaft an den Schultern. „Was ist dann geschehen? Zwischen Oliviana und Anemonia ist besteht Fährverkehr. Normalerweise strandet keine einzelne Person bei mir.“ Ein leichter Anflug eines Lächelns breitete sich auf seinen Lippen aus, welches sogleich wieder verflog. Es gab keinen Anlass, anzüglich zu sein. Suchend tasteten Harukas Finger nach ihrer warmen Decke, während sie den Gedanken an Shuu fortjagte, denn dieser wärmte ihr Herz und verwirrte aber gleichzeitig ihren Geist, lärmte ihn beinahe. „Ich… Ich weiß. Die wollte ich auch nehmen, aber… verpasste sie“, fuhr die junge Koordinatorin unsicher fort, schwieg dann einen Moment. Während ihre Niederlage so klar wie noch nie war, war alles andere noch immer verschwommen. Sie versuchte sich zu erinnern, wollte vehement die letzten Puzzleteile der vergangenen Stunden zusammen tragen. Da blitzte jäh Lapras‘ gütiger Blick vor ihrem inneren Auge auf und schien sie wie ein offenes Buch zu lesen. Sie glaubte seine sonore Geistesstimme in ihrem Kopf zu hören, welche aufmunternd zu ihr sprach und schließlich eine uralte Melodie summte. „Lapras…“, hauchte sie. Tränen standen ihr in den Augen. Es war ihre Schuld, dass die Lapras in Gefahr gekommen waren und diese Todesangst erleben mussten. Doch Haruka unterdrückte ihre Trauer und dankte dem Pokémon wortlos, das sein Leben für das ihre geopfert hatte. Sie hob ihren Blick, während sich ihre Entschlossenheit festigte und Gestalt annahm. „Eine Lapras-Schule traf ich und dann… und dann…“ Die Stimme drohte zu versagen. Ein angstvolles Schluchzen entkam ihrer Kehle. Lange vermochte sie ihren Tränenstrom nicht mehr zurück zu halten. Psiana sah Haruka beunruhigt an und stupste sie aufmunternd an, während ihre Pfoten auf dem Arm ruhten. Ihrer Kehle kam ein wohliges Schnurren, als das Mädchen seine Hand über das seidene, lavendelfarbene Fell gleiten ließ. Kylah gab ihr die Zeit, die sie benötigte, um die Erlebnisse in Worte fassen zu können, hinter denen solch große Qualen lagen. „Wir… Wir gerieten in diesen Sturm… und da… da war dieser riesige Strudel… ich wurde unter Wasser gedrückt…“ Die Worte flossen über ihre Lippen und kannten kein Halten mehr. Dann verstummte Haruka und ließ ihrer Furcht freien Lauf, denn sie vermochte nun die Tränen nicht mehr zurück zu halten. „Ich… Ich bekam keine Luft… wollte schreien, aber dann verlor ich das Bewusstsein.“ Glitzernde Perlen rannen ihrer Wange herab und hinterließen auf dem Bettlaken kleine, nasse Flecken. Kylah erhob sich, setzte sich neben das Mädchen und legte seine Arme um es. Haruka ließ es zu. Ihr fehlte die Kraft, um sich seiner zu erwehren. Wie ein Kind wog Kylah sie in seiner Umarmung und tröstete Haruka, bis ihr Weinen sich allmählich beruhigte. Das Schluchzen wich nur noch dem leisen Wimmern. Als sie realisierte, dass Kylah noch immer ihre Schultern fest umschlungen hatte, rückte Haruka von ihm ab und musterte ihn in schuld bewusster Miene. „Es… Es tut mir leid, ich…“ Mit dem erhobenen Zeigefinger brachte der Priester sie zum Schweigen. „Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen. Ich freue mich wirklich sehr, dass du mir dein Vertrauen schenkst.“ Haruka schloss die Augen. Es war, als fiele eine unendliche Last von ihren Schultern herab. Zwar wühlten die Gedanken sie noch immer auf, aber sie schmerzten nicht mehr allzu sehr. Dass sie dem Priester das Vergangene erzählt hatte, hatte Linderung gebracht, und sie fühlte, wie ihre seelischen Wunden sich zu schließen begannen. Dann erhob sich Kylah von ihrer Schlafstätte, und Haruka folgte seinen fließenden Bewegungen. Der indigoblaue Kimono schränkte den Priester zwar in seiner Freiheit ein, minderte jedoch nicht die Anmut, die jedem seiner Schritte innewohnte. „Du bist sehr erschöpft und solltest dich ausruhen, wenn du wieder zu Kräften kommen willst.“ Er deutete auf einen Teller, nahe ihrer Schlafstätte, den Haruka zuvor nicht gesehen hatte. „Und iss etwas.“ Das Mädchen starrte einen Moment Kylah ungläubig an, während ihre Blicke ihren PokéCom streiften. „Aber… Der Wettbewerb! Ich muss…“, widersprach Haruka mit scheinbar neuem Enthusiasmus, den Kylah ihr sogleich wieder nahm. Mit verschränkten Armen, die Hände in den Ärmeln verborgen, stand er vor der jungen Koordinatorin. „Du musst dich ausruhen“, schärfte er mit strenger Miene ein, die keinerlei Widerworte zuließ. „Dein Körper hat es bitter nötig.“ Erneuter Protest keimte in Haruka auf, aber Psiana machte ihr mit einem unmissverständlichen Grollen klar, dass sie jenen Widerstand nochmals überdenken sollte. Ihre Krallen krümmten sich und stachen ihr sanft, aber bestimmt, in die Haut. Sollte sich ihre Trainerin wehren, würden sie gewiss mehr als nur ein Piksen spüren. Voller Sehnsucht wanderten ihre Augen zum Fenster, hinaus in die tiefe Schwärze und den draußen herrschenden Winden lauschend. Irgendwann wurden ihre Lider träge, so unsagbar schwer, und Haruka ließ sich erschöpft auf ihre Schlafstätte nieder. Dann übertrat sie die Schwelle in die endlosen Ebenen ihres Schlafes… Schwach beleuchtet war der große Tisch in der Bibliothek, während der restliche Teil des Arbeitszimmers in Dunkelheit lag. Bizarr tanzende Flammen loderten und warfen erneut absonderliche Schatten auf die zahlreichen Bücher und Schriftrollen, die unter hohen Decken mühsam in dem Raum untergebracht waren. Die Luft roch muffig und nach altem, staubigem Papier und hätte durch gezieltes Lüften vertrieben werden, dafür aber war das Meeresrauschen, das sich an den Klippen brach, zu laut. Doch Kylah liebten diesen Geruch viel zu sehr, der jedem Schriftstück anhaftete, als dass er diesen wunderbaren Duft zu verjagen vermochte. Hier, umgeben von zahllosen Pergamenten, fühlte er sich heimisch. Dies war sein Heim. Und an jenem Ort suchte er etwas fieberhaft. Etwas mit solch großer Bedeutung, die, so absurd es auch klingen mochte, das Schicksal dieser Welt verändern konnte. Jene uns bekannte Welt war so zerbrechlich wie Porzellan, die im Begriff war sich rasch zu wandeln, denn alte, vergessene Mächte sollten sich bald erheben und das Grauen bringen wie zahlreiche Propheten es vorhersahen. Alles Lebende sollte vergehen, doch die Hoffnung wird den Menschen Kraft geben. Kylah wurde fündig und hätte einen Freudenschrei ausstoßen können, denn jenes Stück, das er zwischen den Händen hielt, war so bedeutend, wie die Legenden und Mythen, auf die diese Welt ruhen mochte. Er wandte sich um und seine Augen ruhten auf seiner Schlafstätte, auf der in Stoff gehüllt, Haruka schlummerte. Selbstsicher lächelte Kylah. Möglicherweise war das Mädchen eine Schachfigur, die Dame, im Spiel der Gottheiten. Möglicherweise galt sie schon bald als Erlöserin… Ein Windzug ließ eine Kerze wie von Geisterhand unerwartet erlöschen, während ein schwaches Leuchten verräterisch flackernd die Schwärze durchbrach. Eine Warnung, die, wenn er jene missachten sollte, bestraft werden würde. Lautlos hastete Kylah in die große Halle. Wie ein stummer Wächter hielt die Göttin des Wassers ihre im Mondlicht silbern strahlenden schützenden Schwingen empor und wachte über jene, die sie um Hilfe anflehten. Ehrfürchtig verbeugte sich vor der majestätischen Statur und kniete nieder. Die Augen vor dem Antlitz seiner Gottheit verschließend, sprach Kylah mit klangvoller Stimme demütig ein Gebet. Schmutz und Staub, die seinen Kimono besudelten, waren unbedeutend. Während Kylah den Kopf erhob, zitierte er wispernd mühelos eine Textstelle eine jahrtausendalten Pergaments; jedes Wort, ja jede Kleinigkeit, die ihm über die Lippen rollte, betonte er. Jenes Wissen, welches in der Alten Schrift verfasst war, war längst aus den Erinnerungen der Menschen getilgt worden: Schatten aus alten Zeiten erheben sich, Raum und Zeit werden Chaos und Zerstörung bringen. Die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde vereinen sich. Und so beginnt es… Kapitel 7: Männergeschichten ---------------------------- Der Pessimismus war des Menschen schlechter Gefährte, der ihm alles Vertrauen stahl, auch wenn jener sich verzweifelt an die letzte, im Herzen schlummernde, Hoffnung klammerte. Der Pessimismus veränderte des Menschen Wesens. Er ließ sie, in ihrer Zuversicht beraubt, wie gelähmt durch die Welt wandeln, und wenn jener sich einsam fühlte, wird seine wahre Natur zum Vorschein kommen – ein Mensch mit zwei Gesichtern. Da es der Koordinatorin nun erlaubt war, Fuß in Anemonia zu fassen, entschloss der Vogel namens Pessimismus gen Süden zu ziehen und entfernte sich, gemeinsam mit den unheilvollen Wolken des Unwetters, welches gestern gewütet hatte. Bedächtig schloss Haruka die Lider über ihren blauen Augen. Die eiskalte Luft füllte ihre Lungen, ja stach sogar leicht, und sie fühlte wie die Schatten des zerbrochenen Traumes sich auflösten und die geborstenen Scherben sich aneinander fügten, so als wäre jener nie zersplittert. Nun war Haruka hier, in Anemonia, der Stadt, in der sie schon bald das letzte fünfte Band in den Händen halten sollte. Mit neugewonnener Energie war sie bereit jedem, der ihr in die Quere kam, die Stirn zu bieten. Dieses Mal ließ sie sich nicht einschüchtern, würde keine Nachlässigkeit zeigen! Dem schäbigen Steg des kleinen Hafens – wenn man die wenigen Anlegestellen als solchen hätte bezeichnen können – folgte das Mädchen entlang, bis es zu einer schmalen Treppe gelangte. Mit einem kühnen Lächeln auf den Lippen liegend, als sie Beton unter ihren Füßen spürte, eilte sie die Stufen hinauf, obwohl höchste Vorsicht geboten war, denn am Boden war die Nässe gefroren und barg eine tückische Gefahr. Gleichsam löste sich das selbstbewusste Grinsen und wandelte sich in eine Mimik des Ekels. Ein starker, fauliger Geruch begrüßte Haruka in Anemonia, welches seit Generation eine bedeutsame und traditionsreiche Stadt war. Seit Jahrhunderten ernährten sich die Bewohner mit den Schätzen, die das Meer in seinen Tiefen hütete. Fisch und Meeresfrüchte aus dieser Stadt galten weltweit als eine begehrte, aber kostspielige Delikatesse. Haruka unterdrückte das Bedürfnis, sich zu übergeben und hielt sich einen Augenblick die Hand vor den Mund, ehe sie an den alten Baracken, die den nahen Hafen säumte, weitereilte. Unter ihren Füßen knirschte der Split, der sie unentwegt begleitete. Die engen Straßen waren zwar geräumt und der Schnee an den Wegesrand geschaufelt worden, aber glatt war es trotzallem, und das Mädchen war froh, dass gestreut worden war. Haruka dankte den Beschilderungen, dass jene ihr den Weg zum Pokémon Center wiesen, welches am Marktplatz Anemonias zu finden war. Die beschaulichen Häuser schmiegten sich nah aneinander und erinnerten mehr an einen Urlaubsort. Es gab bloß kleine Läden, die genauso wie die Stadt selbst eine eigene Tradition inne hatten, und nicht zu vergessen waren die zahlreichen Fischgeschäfte – Betriebe, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Es verging kaum eine halbe Stunde, bis Haruka den weitläufigen Marktplatz erreichte, auf dem rege Geschäftigkeit herrschte. Sogleich fiel ihr Blick auf das Pokémon Center, das sich deutlich durch das große Backstein-Gebäude von den restlichen Bauten abhob. Haruka hielt darauf zu. „Du hast dir aber Zeit gelassen.“ Beim Klang jener Stimme, die Haruka nur allzu gut kannte, zuckte sie leicht erschrocken zusammen. Obwohl sie ihren Kopf der Person nicht zugewandt hatte, sah sie ihr Gesicht klar und deutlich vor sich: aus dem vornehmen blassen Gesicht stachen smaragdgrüne Augen, die das Mädchen amüsiert betrachten mochten, während einzelne Strähne des Haares sich in der Feuchtigkeit leicht kräuselten. Wortlos drehte sich Haruka zu dem Jungen um, der seine Hände lässig in den Hosentaschen vergraben hatte. Seine spitzzüngigen Bemerkungen war sie ohnehin schon gewöhnt. „Mich wundert’s, dass du es bis hierher geschafft hast.“ Während Shuu das Mädchen abschätzig musterte, rümpfte er im scheinbaren Ekel die Nase. Wie so oft fühlte Haruka das Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber sie zwang sich zur Geduld und Ruhe. Es war nicht gut, wenn sie vor ihrem Rivalen Fassung verlor und ihm eine scheuerte – obwohl er es durchaus verdient hatte, wie Haruka erachtete. „Lass mich einfach in Ruhe!“, knurrte sie verärgert. Sie hasste und liebte seine Arroganz zugleich, aber sie durfte sich dieser Verliebtheit nicht hingehen. Nicht jetzt, so kurz vor dem Wettbewerb. Sie brauchte ihre Kraft für den morgigen Tag, nicht für Wortgefechte mit ihm. Shuus Mundwinkel verzogen sich zu einem schmalen, ja spöttischen Grinsen und stieß ein kurzes Lachen aus, welches voller Hohn war. „Mit dieser Haltung wirst du niemals den Wettbewerb gewinnen.“ Die Hand zur Faust ballend, taxierte Haruka den Rivalen, als wäre er ein unschuldiges Rattfratz, welches in den Klauen eines Snobilikats war. Leider war nicht er das Rattfratz, sondern sie, auf dem Shuu es abgesehen hatte seit sie Koordinatorin war. Trotzig schritt Haruka an ihm vorbei, die Augen fest auf das Pokémon Center gerichtet. Shuu folgte ihr. Seine Füße verursachten auf der mit Split gestreuten Straße ein knirschendes Geräusch. Haruka ertappte sich bei dem innigsten Wunsch, dass er auf dem glatten Untergrund ausrutschen möge und sich alle Knochen dabei brach. Ihr Verlangen blieb auch dieses Mal wieder unerfüllt, daher wandte sie sich ruckartig zu ihm um und sah ihn starr an. „Warum interessiert es dich so sehr, dass ich in diesem Wettbewerb gewinne?“ „Weil ich sonst keine ernstzunehmende Konkurrenz habe.“ Ein charmantes Schmunzeln lag auf seinen Lippen. Wenige Momente lang schwieg Haruka. Das Kompliment überraschte sie und ließ ihr Herz höher schlagen, sogleich aber vermutete sie hinter seinen Worten bloß weiterhin Spott. „Ich habe jedenfalls nicht vor, zu verlieren“, konterte die Koordinatorin, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich recht behielt. „Ach wirklich?“ Feiner Spott verbarg sich in seinen Gesichtszügen. „Ich glaube, diese Worte schon einmal gehört zu haben. Das hast du auch vor dem Wettbewerb in Olivania gesagt“, äußerte Shuu wahrheitsgemäß, „und hast verloren, wenn ich es dir ins Gedächtnis erinnern darf.“ Wütend verschränkte Haruka die Arme vor der Brust. Wie so oft ärgerte sie sich über den Rivalen, war aber zu erschöpft, um sich gegen seinen Hohn zur Wehr zu setzen. „Ich habe wirklich keine Lust, mit dir zu diskutieren“, sagte sie genervt und machte kehrt. Warum traf sie immer auf ihn, wenn sie sich gerade wünscht, ihn nicht zu treffen? Seit Wochen versuchte Haruka Shuu aus dem Weg zu gehen, doch dann lief sie dem Koordinator geradezu in die Arme. Einerseits machte ihr Herz einen Satz und nahm einen beschleunigten Takt an, wenn sie in die Augen sah, aber andererseits erkaltete es im gleichen Moment, sobald Shuu sie mit seiner Verachtung strafte. „Du weichst wieder aus.“ „Und du nervst!“, fauchte Haruka aufgebracht, bald die gute Freund namens Geduld verlierend. Ganz und gar nicht tat sie ihm den Gefallen, ein weites Mal die Teilnahme am Festival zu versäumen, um ihn ein leichtes Spiel zu verschaffen. Sie schwor sich gar in diesem Moment, ihm das Leben zur Hölle zu machen. „Ich werde dir schon dein arrogantes Grinsen aus dem Gesicht wischen!“ „Das werden wir ja noch sehen“, feixte Shuu und würdigte Haruka eines überheblichen Blickes. Ihm gefiel ihr Kampfgeist, dennoch bezweifelte er, dass sie diesen aufrechthalten konnte. Harukas Mundwinkel zuckten leicht, während ihre blauen Augen Shuu wütend anfunkelten. „Wetten wir, dass ich gewinne?“ Shuu lachte. „Du willst nicht ernsthaft wetten.“ „Hast du Angst?“ Starr schaute Shuu dem Mädchen in die Augen. „Du kochst für mich, wenn du verlierst.“ Spöttisch grinste Haruka ihrem Gegenüber an und lachte leise. „Wenn du dich unbedingt vergiften willst…. Aber hey, dann hab ich dich endlich los.“ Konnte man zwischen den Zeilen lesen, vermochte man die Feindseligkeit deutlich spüren. „Träum weiter“, lächelte er herausfordernd. Bald war die Grenze ihrer Geduld endgültig überstrapaziert. Sie spürte regelrecht, wie sich ihr Körper anspannte und ihr Zorn versuchte, sich Bahn zu brechen. „Was ist dein Wetteinsatz, wenn ich gewinne?“, wollte sie überaus gereizt wissen. Erfüllt von Überheblichkeit fuhren seine Finger durch die Haare, die er mit einem raschen Kopfschwung nach hinten warf. „Gewinnst du, werde ich dich zum Essen einladen“, sprach Shuu lächelnd, „Aber dazu wird es nicht kommen.“ Gekonnt überspielte Haruka seine Bemerkung und erwiderte schnippisch: „Okay, aber nur, wenn du bezahlst!“ Unmut ergriff nun selbst den sonst so gelassenen Koordinator, aber ehe jener zu einer ebenso bissigen Antwort anzusetzen vermochte, wurden sie in ihrer hitzigen Diskussion unterbrochen. „Wenn das nicht unsere Turteltäubchen sind!“, tönte eine feminine Stimme seitens Shuu und Haruka, die augenblicklich ihren Blick schweifen ließen. Das Mädchen erkannte sofort, wer sich zu ihnen gesellte. Schließlich war es die Stimme ihrer besten Freundin. „Aika!“, begrüßte sie die blondhaarige, junge Frau. Ihr langer Zopf war der Spielball des reißenden Luftzuges, der in dieser Jahreszeit üblich war. Ein langer Mantel schützte Aikas sportlichen Körper vor Wind und Kälte. Shuus Freude hielt sich dagegen in Grenzen. Er nickte ihr bloß verhalten zu, als die Trainerin ihm eines Blickes würdigte und sich sogleich ihrer Freundin widmete. „Schön dich zu sehen. Mit diesen Worten trat Aika rasch an Haruka heran, lächelte und umarmte sie als Begrüßung. Die Brünette erwiderte die Geste, und einen Moment hielten sich die Freundinnen fest in den Armen, bevor sie sich wieder losließen. Kumpelhaft klopfte Aika dem Mädchen auf die Schulter. „Gut siehst du aus, wenn auch etwas blass um die Nase, kann das sein?“ Erstaunt und zugleich froh, dass Aika in der Stadt war, lächelte sie heiter und erwiderte die Floskeln: „Alles Bestens, bei dir?“ „Auch.“ Ein Atemzug verging. „Kouki hat mir erzählt, was in Olivania passiert ist. Das tut mir Leid“, sprach Aika betrübt sodann und tat geradeso als wäre Shuu nicht mehr gegenwärtig. „Er hofft noch immer, dass du irgendwie einen Weg findest, um am Festival teilzunehmen, aber wie ich sehe, hast du diesen gefunden.“ „Nun… Eigentlich…“ Shuu lachte leise und räusperte sich anschließend. „Eigentlich würde das Lämmchen ohne mein Zutun immer noch weinend in der Ecke hocken.“ Für jene Bemerkung warf Aika dem Koordinator einen strafenden Blick zu. „Ich kann mich nicht erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben. Verlierer haben nämlich nichts zu melden.“ Verwirrt starrte Haruka abwechselnd zwischen Shuu und Aika hin und her, denn in ihr kam das Gefühl auf, dass sie etwas verpasst hat, was vermutlich zum Verständnis dieser Situation verhalf. „Moment“, unterbrach sie zunächst die funkelnden Blicke, die sich die Streitenden zuwarfen, „hab ich irgendetwas verpasst?“ „Nein“, knurrte Shuu. „Doch!“, widersprach Aika. „Shuu hat tragischerweise gegen mich in einem Kampf verloren.“ Protest begehrte in Shuu auf. „Ich hab nicht verloren! Es war ein unentschieden, falls du Augen im Kopf hast!“ „Entschuldige, aber wenn du welche im Kopf hättest, dann wäre dir nicht entgangen, dass Libelldra zuerst am Boden war!“ „Tse! Das lass ich mir nicht bieten.“ Pikiert drehte Shuu den Mädchen den Rücken zu und war im Begriff zu gehen, während in Haruka allmählich eine Idee heranreifte, die einer Person nicht allzu sehr gefallen würde. „Dann verzieh dich doch und spiel beleidigte Leberwurst!“, rief Aika ihm amüsiert nach. „Shuu, warte!“, hielt Haruka ihn auf, wodurch jener überrascht inne hielt. Auch Aika warf ihr einen irritierten, fast entsetzten Blick zu. „Was ist?“ Der Ton seiner Stimme war gereizt, und Haruka bezweifelte ob er in ihrem Vorhaben einwilligte. Doch ein Versuch war es wert gewesen – vor allem der Blick ihrer besten Freundin, wenn der Moment gekommen war, in dem sie ihr bevorstehender Sieg den Tribut der Wette forderte. „Die Wette“, erinnerte Haruka unbeholfen, denn sie wusste nicht, wie sie diese Angelegenheit in Worte fassen sollte. „Es wäre nur fair, wenn ich deinen Wetteinsatz selbst bestimmen dürfte.“ Eine Mischung aus Neugierde und Gleichgültigkeit kämpfte einen Herzschlag lang in Shuus Gesicht, dann schien die Miene des Desinteresses zu behaupten. Womöglich wollte er bloß so rasch wie möglich aus Aikas Gegenwart verschwinden. „Nur zu.“ „Wenn ich gewinne, kämpfst du gegen mich. Die Bedingungen entscheide ich.“ Sekunden verstrichen, in denen bedrückendes Schweigen herrschte. Selbst Aika behielt jegliche Bemerkungen für sich. Haruka rechnete bereits, dass Shuu ihre Forderungen in den Wind schlagen würde, und erneut Beschimpfungen für ihre Person fand, aber dann stimmte er mit einem überraschenden Nicken doch schließlich ein. „Gut. Einverstanden. Und jetzt darf ich sicher gehen, oder?“ Er deutete charmant lächelnd einen Knicks an und zeigte in Richtung Innenstadt. „Immerhin hab ich bald ein großes Festival zu gewinnen.“ „Natürlich, bis später.“ Mit klopfendem Herzen erwiderte Haruka sein Lächeln, nicht wissend, aus welchem Grund sie ihm überhaupt gerade hinterher strahlte. „Vorsicht, sonst fallen dir noch die Augen aus, wenn du dem noch so auf den Hintern starrst“, warnte Aika grinsend. Erschrocken zuckte Haruka zusammen und fühlte sich so schrecklich bei einer Missetat ertappt. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, daher stammelte sie bloß haltlose Ausflüchte zusammen. „Ja, lass gut sein“, schmunzelte Aika. „Sag mir eher, ob du dich schon registrierst hast oder nicht, denn in zehn Minuten ist Anmeldeschluss.“ „Nee… WAS? Warum sagst du mir das nicht gleich?“ „Ach, ich dachte du wüsstest es… Na ja, wie immer halt.“ Seufzend fasste sich Aika an die Stirn. Noch rechtzeitig hatte es Haruka geschafft, sich zu registrieren. Die Empfangsdame in der Wettbewerbshalle nahm ihre Daten noch entgegen, obwohl sie nicht besonders erfreut erschien und bereits dabei gewesen war, die Anmeldung zu schließen und ihren Posten zu räumen. Höflich entschuldigte sich die Koordinatorin, duldete wie jedes Mal den Tadel und versicherte ihr, nicht wieder zu spät zu kommen, während Aika bloß vergnügt neben ihr grinste. Schließlich kannte sie ihre Freundin. Pünktlichkeit war noch nie Harukas Stärke gewesen. Ob sich das jemals ändern würde, bezweifelte sie. Ein schneidender Wind begrüßte Aika und Haruka in der Kälte zurück, als sie das Gebäude verlassen hatten. Wieder hatte es begonnen, zu schneien und der Wind blies ihnen den vom Himmel fallenden Schnee ins Gesicht. Tief zogen sie daher die Kapuzen ihrer Winterjacken ins Gesicht und verknoteten die Kordeln miteinander, damit sie sicher sein konnten, dass ein heftiger Luftzug die wärmende Kopfdeckdung nicht vom Haupt fegte. Obwohl sich die Mädchen in diesem Augenblick mit einer Tasse in der Hand vor einem Kamin an einem gemütlicheren Ort wünschten, kehrten sie nicht zum Pokémon Center zurück. Sie hatten entschlossen, außerhalb der Stadt für den herannahenden Wettbewerb zu trainieren. Psiana miaute anklagend ob dieser Entscheidung, schüttelte frustriert den furchtbar kalten Schnee von ihren Pfoten und strafte ihren Menschen mit einem grollenden Blick. Haruka sah die Lichtkatze irritiert und keiner Schuld bewusst an, die sich mit einem wütenden Zucken ihres Schweifes abwandte. Zögernd folgte Haruka ihrer Freundin, die bereits vorangeschritten war. Durch den hohen Schnee stapfend, entfernten sich die Mädchen von der Stadt und einer warmen Zuflucht vor der Kälte. Ihr Weg führte sie an jenen Ort, an dem Aika am gestrigen Tag gegen Shuu gekämpft hatte, und sie verbrachten dort eine ganze Weile, um nochmals die Abläufe ihrer Performances zu studieren. „Kämpf mit mir“, richtete sich Aika unerwartet an ihre Freundin und entließ, ohne die Antwort Harukas abzuwarten, ein kräftiges Flamara aus dem Pokéball. Jedes Haar des dunkelroten gefärbten Pelzes sträubte sich leicht, während der Feuerkater stolz den Kopf reckte und Psiana taxierte. Der hin- und her zuckende buschige Schweif war in einem dezenten Beige gehalten. Das gleichfarbige dichte Brustfell bat Schutz vor Eis und Schnee. Irritiert sah Haruka Aika an und musterte ihren furchtlosen Gesichtsausdruck, von dem sie wusste, dass jener nichts Gutes verriet. Sie schlug die Augen nieder. Ihr blieb nichts anderes übrig als einzuwilligen. Flamara stieß einen durchdringenden Laut aus, einen entschlossenen Kampfruf, und spie der Lichtkatze einen kraftvoll lodernden Feuerstrahl entgegen. Psiana wartete ab und wich der züngelnden Flamme tänzelnd aus. Funken sammelten sich um ihren Leib, aus denen Dutzende gebaren, und sandte jene mit einem ebenso verwegenen Schrei auf ihren Kontrahent. „Du hast dich wacker geschlagen.“ Haruka hatte die Hände um eine Tasse gefasst und starrte betrübt auf die Holzplatte des Tisches, auf dem ein Werbeflyer des Wettbewerbs lag. Sie nahm zögerlich einen vorsichtigen Schluck, denn der Kakao war noch heiß. Nach dem Training in der Kälte war die Flüssigkeit wohltuend und wärmte das Innere, ließ das Eis tauen. Doch Haruka verbrannte sich die Zunge und verzog missmutig das Gesicht. „Mach doch nicht so ein Gesicht“, tadelte Aika, aber ihre Worte heiterten das Mädchen nicht auf. „Du brauchst nicht enttäuscht sein.“ Doch, das war sie. Jämmerlich hatte Haruka versagt, gegen ihre beste Freundin verloren, aber was sollte sie erwarten? Sie wusste, dass Aika bereits vor einigen Jahren sowohl in Hoenn ein Festival als auch eine Meisterschaft in ihrem Heimatland Isshu gewonnen hatte. Zudem war seit ihrem Sieg in der Silberkonferenz noch nicht viel Zeit vergangen. Sie war eine der besten Trainer, die es möglicherweise selbst mit den Champions leicht aufnehmen könnte. Wie sollte sie da gewinnen können? Eine beklemmende Furcht schlich sich in Harukas Herz ein, denn sie wusste, dass Aika ebenfalls am Wettbewerb teilnahm. Sie versuchte dieses Gefühl abzuschütteln, doch es hinterließ einen bedrückenden Graben. „Ich hab aber verloren“, ihr Blick streifte umher und hielt bei Psiana inne. Die Lichtkatze hatte sich auf einem Sitzkissen der Stühle niedergelassen und lag zusammengerollt auf ihrem Ruheplatz. Obwohl es den Anschein erweckte, dass Psiana schlief, spürte Haruka den tiefen Groll der Katze. Jener lauerte wie ein Raubtier auf seine Gelegenheit. Haruka bedauerte, dass sie den Erwartungen ihres Pokémons nicht entsprach. Seit ihrer Niederlage in Olivania war Psiana mit der Zeit immer verschlossener geworden. Psiana beherrschte Telepathie, aber ihre neckische Geistesstimme war verstummt, und das beunruhigte Haruka. Mitfühlend lächelte Aika, schwieg bedrückt, denn sie wusste nicht wie sie ihre Freundin von ihren trübsinnigen Gedanken zu erlösen vermochte. Ein Seufzen entrann sich Harukas Kehle, während ihr träumerischer Blick klar wurde und sie im Anflug unerwartetem Interesse nach dem Flyer griff. Nachdenklich betrachtete sie das Cover und hielt ihn Aika schließlich fragend hin. „Weißt du eigentlich, warum in dem Trainerguide nichts von dem Wettbewerb steht? Laut den Informationen war in Olivania der letzte, offizielle Termin“, versuchte Haruka auf ein anderes leichteres Thema zu lenken, welches ihren Kummer möglicherweise vertrieb. „Es ist ein Sondertermin, der vor wenigen Tagen vom Komitee beschlossen und bekannt gegeben wurde“, erwiderte Aika knapp, während sie gelangweilt auf einem Strohhalm herum kaute. Überrascht erhellte sich Harukas Gesichtsausdruck. „Echt? Wie wurde der denn bekannt gegeben?“ „Durch die Medien natürlich. Fernsehen, Radio, Internet und die altmodische Variante - Zeitung.“ Nun wandelte sich ihre Miene in einen Ausdruck, der vollkommende Verständnislosigkeit verriet. „Und warum hab ich davon nichts mitgekriegt?“ „Weil du anscheinend weder Fernsehen guckst oder Radio hörst, geschweige denn Zeitung liest oder im Besitz eines internetfähigen Handys bist.“Erheitert grinste Aika über die Mimik ihrer Freundin. „Pah! Ich musste mich auf den Wettbewerb in Olivania vorbereiten, da hatte ich keine Zeit um Fernsehen zu gucken oder Radio zu hören“, wehrte Haruka schroff ab. „Wie hast du es dann überhaupt erfahren?“ Haruka stierte wieder in die Tasse. „Ausgerechnet Shuu musste es mir unter die Nase reiben.“ Schallendes Gelächter erregte die Menschen in der Cafeteria und wandten sich neugierig zu Haruka und Aika um. „Echt? Arme Socke.“ Peinlich berührt wich die Brünette den teils verständnislosen Blicken aus. „Weißt du eigentlich, dass du mich immer wieder blamierst?“, zischte sie der Blonden zu, die ihr nur ein schalkhaftes Grinsen erwiderte. „Man darf doch wohl noch lachen dürfen“, sprach Aika trotzig und starrte einen Mann, der unweit von den Mädchen saß und ebenfalls dem Blick der Trainerin standhielt, an. „Dem da“, sie deutete unauffällig mit einem Kopfnicken in die Richtung des Herrn, „ist zum Beispiel jeder Humor im Leben verloren gegangen.“ „Hör auf, die Leute gucken schon!“ Beschämt senkte Haruka den Kopf und fixierte erneut ihre Tasse, die sie fest zwischen den Händen hielt. „Man, bist du ‘ne Spaßbremse.“ Seufzend lehnte sich Aika zurück und beobachtete aufmerksam ihre Umgebung, bis ihr etwas in den Sinn kam. „Bist du eigentlich mit der Fähre nach Anemonia gekommen?“, fragte sie beiläufig. Haruka schwieg einige Herzschläge lang, während sie den vergangenen Tag Revue passieren ließ. Die Erinnerungen erschienen ihr so unwirklich, dass sie zuerst glaubte, er sei ein Traum gewesen. Doch dem war nicht so. Der altertümliche Tempel und Kylah – sie waren real gewesen. „Nein, bin ich nicht“, erwiderte Haruka schließlich. „Wie dann? Nach dem Unwetter gestern sind alle Fähren ausgefallen.“ „Das ist eine längere Geschichte“, sagte Haruka ausweichend, denn sie wusste nicht, wie sie die vergangenen Ereignisse schildern sollte, die sich gestern zugetragen hatten. „Erzähle sie mir“, drängte Aika mit knappen, aber eindringlichen Worten. Einen kurzen Moment starrte Haruka still aus dem Fenster, ehe sie Aika zwar den Kopf wieder zuwandte, aber einen Punkt auf der hölzernen Tischplatte fixierte, der bloß für sie sichtbar war. „Die letzte Fähre hab ich verpasst. Von den Strudelinseln aus hat mich dann ein junger Mann – Kylah ist sein Name – mitgenommen.“ „Mo-Moment, irgendwie fehlt mir da der Mittelteil“, unterbrach Aika das Mädchen zweifelnd. „Bei den Strudelinseln sagst du? Wie willst du da hingekommen sein, wenn du die Fähre verpasst hast?“ Haruka fühlte sich ertappt, als abscheuliche Lügnerin entlarvt. Beschämt wich sie dem vielsagenden Blick Aikas aus und drehte den Kopf zur Seite, nicht fähig, ihr in die Augen zu sehen. Es war töricht zu denken, dass sie sich erhofft hatte, Aika würde sich mit der halben Wahrheit zufrieden geben. Sie kannten sich bereits ein Jahr – vielleicht auch etwas länger. Wie vermochte sie bloß zu denken, dass sie Aika etwas verheimlichen könnte? „Ich weiß, dass du mir etwas verschweigst“, tastete sich Aika sacht vor. Obwohl sich Harukas Herz nach der Wahrheit sehnte, schrie ihr Verstand, die Freundin jene zu verbergen. Einen raschen Blick auf Aikas neugierige Mimik verriet ihr jedoch, dass sie ihr eine Erklärung nicht zu verschweigen vermochte. So folgte sie dem Rat ihres Herzens und nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie begann zu erzählen: „Ein Stadtbewohner hat mir gesagt, dass am Strand eine Schule Lapras ruhte und meinte, sie würden vielleicht eine Reisende wie mich mitnehmen. Also bin ich zum Strand heruntergegangen.“ Plötzliche Schuldgefühle ergriffen Haruka und sie bemühte sich, dass ihre Stimme nicht zitterte. Sie fuhr fort, um ihre Anspannung zu vertuschen: „Sie nahmen mich mit, aber dann gerieten wir in einen Sturm und…“ Erinnerungen überschwemmten das Mädchen, als es an jenen Augenblick zurückdachte wie es unter Wasser gedrückt worden war und um sein Leben fürchten musste. Diese eisige Kälte, die jede Wärme aus ihrem Leib gezogen hatte, kroch erneut in ihre Gliedmaßen und lähmte Haruka ein weiteres Mal. Eine einzelne Träne löste sich unbewusst aus ihrem rechten Auge und rann stumm über ihre Wange. Aika beugte sich vor, besorgt um ihre Freundin, und griff nach ihrer Hand. Die Berührung brachte Haruka in die Gegenwart zurück, doch sie war nicht fähig, zu sprechen. „Was ist passiert?“, wisperte die Blonde behutsam. Besinnend schloss Haruka die Augen, denn es fühlte sich an, als durchschreite sie erneut die Hölle, welche sie durchlebt hatte. „I-ich bin unter Wasser gespült worden“, flüsterte sie schluchzend, darauf bedacht, dass niemand ihrem Gespräch lauschen mochte. „Das Wasser war eiskalt gewesen und… ich hatte Angst, zu ertrinken.“ Während Haruka versuchte jedes Schluchzen in ihren Handflächen zu unterdrücken, stand Aika wortlos auf und ließ sich neben ihrer Freundin auf die Sitzbank nieder, den Arm fest um sie gelegt. „Sch, sch“, tröstete sie Haruka sanft. „Sollen wir auf unser Zimmer gehen?“ Doch Haruka schüttelte stumm den Kopf. „Nein“, brachte sie zunächst hervor, „ist schon okay. Es ist ja alles gut gegangen. Kylah – also der, der mich auch nach Anemonia gebracht hat – hat mir auch das Leben gerettet.“ Ihre Mundwinkel hoben sich sachte, und Haruka lächelte beschwichtigend. Wie kannst du darüber lächeln? Du bist beinahe ertrunken, Haruka!“ „Du bist beinahe ertrunken, Haruka?“, echote Shuu jäh. Ihr sahen smaragdgrüne Augen entgegen, die sie in stiller Besorgnis musterten, während Haruka beim Klang seiner ruhigen und leicht arroganten Stimme zusammen gezuckt war. Wortlos starrte sie dem Jungen in die anziehenden Augen, vermochte seinem durchdringenden Blick aber nicht länger standhalten. Verlegen wandte das Mädchen ihren Kopf ab. Wie konnte er so unerwartet neben ihnen auftauchen? Shuu trat an den Tisch heran und streckte seine Hand nach ihr aus, aber sie wich vor jener zarten Berührung zurück. „Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich der Koordinator stattdessen. „Shuu, du bist wie eine Wolke: Wenn du dich verziehen würdest, könnte es noch ein schöner Abend werden.“ „Aika, du bist wie ein omotzerfressener Kartoffelsack: Unnütz und wenig schön anzuschauen“, konterte Shuu ungerührt und sah Haruka schweigend an. Ihren Zorn unterdrückend grollte Aika dem Jungen und ballte die Faust, bereit, wenn es nötig war, auch zu zuschlagen. Sie schien sich eines Besseres zu besinnen und ließ ihre Rechte aber wieder sinken, grinste stattdessen provokant und reckte das Kinn vor. „Wenigstens bin ich nicht wie ein Nebulak. 99 % heiße Luft.“ „Stopp – könntet ihr bitte mal damit aufhören? Das ist ja nicht auszuhalten!“, schritt Haruka ein, bevor Shuu eine weitere sarkastische Bemerkung in den Sinn kam. „Ihr benehmt euch wie bockende Kinder – wie im Kindergarten!“ Erneut streckte Shuu seine linke Hand nach ihr aus und ließ sie einen Herzschlag lang auf ihrem Arm ruhen. Ein erfreutes, aber flüchtiges Lächeln huschte über seine Gesichtszüge, offenbar froh gestimmt, dass sie nachgegeben hatte. „Wie fühlst du dich? Kannst du morgen überhaupt antreten?“ Haruka aber zuckte durch die Annäherung scheu zusammen, denn es fühlte sich an als trieben Stromstöße durch ihren gesamten Leib, der ihren Puls flattern ließ. Ruckartig entzog sie sich seiner Hand. „Mir geht’s gut, danke – und wenn du glaubst, ich tue dir einen Gefallen: ja, ich werde morgen antreten“, erwiderte Haruka schroff, während sie sich rasch aufrichtete und sich an Shuu vorbei schob. „Komm Aika, ich bin müde und möchte noch duschen“, fügte sie drängend hinzu. Sie wollte nur weg, weg von ihm. Seine Nähe, das sorgenvolle Entsetzen, erschien ihr plötzlich so unerträglich. Verächtlich sah Aika den Koordinator an. „Ist mir nur recht. Mir stinkt’s.“ Sie folgte Haruka, welche ihre Augen starr geradeaus gerichtet hatte und ihre Freundin mit keines Blickes würdigte. „Du? Kannst du mir mal eben den Rücken eincremen?“ Haruka, die zuvor vollkommen in Gedanken vertieft mit dem Rücken an der Wand gelehnt hatte, zuckte leicht zusammen, als Aika unerwartet aus dem Badezimmer getreten war, und sah ihrer Freundin entgegen. Obwohl jeder ihrer Schritte mit dem leisen Knarren von Holz begleitet wurde, musterte die Koordinatorin sie nun überrascht, so als hätte sie ihr Kommen nicht bemerkt. „Was?“, brachte Haruka bloß verwirrt heraus, unterdessen sie noch immer verwirrt Aika beäugte. Ihr schlanker Körper war von einem weißen, knielangen Duschtuch bedeckt gewesen und das blonde Haar erschien wesentlich dunkler während es nass war und feucht an ihrer vornehm blassen Haut klebte. Wären wohl Angehörige des männlichen Geschlechts anwesend gewesen, hätten sie diesem Anblick kaum widerstehen können. „Ich hab dich gefragt, ob du meinen Rücken eincremen kannst“, wiederholte Aika schmunzelnd und fügte nach einem kurzen Moment hinzu: „Was guckst du so? Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.“ „Ähm… Ich hab dich nur nicht gehört“, rechtfertigte sich Haruka und schloss geräuschvoll das Buch, welches zuvor auf ihren herangezogenen Knie geruht hatte. Während sie die wirren Gedanken von sich schob, warf das Buch achtlos zur Seite. „Jetzt dreh dich um.“ Mit jener Aufforderung setzte Haruka sich auf, deutete knapp eine Drehung an und griff nach der Bodylotion, während Aika ihr gehorsam den Rücken zukehrte und das Tuch auf den Boden fallen ließ. Haruka legte die Hände, auf denen die weiße, ja zähe Creme war, auf Aikas Kehrseite und fuhr zaghaft mit den Fingern über ihren scheinbar makellosen Rücken entlang. Kräftig und sehnig zeichneten sich die Muskeln ab, die Wirbelsäule war als tiefe Furche zu ertasten. Aika empfand ihre Berührungen zaghaft und lieblos, so als befände sich Haruka noch immer weit weg in ihrer Gedankenwelt. Beinahe beiläufig fragte sie: „Was liest du eigentlich?“ Einen kurzen Blick warf Haruka auf das Buch herab, hob aber angewidert die Oberlippe und richtete stur ihre Aufmerksamkeit auf Aikas kräftigen Rücken. Bloß nicht zu grübeln beginnen, nicht an ihn denken. „Ach, einen ganz interessanten Liebesroman“, log sie mürrisch. Eine Geschichte über zwei Freunde, die sich seit Kindergartentage kennen und gemeinsam zur Schule gingen, sich schließlich aber aus den Augen verloren hatten. Als Rivalen waren sie bei den Meisterschaften wieder aufeinander getroffen waren und hatten sich ineinander verliebt - welch klischeehafte Handlung! Normalerweise würde sie solche Bücher direkt in die Ecke schmeißen, aber sie tat es nicht. Aika wandte leicht den Oberkörper und sah über ihre rechte Schulter. „Ja, so unglaublich fesselnd, dass du seit fünf Minuten verträumt auf die Wand starrst und vor dich hin seufzt“, witzelte sie feixend. Haruka widersprach nicht. Vielmehr zog sie es vor, zu schweigen, denn sie ahnte, auf welches Thema oder besser gesagt, auf welche Person sie das Gespräch lenken wollte. Sie wollte nicht darüber sprechen, warum sie vor Shuu die Flucht ergriffen hat. Vor allem wollte sie nicht über ihre Gefühle nachdenken. Möglicherweise empfand sie etwas für Shuu – oder er für sie -, aber… Rasch verdrängte Haruka den aufkommenden Gedanken des Abends und massierte weiterhin die Bodylotion beinahe akribisch ein. „Nein, aber jetzt mal im Ernst. Was beschäftigt dich?“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Erneut wich Haruka aus, spielte die Ahnungslose und rief sich die Vorsätze, sich nichts anmerken zu lassen und nicht nervös zu werden, ins Gedächtnis zurück. „Ein gewisser Graskopf, der dich rasend vor Liebe macht, vielleicht?“ Aika wusste ein amüsiertes Grinsen nicht zu verbergen und verspürte gleich darauf ein schmerzvolles Zwicken in die Seite. „Autsch! Du hast mich gekniffen!“, protestierte die Blonde. „Erstens, ich bin nicht in Shuu verliebt und zweitens, hab ich dir das sicher schon tausendmal gesagt“, wandte Haruka zerknirscht ein, „und drittens, du hast es verdient! Außerdem bin ich fertig.“ Sie verschloss den Deckel der Bodylotion und warf sie unbedacht auf das andere Bett im Zimmer hinüber. „Trotzdem tut das weh.“ Schmollend rieb sich Aika die gerötete Stelle an ihre rechte Flanke und zog die Lippe in scheinbarem Ärger leicht hoch. „Und kein Grund, direkt zu kneifen!“, jammerte die Freundin vorwurfsvoll. Haruka nahm wieder die gleiche Position ein, die sie vorher bezogen hatte. Den Rücken an die Wand gelehnt, machte sie sich es bequem und griff nach dem Buch. Dabei ignorierte sie Aikas Trotz, denn sie wusste, dass es kein wirklicher Tadel, sondern bloß eine gespielte Beschwerde ihrerseits war. Die Freundinnen trennten sich in scheinbarer Dramatik schweigend voneinander als keine Erklärung seitens Haruka zu erwarten war. Aika wandte sich um und schritt auf die andere Seite des bescheidenen Raumes. Dort setzte sie sich auf ihr Bett, allerdings konnte sich die Blonde ein leichtes amüsiertes Zucken ihrer Lippen nicht verhindern. Die Einrichtung des Zimmers war eher schlicht, beinahe lieblos, gehalten und nur wenig Platz stand ihnen zur Verfügung. Nur wenige Zentimeter maß der Abstand zwischen den aus dunklem Holz gefertigten Betten, die nur von einem kleinen Nachttisch, auf dem eine Schirmlampe platziert war, getrennt wurden. Ein schäbiger Teppich bedeckte die kalten Parkett und gab dem Raum etwas Wärme. Tageslicht fiel durch ein schmales Fenster, vor dem nun graue Gardinen gezogen waren, da bereits die späten Abendstunden heran gebrochen waren. Links von dem Fenster stand ein hölzerner Tisch mit zwei Stühlen, der in die Ecke geschoben worden war, denn am Boden lag Tera, Aikas Tornupto wie eine Kugel zusammengerollt da. Ihr Kopf war auf die Vorderpfoten gebettet, während ihre wachsamen Augen von jeder Bewegung im Raum Notiz nahm. Haruka legte das Buch beiseite und sah zu ihrer Freundin hinüber, die sich mittlerweile einen blauen Pyjama angezogen hatte. „Ach, du hast mir noch gar nicht erzählt, was aus dir und Shin geworden ist?“ „Da gibt’s auch nicht sonderlich viel zu erzählen“, erwiderte Aika knapp. Haruka beugte sich vor und griff nach einem Kissen. Wenn Aika nicht freiwillig mit der Wahrheit herausrücken wollte, dann musste sie etwas nachhelfen – und mit diesem Gedanken warf sie das Kissen ihrer besten Freundin an den Kopf. „Autsch! Warum hast du das schon wieder gemacht? Das kriegst du zurück!“ „Dir muss man ja alles aus der Nase ziehen!“, empörte sich Haruka hastig und fischte das Kissen, das Aika auf sie geworfen hatte, aus der Luft. „Es gibt ja auch wirklich nicht viel zu erzählen!“ „Nicht viel zu erzählen? Du lügst, das seh‘ ich doch!“ Haruka hatte sich aus ihrem Bett erhoben und ließ sich auf dem ihrer Freundin wieder nieder, den Kopf auf Aikas Schoß platziert. Aika murrte und ließ sich ebenfalls rücklings auf die Matratze nieder. Haruka änderte Position und rückte nah an ihre engste Vertraute heran, darauf bedacht, sie nicht aus dem schmalen Bett zu schubsen. „Gut, was willst du hören?“ „Das Übliche halt. Wie sieht er nackt aus, hat er Bauchmuskeln, wie küsst er, ist er gut im Bett und so weiter halt.“ Eine wegwerfende Gestik unterstrich ihre Forderungen nach dem gewünschten Wissen. „Haruka!“, protestierte Aika, wusste aber, dass es zwecklos war, zu widersprechen. „Zugegeben, er sieht wirklich zum Anbeißen aus, ein wahrer Traumkörper“, gestand sich schließlich die Trainerin ein, „und ja, er hat einen tollen Six-Pack, und er kann küssen… Da wird dir schwindelig!“ Aikas Blick wanderte in die Ferne, sie verlor sich vollends in ihrer Schwärmerei. „Und wenn er noch gut im Bett ist, hast du dir den perfekten Traummann gebacken“, vollendete Haruka feixend den Gedanken. „Ist dein Shin schon nach Orre abgehauen?“ „Das ist nicht mein Shin“, widersprach Aika verärgert. „Ich denke, er ist noch nicht abgereist.“ Bedrückt starrte die Blonde vor sich hin, nicht sicher, ob sie ihren eigenen Worten trauen sollte. Möglich war es, dass er abgereist war, ohne sich zu verabschieden. Schließlich handelte es sich um Shin, ihren Macho. „Ach nein? Wann wollte er denn abreisen?“ „Eigentlich nach den Meisterschaften, aber Shin wusste es noch nicht genau, daher hat er sich auch noch nicht gemeldet.“ „Aber ihr seid schon zusammen, oder?“, harkte Haruka interessiert nach. „Also mit SMS schreiben, stundenlang telefonieren und so, mein ich.“ „Ja, wir sind zusammen, mehr oder weniger, schreiben und telefonieren auch oft.“ „Und dann sagt dein Shin dir nicht Bescheid, wenn er abgereist ist?“ „Wie oft noch? Er ist nicht mein Shin“, wiederholte Aika und kraulte gedankenverloren Tera am Nacken, die sich der Hand genussvoll entgegen reckte. „Nicht wirklich…“, murmelte sie und seufzte leise. Haruka grinste. „Euch geküsst habt ihr schon, oder?“, stichelte sie weiterhin. „Jup – wie gesagt, er kann ziemlich gut küssen.“ „Und das andere – du weißt schon was?“ „Wir sind gerade mal einen Monat zusammen! Da steig ich doch nicht direkt mit ihm in die Kiste!“ „Na, kann doch sein“, summte Haruka vergnügt. „Zutrauen würde ich es dir auf jeden Fall.“ „Würdest du direkt mit Shuu ins Bett steigen wollen?“ „Bah, was für ein widerlicher Gedanke…“ Den bloßen Gedanken wehrte sie vehement ab, versuchte jenen nicht an sich heran zu lassen und doch geschah es, dass sie sich einen kurzen Herzschlag lang, diesen intimen Moment sich vorstellte. Unwillkürlich glühte ihr Herz, als hätte jemand neue Kohlen in die einst schwache Flamme geworfen. „Warum wirst du jetzt rot?“ Aika begann zu lachen. „Dann wohl doch nicht so ein widerlicher Gedanke.“ „Äh, was?“ Rasch verdrängte Haruka den aufblitzenden Gedanken und zwang sich, diesen beschämenden Moment, zu überspielen. „Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Ist er gut im Bett oder nicht?“ „No comment! Du würdest sowieso nur neidisch werden!“ „Ach komm schon!“ „Nein, ich schweige wie ein Grab!“, erwiderte Aika verschränkte die Arme vor der Brust und stierte stur an die Decke, während sich neben ihrem Bett Tera jäh regte, die ihren Kopf hob und die Lefzen zu einer belustigten Grimasse verzog. Dabei stieß sie ein Grunzen aus, das beinahe den Anschein erweckte, es wäre ein Lachen. „Tera, halt die Klappe!“, wies die Trainerin ihre treue Gefährtin zurecht, die zwar das scheinbare Lachen verstummen ließ, aber sich nicht nehmen ließ, vergnügt zu grinsen. „Damit hat Tera dich verraten“, bemerkte Haruka lächelnd. „Ach, vergiss es“, wehrte Aika wiederum ab und wandte beleidigt den Kopf von Haruka und Tera ab. „Wenigstens flirte ich nicht mit zwei Kerlen rum und mache dem einen hin und wieder die eine oder andere Hoffnung.“ Harukas Heiterkeit verblasste mit einem Mal aus ihrem Gesicht, und sie setzte sich auf. „Denkst du etwa, ich hätte mir ausgesucht, dass sich ausgerechnet mein bester Freund in mich verliebt? Und außerdem, ich mache Kouki keine Hoffnung.“ „Natürlich. Deshalb hat er mich nach dem letzten Wettbewerb auch mit unzähligen SMS bombardiert und geschrieben, wie sehr ihm die Situation zusetzt und so.“ „Ach man, wir hatten das Thema doch schon mal“, klagte Haruka unzufrieden, „und du weißt, dass ich schon mit ihm darüber gesprochen habe.“ Aika drehte den Kopf und sah Haruka ruhig an. „Fragt sich nur, wie viel von dem angekommen ist.“ Sie seufzte schwer und richtete sich ebenfalls auf. „Jedenfalls trifft es ihn sehr, dass dein Herz scheinbar für jemand anderen schlägt.“ Hilflos blickte Haruka ihre Freundin an, zu kraftlos, um zu protestieren, dass sie verliebt – in Shuu – war. „Was soll ich denn tun? Ich kann ihm nicht aus dem Weg gehen. Dafür ist er mir viel zu wichtig.“ „Abwarten.“ Resigniert fasste sich Haruka an den Kopf und massierte stöhnend ihre Schläfen. „Danke für diesen wahnsinnig guten Ratschlag. Jetzt bin ich keinen Schritt weiter als vorher.“ „Bitte, hab ich doch gern gemacht.“ Erneut umspielte ein sanftes Grinsen ihre Lippen. „Außerdem, dir schwirrt ja sowieso jemand anders im Kopf herum. Wie könntest du da einen klaren Gedanken fassen?“ „Du legst es darauf an, gekniffen zu werden, oder?“ Unverwandt sah Haruka ihre beste Freundin an, die kühn das Kinn reckte und weiterhin freimütig schmunzelte. „Gibt’s einfach zu, du bist verliebt!“, säuselte Aika grinsend, während sie das letztere Wort provokativ deutlich dehnte. „Hab ich Recht?“ Haruka seufzte ergeben und fasste sich an die Schläfe. „Wenn du es ohnehin schon weißt, warum provozierst du dann?“ „Ach komm, du machst dir was vor. Du bist verliebt. Das sieht sogar ein Dummisel.“ „Ich bin aber nicht in diesen arroganten, selbstverliebten, egoistischen schleimigen Idioten verknallt!“ „Natürlich, und Tohaido können rückwärts schwimmen.“ Wortlos starrte Haruka gegen die Decke und strafte Aika mit ihrem Schweigen, welches die Freundin sogleich wieder behutsam brach: „Vielleicht magst du ihn aus dem Grund, weil er gerade ein Idiot ist? Von Shin habe ich auch mal gedacht, dass er ein furchtbarer Schönling und der Vollpfosten ganz Johtos wäre, dem nicht nur die Frauenwelt zu Füßen liegt.“ Verwundert sah Haruka ihre Freundin an. „Was soll das denn heißen?“ „Na, Shin hat mir da mal was erzählt.“ „Und was?“, bohrte Haruka neugierig. „Wie ich schon sagte. Dass nicht nur Frauen auf ihn stehen.“ „Du meinst…“ „Jep. Du kennst ihn sogar, der in Shin verliebt war.“ Haruka hatte Shin noch nicht kennengelernt. Bisher kannte sie den Jungen, dem Aika offensichtlich den Kopf verdreht hatte, nur von Fotos. Ja, gutaussehend war der „Schönling“ sicherlich und fand die sarkastische Bezeichnung durchaus als zutreffend. Aber dass Shin scheinbar eine gewisse Anziehung selbst auf Jungen ausüben mochte, erschütterte Haruka, und sie wusste nicht, damit umzugehen, denn noch nie hatte sie sich beschämenderweise mit Sexualitäten auseinandergesetzt oder fühlte sich mit jenem Thema konfrontiert. Sollte sie schockiert oder angewidert reagieren? Oder doch lieber sogar amüsiert darüber? Immerhin waren Homosexuelle auch nur Menschen. Gegen ihre Gefühle vermochten sie ebenso wenig anzukämpfen wie sie gegen ihre Verliebtheit für Shuu. Erstaunen und Verwirrung zeichneten Harukas Gesichtszüge. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass in ihren Freundeskreisen einen Jungen gab, der sich angeblich für sein eigenes Geschlecht zu interessieren schien. „Gut, kennen ist etwas übertrieben, flüchtig begegnet bist du ihm eher“, sprach Aika, den Triumph, dass sie mehr wusste, als ihre Freundin, genoss sie förmlich. „Wer?“, brachte Haruka schließlich hervor, aber Aika grinste sie eine gefühlte Ewigkeit an. „Jetzt sag schon, verdammt nochmal!“ „Du bist ihm nicht direkt begegnet - Kazuya.“ Einen Augenblick grübelte Haruka, forschte in ihren Gedanken zu dem Namen ein passendes Gesicht zu finden. In den letzten Jahren war sie unzähligen Menschen begegnet und obwohl sie glaubte, ein recht gutes Erinnerungsvermögen zu haben, fiel ihr es ihr dieses Mal schwer, den Namen zu zuordnen. „Junge mit einem braunen Lockenkopf, stammt aus Orre und ist meistens in Begleitung eines übellaunigen Snobilikats“, half Aika ihrem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge. Schließlich überkam Haruka die Erkenntnis. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild eines Jugendlichen, der vielleicht vierzehn, fünfzehn oder sogar sechzehn sein mochte. Braune Locken, die an die Farbe einer Kastanie erinnerten, wellten sich in der geschwächten Wintersonne leicht und fielen ihm sanft in das leicht gebräunte Gesicht. Ebenso braun waren seine Augen, die ihr einen gewissen Ernst und eine beängstigende Härte gezeigt hatten. Sie kannte diesen Ausdruck. Er erinnerte Haruka unwillkürlich an Aika, die nie unbeschwerte Kindheit gehabt hatte, und obwohl sie Kazuya nicht kannte, glaubte sie zu ahnen, dass auf seinen Schultern eine schwere Vergangenheit ruhte und er von jener noch heute gepeinigt wurde. „Ahh, den meinst du! Der sich so abfällig gegen Koordinatoren geäußert hatte! Tera hatte doch seinem Snobilikat eine Lektion erteilt!“ Das breite Grinsen Teras blitzte Haruka nun von der Seite entgegen, während Aika begann, zu kichern. Eine schöne Erinnerung, wie Tera Snobilikat das Tanzen beigebracht hatte. „Genau.“ „Und der war wirklich in Shin verliebt?“ „So hat es mir Shin erzählt“, bestätigte Aika mit einem knappen Nicken. Eine Weile schwieg Haruka, beeindruckt von der Tatsache, dass sie offenbar solche Tomaten auf den Augen gehabt hatte. Als sie auf ihn getroffen war, da war er bereits in Begleitung eines jungen Mannes gewesen, mit dem er sehr vertraut umgegangen war. Freundschaft war es nicht gewesen, wie es ihr rückblickend nun auffiel. „Jedenfalls, was ist jetzt mit Shuu?“ „Lenk doch nicht vom Thema ab!“, knurrte Haruka und zog es vor, erneut zu schweigen. Einerseits wollte sie sich endlich die Liebe zu Shuu eingestehen, denn es war schon lange mehr keine einfache, ja flüchtige Verliebtheit mehr, aber andererseits wehrte sich ein Teil ihres Verstandes oder Herzens dagegen. Sie, Shuu und Haruka, waren Rivalen und irgendwann standen sie sich erneut auf dem Kampffeld gegenüber. Wie soll sie dann mit ihren Gefühlen umgehen? „Du kennst doch Saori, oder?“, wollte Haruka wissen. Überrascht neigte Aika den Kopf, offenbar irritiert über den raschen Themenwechsel. „Die Saori, die beim Wettbewerb von Dukatia gegen Kouki gewonnen hat?“ „Genau.“ Haruka nickte leicht. „Und, was ist mit der?“ Haruka seufzte und dachte an das Festival in Kanto im vergangenen Jahr zurück. „Ach… Saori und ich haben damals darüber gesprochen, wie sie sich kennen gelernt haben. Dass er bei seiner ersten Niederlage geweint hat und-“ „Was? Der hat echt geflennt? Booo. Eine Runde Mitleid für den armen Kleinen“, unterbrach Aika und schniefte theatralisch. „Lass mich ausreden“, tadelte Haruka die Blonde scharf und pikste ihr die Seite. „Jaja, ich bin ja wieder still.“ Prüfend musterte Haruka ihre Freundin, die wortlos neben ihr im Bett lag und sie erwartungsvoll ansah. „Jedenfalls“, begann die Koordinatorin stockend, „hat Saori mir erzählt, dass Shuu niemals Ratschläge von anderen annimmt und stattdessen sprechen sie oft über andere Koordinatoren.“ „Das passt zu ihm! Auf anderen herumhacken, aber selbst Kritik annehmen? No way!“ „Wolltest du nicht still sein?“, mahnte Haruka erneut, während Aika in Folge dessen mit ihrer Hand andeutete, den Mund zu verschließen. Zufrieden fuhr das Mädchen fort: „Irgendwann begann er ständig nur noch von mir zu reden. Sie sagte, Shuu hätte sich in mich verliebt.“ „Du machst dir Hoffnung, dass er immer noch etwas für dich empfindet? Das ist über ein Jahr, Haruka. Gefühle ändern sich. Bestimmt auch von diesem ignoranten Selleriekopf. Vielleicht hat er schon längst ‘ne Neue angegraben.“ „Okay, er ist manchmal ganz nett“, gab Haruka zögerlich zu, „und er ist charmant.“ Sie lächelte sanft. „Und wenn er lächelt, dann bekommt er so süße Grübchen an den Wangen. Total niedlich“, fügte sie leise lachend hinzu und wandte Aika den Blick zu, die noch immer nicht davon absah, zu grinsen. „Trotzdem ist er ein Idiot.“ „Du bist ja total verknallt.“ „Ach, lass mich doch in Ruhe“, grummelte Haruka. „Ich geh jetzt schlafen. Morgen hab ich einen Wettbewerb zu gewinnen.“ Sie erhob sich aus Aikas Bett und schritt zu ihrer Schlafstätte hinüber. Ihren belustigten Blick spürte Haruka deutlich in ihrem Rücken, nahm aber anschließend durch einen Spiegel an der Wand wahr wie Aika sich ebenfalls aufrichtete, sich durch das platt gelegene Haar strich und ins Bad ging. Während Haruka schweigsam zur Zimmerdecke starrte und versuchte in den Schlaf zu finden, erfüllte das Dröhnen des Föhnes die nächtliche Stille. Grimmig zog sie die Bettdecke über den Kopf und dachte über das soeben beendete Gespräch nach. Natürlich ärgerte sich das Mädchen, obwohl es wusste, dass Aika mit ihrer Äußerung im Recht war. Durchaus war es möglich, dass sich Shuus Gefühle verändert hatten und er nur noch Abscheu für sie empfand, dennoch hoffte ihr Herz, dass dem nicht so war. Neben ihr erklang irgendwann das vertraute Geräusch von einer raschelnden Bettdecke. „Sagst du mir eigentlich noch, was du mit der Wette bezwecken wolltest?“, kam es flüsternd aus der Dunkelheit. Haruka wandte den Kopf in die Richtung, in der sie Aikas vagen Schattenriss erahnte. „Das wirst du noch früh genug erfahren.“ Sie genoss die darauffolgende Stille. Kapitel 8: Der Wille zu siegen ------------------------------ Tosender Applaus brach dem Mädchen entgegen, als es auf die Bühne trat. Schritt für Schritt ging sie vorwärts, den Kopf stolz empor gereckt und vom rhythmischen Takt ihrer eleganten Sandaletten begleitet. Über ihre Schultern wallten sich ihre braunen Haare, welche sich leicht lockten und im Scheinwerferlicht matt glänzten. Gekleidet war die junge Koordinatorin in einem weinroten Cocktailkleid, das ihr bis zu den Knien reichte und keine Träger hatte. Eine Schleife war unterhalb der Brust angesetzt, während kristallene Ornamente den leichten, mehrschichtigen Stoff, der beinahe transparent war, verzierten. Schon lange verspürte Haruka keine Nervosität mehr, wenn sie vor einem Publikum stand. Kein Zögern verrieten Zweifel an ihrer Entschiedenheit. Ihr Traum hing von diesem Augenblick ab. Sie durfte nicht zögern und ihre Unsicherheit zeigen. In völliger Ruhe ließ die Koordinatorin deshalb den Blick durch die Zuschauerreihen schweifen, die aufbauschende Stimme der Moderatorin ignorierend. Gewiss beherrschte jene Frau, die in eine weite Abendtracht gewandet war, ihr Handwerk. Eines Sturmes gleich peitschten sie die Männer und Frauen mit ihrem Enthusiasmus auf. Haruka aber versuchte sich von der Moderatorin abzuschotten. Stattdessen genoss sie das Gefühl im Scheinwerferlicht zu baden, erfreute sich an der Glückseligkeit der Menschen, die an diesem Tag den Weg in diese Hallen gefunden hatten, um diesem Wettbewerb beizuwohnen. Den Kopf senkend, schloss sie besinnend die Augen. Sie durfte nicht verlieren. Nicht wieder. Jene Genugtuung würde sie ihren Rivalen nicht gebieten. Ja, dieses Mal legte Haruka all ihr Können in die bevorstehende Vorführung, und sie vertraute auf ihre Pokémon, mehr als einem Menschen zuteilwerden mochte. Schließlich reckte Haruka ihr Haupt. Entschlossenheit war in ihren Blick getreten, während ihre Finger sich um zwei Kapseln legten. Einen Herzschlag lang zögerte sie den Auftakt hinaus, beobachtete aufmerksam die Menschenmassen, die ihr angespannt entgegen blickten. Natürlich vermochten auch sie zu erahnen, welche Last auf ihren Schultern ruhte; das Privileg am Festival teilnehmen zu dürfen. Nicht viele Tage waren seit ihrer letzten Niederlage vergangen. Dann legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen und dachte daran, jene Menschen glücklich zu machen. Es war ihr oberstes Ziel, das sie sich an diesem Tag gesetzt hatte. „Eneco! Psiana! Stage On!“, erlöste Haruka das Publikum von der Qual des Wartens und grinste, wie ein erneuter Ansturm des Jubels über sie hinein brach. Nun aber brach sich das Licht in der gleißenden Flut der sich öffnenden Pokébälle und ließ die Halle in flackerndem Glanz erstrahlen, die wellengleich vom roten Juwel der Lichtkatze ausgingen. Sich um ihre eigenen Achsen drehend, landeten die Katzen leichtfüßig auf ihren Pfoten, während das matte Licht allmählich verlosch. So verging auch jenes schwache Funkeln, das Enecos und Psianas Fell schimmern gelassen hatte. Mit der Arroganz, die Königinnen gleichkam, musterten die Damen das Publikum. Die Schmeicheleien, die ihnen entgegen gebracht wurden, gefielen den stolzen Katzenseelen. Freilich behielten sie Recht. Sie waren sicherlich die schönsten Katzen ganz Johtos. Dann wandten Eneco und Psiana ihre Augen von den Zuschauern ab und sahen ihre Trainerin ernst an, für die es galt all ihre Kraft aufzuwenden. Ihr Traum war auch der Traum ihrer Pokémon. Daher zollten Eneco und Psiana dem Mädchen großes Vertrauen. „Seid ihr bereit?“ Gereizt maunzten die Katzen eine bejahende Antwort und tadelten Haruka mit ihren verengten Pupillen. Welch törichte Frage! Würden sie an ihrer Seiten sein, wenn sie nicht bereit wären, um dieses letzte Band zu kämpfen?! Kaum merklich schüttelte Psiana amüsiert das Haupt. Menschen! Knapp nickte Haruka. „Psiana! Deinen Sternschauer!“ Auf diesen Befehl hatte die Lichtkatze bereits gewartet, die nun anmutig den Kopf in den Nacken warf und sich mit einem eleganten Sprung in die Lüfte begab, den geteilten Schwanz wie den Schweif eines Kometen nach sich ziehend. Schwache Funken zuckten und schwebten um sie herum, die binnen weniger Sekunden die Gestalten hunderter Sterne annahmen. Das Rampenlicht reflektierte ihren Schein und ließ sie in einem wundersamen Glanz erstrahlen. Als die Gebieterin entschlossen miauend das Haupt ruckartig zur Seite drehte, schickte sie jene wie Geschosse herab. „Beschleunigen und Psychokinese!“ Fauchend stürzte sich Psiana blitzschnell zu Boden und drohte auf dem zum Hochglanz polierten Parkett auszurutschen, als ihre Pfoten auf dem Untergrund nach Halt suchten. Nur ihren langen, spitzen Krallen hatte Psiana zu verdanken, dass sie nicht hart aufprallte. Doch all das, die entsetzten auf ihr ruhenden Blicke der Zuschauer, gehörte zum Business, und jagte der Katze jedes Mal das Adrenalin durch die Venen. Ihr gefiel es, wenn die Menschen ihren Atem anhielten und ihre Augen von ihrer fesselnden, wilden Schönheit nicht abzuwenden vermochten. Es schmeichelte lieblich ihr Katzenherz. In einer fließenden Bewegung richtete sich Psiana auf. Eneco wirkte plötzlich so unbedeutend. Ihren zierlichen Leib streckte die Lichtkatze und stellte die Schnurrhaare energisch nach vorne, während ein demütiges Funkeln die Bühne in ein sanftes, schauerliches Licht tauchte. Mit aufblitzenden Augen löste sich eine mystische Kraft aus ihrem Körper, eine Aura, die von Geisterhand geführt den Sternhagel auffingen und mit dem sanften Neigen des Kopfes einen Kreis bildeten, in dessen Mitte die anmutige, stolze Katze sich auf die Hinterbeine niederließ. Wie eine Marionettenspielerin kontrollierte sie die sternhaften Formen, die willenlos in der Luft rotierten und einen zarten Staub abgaben. Regungslos, bloß der Schweif zuckte unbewusst hin und her, verweilte das Wesen dort, ihren starren Blick auf die Zuschauer gelegt. „Jetzt bist du an der Reihe“, holte Haruka Eneco aus der Anspannung, welche bereits duldsam neben Psiana ausgeharrt war und den Schwanz erregt durch die Luft peitschen ließ. Einer Sprungfeder gleich war Eneco in die Höhe geschnellt. „Kraftreserve!“ Sich zur Konzentration mahnend, drang Eneco in ihr tiefstes Bewusstsein ein, an die fremden Winkel ihres Wesens. Als wäre ihr Geist ein eiskalter Fluss, den es zu bezwingen galt, überwand sie sich und beschwor diese reine Energie aus den hintersten Winkel ihrer Gedanken und überließ sich wenige Herzschläge lang dem Strom der Kraft spendenden Macht in ihr. Wie eine machtvolle Strömung brach jene Energie aus dem Körper des Kätzchens hervor, drohte es hinfort zu spülen. Lichtkugeln entstanden aus dem Werk jener Bemühung, umkreisten im Takt mit den Sternen den Leib des Kätzchens und erlaubten ihm graziös in der Luft zu schweben. Selbstbewusst verzogen sich Harukas Mundwinkel zu einem siegesgewissen Grinsen, und sie bedankte sich bei den Göttern, dass sie kein böses Spiel mit ihr trieben. Vielleicht stand ihr sogar Lugia bei? Nun aber tasteten ihre Finger nach einem Beutel, den sie von ihrem besten Freund erhalten hatte, und holte einen glatten, von weißen Äderchen durchzogenen Stein hervor. Eine sanfte Kühle strömte aus seinem Inneren hervor und glänzte im Licht verheißungsvoll. Ja, eine Aura des Mysteriums umfing den Stein, das vermochte Haruka zu spüren. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf Eneco, das durch Kraftreserve getragen durch die Luft tanzte, und schloss ihre Finger sich um den Mondstein. „Aufgepasst! Fang, Eneco!“, lenkte Haruka die Aufmerksamkeit auf ihr Tun und schleuderte das seltene Mineral in die Höhe. In stummer Vorfreude das Maul geöffnet, schnellte das Kätzchen auf den Mondstein zu und bremste die Geschwindigkeit ruckartig in der Luft ab. Ihre Zähne schrammten über seine Oberfläche, als sie sich um das kühle Gestein legten. Kaum berührte Eneco den Stein, rann flüssiges Mondlicht durch ihre Adern, heiß und dennoch eiskalt. Enecos Körper strahlte von innen heraus, so grell und einnehmend, dass nicht einmal mehr ihre Konturen zu sehen waren. Den Kopf in den Nacken werfend und das Maul leicht geöffnet, nahm das Kätzchen das fast schmerzhafte Pulsieren ihres Leibes wahr, als sich Muskeln und Sehnen dehnten und streckten. Jeder wusste Bescheid, von welcher Energie die Katze ergriffen wurde. Ihre Form veränderte sich. Das kindliche Kätzchen wurde erwachsen, wuchs heran und erhielt einen anmutigen Körper. Das strahlende Mondlicht, welches noch immer Enekoros Gestalt absonderte, ließen auch die Energiekugeln silbern strahlen. Begeisterung brandete Haruka entgegen, die sie nur nebensächlich vernahm. Zu keiner Zeit ließ ihre Konzentration nach. Es wäre fatal, wenn sie eine Sekunde lang ihre Achtsamkeit vernachlässigte. Nun huschten ihre Augen auf die Lichtkatze, die noch immer nach ihrem Willen über den Sternenring gebot. Ihre Lefzen waren zurückgelegt, so als beschrieben sie ein schalkhaftes Grinsen. Die alles entscheidenden Sekunden brachen an, der Showdown begann! „Auflösen und Psystrahl!“ Das Juwel ihrer Stirn funkelte intensiver und der Schein, der an Kirschblüten erinnerte, wurde schon bald von einem regenbogenfarbenen Strahl durchbrochen. Fauchend drehte Psiana ruckartig den Kopf. Als zerschlüge ein Steinbrocken ein Glasfenster, traf der Psystrahl auf die mit Geisterhand geführten Sterne und ließ sie in abertausende Staubpartikel bersten, die glitzernd dem Erdboden entgegen rieselten. Die Hand zu Enekoro ausstreckend, kündigte Haruka an: „Und zum Abschluss Blizzard!“ Noch immer getragen von Kraftreserve, die allmählich an Intensität nachließ, schwebte die erwachsen gewordene Katze herab, und ihre Pfoten berührten den vertrauten Untergrund. Jetzt aber sammelten sich eisige Winde um Enekoros Leib, als sie die Energie des ewigen Winters in ihrem Bewusstsein herauf beschwor. Merklich kletterten die Temperaturen in der Halle in die Minusgrade, als ein klirrend kalter Windhauch Enekoro umwehte. Wie hauchdünne Nadeln stach die Kälte schmerzhaft in Haut und Haare. Ihr entfuhr ein Schaudern, ein schwaches Zittern, als sie Arktos‘ Atem zu spüren vermochte. Dennoch reckte Enekoro zufrieden ihren Hals und trotzte erhaben miauend dem Frost. In diesem Moment fiel regenbogenfarbener Sternstaub, der zu glitzernden Schneeflocken erstarrt war, auf das Publikum herab und entlockte den Zuschauern entzückte Laute. Die begeisterten Blicke der Anwesenden machten Haruka stolz, erfüllten sie mit Freude. Sicherlich hatte sie auch die Jury begeistern können! Sie verneigte sich und verließ mit einem optimistischen Lächeln die Bühne. „Damen und Herren, am heutigen Abend bekommen wir ganz exklusiv bereits einen Vorgeschmack auf das bevorstehende große Festival! Begrüßen Sie zu meiner Linken eine Koordinatorin, die bereits Höhen und Tiefen durchwandert hat - Haruka Minamoto!“ Haruka betrat die Bühne und schritt gelassen, aber zögerlich ins Rampenlicht. Scheu und Zweifel nagten einen Augenblick an ihrem Herzen, als sie angespannt dem Takt ihrer Pumps lauschte, den die Absätze auf dem polierten Parkett erzeugten, und doch dauerte diese Unsicherheit nur für einen vergänglichen Herzschlag lang an. Der Applaus des Publikums, die Jubelrufe, in denen sie ab und an ihren Namen wahrnahm, spendete ihr Kraft; Kraft, die sie bitter nötig hatte. Die Zweifel, welche zuvor versucht hatten, ihren Geist zu trüben, wurden unbedeutend; sie lösten sich im Nichts auf. Mit neu gewonnener Selbstsicherheit reckte Haruka das Kinn vor, denn ihr war bewusst, wer ihr das Band streitig machte. Ob sie aufgrund dieser Tatsache nervös oder entspannt sein sollte, vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu beantworten. Überrascht stellte Haruka fest, dass ihr jegliche Aufregung bei dem Gedanken sogar fernblieb. Erleichtert atmete sie aus, auch wenn ihr die wohl schwerste Prüfung noch bevorstand und ihr bewusst war, dass die Unruhe wie ein hungriges Tier irgendwo ihrem Geist innewohnte. „Und nun, meine werten Zuschauer, tritt an meine rechte Seite eine Persönlichkeit, die erst vor Kurzem die diesjährige Silberkonferenz in einem spektakulären Kampf für sich entschieden hat. Hier ist Aika Taylor!“ Wie ein gefeierter Popstar wurde Aika in der Arena empfangen. Einer Explosion gleich brauste das Publikum jäh auf, als sie aus den Schatten trat und sich mehrere Lichtkegel auf Aika richteten. Ein wilder Ansturm von lautem Beifall und Jubelrufen brandeten von jeder Seite an die junge Frau heran. Doch gingen sie im Echo des ohrenbetäubenden Geschreis und dem Kreischen unter, welche im Stadion widerhallten und Harukas Ohren schmerzen ließ. Mit federnden Schritten und empor gestreckten Armen schritt sie den Steg entlang. Ein strahlendes Lächeln erhellte ihre Gesichtszüge, als sie sich zu allen Seiten wandte und die Zuschauer mit Zurufen ihrerseits zu noch lauterem Begeisterungsstürmen motivierte. Ihr helles Lachen wurde vom Gejohle des Publikums vollkommen verschluckt. Schließlich erreichte Aika das Kampffeld und nahm ihren Platz Haruka gegenüber ein. Erst nach zahlreichen Aufforderungen vermochte die Moderatorin die tobende Menschenmasse zum Schweigen zu bringen. „Haruka, denk daran, über was wir gestern gesprochen haben“, sagte Aika lächelnd, als der Lärmpegel langsam erträglicher geworden war. Haruka nickte bloß. „Auf einen guten Kampf und möge der Bessere gewinnen!“ Eines flüchtigen Blickes schenkte sie nun dem Schauplatz Aufmerksamkeit: Ockerfarbener Sand war die Grundbeschaffenheit des vor ihnen liegenden Feldes, während spitze, breite und flache Felsen aus dem Erdboden empor sprießen; Behinderungen, die Haruka in ihren Manövern berücksichtigen musste oder Hindernisse, welche ihr zum Verhängnis werden konnten. „Erneut stehen sich zwei Freundinnen gegenüber. Wer vermag wohl zu gewinnen? Lasst uns beginnen!“, brauste Novia, die Moderatorin der johto’schen Wettbewerbe, erneut auf. Mit diesen Worten begannen die Sekunden von einem fünfminütigen Limit beständig abzulaufen. All den Funken Mut, den Haruka in ihrem Körper aufbrauchte, legte sie nun ihre Stimme. „Enekoro und Psiana!“ Zwei anmutige Katzen lösten sich aus der Lichterflut des Pokéballs und marschierten auf die Bühne. Sich auf den Boden setzend und die Pfoten leckend, wohnten sie scheinbar teilnahmslos der Situation bei. „Tsume und Malik, auf geht’s!“ Sogleich landeten die Kapseln auf dem Boden und enthüllten eine kolossale, gewiss drei Meter große Silhouette, welche ein markerschütterndes Brüllen ausstieß, um ihr imposantes Bild zu bekräftigen. Die panzerartige Haut war so schwarz wie die Nacht. Die scharfen Krallen, die roten Stoßzähne und der hin- und her zuckende Schwanz wirkten bedrohlich, wie das kalte Feuer, das in den Augen jenes Geschöpfes brannte. Beim genaueren Betrachten erinnerte jene Kreatur eher an einen urzeitlichen Dinosaurier als an einen Drachen. Harukas Erstaunen hielt sich, im Gegensatz zu den wunderlichen Rufen der Zuschauer, in Grenzen, denn sie wusste um Aikas vielfältigen Besitz an Pokémon. Schließlich war die junge Frau bereits seit sechs Jahren in der Weltgeschichte unterwegs. Doch als das zweite Pokemon gerufen wurde, da stutzte auch Haruka einen Herzschlag lang. Malik – so war der Name des jungen Mauzis, das sie von einem Flüchtlingsjungen namens Tarek geschenkt bekommen hatte. Als sie das Junge das letzte Mal gesehen hatte, war der kleine Kater noch ein recht kleines Mauzi, welches kaum Kampferfahrung hatte. Konnte es möglich sein? Es war der graziöse Leib eines Pumas oder Löwen, welcher seiner Trainerin nun an die Hüfte reichte. Das zuvor an der Stirn prangernde Gold war nun zu einem runden, ja leuchtenden Juwel geworden. Pfote vor Pfote setzend schritt das Snobilikat vorwärts. Bei jeder Bewegung spielten die Muskeln unter dem seidenglatten Fell. Psiana und Enekoro blickten auf und warnten fauchend die eindrucksvolle Raubkatze eindringlich einen Fehler zu begehen. Die rund gewordenen Ohren, die ebenfalls an einen Puma oder Löwen erinnerte und von einer schwarzen Zeichnung hervorgehoben wurden, zuckten bloß. Maliks rechte Lefze hob sich arrogant. Durch Aika hatte Haruka eine wichtige Lektion gelernt: Dass sie, bevor sie ihren Gegner leichtsinnig angriff, stets mehr über Mensch und Pokémon in Erfahrung bringen sollte. Da sie über Snobilikat kaum etwas wusste, musste sie behutsam vorgehen, um Maliks Können zu ergründen. Daher wartete sie, bis Aika sich entschloss, den ersten Schritt zu wagen. „Macht euch bereit“, warnte Haruka ihre Pokémon, die nicht beabsichtigten, unaufmerksam zu sein. Während Psiana und Enekoro leicht in die Hocke gingen, spannten sich die Muskeln in ihren Leibern an, und sie bleckten kämpferisch die Zähne. Sie waren bereit, mehr als das, sie brannten darauf, zu kämpfen. „Wenn du nicht angreifst, greife ich an!“, sprach Aika. „Beide Schlitzer!“ Maxax und Snobilikat stürmten so rasch vor, dass sich Harukas Gedanken zu überschlagen drohten. Der dinosaurierartige Drache stürzte sich brüllend mit gespreizten Klauen vor, während Malik sich mit einem kraftvollen Sprung geschmeidig in die Luft begab. Dann fuhr er fauchend auf Psiana nieder. „Ausweichen!“, befahl die Brünette dennoch ruhig, was in dieser Situation angemessen war. „Psiana, ab in den Untergrund mit dir! Enekoro, Kopfnuss gegen Snobilikat und folge danach Psiana!“ Der sandige Boden war weich, sodass die Lichtkatze kaum Probleme hatte, um in der Erde Zuflucht zu finden. Geduldig wartete sie auf Enekoros Ankunft in ihrem gemeinsamen Versteck und sehnte sich nach dem nächsten Befehl ihrer Trainerin. Mit zurückgelegten Lefzen und einem wütenden Zischen sprang Enekoro Snobilikat entgegen, unterwanderte den Krallenhieb und stieß frontal mit ihm zusammen. Durch die Wucht des Aufpralls und des Größenunterschieds wurde die kleinere Katze zurückgeschleudert, landete aber unversehrt auf allen Vieren. Sie bleckte fauchend die Zähne, kehrte aber dem Kater den Rücken zu und zog sich dann ebenfalls ins von Psiana gegrabene Loch zurück. Vielsagend verzogen sich Aikas Mundwinkel zu einem Grinsen, welches Haruka das Gefühl gaben, dass ihre Entscheidung im Untergrund eine Zuflucht zu geben, falsch war. „Erdbeben!“, lautete bloß der einfache Befehl, der alle Farbe aus dem Gesicht weichen ließ. Verdammt! „Schnell, raus da!“ Doch es war zu spät. Tsumes massiger Schwanz schlug hart auf dem Boden auf und verursachten ein leichtes Vibrieren, das stärker wurde und die Intensität anschwellen ließ. Haruka nahm die Erschütterungen deutlich wahr und vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten. Psiana und Enekoro flüchteten rasch aus ihrem Versteck, sichtlich gebeutet von den Erdstößen, die Maxax unentwegt in den Untergrund sandte. Irgendwann ließen Bewegungen nach und das Beben verstummte. Harukas Katzen keuchten und klagten ihren Unmut. Diese Unachtsamkeit würden die beiden Haruka sicherlich noch lange verübeln. „Was für ein herber Schlag, meine Freunde! Ob sich Harukas Pokémon von diesem Treffer erholen können?“, schrie Novia dröhnend ins Mikrofon. „Reißt euch zusammen!“, fuhr Haruka in ihrer Nervosität ihre Pokémon an, die sie funkelnd betrachteten. Mit jener stummen Drohung wandten sich Psiana und Enekoro ab, ihre glühenden Blicke auf den Drachen und Snobilikat gerichtet. „Psiana, umgib dich mit einem Sternschauer“, wagte die Brünette einen weiteren Angriff, „und Enekoro, Blizzard!“ Die lavendelfarbene Katze war in einem Schein gehüllt, der an Kirschblüten erinnerte. Das Juwel ihrer Stirn funkelte und schon bald durchstachen Energiefunken diesen Schein, während ein eisiger Odem Enekoros Maul entfuhr. Psiana lenkte die aus Lichtenergie geborenen Sterne wie eine Barriere um ihren Leib, der zu keiner Zeit zuließ, dass eine Lücke in ihrer Verteidigung entstand. Erst als der kühle Atem Arktos‘ die Temperaturen in der Arena ungemütlich machte, entfesselte die Lichtkatze die Kraft des Sternschauers. Das Glühen der Sterne erkaltete im eisigen Blizzard. Sie glänzten bloß matt und schwach, doch minderte es nicht die Kraft, die ihnen innewohnte; warme Energie, welche wie eine lodernde Flamme glühte, gefangen in einem Gefängnis aus Eis. Wie scharfe Wurfmesser durchschnitten sie die Luft und trafen aus allen Himmelsrichtungen Maxax und Snobilikat, die sich gegen den Schneesturm stemmten, um nicht fortgerissen zu werden. Dem unerwarteten Sternenhagel hatten sie zu spät wahrgenommen, um diesem entgegen zu wirken. „Nicht schlecht“, lobte Aika die Leistungen ihrer Freundin, nachdem das Tosen des Blizzards sich gelegt hatte. Haruka lächelte. „Danke für die Blumen. Eisenschweif, Psiana!“ „Drachenrute!“ Ein stählerner Schweif traf auf einen panzerbewehrten Schwanz, der mit solcher Wucht aufprallte, dass der Schmerz durch Psianas Leib vibrierte. Mit schierer Leichtigkeit, als wäre die Lichtkatze bloß ein Fußball, schleuderte Maxax Psiana über das gesamte Feld. An der gegenüberliegenden Wand fand der Höhenflug schließlich ein Ende, und sie schlug hart auf dem Boden auf. „Malik, das ist unsere Chance - Finsteraura!“ „Enekoro, tu doch was! Zuschuss!“ Sich auf das Schicksal zu verlassen, entspannte Haruka auf eine groteske Art und Weise, obwohl der Schweiß ihr von der Stirn rann, und auch das Publikum verstummte und vermochte bloß aufmerksam auf das Geschehen zu starren. Nur Novia durchbrach diese Ruhe, die Ruhe vor dem Sturm. „Da hat sich Haruka wohl in der Attacke vertan! Ob es das gewesen war?“ Einen Herzschlag schloss Haruka die Augen, hoffe, nein betete, dass dem nicht so war. Als sie wagte, ihre Augen wieder zu öffnen, sammelte Enekoro einen glühenden Feuerball in ihrem Maul, der beständig größer wurde. Dann entfesselte die Katze fauchend diese Macht, die sie sonst nicht zu kontrollieren wusste, und eine Spirale aus Flammen legte sich um Snobilikats Körper. Jenem Tornado vermochte der Kater nicht zu entkommen. „Du hast Tsume vergessen – Drachenklaue!“, erinnerte Aika ihre Freundin an den Drachen, der wie ein furchteinflößendes Monster vor Psiana aufragte. In blutiges Licht wurde die rechte Pranke gehüllt, die Tsume leicht spreizte. Ein unheilvolles Knurren entrann sich dem Drachenweibchen. Dann sauste die Klaue herab. „Psychokinese!“, reagierte Haruka geistesgegenwärtig. Mit geschlossenen Augen und einem gellendem Miauen brachte Psiana erneut ihr Stirnjuwel zum Glühen. Es war auf den Drachen gerichtet, welcher augenblicklich zum Stillstand kam. Wenige Zentimeter lagen zwischen Maxax‘ Klauen und Psianas Stirn. In der Luft schwebend und um sich tretend, wirkte Maxax weniger beängstigend als zuvor. Mit einer raschen Kopfbewegung wirbelte Psiana ihren Gegner durch die Luft, wie eine Marionette steuernd auf die harte Wand zu. Es war ein befriedigendes Gefühl, beide Pokémon ihrer Konkurrenz am Boden liegen zu sehen, wenngleich es die Gefährten ihrer besten Freundin waren. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Haruka, dass sie noch genügend Zeit und vor allem noch ausreichend Punkte hatte. Es waren erst eineinhalb Minuten vergangen. „Jetzt steht es wohl 1:1, unentschieden“, stellte Aika zufrieden fest, während sich ihre Pokémon wieder auf die Beine bemühten. Snobilikat und Maxax schwankten zwar, aber sie waren soweit unversehrt, wenn man von dem verrußten Fell des Pumas absah. „Wow, was für ein Comeback!“, kreischte Novia begeistert. „Mit diesem wunderbaren Konter hat Haruka wieder Mal bewiesen, dass alle Zweifler ihren Mund halten sollten! Noch ist alles offen, Damen und Herren!“ „Dunkelklaue auf Psiana!“, war nun der nächste Befehl seitens Aika. „Tsume, gib Malik Rückendeckung!“ Die Drachin grollte zustimmend. Dann federte Malik vom Boden ab, den rechten Arm in vollkommene Finsternis tauchend. „Eisenschweif!“ Schwarze Klauen trafen auf einen stählernen Schweif. Sie verhakten sich in dem am Ende gespaltenen Schwanz der Lichtkatze und rissen sie unsanft zu Boden. „Jetzt greifen wir aber wirklich an – Dunkelklaue, Malik!“ „Enekoro!“ Aber Enekoro vermochte ihrer Gefährte nicht zur Hilfe zu eilen. Maxax schnitt der kniehohen Katze den Weg zu ihrer Freundin ab, im Maul einen azurblauen Energieball formend. „Psiana, Spukball!“ Es war eine aussichtslose Situation, denn ihr war bewusst, dass Spukball nichts gegen ein Snobilikat auszurichten konnte, nur aufhalten. Und doch schien das schattenhafte Gebilde, das die Lichtkatze im Maul geformt hatte, Snobilikat die Stirn bieten zu können. Wie konnte das sein? Dazu war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn Enekoros Schrei durchschnitt schmerzerfüllt die Luft. Blaue Flammen tanzten um ihren Leib, die allmählich verloschen, aber Enekoro mit leichten Wunden brandmarkten. Keuchend erhob sich die beigefarbene Katze tapfer. „Tsume, lass die beiden mal tanzen – Steinhagel!“, sprach Aika ruhig und sah anschließend zu Malik, welcher bereits seinen Befehl geduldig erwartete. „Und du, nutze die Steine um Geschwindigkeit aufzunehmen!“ Riesige Felsbrocken lösten sich aus der Erde, so als risse die Drachin Stücke des Urgesteins aus seinem angestammten Platz. Ein Schlag folgte. Und dann kündigten Kerben an, dass jenes Gestein in Bälde an den gefährdeten Stellen brechen würde. Aus winzigen Furchen wurde Rissen, die von Unheil kündeten. Schließlich tönte ein geräuschvolles Knacken, und der Felsen splitterte und eröffnete ein Gesteinsregen. Snobilikats wendiger Körper bewegte sich geradezu tänzelnd im Steinschlag; mal sprang der Kater leichtfüßig auf einen Fels zum anderen, dann wich er geschmeidig ihnen aus. Unaufhaltsam näherte sich der Puma den Katzen, die sich furchtsam gegen die Wand pressten. „Setzt euch zur Wehr! Eisenschweif, beide!“ Glanzvoll leuchteten ihre Schweife, von einem silbernen Schein überzogen. Sie erstarrten und wurden zu eisernen Schwertern, die mühelos die Steinbrocken entzweiten, so als bestünden sie aus einer weichen Materie. Dann sahen sich Enekoro und Psiana plötzlich Snobilikat gegenüber. „Schlitzer!“ „Psychokinese, schnell!“ Demütig funkelte das Stirnjuwel, als sich das Licht darin brach; ein Strahlen, das die tiefste Dunkelheit durchstach. Entschlossen drang Psiana tief in ihr Bewusstsein ein, an das lange behütete Wissen. Von jener Kraft, die ihrer Seele innewohnte, ließ sie sich fortreißen, getragen vom Strom ihres Geistes, und beschwor diese verborgene Macht. Unwillkürlich nahm Haruka einen schwachen Luftzug wahr, der mit sanft mit ihren Strähnen spielte. Und doch war diese urtümliche Kraft anders, denn sie entzog sich Psiana, schien ihren Pfoten zu entgleiten. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie zwar Snobilikats Energien wahr, seltsam verzerrt und unwirklich, die auseinander stoben, sobald die Lichtkatze nach ihnen zu greifen gedachte, so als wäre der Kater in weite Ferne gerückt. Zu spät kehrte Psiana in die Wirklichkeit zurück. Scharfe Krallen bohrten sich in ihren Leib, rissen furchtbar brennende Wunden, den heißen Atem ihres Feindes im Nacken verspürend. Unerwartet wurde das Gewicht, das zuvor auf ihren Körper gelastet hatte, fortgerissen. Der schreckliche Schmerz blieb, ihr Fell vom Blut verklebt und schändlich verschmutzt. Ihr Stolz war gebrochen. Furchtsam suchten Psianas Augen unruhig das Feld nach Snobilikat ab, demjenigen, der ihrer Psychokinese widerstanden hatte. Angst und Entsetzen kämpften in den Seelenspiegeln des gepeinigten Geschöpfes um die Vorherrschaft. Doch die Angst gewann diese Schlacht. Erschüttert starrte Haruka auf das Geschehene. Angespannt wanderten ihre Blicke auf Aika, die sie forsch angrinste. Letzten Endes zerrte Novia die Koordinatorin aus ihren Gedanken. „Damen und Herren, es ist eine große Überraschung für uns alle. Wie kann das möglich sein?“ „Es bleiben nur noch drei Minuten“, wies Aika ihre Konkurrentin auf die fortgeschrittene Zeit hin. „Wir sollten uns beeilen, nicht wahr? Haruka nickte langsam, ihr Verstand noch immer über jenes Rätsel grübelnd. „Psiana“, sprach sie ihr geschwächtes Pokémon an, welches sich ihrer Trainerin zuwandte. Psianas Blick war müde, schmerzverzerrt und von Furcht erfüllt. Haruka konnte es ihr nicht verdenken, und doch setzte sie all ihre Hoffnungen auf Psiana und Enekoro. Dieses Vertrauen spürte die Gefährtin, denn ein unsichtbares Band bestand zwischen ihnen. Die Lichtkatze raffte sich auf die Pfoten, streckte vorsichtig ihren Körper und stellte fest, dass der Schmerz nicht weichen wollte. Grollend nahm sie die Wunden hin. „Tsume, Erdbeben!“ „Enekoro, Sandwirbel und Mogelhieb!“ Haruka reagierte rasch. Weitere gewaltige Erdstöße würden ihre Niederlage endgültig besiegeln und soweit wollte sie es nicht kommen lassen. Fürchterlich war Maliks Kreischen, als aufgewirbelter Sand gezielt in seine Augen geschleudert wurde und dieser sein Sehvermögen trübte. Enekoro war flink auf ihren Pfoten. Sie täuschte einen Angriff auf Snobilikat vor, drückte diesem die Tatzen ins Gesicht und entwischte dem Kater mit zurückgelegten Lefzen, als stellten sie ein Lachen dar. Dann preschte die Katze weiter auf Maxax zu. Ein gezielter Hieb ihres Schweifes brachte die Drachin aus dem Gleichgewicht, und es schien, als wäre Maxax erschrocken über jenen raschen Angriff, den Snobilikat zuvor zu vereiteln gedachte. Elegant landete Enekoro wieder auf ihren Pfoten, besah sich dem übermächtigen Drachen eines Blickes, der einer Königin würdig war. Arrogant hob sie die linke Lefze. Wütend ertönte ein Fauchen, und da fuhr Enekoro erschrocken um, als Snobilikat über ihr stand. „Psiana, Ruckzuckhieb!“ Mit aller Wucht rammte Psiana den Puma fauchend zur Seite. Sie kratzte und biss wie ein Berserker, der sich für all seinen Schmerz an seinem Peiniger rächen wollte. Schnaufend wich die Lichtkatze schließlich zurück, japste nach Luft und fühlte sich entkräftet. Als Haruka Snobilikat entgegen sah, durch Psianas Wutanfall zahlreiche Verletzungen davon tragend, schreckte sie einen Herzschlag lang zurück. Ein furchterregendes Funkeln lag in den Augen des Katers. Sie glühten förmlich, kalt und hasserfüllt. Eine boshafte Aura nahm von Snobilikat Besitz, so grell und einnehmend, dass Haruka glaubte, diese zerstörerische Wut vermochte das gesamte Stadion in Schutt und Asche zu legen. Eine Welle purer schwarzer Energie breitete sich binnen weniger Sekunden aus und stellte alles Dagewesene in den Schatten. Wie ein Sturm peitschte sie Psiana und Enekoro entgegen, die jener nicht standhalten konnten. All die Wunden forderten nun den Tribut, den Psiana zu zahlen hatte. Unter der Last der Schwäche brach die Lichtkatze zusammen, während ihrer Kehle ein erleichterter Seufzer entglitt. Vor ihren Auge wurde es schwarz, tiefe Dunkelheit. Gleichsam ertönte ein schriller Laut, der Psianas Niederlage einen bitteren Geschmack verlieh. „Wahnsinn! Psiana hat es eiskalt erwischt! Für Haruka wird es eng. Ob sie soeben ein Déjà-vu erlebt?“ Wie erstarrt blickte die Koordinatorin das Snobilikat an, das die Lefzen zu einem wütenden Fauchen zurückgelegt hatte. Enekoro erwiderte diese Drohgebärde. Dann schritt Haruka zu ihrer Gefährtin, nahm sie liebevoll auf den Arm und trug sie an den Rand des Kampffeldes. „Du hast gut gekämpft“, raunte sie der Lichtkatze zu, die sich eng an Haruka kuschelte und erschöpft die Augen schloss. Schließlich konzentrierte sich das Mädchen weiterhin auf den Kampf, den nun schwieriger war als zuvor. Ihre Kehle fühlte sich vor Sorge rau und trocken an. „Drachenrute!“ Trotz des schweren Körper stürmte Maxax rasch vorwärts, direkt auf Enekoro zu, das sich leicht in die Hocke begab und über den Drachen hinweg sprang. Ein Krater zeichnete sich am Boden ab, an dem zuvor der Schwanz aufgeschlagen war. Sanft landete die Katze wieder auf den Pfoten und blickte zurück. Ihr energisches Miauen riss Haruka aus ihrer Lähmung. „Tsume, es ist Zeit für deine Drachenklaue, beenden wir es!“ „Ausweichen!“, befahl Haruka geistesgegenwärtig, während sich ihre Gedanken noch immer um eine Lösung des Rätsels bemühten. Zuerst war der Kater in rasendem Tempo gewachsen und zu einem jungem, starken Snobilikat herangereift, dann vermochte Psiana mithilfe des Spukballs Snobilikat zu treffen, was normalerweise nicht sein durfte. Schließlich fanden die geheimnisvollen Kräfte der Lichtkatze keine Wirkung und anschließend beherrschte der anmutige Kater eine solch machtvolle Attacke, die Haruka bisher nur einmal beigewohnt hatte… Rötlich schimmerte die rechte Pranke des hünenhaften Pokémons, welches nicht zögerte, seinen Konkurrent zu attackieren. Mit aufgerissenem Maul stürzte Maxax voran, die wie Blut überzogene leuchtende Kralle schräg angewinkelt. Ihrer Flinkheit hatte Enekoro zu verdanken, dass sie jenem Angriff entgehen, denn sie federte sich im letzten Moment leichtfüßig vom Boden ab und sprang über Maxax‘ Haupt hinweg. „Lass es nicht entkommen, Malik, Schlitzer!“ Kraftvoll drückte sich das Snobilikat vom Boden ab, elegant und totbringend zugleich, denn die Lefzen entblößten scharfe Reißzähne. Die Krallen, die sonst in den Pfoten verborgen waren, stellten eine ebenso bedrohliche Waffe dar, die bloß darauf wartete, Enekoro zu verwunden. Doch die Katze dachte nicht daran, zu unterliegen. Rasch entglitt sie dem Kater, indem sie diesem den Schweif ins Gesicht schlug, und die nachfolgende Irritation für sich nutzte. Nur den harten Aufprall nahm Enekoro mit einem triumphierenden Maunzen wahr, während Snobilikat sich auf die Beine raffte und ein drohendes Fauchen ausstieß, so als ob der Puma die Kontrahentin für ihr Vergehen eine Warnung aussprach. Ich habe diese Attacke schon mal gesehen, wiederholte sich der Gedanke innerlich, und plötzlich war es da, dieses verzerrte Bild vor ihrem geistigen Auge. Nachtflut – so hieß der Name jener machtvollen Attacke, die bloß ein Pokémon auf dieser Welt beherrschte, soweit sie von Aika Bescheid wusste: Zoroark. Da fiel ihr auch die besondere Fähigkeit jenes Pokémons ein, die dem Schattenfuchs erlaubte, jede beliebige Gestalt eines Pokémons anzunehmen. Zoroark hatte die Form eines Snobilikats angenommen, um sie und alle Anwesenden im Stadion zu täuschen. Eine wahrlich meisterhafte Taktik, die Aika gewählt hatte, um sie zu verunsichern. Die Strategie war ihr gelungen, denn nun war Psiana am Boden; Enekoro oblag nun die Pflicht, diesen vermeintlich ausweglosen Kampf noch für sich zu entscheiden. Doch wie löste sie den Zauber, der über Zoroark herrschte? Ob es ihr und Enekoro gelang, wusste Haruka nicht. Aufgeben wollte sie nicht, nicht den Traum am Festival teilnehmen zu können. „Nutzen wir die Chance, Tsume! Drachenklaue!“ Zufrieden sah Aika ihrer Freundin und Rivalin entgegen, dass ihr Bluff erfolgreich gewesen war und Haruka verunsichert hatte. „Malik, gib Tsume Deckung!“ Protest flackerte in den Augen des Snobilikats und die Lefzen waren zu einem lautlosen Knurren verzogen, während der Wille zum Ungehorsam mit der Treue zur Trainerin miteinander focht. Der Puma, der in Wahrheit scheinbar im Pelz eines Zoroarks gehüllt war, zögerte. „Mach schon!“, wies Aika das Pokémon zwar ungeduldig, weder grob noch freundlich, zu recht. Als Snobilikat widerwillig die Ohren seitlich anlegte und die Zähne bleckte, stellten sich die Schnurrhaare des Katers angriffsbereit nach vorne. Dann gehorchte Malik und setzte verärgert fauchend Maxax nach, doch anstatt wie befohlen Tsume zu schützen, rempelte Snobilikat die Drachin an, und Maxax drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Tsume unterlag der Schwerkraft und fiel krachend zu Boden, während der schlanke Puma elegant über das unerwartete Hindernis hinweg sprang. Hernach stürmte der Kater auf Enekoro zu, das verärgerte Rufen seitens des Publikums ignorierend. Aufgebracht fuhr die schlanke Kätzin fauchend herum, die Muskeln unter dem sandfarbenen Fell angespannt und die Krallen aus den samtigen Pfoten ausgefahren, bereit jene über Snobilikats Gesicht zu ziehen. „Abwehren mit Eisenschweif!“, lautete Harukas geistesgegenwärtiger Befehl, als sich Finsternis um Snobilikats rechte Pranke legte. Jene war in tiefe Schwärze gehüllt und erinnerte Haruka unwillkürlich an Dunkelklaue, doch war sie anders. Diese Dunkelheit - sie war erfüllt von abstoßender Kraft, die das Mädchen erschaudern ließ. Enekoro folgte Snobilikat - oder sollte Haruka eher Zoroark sagen? – in die Höhe, während ihr Schweif von einem silbernen Glanz ergriffen wurde. Die Konfrontation war unvermeidlich, denn die Rivalen holten mit einem entschlossenen Kriegsschrei zu ihrem vermeintlich finalen Schlag aus und hatten dabei die Schnelligkeit und Kraft des anderen unterschätzt. Und so trafen Snobilikat und Enekoro mit voller Wucht frontal aufeinander, mitten im Gesicht ihres Widersachers. Mit einem dumpfen Knall krachten sie stöhnend auf den Boden, und Haruka glaubte sogar, ein Knacken wahrnehmen zu können. Während Enekoro den Sturz abzufedern vermochte, war das Glück dem Pumakater nicht gnädig gewesen: Snobilikat war unglücklich auf sein Rückgrat gefallen. Die rettende Drehung war ihm letztlich doch misslungen und konnte sich nur unter Schmerzen auf die Pfoten erheben. Jene verminderten jedoch keinesfalls seinen Kampfgeist. Kaum hatte sich das Raubtier aufgerichtet, legte das Zoroark, getarnt im Fell eines Snobilikats, die Lefzen zurück und fauchte warnend. Erleichtert atmete Haruka auf, warf einen schnellen Seitenblick auf die Uhr und nahm nebensächlich wahr, wie Maxax sich ebenfalls wieder empor stemmte. Ihr Blick blieb an dem Drachen haften. Sie konnte nur gegen einen Gegner bestehen. Aikas Zoroark war ohnehin ein Einzelgänger, das wusste Haruka. Tsume war ihm sowieso ein Dorn im Auge, welcher es zu beseitigen galt. Der Schattenfuchs würde es zu Aikas Leidwesen gewiss bevorzugen, Mann gegen Mann zu kämpfen – oder genauer gesagt Mann gegen Frau. Vor bereits längerer Zeit hatte Aika ihr die unterschiedlichen Stärken und Schwächen der zahlreichen Elemente ausführlich erklärt, und Haruka versuchte sich fieberhaft zu erinnern, welche Typen besonders wirksam gegen Drachen waren. Das Mädchen wusste bloß, dass diese erhabenen Kreaturen außergewöhnliche Kräfte besaßen, die das Geschick anderer Pokémon weitaus übertrafen. Jener Stärken vermochten nur wenige Pokémon widerstehen, doch ihre Schwäche war… „Angreifen, Tsume, Drachenklaue!“, erscholl Aikas eindringliche Stimme und ließ Haruka aufmerken. Sie spürte die kraftvollen Erschütterungen, als Maxax auf Enekoro zu preschte. Während sie wie gelähmt näher kommen sah, blitzten unerwartet drei simple Buchstaben in ihren Gedanken auf, die des Rätsels Lösung verhießen und ein einfaches Wort ergaben: Eis. Ebenso rasch formten ihre Lippen den schlichten Befehl, der Maxax‘ Verderben verlauten sollte und Haruka den Sieg ein Stück näher brachte. „Blizzard!“ Ein kühler Frosthauch umhüllte den Leib der Katze, ein Tanz aus Schneeflocken hielt sie in eisigen Klauen. Klirrend kalte Eiskristalle bildeten sich in ihrem Fell, und jene spie sie dem Drachen entgegen, begleitet von ebenso frostigen Windstößen. Nichts konnte Maxax gegen das Erkalten seiner Gliedmaßen tun. Sanfter Pulverschnee bedeckte die Schuppen, ließ die Haut leicht blau schimmern und kündete von seiner Erstarrung. „Schnell, Eisenschweif!“ „Verhindere es, Malik!“, konterte Aika, woraufhin der Pumakater einen dunklen Energieball formte, der von einem nebelhaften Dunst umgeben war, obwohl ihm bewusst war, dass jene Attacke keine Wirkung zeigen sollte. Doch die Kätzin schien sein Vorhaben zu ahnen, dass jener Angriff bloß einem Verzweiflungsakt gleichkam, um das Unvermeidliche zu verhindern. Während ihr langer Schweif silbern erstrahlte, wich sie mit einem geschickten Seitenschritt aus. Im nächsten Moment schnellte Enekoro auf die wehrlose Drachin zu, die mit einem röchelnden Brüllen zu Boden ging. Dann durchschnitt ein greller Ton wie ein Schwert die Luft, als trennte es die einzelnen Glieder eines Kettenhemdes, und bedeutete Maxax‘ Niederlage. „Jetzt ist wieder alles offen. Wer wohl gewinnen mag? Bald werden wir es erfahren“, tönte die hitzige Stimme der Moderatorin, die die Koordinatorinnen bereits zu ignorieren gelernt hatten. „Die letzten Minuten brechen an!“ „Du hast aufgeholt, gut gemacht“, würdigte die Aika Haruka für ihre meisterhafte Leistung, die sie in diesem Kampf bisher geleistet hatte und nun das Lob mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm. „Bist du hier, um mir dauernd Honig um den Mund zu schmieren?“, erwiderte die Brünette mit einem verwegenen Grinsen auf den Lippen. „Ich bin jedenfalls hier, um das Band zu gewinnen.“ „Ach, du auch? So ein Zufall aber auch!“ Die Freundin erwiderte das Grinsen; ein freudiges Strahlen in den Augen. Jetzt wusste Haruka wenigstens, mit welchem Pokémon sie es tatsächlich zu tun hatte: Zoroark. Nur war ihr nicht klar, wie sie die Illusion, die über das Snobilikat im falschen Fell herrschte, zu lösen vermochte. Jedenfalls durfte sie nicht zögern, sonst verstrichen kostbare Sekunden, welche möglicherweise ihren Sieg hätten bedeuten können. „Wir haben wenig Zeit, Enekoro - Duplexhieb!“ Enekoro gehorchte. Sie preschte auf Snobilikat zu, das arrogant die Lefze hob, so als würde der Kater den kühnen Vorstoß mit Hohn und Spott begegnen, und schnellte im letzten Moment in die Luft. „So leicht kriegst du uns nicht – Kratzfurie und anschließend Nachthieb!“ Snobilikat – oder Zoroark? – begab sich mit einem kräftigen Sprung in die Höhe, weitaus höher als Enekoro es in die Luft geschafft hatte, und ließ sie nicht entkommen. Erbarmungslos hieb die Großkatze auf die Konkurrentin ein, die vollkommen lädiert auf den Boden prallte. Kaum war Snobilikat anmutig auf alle Viere gelandet, machte er fauchend einen Satz nach vorne, direkt vor Enekoro, und ließ jener nicht die Chance, sich zur Wehr zu setzen. Mit einer in Dunkelheit gehüllten Tatze prügelte Snobilikat die Kätzin, die sich hilflos auf den Rücken rollte, um sich mit Krallen und Zähnen zu verteidigen. Nachdem der Pumakater einige Blessuren zu verkraften hatte, nahm er wieder Abstand, sah aber nicht davon an, Enekoro zu fixieren und die Zähne zu blecken. Während sich Enekoro schwerfällig erhob, verfluchte Haruka sich und ihre Ideenlosigkeit. Verdammt, sie musste doch eine Möglichkeit finden, um die Illusion zu brechen! Selbstsicher straffte Aika ihren Körper und reckte ihr Kinn leicht vor. „Und wieder Nachthieb!“, befahl sie unerbittlich. Zwei, drei Herzschläge sah Haruka die Freundin regungslos an, doch ihre Miene verriet keinerlei Emotionen. Aika lächelte oder grinste nicht einmal, was Haruka zumindest entspannt hätte. Stattdessen wirkte sie ernst und hoch konzentriert. Dann wandte sich das Mädchen an sein Pokémon, das unwillkürlich die Muskeln angespannt hatte, so als fürchtete es sich vor den nächsten Krallenhieb. Dazu sollte es nicht kommen, denn in Haruka war eine Idee gereift, die ihr etwas mehr Zeit beschaffen konnte, um an das Rätsel Lösung zu gelangen. „Wehr mit Anziehung ab!“ Lieblich zwinkerte Enekoro dem Puma zu und miaute diesem ermunternd zu. Unschuldig sah sie Snobilikat aus verführerisch dunklen Augen an. „Lass dich nicht täuschen – Finsteraura!“ Gefesselt blickte Snobilikat dem Enekoro entgegen. Wie aus weiter Ferne vernahm er die Stimme seiner Trainerin. Finsteraura? Sollte er tatsächlich dieses zarte Wesen angreifen? „Zuschuss!“ Intuitiv kam ihr jener Befehl über die Lippen. Die Götter entschieden, welche Attacke entfesselt werden sollte. Ich glaube an dich, fügte Haruka in Gedanken hinzu. Noch geschah aber nichts. Enekoro blieb regungslos. „Mach schon, du verliebter Narr!“, rügte Aika ihn ungehalten, woraufhin Haruka einen Moment über das Ausmaß an Ungeduld ihrer Freundin schmunzelte. Zuvor hatte diese souverän und beherrscht gewirkt, aber jener Ausbruch hatte sie nun verraten. Kräftig schüttelte Snobilikat sein Haupt, um wieder zu klaren Sinnen zu kommen. Das Schicksal war auf Harukas Seite, denn Risse im Boden kündigten das bevorstehende Schauspiel, als unerwartet starke Energien um Enekoros Leib sammelten. Jede Faser ihrer Muskeln war in dem zierlichen und schmächtigen Körper angespannt. Wie in der heißen Sommersonne flirrte die Luft, während Funken durch das Fell der Kätzin zuckten, mal schwächer und mal stärker. Jene Energien flossen zusammen, bildeten sodann eine Kugel um Enekoro, bestehend aus scheinbar flüssiger Elektrizität, welche beständig heranwuchs. Plötzlich zogen sich die gewaltigen Kräfte zusammen und verweilten einen vergänglichen Herzschlag eng an Enekoro geschmiegt. Dann breitete sich der angestaute Starkstrom schlagartig aus, unterstrichen von Enkoros entschlossenen Miauen und einem ohrenbetäubenden Explosion. Wie gelähmt starrte Haruka auf das Ereignis und vermochte nicht zu glauben, was sich soeben zugetragen hatte. Schließlich verzogen sich ihre Lippen zu einem vielsagenden Grinsen. „Das war Donner, Ampharos‘ Donner“, frohlockte Haruka flüsternd, als sie sah wie Snobilikat durch den mächtigen Blitzschlag vollkommen malträtiert langsam zu Boden glitt. Da verschwamm plötzlich das Bild vor ihren Augen, und Haruka fasste sich wie in einem jähen Schwindelanfall an die Stirn. Konturen flossen ineinander über, waren seltsam verzerrt, ja wirkten beinah geisterhaft, so als würden sie sich jeden Moment auflösen. Der Boden schien unter ihren Füßen zu zittern, und Haruka wankte. Unwillkürlich hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt, daher schloss sie die Augen, um sich in ihre Gedanken zu flüchten und ihren Puls zu beruhigen. Tief atmete sie ein und füllte ihre Lungen. Als Haruka die Augen öffnete, war die anmutige Silhouette des Snobilikats verblasst. Die vollendete Eleganz einer Raubkatze war nun der bedrohlichen Gestalt eines dunkelgrauen Werfuchses gewichen. Zoroark hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, überragte Haruka um mehrere Haupteslängen und wirkte durch die zurückgelegten Lefzen noch furchteinflößender als zuvor. Die Koordinatorin ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Sie lächelte dem Schattenfuchs kühn entgegen, offenbar stolz, dass sie die Illusion erkannt und einen Weg gefunden hatte, um die Täuschung zu lösen. Obwohl kaum noch zwei Minuten zu kämpfen war, fühlte Haruka wie das Selbstbewusstsein allmählich zurückkehrte. Doch die Anspannung fiel nicht von ihren Schultern. Unerwartet war eine drückende Atmosphäre in der Halle zu spüren, die Haruka wiederum leicht beunruhigte. Sie nahm leises Geflüster und Raunen in den Reihen des Publikums wahr, während die Moderatorin bloß irritiert schwieg und rasch zu den Juroren sah, die ihr bloß mit einem wortlosen Nicken versicherten, dass alles in Ordnung sei. Als sich ihre Blicke schließlich kreuzten, schien Novia wieder Herrin ihrer Stimme zu werden. „Meine Damen und Herren, ich bedaure, dass wir Opfer einer Täuschung geworden sind“, begann Novia auffallend unsicher, „und nun stehen dennoch wir am Rande einer Wendung in diesem nervenaufreibenden Kampf!“ Sie hatte Recht. Das Blatt drehte sich, zugunsten von Haruka. Allerdings durfte sie jetzt nicht übermütig werden und diese Begebenheit nicht verstreichen lassen. Immerhin war Enekoro gleichermaßen erschöpft wie Zoroark es war. „Bist du da festgewachsen?“, riss Aika die Brünette aus den Gedanken und zögerte auch nicht, Harukas Unentschlossenheit für sich zu nutzen. Nun gab es keinen Grund mehr, Zoroarks wahre Stärke zu verbergen. „Nachtflut!“ Ein weiteres Mal glühten Zoroarks eisblauen Augen so intensiv, dass Fluchtgedanken Harukas Geist ergriffen. Eine wie aus Blut geschaffene rötliche Energie umfloss den Leib des Schattenfuchses, welche mit jedem Moment bedrohlicher wurde. Haruka aber reagierte gerade noch rechtzeitig: „Doppelteam, schnell!“ Denn gerade als Zoroaks gewaltige Nachtflut entfesselte und eine gewaltige Druckwelle einen Krater im Podium gerissen hatte, verzerrten Enekoros Umrisse und verschwammen vor den Augen aller. Die Finsternis zerfetzte ihre Ebenbilder in Stücke. Mehrere Meter entfernt verbarg sich Enekoro in Sicherheit vor Zoroarks befreiten, dunklen Macht. Sie hatte in den Schatten von herausgerissenen Teilen der Tribüne zurückgezogen und sammelte dort keuchend ihre Gedanken. „Da hast du ja nochmal deine Haut gerettet, was? Aber was tust du jetzt?“, fragte Aika lächelnd. Nervös biss sich Haruka auf die Unterlippe. Ja, was sollte sie nun tun? Sie musste angreifen, wenn sie diesen Wettbewerb für sich entscheiden wollte, aber dennoch zögerte sie aus Furcht, und jene Schwäche nutzte Aika abermals aus. „Fokusstoß!“, war bloß das einzige Wort, was die blonde Trainerin energisch aussprach. Hernach formte sich ein Energieball von himmelblauer Farbe zwischen Zoroarks Klauenhänden. Zahlreiche Sekunden vergingen, indem jener an Größe und Kraft gewann. Wenn Haruka wagte, Enekoro ausweichen zu lassen, so hätte die Katze darunter mehr gelitten als durch einen Angriff ihrerseits, doch bedeutete dieser Fokusstoß das Ende, sollte sie diesem Szenario weiterhin untätig beiwohnen. Enekoro legte die Ohren zurück und bleckte die Zähne, während ein tiefes Grollen aus ihrer Kehle aufstieg und schließlich zu einem wilden Fauchen umschlug. Dabei war der Fang leicht geöffnet, und da sah man unerwartet etwas in ihrem Maul aufblitzen. Zwischen den perlweißen Reißzähnen der Kätzin formte sich ein unscheinbarer Tropfen, der im Sonnenlicht gebadet wie ein Saphir funkelte. Jenes Gebilde pulsierte und verströmte Licht, das von einem tiefen Blau erfüllt war, als wäre ihm Leben eingehaucht worden. Mal pochte die Energie wie ein Herzschlag und wuchs abrupt, zog sich aber gleich darauf in seine ursprüngliche Form zurück, so als bestritt sie einen ewigen Kampf. Dann überschritt die Energie scheinbar eine unsichtbare Grenze und gedieh schlagartig zu einer rhythmisch schlagenden Kugel. Ein helles Leuchten strömte aus dem Inneren des Energieballs, während das empfindsame Gefäß wie ein Farbenspiel aus Blautönen schillerte. Hernach entfesselte Enekoro die angestaute Energie mit einem entschlossenen Kriegsschrei. Als die Kugel auf dem Boden aufschlug, explodierte sie platschend und ergoss sich als reißendes Hochwasser über den Boden. Zoroarks Fokusstoß prallte gegen jene Naturgewalt und ertrank jämmerlich in den Fluten. Stolz reckte Enekoro den Hals und blickte triumphierend auf Zoroark. Der Schattenfuchs ruhte auf dem Boden und schien gierig nach Luft zu ringen. Sein Fell war vollkommen durchnässt und klebte an seinem Leib, sodass jener noch dürrer erschien. „Diese Aquawelle stellt eine wahrhaftige Urgewalt dar, die selbst den stärksten Kämpfer zu Boden reißt!“, tönte die enthusiastische Stimme der Moderatorin. Und da Haruka begriff, was sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte. Ohne ihr Wissen hatte Enekoro Aquawelle gelernt! Hatte etwa Schillok seine Pfoten im Spiel? Damit war ihr soeben ein Ass im Ärmel vergönnt gewesen, das Aikas scheinbar übermächtiges und zu aller Gewalt bereiten Zoroark zu überrumpeln vermochte. Sie spannte ihren Arm an und ballte die Faust, während nur ein kurzes Wort ihren Mund verließ, das ihre Freude ausreichend beschreiben konnte. Noch immer erschien ihr das Glück so unwirklich, ja zerbrechlich. Sie durfte unter keinen Umständen leichtsinnig werden, diese Chance wäre dann für immer dahin und der Sieg in ungreifbarer Ferne. Der Schattenfuchs hatte sich wieder erhoben und sah mit grimmiger Miene auf Enekoro herab. Die Lefzen waren zurückgezogen, zeigten blanke Reißzähne, aber kein Laut entfuhr seiner Kehle. Abwartend harrte Zoroarks aus, den schallenden Befehl seiner Herrin erhoffend. „Power-Punch, Rajesh!“ Da erklang das erlösende Kommando. Wild knurrend schnellte Zoroark mit geballter Pranke vorwärts. Zorn funkelte in den Augen des dunklen Werfuchses und sehnte jenen Augenblick herbei, in dem seine Fänge sich um Enekoros Kehle legten. Geistesgegenwärtig reagierte Haruka, das Ticken der bald ablaufenden Uhr in ihrem Nacken spürend. „Mach dich bereit, Dunkelklaue einzusetzen!“ Abermals schien die Konfrontation unvermeidlich zu sein. Enekoro erwiderte Zoroarks geifernden Drohgebärden mit einem ebenso verwegenen Fauchen, denn der Katze war bewusst, dass diese Auseinandersetzung bald endete, während ihre rechte Tatze in geisterhaftes Schimmern getaucht wurde. Jenes Licht, welche von dunkler Energie erfüllt war, gebar eine schwarze, sich allmählich formende Schattenhand. Sie pulsierte, erwartete nahezu freudig den Zusammenstoß, als Zoroark auf Enekoros Haupt zielte. Doch dieses schemenhafte Gebilde fing die Faust ab. Die freigewordene Energie schützte Enekoro wie eine Barriere, aber Zoroark schien so besessen von dem Gedanken, zu siegen. Der Fuchs fand eine Schwachstelle, um hindurch zu schlüpfen. „Spring, Enekoro!“, befahl Haruka, und Enekoro folgte ihrer Anweisung. Blitzschnell federte sich die geschmeidige Katze in die Luft, gewiss drei, vier Meter über Zoroarks Haupt. Ein freudiges Zittern ergriff Harukas Hände. In diesem Moment sah sie ihre Gelegenheit nun gekommen und zögerte das unabwendbare Ende nicht länger heraus. Der Wille zu siegen – ja, jenen fühlte die Koordinatorin mit jeder Faser ihres Geistes. „Eisenschweif, auf geht’s!“ „Wahnsinn! Mit einem eleganten Sprung hat es Enekoro geschafft, dem Power-Punch zu entgehen! Und jetzt greift Enekoro an. Zoroark sitzt wie betäubt da und weiß gar nicht wie ihm geschieht! Die Dunkelklaue war also nur ein Bluff!“ Hell erstrahlte Enekoros Schweif im Scheinwerferlicht und verwandelte sich in eine scharfe Schwertklinge. Entschlossen fauchend ließ die Katze jene auf Zoroark herab sausen und schleuderte den geschwächten Schattenfuchs zu Boden. Lautlos setzte Enekoro mit allen Vieren sanft auf das polierte Parkett auf, vermochte aber ihr gieriges Keuchen nach Luft nicht zu verbergen. „Enekoros Eisenschweif landet einen sauberen Treffer und Zoroark streckt alle Viere von sich! Ob es sich nochmal erholt oder ist das Ende bereits entschieden?“ Während ein dumpfes Grollen aus seiner Kehle emporstieg, kräuselte der Werfuchs zornig die Schnauze und erhob sich schwerfällig. Obwohl sein Kampfesgeist unermüdlich zu sein schien, wirkte es als würde jede Bewegung seiner Gliedmaßen eine Qual für ihn darstellen. Sein mühsamer Atem verriet ihn. „Zoroark, das schaffen wir noch - Nachthieb!“ Zoroark schloss einen Herzschlag lang die Lider über seine eisblauen Augen, beruhigte seine Atemzüge und schöpfte neue Kraft. Dann hetzte er mit seitlich angewinkelter Klauenhand plötzlich auf Enekoro los, die fauchend ihren Körper anspannte und fuhr die Krallen aus, jederzeit bereit, um sich zu verteidigen. Doch da ertönte unerwartet das von Aika und Haruka lahnersehnte Signal, welches entschied, ob Haruka das Privileg am großen Festival teilnehmen durfte oder ob ihre Reise hier nun definitiv ihr Ende nahm. Verärgert knurrend stoppte Zoroark in der Bewegung seines drohenden Faustschlages bloß wenige Millimeter von Enekoros Gesicht entfernt. „Die Zeit ist um, finito! Und der Gewinner dieses hoch spannenden und fantastischen Kampf heißt…“ Haruka schloss die Augen. Sie ballte abermals die Faust, lockerte ihre Hand aber im nächsten Augenblick, nur um sie gleichdarauf wieder anzuspannen. Schiere Unruhe, die das Mädchen beinahe um den Verstand brachte, ergriff sein rasendes Herz. Die Nervosität erdrückte Haruka so schmerzhaft, denn sie wagte kaum, nach Luft zu holen. Jede Faser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt. Quälende Sekunden fühlten sich an, als würden Minuten vergehen. Die freudige Euphorie Novias war bedeutungslos, jedes Lob, das ihren Mund verließ – ja, alles erschien ihr plötzlich so bedeutungslos. Dass dieser erlösende Moment kommen möge, sehnte sich Haruka herbei. Jede Hoffnung beruhte auf einer Antwort… Kapitel 9: Célian Beaumont -------------------------- Haruka hatte gewonnen. Sie hatte tatsächlich gewonnen und ihre beste Freundin geschlagen. Mit knapper Not war es ihrem Enekoro gelungen, Snobilikat als eine Illusion zu erkennen und seine wahre Gestalt – die eines mächtigen Zoroarks – zu enttarnen. Dem Siegestaumel verfallen vermochte Haruka ihren Triumph nicht zu begreifen. Sie drohte, ihren Emotionen zu erliegen, die sie nicht als Freude oder Erleichterung zu benennen wusste. Gleichzeitig aber tat sich eine gähnende Leere in ihrem Inneren auf, die jegliches Gefühl in sich aufnahm und nichts als einen tiefen Abgrund hinterließ. Erst als ihr Blick zum Monitor glitt und sie die Gewissheit erhielt, wurde ihr die Realität bewusst und jenes Taubheitsgefühl verebbte. Ein Drittel von Aikas Punkten waren einem tristen Grau gewichen, während Haruka etwas weniger als die Hälfte ihres Punktestandes innehatte. Dies bedeutete unweigerlich ihren Sieg, den sich die Koordinatorin nun endlich eingestehen konnte. Obwohl ihre Augen feucht waren und Tränen über ihre Wangen rannen, war die Freude groß, und Haruka lachte ausgelassen. Als sie für einen Herzschlag lang die Augen vor Erschöpfung schloss, schien ihr Bewusstsein Karussell zu fahren, stets im Kreise drehend schien es ihr zu entgleiten, und doch geschah es nicht. Ergriffen vom Gefühl des Triumphes ließ sie ihren Blick ruhelos über das Publikum schweifen, suchend nach einem vertrauten Gesicht, welches sie nach einer gefühlten Ewigkeit erkannte. Wie ein funkelnder Edelstein, in dem sich das Licht brach, stach das smaragdgrüne Haar aus den Menschen hervor. Siehst du, wie ich hier stehe, Shuu? Ich habe gewonnen!, durchfuhr es Haruka, und die Gewissheit ließ sie erschaudern. Zahllose, ebenbürtige Gegner erwarteten sie – und ein Pokal. Jetzt gebe ich nicht auf! Entschlossen ballte sie die Faust. „Das müssen wir feiern!“ Erschöpft sah Haruka ihre Freundin an. Das Finale hatte sie müde gemacht, ihr jegliche Kraft entzogen, aber die Erleichterung, das Wissen, dass sie gewonnen hatte, munterte sie auf. Wenigstens etwas. Jetzt, da sie sich mit Aika in das Center zurückgezogen hatte, nachdem sie Anemonias violettes Band entgegengenommen und sich den Journalisten gestellt hatte, genoss sie die Ruhe in vollen Zügen. Dass die Blonde, trotz ihrer Niederlage, noch voller Elan war, missbilligte Haruka zutiefst. Sie hatte sich bereits auf einen entspannten Abend, eingehüllt in einer warmen Decke und einer heißen Tasse Tee, vor dem Kamin gefreut. „Klar, holen wir ein paar Sektflaschen und verkrümeln uns wieder in unser Zimmer“, erwiderte das Mädchen reserviert. Haruka spürte förmlich wie die Unlust sie einnahm; sich anfühlend wie eine dunkle Wolke, die ihre Laune rapide ins Bodenlose sinken ließ. Aikas stahlblaue Augen sahen sie entsetzt an. Entsetzt? Deutete Haruka es richtig? „Bist du doof?“, empörte sich die junge Frau und versetzte Haruka einen liebevollen Knuff. „Wir gehen abrocken! Du weißt schon – da wo man natürlich tanzt, du Nuss.“ „Ich weiß nicht“, zierte sich Haruka und wich dem durchdringenden Blau aus. „Du weißt, dass ich Partys nicht mag.“ „Wer sagt, dass wir auf eine Party gehen, die sowieso immer langweilig sind?“ Eine dunkle Vorahnung ergriff Haruka, als sie das Grinsen, welches auf Aikas Lippen lag, bemerkte. „Ich kenn einen guten Schuppen hier in Anemonia. Heute legt ein ganz guter DJ in der Disko auf.“ „Disko?“ Ihre Demotivation kannte keine Grenzen mehr. Haruka stöhnte unwillig, murmelte etwas von „Kein Bock“, während sie das Gesicht verzog und die Arme vor der Brust verschränkte. „Muss das sein? Ich möchte nicht.“ „Spaßbremse. Ich schleppe dich notfalls auch ins ‚Empire‘.“ „Du weißt, dass ich Diskos nicht mag.“ „Na und? Du magst vieles nicht. Sport beispielsweise. Trotzdem gehst du mit mir joggen.“ Guter Konter, verdammt. Darauf wusste sie jetzt kein akzeptables Argument. Oder doch, schließlich war sie ein Mädchen. „Ich hab aber keine Klamotten für Diskos!“, widersprach Haruka, versuchend sich mit allen Mitteln, die ihr zu Verfügung standen, gegen den Vorschlag zu wehren. „Dann zieh halt irgendein Kleid an, das du mal zu einem Wettbewerb angezogen hast.“ „Das ist unprofessionell.“ Aika seufzte. „Ist doch egal. Du hast es gerade noch ins Festival geschafft. Du solltest froh sein und es feiern. Etwas mehr Begeisterung hätte ich mir da schon vorgestellt. Dann erträgt es sich auch besser gegen eine zweitklassige Koordinatorin zu verlieren.“ Ein Kissen flog quer durch den Raum, direkt in Aikas Gesicht. Genugtuung war ja schon toll, als die Blonde lachend das Gleichgewicht verlor und aus dem Bett kippte, begleitet von Teras verärgertem Grollen, die sich in ihrem Schlaf gestört fühlte. Als zweitklassige Koordinatorin bezeichnet zu werden hasste Haruka so sehr wie Tentachas sie anekelten. Aika wusste darum Bescheid und zeigte großes Vergnügen, sie damit aufzuziehen. „Das hast du davon“, stellte Haruka fest. Ein belustigtes Grinsen konnte sich das Mädchen nicht unterdrücken. „Ach komm schon. Das wird sicher ganz nett werden“, bemühte sich Aika ihre Freundin umzustimmen. „Ich wollte dir einen guten Freund vorstellen.“ Haruka schwieg eine gefühlte Minute lang. Sie wusste, dass sie sich zu sehr zurückzog und weder Bekanntschaften machte noch Freundschaften schloss. Heutzutage schien es, dass Jugendliche nur noch beim gemeinsamen saufen, Bekanntschaften machten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie Diskos nicht mochte. Ebenso wie sie kein Partymensch war, wie eine Vielzahl ihrer Freunde und Bekannte. Gewöhnlich mied sie solche Einrichtungen. Sich von Freunden und Bekannten abzuschotten, weil sie eine Disko besuchten, und jegliches Feiern zu vermeiden, war nicht das Wahre. Möglicherweise war es der einzige Weg, um nicht zu vereinsamen. Natürlich hatte sie eine Handvoll gute Freunde, aber eben nur eine Handvoll. Abgesehen von Kouki und Aika waren ihre Freunde aus der Nachbarschaft und Schule in Hoenn oder waren selbst irgendwo auf Reisen, meilenweit entfernt. Kontakt über soziale Netzwerke wie Facebook oder Skype ersetzte nicht eine persönliche Begegnung. Satoshi und die anderen waren… Wo waren sie nochmal? Von ihnen hatte sie auch schon länger nichts mehr gehört. Jedenfalls hatte es noch niemandem geschadet, sich einen Abend darauf einzulassen, obwohl dieser Gedanke Haruka missfiel. Die einengenden Menschen waren das geringste Problem, vielmehr Sorgen bereitete ihr der Alkohol, den sie zwar in Maßen trank, aber bisher nur zu feierlichen Anlässen. Sonderlich viel vertrug sie sowieso nicht. Ob sie sich vor Aikas besagtem Kumpel damit nicht lächerlich machte? „Und?“ Aufmerksam sah Aika, welche sich mittlerweile vom Bett erhoben und sich zu Haruka gesellt hatte, ihre Freundin an Ergeben stieß Haruka einen tiefen Seufzer aus und warf die Arme von sich. „Na gut.“ Eine andere Wahl hatte sie nicht. Zumindest akzeptierte Aika kein einfaches „Nein“. „Yes!“ Fröhlich jauchzte Aika und stieß Haruka kameradschaftlich an. „Und jetzt“, sie zupfte an Harukas Pullover, „schauen wir mal, was du anziehst.“ Haruka wusste, dass sie es bereuen würde, nachgegeben zu haben. Ihre Abneigung gegenüber Diskos bestand schließlich nicht grundlos. Bereits nach wenigen Minuten dröhnten ihr die Ohren, und sie bildete sich ein, allmählich Kopfschmerzen zu bekommen. Den hunderten Menschen, die sich um sie herum drängten, schien der Lärm nichts auszumachen. Mochte wohl am Alkohol liegen, der an diesem Abend reichlich floss. Sein Geruch war abstoßend, schwer. Überallher schlugen ihr die Fahnen unzähliger Jugendlicher entgegen, die zu tief ins Glas geschaut hatten. Suchend sah sich Haruka um und betrachtete alles neugierig, obwohl die zuckenden, bunten Lichter ihre Augen schmerzen ließ. Als sie Aika in den Massen nicht ausfindig machen konnte – sie war vermutlich irgendwo auf der Tanzfläche verschwunden, um sich die Seele aus dem Leib zu tanzen und hatte darüber hinaus Harukas Anwesenheit vergessen -, zog die Koordinatorin vor, sich an die Bar zurückzuziehen. Zuvor hatte sie ebenfalls etwas getanzt, allerdings nicht mit sonderlichem Eifer. Etwas abseits von den Personen, die leicht angeheitert an der Theke saßen und Cocktails tranken, nahm sie auf einem Hocker Platz. Dann suchte sie den Blickkontakt zu dem Barkeeper, der sie mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm. Sie sagte etwas, aber der Bass war so einnehmend, dass Haruka ihr eigenes Wort nicht verstand. Obwohl sie ungewohnt laut sprach – sie schrie beinahe schon, um sich Gehör zu verschaffen – verschluckte der Lärm jede Silbe des Getränkenamens. Erwartungsvoll schaute sie dem Barkeeper in die Augen, der ihr den Rücken zugekehrt hatte. Scheinbar waren seine Ohren sensibel genug, um dem Lärm zu trotzen. Die trommelnde Technomusik, die stinkenden Menschen, die Erschöpfung des Tages und alles andere, war mit Alkohol gewiss erträglicher. Während Haruka wartete, glitten ihre Blicke und Gedanke ins Nichts. Sie starrte auf einen belanglosen, aber doch bedeutungsvollen Punkt, den nur sie auszumachen vermochte. Eine flüchtige Berührung spürte Haruka an ihrem Rücken, die sie leicht zusammen zucken ließ. Zuerst vermutete sie, dass es Aika war, aber dann… „Zwei davon bitte.“ Irritiert sah sich Haruka um und blickte in braune Augen ihres Gegenübers, der mit den Fingerspitzen durch sein Haar fuhr und es mit einer plötzlichen Bewegung zur Seite strich. Einzelne Strähnen schienen sich dem zu widersetzen, kräuselten sich leicht und beschatteten seine Augen. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und raunte nah an ihrem rechten Ohr, die Hand auf ihren Rücken gelegt: „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Die charmante Stimme, die in ihrem leisen und ruhigen Tonfall im Kontrast zu dem andauernden Lärm stand, klang sehr angenehm in ihren Ohren. Als auf Harukas Schweigen hin seine Mundwinkel zuckten und sich zu einem amüsierten Lächeln verzogen, erregte ein silbernes Piercing an seiner Lippe ihre Aufmerksamkeit. Beeindruckend wie Menschen auf andere zugehen konnten. Sie hätte sich das niemals getraut. Ihre Faszination wuchs zunehmend, während sie ihn neugierig musterte. Sein Äußeres erweckte einen anständigen und gepflegten Eindruck, der Haruka gefiel. Er trug ein schwarzes Jackett, darunter ein weit ausgeschnittenes, graues T-Shirt, und eine dunkle Jeans. Wie gebannt schaute sie ihn an. Er sah anziehend aus. Dennoch, sie fühlte wie sich ihr Herzschlag leicht beschleunigte. Es fühlte sich irgendwie falsch an. Ihr Verstand sträubte sich vehement, sich einfach hinzugeben; ihr leise ins Ohr flüsternd, dass ihr Herz bereits jemand anderem verfallen war. Doch an diesem Abend war die Zuneigung, die sie Shuu entgegenbrachte, bedeutungslos. Als sie an ihn dachte, fühlte sie nichts. Lag es vielleicht an dem Alkohol, der bereits ihre Sinne benebelte? Leise lachte ihr Gegenüber. Ein raues Lachen, dass seine Gesichtszüge zu erhellen schienen. Es war ein ehrliches und aufrichtiges Lachen, welches Haruka aber ungewöhnlich reizte. „Was ist so witzig?“ „Nichts, ich habe nur gedacht, ob du mich weiterhin so lüstern anschauen willst“, erwiderte der Blonde charmant lächelnd. „Ich? Lüstern?“, war die schnippische Gegenfrage, die den Jungen abermals erheiterte. Sie war entrüstet über diesen Vorwurf. „Wer bist du überhaupt?“ „Célian. Célian Beaumont“, sagte er gelassen, doch nicht ohne ein Lächeln auf seinen Lippen. „Und du bist-“ Der Junge brach ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Barkeeper, der sich mit dem Oberkörper leicht vorbeugte und die Cocktailgläser servierte. Haruka vergaß ihren Ärger und betrachtete das Glas, dessen Inhalt gelblich-orange bis orangerote Farbabstufungen innehatte. Etwas unbehaglich fühlte sich das Mädchen, als es sich auf einen ungezwungenen Drink einließ. Und vermutlich auch auf einen Flirt? Zögerlich ergriff sie das Cocktailglas, in der Hoffnung, sich bald lockerer zu fühlen, und nahm den ersten Schluck. Célian tat es ihr gleich, hob das Cocktailglas und trank in großzügigen Schlucken. Er stellte es beiseite und sah Haruka aufmerksam wieder an, vollendete: „Und du bist Haruka.“ Erstaunt erwiderte das Mädchen seinen Blick. Dass sie kein unbeschriebenes Blatt in ihrem Business war, hatte sich Haruka ja irgendwie schon dran gewöhnt, aber trotzdem war es… befremdlich. „Bin ich so bekannt?“ „Oh ja, die ganze Stadt spricht von dir. Hab dich heute kämpfen sehen im Stadion“, begann Célian. „Ich hab ja schon gehört, dass du eine hervorragende Koordinatorin bist, aber die Show heut‘ Mittag hat mich echt umgehauen. Wahnsinn!“ Verlegenheit ließ ihre Wangen sanft rot glühen. Verdammt, das war der Alkohol, aber eigentlich… Egal! Es schmeichelte ihr, dass jemand ihre Arbeit anerkannte. Wenigstens einer wusste ihr Können wertzuschätzen. Wehmütig dachte sie einen winzigen Moment an Shuu. Wenn er doch zumindest mal so etwas Nettes zu ihr sagen würde! Rasch aber verdrängte sie den lästigen Gedanken an den Schnösel, der ihr jeden Tag mies zu machen vermochte. „Oh, danke“, stieß Haruka überrascht aus und lächelte, „du interessierst dich für Wettbewerbe?“ „Ich interessiere mich nicht nur dafür, ich bin selbst Koordinator. Toll, oder?“ Ein begeistertes Leuchten lag in seinen glasigen Augen. Anscheinend war der Tequila nicht das erste Getränk gewesen. Vermutlich floss durch seine Venen bereits ein gewisses Maß Alkohol, der den Jungen kaum beeinträchtigte. Klar und verständlich waren seine Worte, nur etwas belegt vom Alkohol. „Wenn ich nur an das Festival denke, werde ich schon nervös. Geht’s dir auch so?“ „Was? Du nimmst am Festival teil? Hab‘ dich noch nie gesehen…“ Moment mal… Kannte sie sein Gesicht nicht? Die blonden Haare, die braunen Augen und das Piercing an der Lippe kamen ihr irgendwie… bekannt vor. Und doch wusste sie nicht so recht, diese Erinnerung zuzuordnen. Sie beiseite zu schieben, gelang ihr jedoch auch nicht. Stets kehrte das vertraute Gefühl zurück und nagte an Harukas Gedanken. Fieberhafte überlegte sie, woher sie diesen Jungen kennen könnte. Außer die Gelegenheiten bei flüchtigen Begegnungen auf ihrer Reise oder die manchmal nicht erfreulichen Treffen bei Wettbewerben wollte ihr einfach nichts einfallen… Vielleicht war es doch… Wettbewerbe! Wie hätte es auch anders sein können? Die meisten Bekanntschaften machte sie in der Lobby eines Contest-Stadions. Vielleicht hatte sie Célian schon in Dukatia bei einem Wettbewerb gesehen? Oder vielleicht war es doch bei einer Live-Übertragung gewesen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nur, dass Aika und Célian sich kannten. Und Aika wollte ihr doch einen Kumpel vorstellen. Célians Schweigen irritierte das Mädchen. Ihr wurde bewusst, wie unfreundlich ihr Tonfall geklungen haben musste. Peinlich berührt errötete sie und wich seinen Blicken verlegen aus, als Haruka ihre Schroffheit bemerkte. Verdammt! Hoffentlich konnte sie die Sache retten! „I-Ich... Eigentlich hab ich darüber noch nicht nachgedacht. Irgendwie.“ Sie lächelte, etwas krampfhaft wie ihr auffiel, hoffend, dass sie die angespannte Situation lösen konnte. Ihre unbedachte Impulsivität hatte ihr diesen unangenehmen Moment beschert! Wenigstens entsprach es der Wahrheit. Sie hatte kaum die Gelegenheit gehabt, sich die Bedeutung des Sieges bewusst zu machen. Zuversichtlich war sie schon, aber nicht hochmütig. Im Festival traten nur talentierte Koordinatoren an, eine Auslese der Besten. Die Augen vor sich auf den Boden gerichtet nippte sie an ihrem Strohhalm. Behutsam fasste Célian ihr an den Arm. „Gehen wir tanzen?“ Aufgewühlt schaute Haruka auf, die Augen auf den Jungen gerichtet, der sie ebenso intensiv aus seinen rehbraunen Augen anblickte. „Ich weiß nicht“, zierte sich Haruka erneut, „bin nicht so eine gute Tänzerin, zwei linke Füße.“ Célian stieß ein raues Kichern aus und verzog die Lippen zu einem belustigten Grinsen. „Schwache Ausrede, weißt du? Gib doch einfach zu, dass du dich nicht traust.“ „Das hat nichts mit trauen zu tun, sondern…“ Sie stockte und zupfte nervös an einer Haarsträhne, denn inzwischen zweifelte sie selbst, ob sie nicht tanzen wollte, nur weil ihr die Situation unangenehm war. Bekam sie nun doch Bedenken, sich dem Flirt hinzugeben, wenigstens für diesen Abend? „Sondern?“, harkte Célian und sah nicht davon ab, amüsiert zu lächeln. Haruka seufzte. Warum ließ er nicht endlich locker? Einerseits gefiel es ihr ja, beachtet und angeflirtet zu werden, aber andererseits weckte es doch eine Furcht, die ihr beinahe lächerlich erschien. „…will ich nur deine Füße schonen.“ Wie albern sie sich vorkam, so kindisch und ängstlich. Erneut lachte Célian, so liebenswert, dass Haruka ihm nicht zu widerstehen vermochte, und zwinkerte ihr aufmunternd er zu. „Lass dich nicht ärgern, Süße. Darf ich dir wenigstens noch einen Drink ausgeben?“ Intuitiv schüttelte Haruka den Kopf. „Nein, ich glaube nicht“, sie tippte an ihr Glas, „zwei Tequila vertrag ich nicht.“ „Du kannst ja auch was anderes trinken“, wandte er ein und grinste erneut so bezaubernd wie er es zuvor getan hatte. „Ein Wasser oder so?“ „Nein, danke“, beharrte das Mädchen und erhob sich unter Célians aufmerksamen Blicken stattdessen, „ich dachte, du willst tanzen gehen? Sonst latsch‘ ich dir noch auf die Füße.“ Warum sollte sie sich nicht auf ihn einlassen, wenigstens für diesen Abend? Célian war nett, gutaussehend und charmant – all das, was Shuu nicht war. Gut, gutaussehend war Shuu schon, jedoch war er keinesfalls nett und charmant, eher arrogant, selbstverliebt und egoistisch. Und ein Arschloch. „Ach, jetzt doch?“ Die Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen und die Brauen erhoben sah er sie erheitert an. Haruka warf ihr Haar zurück und wandte sich mit einem charmanten Schmunzeln um. „Ja, warum nicht?“, neckte sie ihn lachend und schritt auf die Tanzfläche zu, während Célian, noch immer vergnügt grinsend, nach ihrer ausgestreckten Hand griff und Haruka folgte. Auf der weiten Fläche, die in bunte Lichter getaucht war, drängten sich zahlreiche Menschen dicht an dicht, und sie stieß gewiss an gefühlt hundert Personen. Der unangenehme Geruch von Schweiß und Alkohol ließ Haruka einen Herzschlag lang zögern. Da spürte sie jäh Célians Hände auf ihrer Hüfte, bemerkte seinen warmen Atem, der ihren Nacken streifte, und nahm den kräftigen Geruch seines Männerparfüms wahr. Haruka hielt verwundert inne und blickte auf seine kräftigen Hände hinab, die bestimmt ihre Taille hinaufglitten. Locker legte Célian seine Arme um sie, sanft schmiegte er sich hernach an ihren Leib. Da blendete Haruka alles aus. Es gab nur noch sie, die Musik und Célian. Alles andere war bedeutungslos geworden. Sie fühlte nur noch seine federleichten Berührungen an ihrer Taille; die Hände, die sanft hinabwanderten und kurz auf ihrer Hüfte verweilten. Hernach tasteten seine Finger ihren Rücken hinauf. Haruka schloss einen Herzschlag lang die Augen und erschauderte. Gänsehaut überzog ihre Haut, und es fühlte sich an, als ebbten elektrisierende Wellen durch ihren Leib. Doch es war kein Ekel, das sie heimsuchte, oder die Scheu, von einem Fremden berührt zu werden. Immerhin dachte sie zuvor an ihre Sehnsüchte, Shuu in einer derartigen Nähe um sich zu haben. Dieser Moment… Es war ein wohliges Kribbeln, das unter ihre Haut ging und sich überallhin ausbreitete. Noch nie hatte sich Haruka so lebendig gefühlt wie in diesem Augenblick. Und dies brachte das Mädchen zum Ausdruck. Erheitert lachte Haruka, vollkommen hypnotisiert von Célians Auftreten. Dabei vergaß die junge Koordinatorin gar ihren Groll, den sie zuvor gegen das Vorhaben, den Abend in einer Disko zu verbringen, gehegt hatte. Alle Eindrücke gingen in ihrem Rausch unter, und sie wusste nicht, ob dieser Junge, der über alles hinweg dröhnende Bass oder der Alkohol dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Irgendwann nahm Haruka nur noch die Musik wahr, den Rhythmus, den sie unweigerlich im Blut fühlte. Und Célian. Als er seinen rechten Arm um sie legte und sie an sich zog, roch Haruka seinen würzigen Eigengeruch und den schweren Alkohol und Rauch, der seinen Klamotten anhaftete. Nichts davon aber störte das Mädchen allzu sehr. Irgendwie gefiel ihr der Geruch. Dann aber beugte sich Célian zu ihr hinab. Wenige Millimeter voneinander entfernt, streichelte sein warmer Atem ihre Wangen. Bevor Haruka zu realisieren vermochte, spürte das Mädchen die sanften Lippen des Jungen auf sich und den Druck, den er vorsichtig ausübte. Doch war da kein Herzklopfen und auch kein angenehmes Kribbeln, das unter ihre Haut gekrochen war. Eher fühlte es sich an, als wäre sie soeben aus einem Traum erwacht und hätte mit der Wucht eines Hammerschlags die Realität begriffen. Unwillkürlich versteifte sich Haruka und schubste Célian grob von sich weg. Dabei stieß er mit der Schulter gegen jemand anderen, der ihn herablassend ansah, aber auf eine Bemerkung zu verzichten schien. In diesem Augenblick fühlte sich Haruka elend, als Célian sie anstarrte und seinen Ausdruck nicht deuten konnte. Es war überraschend einfach gewesen, auf Célian zuzugehen, sich von ihm mitreißen zu lassen und den Abend zu genießen. Jetzt aber war der Zauber wie eine Seifenblase zerplatzt, der sie glauben ließ, dass alles, was sie tat, in Ordnung gewesen sei. Nun zerbrach sie sich den Kopf, was sie sich dabei gedacht hatte. Dass sie einen unbeschwerten Abend zu genießen vermochte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Oder wollte sie über Shuus Demütigung hinwegkommen, die ihr jedes Mal einen schmerzhaften Stich versetzten? „Tut mir leid, ich…“, versuchte das Mädchen zu erklären, wurde aber jäh mit einer raschen Handbewegung seinerseits unterbrochen. „Dir muss nichts leidtun.“ Lässig strich sich der Blonde eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte. „Du wärst sowieso nicht mein Typ. Vermutlich hab‘ ich einfach zu viel getrunken.“ Sollte die Erklärung sie etwa zufriedenstellen? Wenn sie nicht sein Typ war, warum flirtete er mit ihr? Zumindest entspannte sich das Mädchen nicht, trotz des scheinbar durchdachten Arguments. „Du tanzt gut“, sprach Célian, um die Situation zu lockern. Er hatte die Stimme etwas erhoben, denn der lärmende Bass und das Grölen mancher Menschen erschwerten Unterhaltungen. „Magst du etwas trinken? Ich lad‘ dich ein.“ Beiläufig deutete er mit einem knappen Kopfnicken in Richtung Bar. Haruka zögerte. Ihre Wangen brannten jetzt schon und ihr war etwas schwindelig. Sie hatte zwar keinen sitzen, aber angetrunken war sie schon. War es ratsam, sich noch auf einen Drink einzulassen? Immerhin hatte sie an diesem Abend schon genügend toleriert und nachgegeben, aber… Aber sie war gern in Célians Gesellschaft. Bekanntlich war das Alkoholtrinken in guter Gesellschaft leichter. „Okay“, ließ Haruka schließlich verlauten, „aber nur ein Drink! Sonst kannst du mich ins Center tragen.“ Célian lachte leise. „Wäre mir eine Ehre, wenn ich das tun dürfte.“ Mit diesen Worten schritten sie an die Theke und setzten sich zwischen angeheiterte und betrunkene Menschen, die nach Alkohol und Schweiß rochen. Der Barkeeper, der soeben ein Glas blank geputzt hatte und es hinter sich ins Regal stellte, nahm Blickkontakt zu Célian auf. Er grüßte, obwohl Haruka seine Worte nicht zu verstehen vermochte. Der dröhnende Bass der Musik vibrierte in ihrer Brust. „Ein Gin Tonic“, nickte er dem jungen Mann zu und wandte sich hernach an Haruka. „Was möchtest du trinken?“ Sie überlegte nicht lange. „Einen Flying Peach“, erwiderte Haruka an den Barkeeper gerichtet, der sich sogleich seinen Verpflichtungen nachkam und verschiedene Flüssigkeiten zusammen mischte. Die Koordinatorin achtete nicht mehr darauf, welche Utensilien er dafür verwendete. Viel verstand sie von dem Werk nicht. Bloß einzelne Begriffe wie Pourer, dieser Ausgießer, und den Shaker kannte Haruka, weil Aika sie mal erwähnt hatte. Den genauen Zusammenhang vermochte Haruka aber nicht mehr zu rekonstruieren. „Hast du was von Kyra gehört?“ Kyra? Einen Moment war die Koordinatorin irritiert, bis sie sich besann. Kyra war Aikas zweiter Name. Manche Freunde nannten sie bei jenem Namen. „Nein“, Haruka schüttelte den Kopf, „schon eine ganze Weile nicht.“ „Hat sie sich vielleicht über What’s App gemeldet?“, fragte Célian. Erneut verneinte Haruka und schüttelte den Kopf. „Nein, hab‘ mein Handy verloren.“ Genauer gesagt hatte sie es in einem Sturm verloren, bei dem sie beinahe drauf gegangen wäre. Und all das geschah, weil es Lugia so wollte. Doch die Wahrheit verschwieg Haruka. Womöglich hielt Célian sie für bescheuert, wenn sie ihm die Sache zu erklären versuchte. „Blöd.“ Eine schlichte Antwort, mit der Haruka nichts anzufangen wusste. Irgendwie nahm sie die Situation noch immer als sehr angespannt wahr. Vorher war sie so ungezwungen gewesen, fühlte sich aufregend und fremd an und jetzt? Jetzt schauten sie aneinander vorbei und wussten kein Gespräch anzufangen. Glücklicherweise schob der Barkeeper die Getränke ihnen zu. Haruka griff nach dem Cocktailglas, welches mit einer Zitronenscheibe versehen war. Damit ließ sich die Anspannung besser ertragen. Mittlerweile war ihre Hemmschwelle gesunken, und sie machte sich über den Alkohol kaum mehr Gedanken. „Woher kommst du eigentlich?“ Eine unbeholfene Frage. Vielleicht entspannte sich die gegenwärtige Situation durch das Gespräch wieder etwas. „Ich?“ Überrascht schaute Célian sie an, als er vermutlich abrupt aus seinen Gedanken gerissen wurde. Der Blonde lehnte sich etwas vor, um dem Gespräch besser beiwohnen zu können. „Aus Kalos. Bin in Illumina geboren.“ „Aus Kalos? Ist deine Muttersprache Französisch?“ Fahrig strich er sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Oui“, erwiderte er grinsend, „mes parents sont de Kalos." Verwirrt sah Haruka ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Verständnislosigkeit an, als er unerwartet in seiner Muttersprache redete. Als ob er einfach so einen Schalter umgelegt hätte. Faszinierend. „Was hast du gerade gesagt?“ „Ja, meine Eltern sind aus Kalos“, rezitierte der Blonde lächelnd und warf mit einer lässigen Bewegung seines Kopfes eine Strähne aus dem Gesicht. „Beeindruckend“, gab sie erstaunt zurück. „Dafür aber kannst du ziemlich gut japanisch. Bist du hier aufgewachsen?“ Célian schüttelte den Kopf. „Nein. Mit dreizehn bin ich von zu Hause weg.“ Nervös tippte er mit dem Zeigefinger am Glas seines Gin Tonics und sah sich mit erhobenem Blick in der Disko um. Mochte er nicht erzählen und wich ihr aus? Sie wusste nicht, ob sie ihn drängen oder es dabei belassen sollte, aber… aber ihre Neugierde war einfach zu groß. Die Koordinatorin wollte mehr über den sympathischen Jungen erfahren. Nicht weil sie ihn attraktiv fand, sondern sie mochte ihn ganz einfach. „Hast du denn noch Kontakt zu deinen Eltern?“, fragte sie beiläufig, ohne sich anmerken zu lassen, sich ihm aufdrängen zu wollen. Célian wandte sich ihr wieder zu und lächelte – oder grinste – verschlagen. Vermutlich verkniff er sich eine spöttische Bemerkung ob ihres Wissendrangs. „Manchmal. Nicht sehr oft. Halt dann, wenn sich mal ein Gespräch ergibt. Meist skypen wir. Sie haben mir auch als ich klein war, mein Kapuno geschenkt. Da war ich fünf oder so.“ „Kapuno?“, war das erste, was ihr dabei in den Sinn kam. Dabei war die eigentliche Sache – dass er sein erstes Pokémon bereits mit fünf Jahren bekommen hatte – unwichtig. Haruka hörte bloß den Namen des unbekannten Pokémons und wollte mehr wissen. Sie wusste zwar, dass es ein Pokémon aus Isshu sein musste, denn Aika hatte ihr mal von einem solchen Pokémon erzählt und ihr es grob beschrieben, ihr aber nie einen Dexeintrag gezeigt. „Ein Drachen-Pokémon, das ursprünglich aus Isshu kommt. Vielleicht hab‘ ich ja noch ein Foto von meiner werten Dame als sie noch klein war.“ Bei diesen Worten holte Célian sein iPhone aus der Tasche, drückte die Home-Taste und entsperrte das Handy mit einem eleganten Wisch nach rechts. Eilig tippte er auf seinem Handy herum, während Haruka still da saß und ihm dabei zuschaute. Irgendwie fühlte sie sich währenddessen furchtbar fehl am Platz. Nervös zwirbelte sie eine Haarsträhne um den Finger „Ich hab‘s!“, stieß er nach einer gefühlten verstrichenen Ewigkeit aus und zeigte hernach auf seinem Handy ein Foto eines schwarzblauen, vierbeinigem Pokémons, dessen Haarschopf so tief ins Gesicht gewachsen war, dass es kaum etwas zu sehen vermochte. Es sah cool aus. Und stark vermutete Haruka. „Das ist meine Morana!“, fügte er hinzu, nicht ohne Stolz in seiner Stimme. „Da war sie aber noch klein. So“, er wischte mit dem Finger über den Display, „sieht sie jetzt aus.“ Das Wort „Bestie“ kam Haruka als erstes in den Sinn, als sie das Foto betrachtete. Besonders auffallend war der zartrosafarbene Federschmuck am Haupt des Drachens, den sie gleichzeitig aus irgendeinem Grund furchterregend empfand. Das Foto war schlecht belichtet. Details konnte Haruka nicht besonders gut erkennen. Dennoch erkannte das Mädchen, einen dunklen Umriss, der in die Kamera blickte und die Zähne fletschte. „Sie mag Fotos nicht besonders. Da tut sie immer so schlecht gelaunt.“ Haruka erschauderte und beschloss, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Und wo hast du so gut japanisch gelernt? Bestimmt nicht im normalen Unterricht.“ Célian lachte, während er das iPhone zurück in die Hosentasche schob. „Nein, ich war auf einer Privatschule. Meine Eltern haben mich dort hingeschickt. Freiwillig wäre ich wohl dort nicht hingegangen. War halt auch ein Jahr im Ausland.“ „Dann muss deine Familie ganz schön Geld haben.“ Es klang weder neidvoll noch bewundernd. Sie versuchte, neutral zu klingen. Haruka wollte ihn nicht kränken. „Ich weiß“, sagte er schlicht, fügte dann aber rasch hinzu: „Aber sonderlich viel mache ich mir nicht aus Geld. Als ich von zu Hause weg gegangen bin, haben meine Eltern mir natürlich finanzielle Hilfe angeboten, wollte aber auf eigenen Beinen stehen und mein Geld selbst verdienen. Hier ein Preisgeld absahnen, da ein Preisgeld kassieren eben. Das ‚wahre‘ Leben spüren.“ Obwohl Haruka ihn mit ihrer Bemerkung nicht hätte kränken wollen, klang es nun wie eine Rechtfertigung in ihren Ohren. Jetzt wusste sie keine Antwort auf seine Erzählung. Was sollte sie auch schon antworten? Vielleicht war sie mit ihrem Eifer zu weit gegangen. „Wir haben jetzt so viel über mich gesprochen, aber über dich weiß ich nichts“, machte Célian ihre Sorgen zunichte. Scheinbar hatte der Blonde ihre Fragerei nicht als unangenehm empfunden. Er stützte seinen Arm auf die Theke, während er den Kopf interessiert auf seinen Handrücken stützte. „Erzähl‘ mir etwas über dich, Haruka.“ „Über mich gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen.“ Célian runzelte die Stirn und kicherte. „Gar nichts?“ Manchmal hasste sie ihr Leben. Sie war ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Eltern und einem jüngeren Bruder. Vielleicht war das ‚normal‘ auch etwas übertrieben… Immerhin war sie die Tochter eines Arenaleiters. „Mein Vater ist in Blütenburg Arenaleiter, und ich wohne dort, wenn ich mal zu Hause bin.“ „Dein Vater ist Arenaleiter?“ Wortlos nickte Haruka. Célian stieß daraufhin einen einen anerkennenden Laut aus und sah sie beeindruckt an. „Cool. Dann hast du es ja erst recht drauf.“ Ein verschmitztes Lächeln zierte seine Lippen, als diese lieblichen Worte seinen Mund verlassen hatten. „Du weißt schon: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und so.“ Haruka lächelte und wickelte sich erneut eine Strähne um den Zeigefinger. „Jup“, erwiderte sie und unterdrückte den starken Impuls, sich deshalb besonders zu fühlen. „Aber besonders mochte ich Pokémon als Kind eigentlich nicht. Ich kann mich kaum dran erinnern, aber als wir mal an der Küste in Seegrasulb City Urlaub gemacht haben, hatte ich eine nicht so angenehme Begegnung mit einem Tentacha.“ „Tentacha sind ja auch hartnäckig. Ständig hast du die an den Beinen kleben.“ Sie kicherte. „Das ist wahr. Ich mag sie heute immer noch nicht.“ „Geht mir auch so.“ „Wir sind jedenfalls oft umgezogen“, kam Haruka schließlich wieder auf das vorherige Thema zurück. „Eigentlich gibt es deswegen keinen wirklichen Ort, den ich wirklich als mein zu Hause bezeichnen kann.“ „Und woher kommst du dann ursprünglich? Ich mein, bevor deine Eltern nach Hoenn gezogen sind.“ „Ich bin schon in Hoenn geboren, aber ich war eins oder zwei, als wir weggezogen sind. Mein Vater hatte - wie soll ich sagen? – Probleme mit manchen Politikern. Daher sind wir weg.“ Haruka stoppte abrupt und besann sich einige Herzschläge lang. Sie haderte mit sich, ob es klug war, Details über die Vergangenheit ihres Vaters mit jemandem zu besprechen, den sie vielleicht mal zwei Stunden kannte. Immerhin wussten wenige Menschen die wahren Gründe, warum ihr Vater damals überstürzt sein Hab und Gut zusammen geklaubt und mit der Familie Hoenn verlassen hatte. Nicht jeder musste wissen, dass gegen Senri einst Vorwürfe der Steuerhinterziehung von staatlichen Geldern erhoben worden waren. Wegen mangelnder Beweise hatte die Liga die Anklage fallen lassen müssen. In Hoenn bleiben und weiterhin Arenaleiter sein wollte Senri nicht. Details aber wusste Haruka selbst nicht. Sie war damals noch zu klein, um zu verstehen. Jetzt, nach fast fünfzehn Jahren, sprach ihr Vater nicht über die Vergangenheit. Célian betrachtete Haruka eine Weile schweigend. Hoffentlich sah er in dem flirrenden Licht nicht, wie gerötet ihre Wangen waren. Da war der Alkohol schuld. Und Haruka merkte wie allmählich die Cocktails ihr zu Kopf stiegen. Einen leichten Schwindel fühlte das Mädchen und würde es gewiss am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen erwachen lassen. „Wohin seid ihr dann gezogen? In eine andere Stadt?“ Haruka schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte das Mädchen, „wir sind nach Engernia gezogen. Irgendwann hat mein Vater halt von der Liga in Hoenn ein gutes Angebot bekommen, da sind wir dann wieder nach Blütenburg gezogen. Da war ich zehn oder so. In dem Sinne bin ich mehr in Engernia zu Hause als in Hoenn, aber als reisende Koordinatorin bin ich jetzt sowieso dauernd an einem anderen Ort.“ Genauer gesagt stellte das Angebot eine Art Versöhnung dar, um die angespannte Situation zwischen Senri und der Regierung zu lösen. Ihr Vater vermochte die lukrative Empfehlung nicht auszuschlagen. Der damalige Champ hatte seine Fähigkeiten als Arenaleiter nahezu angepriesen und machte ihm somit ein Angebot, das Senri nicht ablehnen konnte. „And what about your English, sweet‘eart?“, grinste Célian sie mit einem charmanten Lächeln an. Haruka brauchte nicht lange nach Vokabeln suchen. Natürlich war Englisch nicht ihre Muttersprache, aber seit sie sprechen kann – mit zirka zwei Jahren hatte sie angefangen unverständliche Wörter zu brabbeln -, hatten ihre Eltern darauf geachtet, sie mit der englischen Sprache aufwachsen zu lassen. Ihr Vater konnte gut Englisch. So gab es hier kaum Probleme, denn Senri hatte sich angewöhnt, mit ihr und Masato, ihrem Bruder, Englisch zu sprechen, während ihre Mutter nach wie vor die japanische Sprache vorzog. „It’s okay, I guess, thanks. English is not my mother tongue, but my father speaks a lot with us in English. My mother is Japanese, though.” „Us?“Célian blickte sie aufmerksam an. „You ‘ave siblings?“ Haruka lächelte. „Yes, a brother, he’s younger than me. Do you have any siblings?” Der Junge schüttelte sein blondes Haar. „No. I only ‘ave two younger cousins, seventeen and thirteen. But they’re right enough for me to care for.” Haruka nahm einen großzügigen Schluck ihres Cocktails. Die Flüssigkeit rann ihre Kehle herab, und sie glaubte, bereits den stärker werdenden Schwindel des Alkohols zu spüren. Doch tat sie es rasch als Einbildung ab. „It seems you speak English as well as French, could this be?” „Not really“, antwortete Célian und verzog die Lippen. „I’ve learnt it in school and I was in Isshu for about a year, but it’s not my favourite language. So, could we talk in Japanese again, please?“Beinahe verzweifelt klang Célians Bitte. Dafür, dass er bloß ein Jahr in Isshu war, sprach er ziemlich gut Englisch. Natürlich hörte man den feinen, französischen Akzent heraus, aber das war absolut nicht schlimm. Es gefiel ihr sogar. Würde ihr Herz nicht schon vergeben sein, dann hätte sie sich sicherlich für Célian begeistern können. Schließlich war er attraktiv, gebildet und freundlich. „In Ordnung“, Haruka nickte zustimmend. „Aber dafür kannst du ziemlich gut Englisch.“ Célian lachte in sich hinein. „Yay, das ist Aikas Schuld. Sie zwingt mich… hey, hörst du mir überhaupt noch zu?“ Haruka hörte nicht mehr zu. Etwas Anderes erregte ihr Interesse. Sie schien Célians Gegenwart vollends zu vergessen. Sie hatte sich zwei Mädchen zugewandt, die bloß vier oder fünf Meter von ihnen entfernt an der Bar saßen. Ein Kerl sprach sie an und berührte leicht dabei den Rücken der Mädels, die sich daraufhin zu ihm umdrehten. Er beugte sich vor, um mit ihnen zu tuscheln. Im vorherrschenden Halbdunkel vermochte Haruka nicht ihre Mimik zu deuten. Unauffällig starrte die Koordinatorin in jene Richtung, angestrengt um dem Gespräch zu lauschen. Dabei schnappte Haruka nur einzelne Wörter auf, die zunächst kaum Sinn ergeben wollten. Dann erhoben sie sich unerwartet, und Haruka blickte ihnen enttäuscht hinterher, als sie aus ihrer Sichtweite verschwanden. Unwillkürlich merkte sie wie die Stimmung kippte. Haruka konnte nicht erklären, aus welchem Grund die Veränderung zu spüren vermochte. Als sie einen kurzen Blick zur Tanzfläche warf, sah sie, dass deutlich weniger Jugendliche den Platz eingenommen hatten, um sich ihren Kummer, die Sorgen oder was auch immer sie bewegte, von der Seele abzutanzen. Nun verließen die jungen Menschen den stickigen Raum und strömten hinaus ins Freie. Erneut schnappte sie dabei Gespräche von Jugendlichen auf. Dabei nahm sie Geflüster, Gelächter und Entsetzen wahr. Entsetzen? Abrupt stand Haruka auf und wurde von Célian sogleich festgehalten, der sie am Arm packte und irritiert ansah. „Was hast du, warum stehst du auf?“ „Ich glaube, Aika ist in Schwierigkeiten.“ Kapitel 10: Absturz ------------------- Haruka hätte es ahnen müssen. Aika war im Laufe des Abends einfach so verschwunden, ohne Bescheid zu geben. Vielleicht erinnerte sich Haruka aber auch nicht mehr daran, dass Aika sie noch in Kenntnis gesetzt hatte, wohin sie gegangen war. Durch den einnehmenden Lärm und den Alkohol hatte Haruka kaum etwas verstanden oder wahrgenommen. Vielleicht konnte sie sich deswegen nicht mehr daran erinnern? Jedenfalls hielt sich Aika stets an Orten auf, die Ärger versprachen. Denn wie ein Magnet zog sie Ärger an. Unzählige Male zuvor hatte Haruka dies schon erlebt. Hoffentlich war nichts allzu Schlimmes geschehen. In drängender Sorge hatte die Koordinatorin die Disko verlassen, nachdem sie das eine oder andere Gespräch von fremden Jugendlichen belauscht und ein paar Hinweise erhalten hatte. Célian war ihr gefolgt, obwohl er Haruka wenig entlocken konnte, aus welchem Grund sie der Annahme war, dass sich Aika Probleme eingehandelt habe. Zunächst war er irritiert gewesen, hatte dann aber rasch eingewilligt, sie zu suchen. Wie Haruka war er ebenso besorgt. Célian schien Aika lange genug zu kennen, um zu wissen, dass sie einer Prügelei nicht sonderlich abgeneigt war. Die kalte Nachtluft belebte Haruka und ließ sie frösteln, gleichzeitig aber erfrischte die angenehme Kühle ihren Geist, der vom Alkohol leicht benebelt war. Sie war es nicht gewohnt, so viel zu trinken – für ihre Verhältnisse zumindest. Überraschend leicht war es ihr gefallen, in Célians Gesellschaft ihre Abneigung zu überwinden. Sie mochte den Jungen, er… „Wo willst du Kyra suchen?“ Haruka zuckte zusammen. Célians Stimme. Sie war derartig in Gedanken versunken gewesen, dass Haruka orientierungslos fortgerannt war. Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr sie sich durch das drapierte Haar und ließ sich eine gefühlte Ewigkeit mit der Antwort Zeit, während sie sich umsah. Das ‚Empire‘ befand sich auf einem alten Hafengelände. Eine ausgediente Lagerhalle war modern umgebaut worden und war mit der Zeit zu einer beliebten Location geworden. Nicht weit entfernt hatten die Besucher Zugang zum Strand, an dem an warmen Sommertagen ausgelassen gefeiert wurde. Jetzt war die Promenade verlassen. Zumindest teilweise. Die rauchige Luft im Club hatte reichlich Jugendliche nach draußen gelockt. „Ich… weiß nicht.“ „Hör zu, du holst erst mal tief Luft und dann…“ Die Koordinatorin sah ihn an, als er stockte und nicht mehr weitersprach. „Und dann was?“ „Ich glaube, unser Problem hat sich gerade in Luft aufgelöst.“ Célian deutete mit einem knappen Kopfnicken in eine Richtung, aus der gedämpft Schreie und Jubelrufe erklangen. Haruka folgte seinem Blick und erstarrte. Unzählige Menschen standen dicht an dicht in einem Kreis beisammen, während sie gafften und begeistert grölten. Und mitten in dieser Masse tobte Tera, deren Flammen hell flackerten und das Fell kampfeslustig gesträubt war. Im Schein des lichten Feuerkragens erhaschte Haruka den Blick auf Aika. Sie hätte die junge Frau überall wiedererkannt. Insgeheim beneidete Haruka ja die Blonde um ihre gute Figur. Sie war groß gewachsen und hatte eine schmale Taille. Generell war Aika schlank und sportlich. Und sie konnte vieles tragen und sah darin gut aus. Selbst ausgediente oder lässige Klamotten, die sie mehr als ihren Stil bezeichnete als schicke Businesskleidung, standen ihr und erweckten nicht den Eindruck, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen kam. Ihre sonst zerschlissene Jeans hatte Aika für den heutigen Abend gegen ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid mit leichtem Stoff getauscht. Aika wusste wie sie ihre weiblichen Reize geschickt auszuspielen vermochte. Trotz der winterlichen Temperaturen zeigte Aika viel Haut. Freizügig offenbarte sie ihr Dekolleté, gerade so viel, dass der Brustansatz zu sehen war. Sie gab sich aber nicht die Mühe, die Tattoos zu verbergen. Ihre Schultern waren unbekleidet und zeigten am rechten Oberarm ein wirres Knäuel, das aus Strichen ein ineinander verschlungenes Muster ergab, während auf dem linken Schulterblatt ein eher verstörendes Tattoo, ein Totenkopf, umrahmt von Rosen und dem Untertitel „For the Fallen“, zu sehen war. Der Kontrast zwischen den auffallenden Tattoos und dem eleganten Kleid passte gar nicht zueinander, und doch verlieh es der jungen Frau etwas Einzigartiges. Welche Bedeutung aber die Tattoos für die junge Frau haben mochten, wusste Haruka nicht. Sie hatte in ihrem Beisein zu keiner Zeit über ihren Körperschmuck gesprochen. Zumindest hatte sie jede Gelegenheit abgewehrt, in der Haruka sie auf die Bedeutung angesprochen hatte. Scheinbar verband sie zu viel Schmerz mit ihnen. Möglicherweise weckte es die Erinnerung an ihre verstorbene Mutter. Allerdings hatte Haruka es irgendwann aufgegeben. Erschreckend wenig wusste sie über Aika Bescheid, obwohl sie seit ihrer gemeinsamen Reise durch Johto zu besten Freundinnen geworden waren. Natürlich wusste sie, woher Aika stammte und aus welchen Verhältnissen sie kam, die sie dazu bewogen hatten, von zu Hause abzuhauen. Während Haruka noch auf das Geschehen mit wachsendem Entsetzen blickte, fasste Célian sie vorsichtig an der Hand, um sie mit sanftem Druck mit sich zu ziehen. „Komm, sie steckt wirklich in Schwierigkeiten“, drängte der Junge und ließ das Handgelenk los, als sie ihm kaum merklich zunickte und ihm nachlief. Ob Panik Haruka ergriffen hatte, konnte sie sich im Nachhinein selbst nicht mehr erinnern. Als sie gemeinsam auf die Menschentraube zu rannten, schwoll der Lärm zu einem vielstimmigen Grölen zahlreicher Jugendlicher an - erschreckenderweise auch von Erwachsenen. Haruka empfand die hetzerischen Rufe als abstoßend und verstörend. Dabei wurde ihr kalt ums Herz. Sie fröstelte abermals, doch nicht aus Kälte. Bereits der Gedanke, sich zwischen betrunkenen und pöbelnden Menschen durchzudrängen, widerte Haruka an und ließ sie zögern. Denn unter dem aufpeitschenden Gebrüll mischten sich Beschimpfungen übelster Art und vulgäre Begriffe, jedes einzelne Wort verletzend und unter aller Würde. Sie hasste es, über die bösen Bemerkungen hinwegzusehen und gar entschuldigend um Durchlass zu bitten. Das enge Gefühl wich, nachdem Célian und Haruka unter genervten Blicken und pöbelnden Jugendlichen die vorderste Reihe erreicht hatten. Erleichtert vermochte Haruka etwas freier zu atmen, doch die Anspannung blieb, als die Koordinatorin ihre Freundin entdeckt hatte. Einen Herzschlag lang blieb ihr Blick an der jungen Frau haften, dann ließ ein furchtbares Geschrei Haruka zusammenzucken. Teras wütendes Fauchen erklang, als sich die stolze Tornuptodame aufbäumte und sich, kratzend und beißend, gegen ein Luxtra warf. „Aika!“ Aika fuhr herum. Ihre blauen Augen leuchteten vor Schreck. Haruka wusste nicht so recht, wie sie ihren Blick zu deuten hatte. „Was macht ihr hier?“ Fahrig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie Célian und Haruka angespannt musterte. Mit Schrecken erkannte die Koordinatorin, dass Aikas Lippe aufgeplatzt war. Um Arceus Willen, was war hier geschehen? Célian stieß einen ungläubigen Pfiff aus. „Na, was denn wohl? Nachdem du zwei Stunden verschwunden warst, haben wir dich gesucht.“ „Donnerblitz.“ Ein schlichter Befehl einer rauchigen, von Alkohol belegten Stimme. Aika wirbelte herum. Noch immer prügelten sich Tornupto und Luxtra verbissen am Boden, hieben mit den Krallen aufeinander ein und schnappten nach dem jeweils anderen. Dann floss eine elektrisierende Aura um Luxtras Leib; ein hörbares Knistern ertönte, als sich Starkstrom an einem einzigen Punkt sammelte. Selbst Teras Fell sträubte sich während es sich statisch auflud. Die Tornuptodame fauchte und versuchte sich aus dem Griff des Löwen zu begreifen. Alles geschah so rasch. Mit schreckensgeweiteten Augen sah Haruka Aika an, die nicht mehr die Zeit hatte, um ihrem Tornupto ein Kommando zu geben. Doch Tera brauchte nicht die geliebte Gefährtin, um zu handeln. Sie war nicht eines jener verzärtelten Pokémon, die auf die Gegenwart des Trainers angewiesen waren. Sie stieß ein grollendes Knurren aus. Binnen weniger Sekunden, als grelle Blitze die Nacht für einen kurzen Moment taghell erleuchteten, hatte sich ein schützender Kokon aus Flammen um Teras Körper gebildet. Die freigewordene Elektrizität traf auf glühende Hitze. Die ungleichen Elemente fochten ein unerbittliches Duell, welches weder zu gewinnen noch zu verlieren war. Es zischte und knackte, brodelte und fauchte. Alsbald versiegte der Stromfluss. Luxtra jaulte schmerzerfüllt auf, als die gierigen Flammen nach seinem Leib lechzten, während Tera in ihrem lodernden Kokon dem Starkstrom entschlossen trotzte. Irgendwann stauten sich aber die Energien so sehr, dass sie sich in einem ohrenbetäubenden Knall lösten. Die dabei entstandene Druckwelle riss die Konkurrenten von den Beinen und schleuderte sie mehrere Meter auseinander. Beachtlich schnell kam Luxtra wieder auf die Pfoten, wenngleich sich sein Brustkorb in rascher Abfolge hob und senkte. Tornupto schien das Glück nicht hold zu sein. Tera blieb mehrere Herzschläge lang reglos liegen. Dann hob sich das stolze Weibchen unter zischenden Atemzügen. Ihr Gesicht sah unter offenkundigen Schmerzen verhärmt aus. Entsetzt vermochte Haruka ihren Blick nicht von Tornupto zu nehmen. Teras gesamte Haltung verhieß einen quälenden Schmerz. „Aika, hör auf mit dem Scheiß! Tera kann kaum mehr stehen, sie ist krankgeschrieben!“, flehte die Koordinatorin ihre Freundin an, wartete einen kurzen Moment, dann fügte sie bittend hinzu: „Lass dich nicht auf deren Niveau herab!“ Unbewusst hatte Haruka dabei in ihre Handtasche gegriffen, mit den Fingern einen Pokéball umfasst und holte ihn hervor. Beim Wissen, stets ihre Pokémon bei sich zu haben, ergriff sie ein Gefühl der Sicherheit. Denn irgendetwas flüsterte ihr zu, dass dieser Abend nicht mehr ganz so friedlich zur Neige gehen wird. Und doch spürte sie unerwartet, wie Célian die Hand auf die ihre legte und wortlos mit dem Kopf schüttelte. Fragend sah sie den Jungen an, der ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Dann wandte er sich ab und trat ein paar Schritte vorwärts. „Hey Leute“, sprach Célian lässig, „die Party ist vorbei. Geht nach Hause.“ Ernst blickte er anschließend Aika an, fügte leiser sprechend hinzu: „Haruka hat recht“, pflichtete Célian bei, „lass den Scheiß.“ Als Aika die Freunde kurz ansah, glaubte Haruka für einen Augenblick, dass sie begriff, auf welches Niveau sie sich gerade herabließ – und wie sehr sie mit ihrer Unvernunft Teras Genesung gefährdete. Ihre Hoffnung wurde jedoch jäh zerstört. „Verpisst euch“, giftete einer der betrunkenen Jugendlichen und baute sich neben seinem Kumpel drohend auf. „Nicht wahr, Adrian?“ „Ihr habt euch nicht einzumischen. Oder sucht ihr Ärger?“ Der Kerl, welcher Luxtras Trainer war, hieb mit seinen Fäusten in die offene Handfläche. Grinsend unterstrich er die drohende Gebärde. Haruka zuckte zusammen, als sie den Namen des jungen Mannes hörte; eine unangenehme Erinnerung stieg in ihr auf. Während sie wohl darauf bedacht war, Ruhe zu bewahren, musterte sie die Typen abschätzig. Sie hasste solche Typen einfach, ganz egal, was auch zuvor vorgefallen sein musste. Dabei erregte das Aussehen der Männer keine besondere Aufmerksamkeit; sie waren nicht sonderlich attraktiv, sondern machten vielmehr einen schmutzigen und ungepflegten Eindruck. Der Luxtra-Kerl hatte lange dunkle Haare, zu einem Zopf gefunden, ebenso dunkle harte Augen und einen leichten Bartwuchs. Er war groß und muskulös, aber trotzdem hatte er eine recht gute Figur. Seine Mundwinkel hatten sich zu einem höhnischen Grinsen verzerrt. Haruka wusste aus eigener Erfahrung, dass er ein unangenehmer Geselle war. Sein Name war Adrian. Zumindest wurde er von seinen Freunden so genannt. Sie konnte echt nicht fassen, dass er noch auf freiem Fuß war. Der andere hatte etwas längere Haare im gewöhnlichen straßenköterblond, blau-graue Augen und hochgewachsen. Seinen Klamotten zu urteilen schien er aus besseren Kreisen zu stammen. Genauso unauffällig erschien ihr der Dritte mit brünetten Haaren, der sich bisher im Hintergrund gehalten und die Angelegenheit abwartend beobachtet hatte. Für Haruka spielte es jedoch keine Rolle, solange die beiden Jungen mit dem unsympathischen Kerl herumlungerten, der scheinbar der Anführer des Trios war. „Ich glaube, ihr sucht Ärger“, stellte Célian hochmütig klar. „Immerhin habe ich euch freundlich darum gebeten, nach Hause zu gehen oder etwa nicht?“ „Was willst du, Blondchen? Eine aufs Maul?“ „Ich weiß nicht? Kommt drauf an, ob ihr eine aufs Maul wollt?“ Mit diesen Worten griff Célian in die Innenseite seines Jacketts und entließ mit einem hörbaren Klicken eine dunkle Silhouette aus dem Inneren eines Pokéballs. Ein finsterer Schatten schwebte über den Anwesenden und streckte wie feingliedrige Finger seine ausgefransten Schwingen aus. Auf langen Hälsen ragten bedrohlich drei Köpfe auf. Das federartige Fell am mittleren Kopf wirkte auf groteske Weise wie eine aufgegangene Blüte, die anderen Köpfe wie verschlossene Knospen, welche nicht genügend Licht erhalten hatten, so als hätten sie zu viel der Schattenhaftigkeit eingesogen und wären daran elendig vertrocknet. Doch alles an dem Wesen war pure Finsternis, die Haruka unwillkürlich frösteln ließ. Mit Furcht und Erstaunen besah sie sich dieser gruseligen Erscheinung. Haruka fühlte unweigerlich wie sie der schleichenden Angst anheimfiel. In Wirklichkeit sah der Drache noch bedrohlicher aus als auf einem bloßen Foto. Ein mehrtöniges, dunkles Knurren drang aus der Kehle der Hydra hervor, während die gespaltene Zunge zischelnd den Geruch ihrer Feinde wahrnahm. Kalte Augen blickten anmaßend auf den Löwen herab, der sich dem Drachen widerwillig entgegenstellte. Die Pupillen waren angstvoll geweitet, die Haltung geduckt und das Fell des Luxtras gesträubt. Selbst sein Trainer wich einige Schritte zurück. Hellgrauer Rauch stieg aus den Nüstern, als die Hydra scheinbar belustigt die Feindseligkeit hinnahm. Aufgerissene, geifernde Mäuler warteten darauf, die Beute zur Strecke zu bringen und zu reißen. „Mein Mädchen hier hat Hunger, sie hat heute noch nicht zu Abend gegessen“, bemerkte Célian mit einem Grinsen. Dabei brüllte jeder Kopf der Hydra und schnappten mit stählernen Kiefern ins Nichts. Unsichere Blicke warfen sich die Jungen zu und tuschelten so leise miteinander, dass Haruka nicht zu verstehen mochte, was sie sprachen. Angespannt beobachtete sie die Situation. Es war nicht einzuschätzen, ob sie so sehr eingeschüchtert wirkten, dass sie letzten Endes doch den Streit beilegten und abhauten. Oder Célians Drohung als Beleidigung ansahen. „Was hast du vor?“ Unerwartet stand Aika neben Célian. Ihre Stimme war ein leises Wispern. Célian zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mich auf dein Niveau herabbegeben?“ Der Blonde seufzte theatralisch, fügte hernach mit leicht höhnischem Unterton hinzu: „Wobei ich mich ernsthaft frage, ob du so was überhaupt kennst.“ Aika zog eine Grimasse und knuffte ihm in die Seite. „Sehr witzig.“ Ironie schwang ihrer Stimme bei, doch dann wurde sie wieder ernst. „Sie werden sich nicht auf deine Warnung einlassen.“ „Woher weißt du das?“ Fragend schaute er sie an. „Ich weiß das einfach“, erwiderte die junge Frau schlicht und mied seinen Blick. „Hab‘ ich so im Gefühl. Du kennst mich doch.“ Und Aika irrte selten. Seit sie mit dreizehn von zu Hause weggelaufen und auf eigene Faust nach Isshu gereist war, war sie auf der Straße zu Hause und hatte schon vieles erlebt haben. Bestimmt hatte sie bereits Kerle des gleichen Schlages getroffen und nahm daher ihre Entschiedenheit her. „Glaubt ihr wirklich, dass wir uns in die Hose scheißen? Verpisst euch oder ihr müsst es auf die harte Tour lernen.“ Lautes Gelächter schallte durch die Nacht, als Adrian seine Freunde ansah und nach Zustimmung suchte. „Was wollt ihr zwei Hübschen schon gegen uns ausrichten? Wir sind zu dritt.“ Célian hob den Zeigefinger. „Falsch. Ihr vergesst, dass mein Mädchen hier immer noch Hunger hat“, warnte Célian eindringlich, „und wenn sie Hunger hat, ist Morana immer besonders schlecht gelaunt.“ „Vor allem würden wir uns liebend gerne den Gestank ersparen“, antwortete Aika belustigt und erfreute sich an den hochroten Köpfen der Typen. Es machte Haruka Spaß, zuzusehen, wie Célian und Aika die Kerle aufstachelten und wie hernach die jungen Männer darauf reagierten. Wenngleich es ihrer Natur nicht entsprach und sie sich in ihrer Haut nicht gerade wohlfühlte, kam ihr der Gedanke, sich auf einen Straßenkampf einzuladen, besonders reizvoll vor. Erstaunt spürte sie ein sachtes Prickeln, welches ihr fremd, aber auch irgendwie vertraut war. Gleichzeitig ärgerte sie sich über die Tatsache, übersehen worden zu sein. War sie so unscheinbar? „Außerdem“, merkte schließlich Haruka zögernd an, „solltet ihr zählen lernen.“ Gerade als sich die Koordinatorin anschickte, in ihre Tasche zu greifen und sich dieses Mal nicht von ihrem Tun abhalten zu lassen, öffnete sich wie von Geisterhand geführt ein Pokéball. Geschmeidig sprang Psiana aus dem engen Inneren der Kapsel und landete anmutig auf ihren Pfoten. Eines kurzen Blickes würdigte sie die bedrohliche Erscheinung der Hydra, die den mittleren Kopf leicht beugte und die Katze aus aufmerksamen Augen betrachtete. Savitas geteilter Schwanz zuckte nervös, sie murrte leise. Unsicherheit strahlte ihre Körperhaltung aus. „Ein Freund, keine Angst“, beschwichtigte Haruka sanft und lächelte erleichtert, als sich Psianas gesträubtes Nackenfell glättete, und sich die Lichtkatze allmählich entspannte. Grinsend wandte sich Célian an Haruka. „Freundin“, verbesserte er. „Sonst nimmt dir Morana das noch übel.“ Aika stieß einen unwilligen Laut aus und sagte: „Mag euch ja nicht unterbrechen, aber wenn ihr weiter quatscht, dann kriegen wir echt ein Problem.“ Haruka blickte den jungen Männern entgegen. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie sich von ihrer Pöbelei nicht abbringen ließen und dass es nun offensichtlich zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kam. Mit einem schwachen Kopfnicken deutete Aika auf den blonden Kerl. „Der da ist der Trainer von Sleimok. Tera konnte ihm etwas seinen Körper anzünden, dürfte wohl also etwas mitgenommen sein“, klärte sie Célian und Haruka hastig auf. „Der andere hat ein Kicklee, hielt sich aber die gesamte Zeit im Hintergrund. Keine Ahnung, wie stark der Kerl ist. Und ob der eine ernsthafte Bedrohung ist.“ „Wer hat uns denn in diese Lage gebracht?“, konterte Haruka so rasch, dass, Célian auflachte. Belustigt bebten Psianas Schnurrhaare, als die Lichtkatze den Löwen beobachtete, der furchtsam das Trikephalo anstarrte. Während sie seine Angst deutlich roch, packte eine sengende Wut nach ihr. Sie merkte wie sich ihre Krallen in den Boden unter ihr gruben und ignorierte den Schmerz, als der Asphalt nicht nachgab. Um sich wieder zu besinnen und Herrin ihrer Gefühle zu werden, schloss Psiana die Augen, sah doch aber bloß vergangene Erinnerungen, wie dieses Luxtra sie einst demütigte. Und sie vermochte damals nichts dagegen zu tun. Jetzt würde es ihr großes Vergnügen bereiten, wenn sie diesem aufgeblasenen Luxtra ihre Kraft beweisen könnte. Ein zahmes Kätzchen, das sich einfach so herumschubsen ließ, war sie nicht mehr! Besorgt merkte Haruka wie Psiana auf den Löwen reagierte. Ihr pulsierender Hass pochte in Harukas Geist wie ein Geschwür, das jeden Moment zu platzen drohte. Natürlich erinnerte sie sich an den Tag, an dem Psiana gegen ein Luxtra verlor. Doch es war eine Niederlage wie jede andere gewesen, dachte Haruka zumindest. Trotzdem aber wusste sie nun, dass sich hinter dieser Aggression pure Rivalität verbarg. Und Stolz. Ob es demnach richtig wäre, dass Psiana gegen Luxtra kämpfte? Als Psiana mit ausgefahrenen Krallen einen Schritt auf Luxtra vortrat und jederzeit zum Sprung bereit war, pustete Tornupto grell tanzende Flammen vor ihre Pfoten. Anklagend fauchte Psiana die vertraute Freundin an, die sie mit zurückgezogenen Lefzen anknurrte. „Ich glaube, das wird nichts“, sprach Aika entschuldigend zu Psiana. „Tera hat 'ne Rechnung mit dem Vieh noch offen.“ Psiana murrte. Als hätte sie es nicht drauf oder was?! Mit einem grimmigen Blick wandte sie sich an Haruka und knurrte missgelaunt. Ein kühler Stoß geistiger Energie durchfuhr Haruka, der sie überrascht aufkeuchen ließ. Schon lange hatte sie Savitas Präsenz nicht mehr in ihrem Bewusstsein wahrgenommen. Genauer gesagt seit sie in Oliviana verloren hatte. Du weißt, was mir diese Missgeburt angetan hat!, fauchte Psiana hasserfüllt. Und du hinderst mich daran, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen! Entsetzen erfüllte sie, als Psianas Hass nach ihr griff und sie in eiserner Hand hielt. Noch nie hatte sie die Lichtkatze dermaßen von Rache getrieben erlebt. „Es ist besser so“, versuchte die Koordinatorin die Gefährtin zu beschwichtigen, wohl wissend, dass Savita ihr dies noch lange vorhalten würde. „Wir schnappen uns Kicklee, einverstanden?“ Ob ich damit einverstanden bin, spielt hier keine Rolle. Du triffst die Entscheidungen, nicht ich. Pikiert drehte sich Psiana weg, während ihre Schweife wütend peitschten. Was fragte Haruka auch noch so blöd! Sah es so aus, als wäre sie einverstanden? Jetzt dachte dieser arrogante, missratene Löwe sicherlich, dass sie einen Kampf fürchtete! Es juckte ihr in den Pfoten, diesem eingebildeten Luxtra ihre Krallen in den Hintern zu bohren, nicht diesem… diesem Gummiaffen! Das war zum Aus-dem-Fell-springen! Célian schwieg für einen Moment. „Gut“, meinte er bloß. „Morana wird das Sleimok mal etwas aufmischen. Auf geht’s?“ Die Mädchen sahen sich an; Haruka nickte zustimmend. Aika grinste schadenfroh. „Auf geht’s!“ Die Worte klangen wie Musik in Psianas Ohren. Sie waren pure Erlösung. Denn kaum waren sie ausgesprochen, preschte die Lichtkatze vor. Sie dachte nicht daran, sich an Teras Warnung zu halten. Zu wütend war sie, um zu merken wie sich ein Feuerball zwischen Tornuptos Fängen zusammenbraute. Erst als Tera die lodernde Kugel auf sie abschoss, spürte Psiana das Zischen und Knacken der Flammen. In letzter Sekunde federte sich die Lichtkatze vom Boden ab und sprang über die Kugel hinweg. Als sie wieder auf dem Boden aufsetzte, sahen sich Tornupto und Psiana mit blitzenden Augen an. Tera kräuselte die Lefzen und knurrte dumpf. „Savi, Schluss! Oder soll ich dich auswechseln?“ Widerwillig gab Psiana nach. Sie hasste es, klein bei zugeben. Sie waren zwar Freundinnen, doch Savita war klug genug, um sich nicht mit Tera anzulegen. Manchmal konnte das Tornuptoweibchen zu einer wahren Furie mutieren. Die flammende Kugel war nur eine weitere Drohung gewesen. Eine nächste Warnung war nicht mehr so schlecht gezielt, das wusste Psiana. „Ihr macht Witze, oder?“ Es war die rauchige Stimme des Luxtra-Trainers. Spott und Hohn schwang seinem Ton bei. Haruka vermutete, dass er sich bereits siegreich wähnte, und sie hoffte, dass sich Savita endlich zusammenriss. Es wäre wieder eine Demütigung, wenn ihr Stolz eine Niederlage herbeiführen sollte. Ärgerlich ballte die Koordinatorin die Faust. Warum musste Psiana immer so stur sein? „Reiß dich jetzt zusammen! Du konzentrierst dich auf Kicklee – und auf nichts anderes, verstanden?“ Überrascht blinzelte Psiana. Strenge vernahm sie in Harukas Stimme. Ihr gefiel es nicht, den Unmut des Mädchens so deutlich zu spüren. Wann hatte sie Haruka so wütend erlebt? Sie erinnerte sich nicht. Es bedurfte ziemlich viel, das sonst so gelassene Mädchen zu verärgern. Célian schaute zu ihnen rüber. „Die Kleine hat echt Probleme mit ihrem Temperament, kann das sein?“ Belustigt zuckten Psianas Ohren. Sie drehte ihren Kopf und sah Célian mit durchdringendem Blick an. Ein Problem damit, Blondchen?, grollte Savita. Die Belustigung aus Célians Gesicht schwand und machte Erstaunen Platz, als er die Stimme in seinem Kopf hörte. Haruka konnte sich kein Grinsen verkneifen. So hatte sie auch geschaut, als Psiana das erste Mal zu ihr gesprochen hatte. Dennoch war ihr der Konflikt mit Psiana unangenehm. Was er wohl denken mochte! Dass sie ihr Pokémon nicht unter Kontrolle hatte? Sie wollte fliehen, weglaufen oder im Boden versinken. Es fiel ihr schwer, ihren Ärger beiseite zu schieben und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. „Ich erklär's dir später.“ Und du sagst mir, dass ich mich zusammenreißen soll. Is‘ klar. Sie wandte sich ab, denn kaum hatte sie dies ausgesprochen, stürmte bereits Kicklee auf Psiana ein. Jaja, du hast ja Recht, zufrieden?, erwiderte Haruka. Sie musste sich auch zusammenreißen, wenn sie es von Savita verlangte. „Sternschauer!“ Ein wohlwollendes Schnurren entrann Psianas Kehle. Zufrieden drehte sie sich weg. Psiana legte die Ohren an und fauchte angriffslustig. Mit festem Blick taxierte sie Kicklee, das sich mit einem gewagten Sprung über die Lichtkatze hinweggesetzt hatte. Schnell, aber zu langsam. Zumindest aus der Sicht einer Katze. Hunderte Sterne bildeten sich aus umherschwirrenden Funken und stachen von allen Seiten auf Kicklee ein. Verzweifelt versuchte es dem sirrenden Sternenschauer zu entkommen, doch vergebens. Kicklee kollidierte mit Psianas Angriff und wurde rücklings zu Boden geworfen. Triumphierend peitschte Psianas Schweif durch die Luft. Am Rande nahm Haruka wahr wie Célians Drachin einer übelriechenden Schlammbombe anmutig auswich und wie sich hernach eine Böe aus dunklen Nebelfetzen ausbreitete. Obwohl Sleimok versuchte, den finsteren Wind abzuschütteln, gelang es ihm jedoch nicht. „Ausweichen, Tera!“, hörte Haruka Aika rufen. Tera atmete schwer, erschuf dennoch binnen weniger Sekunden exakte Ebenbilder ihrer selbst. Im selben Moment schlug ein Blitz krachend in eine der Illusionen ein, die sich daraufhin zischend auflöste. Am Boden hinterließ der Blitzeinschlag einen tiefen, rauchenden Krater. Wütend, dass ihm die Beute entkommen war, fauchte Luxtra. „Mach sie alle platt!“, befahl sein Trainer trocken, während der Löwe bereits erneut Energie generierte und die Blitze auf jedes Ebenbild entlud, dass qualmend verschwand. Tera stöhnte, als sie Luxtra im letzten Augenblick zum eigenen Schutz einen Flammenwurf entgegenspie und durch die Druckwelle von den Füßen gerissen wurde. Wieder blieb Tera für wenige Augenblicke liegen, zu erschöpft, um die Kraft aufzubringen, sich rasch auf die Füße zu begeben. „Stromstoß, Luxtra!“ „Kicklee, Sprungkick!“ Sie kämpften gemeinsam, doch kämpfte jeder auf seine eigene Weise für sich. Haruka konnte nicht zusehen, wie Tornupto Luxtra wehrlos aufgeliefert war. Sie nahm zur Kenntnis, dass Kicklee wieder auf den Beinen war, sich mit einem Sprung vom Boden abfederte und einen Satz auf Psiana zumachte. Ebenso nahm Haruka am Rande wahr, wie Elektrizität um Luxtras Leib floss und es Tera attackierte. Ein Angriff, der schwere Folgen haben würde. Du musst ihr helfen!, durchfuhr es Haruka. Überrascht blinzelte Psiana. Jetzt auf einmal? Sie wandte sich dem Löwen zu, die Krallen bereits ausgefahren. Ja, tu‘ endlich was! Diese Finte würde Tera Zeit geben; Zeit geben um wieder auf die Beine zu kommen. Hoffentlich. Gereizt fauchte Psiana. Verdammt nochmal! Ich weiß, jetzt lenk‘ mich nicht dauernd ab! Ihr lag der Schalk in den Augen, als sie miauend das Juwel auf ihrer Stirn zum Strahlen brachte und die darin gefangene Energie freisetzte, die den Löwen augenblicklich in seinem Lauf lähmte. Als hätte man die Zeit angehalten, blieb die gelbe Aura um Luxtras Leib. Gegen die unsichtbare Kraft ankämpfend versuchte es sich zu befreien, doch genoss es Psiana, in seine geweiteten Augen zu blicken. Einen Freiflug gefällig? Haruka nickte. „Schleuder es anschließend auf Kicklee!“ Mühelos schleuderte Psiana Luxtra herum, direkt gegen Kicklee. Ein Schrei kam aus dem Mund des Kampf-Pokémons, als Starkstrom seinen Körper schüttelte und ihm die Kraft entzog. Wie erhofft erhob sich Tera unter Anstrengung. Sie schnappte nach Luft, keuchte schwer und verzog schmerzverzerrt die Lefzen, doch sie stand. Ihre Augen lagen auf Savita, die dem Blick tapfer standhielt. In dankbarer Geste neigte Tera den Kopf. Psiana maunzte zur Erwiderung. Erleichtert atmete Haruka aus. „Danke“, sagte Aika neben ihr, „du hast Tera etwas Zeit verschafft.“ Danke mir, nicht ihr!, verlangte Savita entrüstet. Ich stehe hier und kämpfe, nicht die da! Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkel. „Danke, Savi.“ Psianas Ohren zuckten und sie gurrte zufrieden. Schon besser. Aika sah Haruka flüchtig an. „Sie redet wieder mit dir“, bemerkte sie. „Ja, hab‘ ich auch gemerkt“, erwiderte sie. „Wir halten dir den Rücken frei, okay?“ Zustimmend nickte Aika. „Okay.“ Derweil zischte eine dunkle Schattenkugel aus dem Schutze der Nacht hervor, welche im Kern lilafarben leuchtete, und sauste auf die Hydra zu. „Mit Flammenwurf abwehren!“, befahl Célian. Im Maul des dritten Kopfes brodelte und kochte es. Dann erhellte eine dunkelrote Flammenzunge die Nacht und brachte den Spukball zum Glühen. Als eine unsichtbare Grenze überschritten war und sich zu viele Energien aufgestaut hatten, explodierte die Kugel. „Matschbombe!“ Irgendwo im Rauch würgte Sleimok eine übelriechende Flüssigkeit hervor und spie trotz schlechter Sehverhältnisse die triefende Masse durch den Qualm auf den Drachen. Platschend traf der Matsch den Drachen an der Brust, welcher sich nun unwillig knurrend schüttelte, um den Dreck loszuwerden. Ich seh‘ dich nicht mehr, stellte Haruka fest, wo bist du? Nun aber verharrten die Pokémon. Psiana vermied es, unnötige Geräusche von sich zu geben, daher blieb sie wie angewurzelt stehen und lauschte – soweit es ihr möglich war. Sei still! Wenn du die ganze Zeit jammerst, hör ich nichts! Diese lärmenden Menschen waren echt widerwärtig! Immer mussten sie quengeln oder so laut grölen wie eine Herde Damhirplex in der Brunft. Wirklich nervtötend. „Wirbel‘ den Rauch weg, Morana.“ Es war unnötig, denn ihre feinen Nasen konnten immer noch den strengen Geruch des Sleimoks wahrnehmen, der den ungefähren Standort der Gegner verriet. Dennoch war es für die Menschen eine ungemeine Erleichterung, als die Sicht langsam aufklarte. Das Jammern und das empörte Geschrei der zu unterhaltenden Zuschauer hatten ein Ende! „Tera, Fokusstoß!“ Der dichte Rauch hatte sich allmählich aufgelöst, als Luxtra erschrocken aufjaulte. Eine rotierende Energiekugel, welche wie ein Herz rhythmisch pulsierte, hatte die Nebelfetzen durchbrochen und ihn unerwartet am Kopf getroffen. Benommen taumelte der Löwe und schüttelte heftig den Kopf. „Du bist lästig, Miststück“, fluchte Adrian verbissen. „Sternschauer!“ „Gleiches gilt für dich. Ruckzuckhieb!“ Zwischen den Konkurrenten entstand ein Tanz aus Jäger und Gejagtem. Glaubte Luxtra Tera erwischt zu haben, so verschwamm ihre Silhouette und sie tauchte an einem anderen Ort wieder auf. Geradezu leichtfüßig wich Tornupto den sirrenden Sternen aus, während sie knapp an Luxtra vorbeischlitterte. Zu spät bemerkte der Löwe die Finte, da spürte er bereits schon den Schmerz seines eigenen Sternschauers. „Gut gemacht“, lobte Aika, „mit Flammensturm weitermachen!“ Ein Flammeninferno brandete über die nahe Umgebung; eine schwüle Hitze ließ die Luft flirren und den Schnee zischend verdampfen. Haruka vermochte die unangenehme Hitze auf ihrer Haut spüren, die sie in dieser bitterkalten Winternacht erwärmte. Sie hatte ihren schützenden Trenchcoat an der Garderobe in der Disko vergessen. „Kraftreserve!“ Hörte Haruka aus seiner Stimme den Klang der Verzweiflung etwa heraus? Als Luxtra nicht spurte, fügte er hinzu: „Na mach schon!“ Panisch versuchte der Löwe die nötige Kraft zu konzentrieren und aus ihr die unerlässliche Energie zu gewinnen, doch die Furcht setzte ihm zu, als die Feuersbrunst herbeiwütete. Silbernes Licht löste sich von seinem Leib und begann als eine gebündelte Kugel in die Höhe zu schweben. Dann spaltete sich die unscheinbare Energie in Dutzende Splitter, welche schützend um Luxtra rotierten. Auf ein stummes Geheiß ihres Gebieters boten sie dem Inferno Einhalt, explodierten doch schon bald. Luxtra schien dies bereits vorhergesehen zu haben. Rasch hatte es sich zurückgezogen. „Schütz Psiana!“ Célians Befehl ließ sie aufmerken. Savita fauchte anklagend. Ihre Pfoten waren mit Krallen bewehrt, in ihrem Maul waren spitze Zähne. Pff, als müsste sie geschützt werden! Schützen? Ich muss nicht geschützt werden, du… Doch erst jetzt roch sie den verfaulten Gestank, als Psiana den tiefen Atemzug des Sleimoks spürte und hernach ausatmete. Der Geruch war so widerwärtig, dass Savita in Versuchung geriet, ihre letzte Mahlzeit hervor zu würgen. Verdammt! Panisch wollte sie nur noch weg, weg von diesem faulenden Matschhaufen! Der Gedanke ließ Psiana hektisch werden, sie stolperte über ihre eigenen Pfoten. Eine dunkle Faust ragte plötzlich drohend über der Lichtkatze auf. Doch da fiel jäh ein Schatten über Psiana und Sleimok; die Silhouette des Trikephalo tauchte auf, das wütend die Zähne fletschte und fürchterlich knurrte. Die Hydra spie einen nie enden wollenden Feuerodem auf Sleimok. Als der Matschhaufen kreischend Flucht ergriffen hatte, klappte die Drachin zufrieden das Maul zu, die blaue Flammenzunge erlosch. Psiana japste entsetzt, während sie Trikephalo wie erstarrt anblickte. Der rechte Kopf stieß sie auffordernd an, entfernte sich blitzschnell und zischte bedrohlich, als die Lichtkatze versteifte, mit der Pfote schlug und erschrocken fauchte. Himmel! Warum musste das Vieh ihr auch so nahe kommen? Erst jetzt bemerkte Savita, dass sie wie ein verängstigtes Evoli noch immer am Boden kauerte. Zitterte sie etwa? Sie zitterte! Wie erbärmlich – und peinlich! Rasch erhob sich Savita und wandte sich der Hydra zu. Blöd nur, dass sie zugeben musste, dass Morana – wie ihr Trainer die Drachin nannte – ihr aus der Patsche geholfen hatte. So neigte Savita in stummer Dankbarkeit den Kopf, auch wenn ihr stets solche Gesten sehr schwer fielen. Wieder stupste einer der Köpfe die Lichtkatze an, dieses Mal der Linke, und erneut sträubte sich Psianas Fell. Schwarze Augen sahen sie einfach nur an. Schaudernd wandte sich Psiana ab. Anfreunden könnte sie sich nicht mit der Drachin… Sie war unheimlich! „Megakick!“ Kicklee hob sein rechtes Bein, welches sich um ein vielfaches dehnte und streckte. Dann ließ das Pokémon es auf Psiana hinabsausen. „Duck dich!“ Savita kräuselte die Lippen. Ach was? Ich bin keine Idiotin, Haruka! Hätte sie jetzt nicht gedacht. Manchmal waren die Menschen so einfallsreich… Pff. Als hätte sie nicht gewusst, dass sie sich ducken musste! Psiana tat wie ihr befohlen wurde – auch wenn sie sich geduckt hätte, wenn Haruka nicht auf diese grandiose Idee gekommen wäre. Sie presste sich an den Boden, spürte den Luftzug, den der Tritt mit sich brachte, und sprang im gleichen Moment wieder auf die Pfoten, als sie Kicklees dumpfen Aufprall wahrnahm. „Jetzt Psystrahl!“ In den sieben Farben des Regenbogens erstrahlte das Stirnjuwel, als Psiana es zum Glühen brachte. Dann brach ein schillernder Strahl hervor und traf Kicklee am Rücken. Ein gellender Schrei entwich ihm, bevor es auf die Knie sank. Kicklee keuchte schwer, während Haruka verunsichert war, ob sie abermals einen Befehl geben sollte. Denn jeder sah, dass Kicklee zu erschöpft war, um noch siegreich aus dem Kampf zu treten. Doch das war Psiana nicht genug. Die Lichtkatze spürte den Zwiespalt ihrer Trainerin, der sie kostbare Sekunden einbüßen ließ. Sekunden, ja vielleicht sogar Minuten, in denen sich Kicklee erholte. Sie war erst milde gestimmt, wenn Kicklee alle Viere von sich streckte und sich nicht mehr rühren konnte. Ihr Schweif verwandelte sich zu einer grauen Klinge, die im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung matt glänzte. Kicklee japste erschrocken, als Psiana sich vom Boden abgefedert hatte und über ihn hinweg zu springen schien. Dann mochte das Pokémon wohl einen stechenden Schmerz im Nacken gefühlt haben, als der stählerne Hieb ihm endgültig die Lichter ausknipste. Psiana genoss die Jubelrufe der pöbelnden Zuschauer, nachdem Kicklee zu Boden gegangen war. „Gute Arbeit, Savita.“ Stolz maunzte Psiana. Ich weiß, sagte sie selbstverliebt. Natürlich hatte sie gute Arbeit geleistet. Wann machte sie keine gute Arbeit? „Du Vollidiot“, schimpfte der Blondschopf, „lässt dich so einfach fertigmachen!“ „Chill, Mann“, versuchte er zu beschwichtigen. „Ich hab mein Bestes geben.“ „Idiot, davon können wir uns auch nichts kaufen. Sogar zu blöd, um zu kämpfen!“ Der Kritisierte verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und hob sein Kinn. „Ist ja nicht so, dass du auch so eine gute Figur machst, Darius. Der Blondschopf mischt dich auch ziemlich auf.“ Mit wutverzerrtem Gesicht trat Darius an seinen Kumpel heran und packte ihm am Kragen. Bevor üble Beschimpfungen seine Lippen verließen, räusperte sich Célian. „Es steht eins zu null für uns“, bemerkte er trocken. „Wie ich mir gedacht habe, große Klappe aber nichts dahinter.“ Dabei hatten sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Darius ließ von seinem Freund ab und blickte in Célians Richtung. „Junge, willst du eine aufs Maul?“ „Komm‘ doch. Weiß nur nicht, ob du in der Position für Drohungen bist.“ Célian sprach mit einer Gelassenheit, die Haruka erstaunte. Trotzdem klang seine Stimme kühl und schroff. Wütend ballte Darius die Faust. „Jetzt reicht’s, Spukball!“ „Darius“, mahnte Adrian, als ob der bloße Klang seiner Stimme seinen Freund zurechtweisen und zur Vernunft bringen könnte. Als dem nicht so war, fluchte er leise. „Luxtra, du Donnerzahn!“ Ein dunkler Energieball formte sich in Sleimoks Maul und wuchs binnen weniger Sekunden zu einem fußballgroßen Gebilde heran, während sich in Luxtras Fängen Elektrizität konzentrierte und Funken verströmten. Knurrend hetzte es auf Tornupto. Die drei Köpfe der Drachin reckten ihre langen Hälse und stießen ein mehrtöniges Brüllen aus. „Drachenpuls!“ „Tera, es kommt. Dunkelklaue!“ Eine pechschwarze Klauenhand hatte sich rasch um Teras rechte Pfote gebildet. Entschlossen sprang sie Luxtra entgegen. Haruka zögerte. Sollte sie Célian und Aika helfen? Unter normalen Umständen hätte sie es als unfair empfunden, jetzt aber hinderte sie nichts daran. Warum auch? „Psiana, Psycho-“ Plötzlich heulten in der Nacht irgendwo Sirenen auf; blitzende, blaue Lichter aus der Ferne, die die Kampfhandlungen zum Stillstand brachten. Fragend wandten sich Tera, Morana und Savita an ihre Trainer, die selbst scheinbar auch keinen Rat wussten. Das einzige Geräusch war der Knall, als die Drachenenergie und Spukball miteinander kollidierten. Die jungen Männer tauschten miteinander unsichere Blicke, während Unruhe die gaffenden Zuschauer erfasste. „Verdammt, die Bullen!“, zischte der Blondschopf hysterisch. Darius stieß seinen Kumpel mit dem Ellenbogen an. „Bleib‘ locker, Mann“, sagte er bloß und sah Adrian an. „Was machen wir jetzt?“ „Abhauen“, erwiderte dieser knurrend. Als er die ungläubigen Blicke seiner Freunde bemerkte, fügte er hinzu: „Was sonst?“ „Abhauen? Aber…“ Der Blonde sah zu ihnen herüber. Adrian starrte den Jüngeren drohend von oben herab an. „Willst du lieber eine Nacht im Knast verbringen, Lewis?“ „Spinnst du? Doch nicht wegen dieser Bitch.“ Seine Freunde stimmten in Lewis‘ schallendes Gelächter ein. Adrian klopfte Lewis anerkennend auf die Schulter, ging schließlich lässigen Schrittes zu Aika herüber und ignorierte Teras warnendes Fauchen. Hochmütig sah er die junge Frau von oben herab an. „Man sieht sich immer zweimal im Leben, Püppchen. In unserem Fall wohl mehrmals.“ Mit dieser Warnung – die unverkennbar eine Drohung war – rannten die Kerle Richtung Hafengelände davon. Voll wie sie waren hatten sie Schwierigkeiten, geradeaus zu laufen. Ihr Geschrei und Gejohle war noch lange zu hören. Haruka stieß einen unwirschen Laut aus, während sie die Arme vor der Brust verschränkte. Feiglinge! Diese miesen Feiglinge versuchten sich tatsächlich aus dem Staub zu machen! Alles in Haruka schrie, ihnen eine Lektion zu erteilen. So kenne ich dich gar nicht. Psiana war an sie herangetreten. Ihre intelligenten Augen sahen zu ihr auf. „Manchmal kommen unsere lieben Ordnungshüter doch immer zum falschen Zeitpunkt“, sagte Célian, der seinen Drachen in seinen Pokéball zurückgerufen hatte. „Wir sollten hier verschwinden.“ „Zum Pokémon Center?“ Haruka zögerte und schaute wortlos Psiana an. Es fühlte sich gut an, Savitas Stimme wieder zu hören, auch wenn sie Psiana oftmals zum Teufel schicken könnte. Ihr Geist fühlte sich vertraut an, und mit jeder Berührung ihres Bewusstseins spürte sie eine tiefe Zuneigung, obwohl Savita oftmals sehr schroff sein konnte. Psiana blinzelte. Wir reden später, erwiderte die Lichtkatze, bevor sie sich im Licht auflöste und im Inneren des Pokéballs verschwand. Dann spürte sie Aikas Blick auf sich ruhen. „Klar, zum Center.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)