Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst von moonlily (Geburtstags-FF für Karma) ================================================================================ Kapitel 3: Märchenprinz? ------------------------ Kapitel 3 Märchenprinz? „Hey, Wirt, wo bleibt mein Bier?“ Bakura schlug mit der flachen Hand auf den Tresen und ruckte mit dem Kopf auffordernd in Richtung des Besitzers der Schenke Zum Gänsebrunnen. „Meinst du nicht, wir sollten so langsam nach Hause?“, wandte sein Freund Duke ein und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierkrug. „Dein Vater hat doch angekündigt, dich morgen sprechen zu wollen. Er wird nicht erfreut sein, wenn du mit so ’ner Fahne bei ihm auftauchst.“ „Mir doch egal“, brummte der Weißhaarige, nahm seine Bestellung entgegen und trank in tiefen Zügen. Als er den Krug absetzte, kam aus seinem Mund ein tiefes, ungeniertes Rülpsen. „Warum tut er überhaupt so geheimnisvoll, bestellt mich zu sich, statt mir gleich zu sagen, was er von mir will?“ „Keine Ahnung. Ich finde trotzdem, wir sollten gehen.“ Duke gähnte und rieb sich die Augen. „In ein paar Stunden dämmert es. Du magst ja ohne Schlaf auskommen, aber ich kann das leider nicht.“ Er zog ein paar Münzen aus seinem Lederbeutel hervor, den er an der Hüfte trug, winkte das Schankmädchen zu sich, und überreichte sie ihr lächelnd, nachdem er sich einen Kuss von ihr gestohlen hatte. Bakura verzog kurz das Gesicht. Duke fing auch mit allem was an, egal ob männlich oder weiblich, das nicht bei drei auf dem höchsten Baum war. Er war nun mal der personifizierte Charme und wusste es, das auszunutzen. Bakura selbst brachte schon allein die Tatsache, dass er Kronprinz war, mehr als genug Verehrerinnen ein – und er wünschte sich Weißgott, es würde nicht so sein. Auf dem letzten königlichen Ball war er von einem ganzen Rudel heiratswütiger Prinzessinnen und Grafentöchter verfolgt worden. Am folgenden Morgen, nach einem Katerfrühstück mit saurer Gurke und Hering und mit noch brummendem Schädel, begab sich Bakura in den Thronsaal, wo ihn sein Vater erwartete, die goldene Krone auf dem Kopf. Ihm schwante nichts Gutes. Das sah nach einem hoch-offiziellen Gespräch aus. „Guten Morgen, mein Sohn. Setz dich.“ Der König deutete auf einen Hocker zu seinen Füßen. Gähnend und sich verhalten am Steiß kratzend, kam Bakura näher und nahm Platz. „Was gibt’s schon so früh am Morgen, Vater?“ „Mein lieber Bakura“, begann er, „in ein paar Monaten werdet ihr beide, du und Ryou, zwanzig Jahre alt und damit volljährig. Und als Thronfolger obliegen dir gewissen Pflichten ...“ ... um die ich nicht gebeten habe, setzte dieser den Satz gedanklich fort. „Jedenfalls, es wird nun Zeit, dass du in die Welt hinausziehst und dir eine Braut suchst.“ Nur mit beinahe akrobatischem Geschick schaffte es Bakura, nicht von seinem Hocker zu fallen, als er das hörte. Er sollte heiraten? Womöglich eine von diesen Gören, die ihn dauernd belästigten? Nie im Leben! „Keine Lust“, kommentierte er das väterliche Ansinnen. „Aber du bist mein Ältester und der Thronerbe. Du musst heiraten und unsere Linie fortsetzen.“ Bakuras Stirn zog sich in Falten, er überlegte, wie er aus der Angelegenheit am schnellsten – und vor allem ohne Braut – wieder raus kam. „Wenn dir so viel daran liegt, dann veranstalte doch einen Ball und lass sie herkommen. Und wenn mir keine davon gefällt, vergessen wir die Sache.“ „Junge, was ist nur los mit dir?“, fragte sein Vater. „Ein Prinz muss sich schon ein bisschen anstrengen, um seine Prinzessin zu finden. Bevor deine Mutter und ich heiraten konnten, bin ich ja auch –“ „Kreuz und quer mit einem viel zu kleinen Schuh durchs Land gezogen“, gähnte Bakura demonstrativ. „Die Geschichte kenne ich in und auswendig.“ „Na siehst du. Ich bin sicher, es gibt schon eine Prinzessin, die sehnsüchtig auf dich wartet.“ Joey saß am Fenster seines Turmzimmers und sortierte die Kräuter, die Mai ihm gestern gebracht hatte, zum Trocknen. Seit sie ihn zu sich genommen hatte, hatte sie ihm einiges über Kräuter und ihre Verwendung beigebracht, damit er ihr bei der Arbeit helfen konnte. Er freute sich jeden Tag auf ihren Besuch und war traurig, wenn sie, spätestens am Nachmittag, ging und ihn zurückließ. Gewiss, der Turm bot ihm genügend Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, nur allein machten ihm die meisten Spiele keinen Spaß. Er sehnte sich danach, wieder einmal unter Menschen zu kommen, andere Gesichter als das seiner Ziehmutter zu sehen. Seit Mai ihn hierher gebracht hatte, hatte er den Turm nicht ein Mal verlassen. Nicht, dass er es nicht versucht hätte, aber die Bettlaken waren auch zusammengebunden noch viel zu kurz und einen Weg, sich an seinen eigenen Haaren abzuseilen, hatte er bisher nicht gefunden. Während er die Kräuter zu kleinen Bündeln schnürte und an einer Leine zum Trocknen aufhängte, summte er leise vor sich hin. Woher er das Lied kannte, wusste er nicht, Mai hatte es ihm jedenfalls nicht beigebracht. In seiner Erinnerung schien es, als würde er es seit seiner Geburt kennen. Duke wartete draußen im Hof auf Bakura und fragte ihn, kaum dass er ins Freie getreten war, was sein Vater von ihm gewollt hatte. Der Blick, den er ihm zuwarf, konnte nur mörderisch genannt werden. „Ich soll heiraten.“ „Und? Wo ist das Problem? Auswahl hast du genug.“ „Vergisst du dabei nicht ’ne Kleinigkeit, Duke?“, knirschte er, packte ihn am Arm und zog ihn vom Hof, in Richtung Garten. Als er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, fügte er hinzu: „Was soll ich mit einer Frau anfangen?“ „Ach ja ... Entschuldige, ich vergaß. Und wenn du nun einfach eine heiratest und mit ihr einen Sohn zeugst, dann hättest du deine Ruhe und alle wären glücklich.“ Sein Freund sah ihn als, als würde ihm ein zweites Paar Arme wachsen. „Glücklich“, zischte er, „mit einem zänkischen Weib und einem schreienden Balg? Danke, ich verzichte.“ „Und wie hat dein Vater darauf reagiert? Oder weiß er noch nicht, dass er von dir nie Großvater werden soll?“ „Ich habe ihn auf den nächsten Ball vertröstet, dass ich mich dann umsehe. Davon, dass ich von denen eine nehme, habe ich nichts gesagt.“ „Unser armes Königreich“, seufzte Duke theatralisch und duckte sich lachend unter Bakuras Hieb weg. „Lass deinen Ärger bei der Jagd aus und jetzt komm, die Hirsche warten.“ Eine Stunde später galoppierten sie mit der Jagdgesellschaft, an der sich zahlreiche Mitglieder des Hofstaates beteiligten, durch den Wald, welcher sich in zartem Maigrün präsentierte. Die Hunde hatten die Fährte eines Hirsches aufgenommen und hetzten mit lautem Gebell durchs Unterholz. Wie sein Freund ihm prophezeit hatte, lenkte der schnelle Ritt Bakura von seinen dunklen Gedanken ab. Seine Konzentration galt bald nur noch dem Ziel, den Hirsch als Erster ausfindig zu machen und zu erlegen, bevor ihm einer seiner Mitstreiter zuvorkam und den ersten Pfeil abschoss. Verdutzt beobachtete er, wie sich sein Hund Diabus plötzlich von der Meute löste und eine ganz andere Richtung einschlug. Bakura riss sein Pferd entschlossen am Zügel herum und folgte ihm, auf Diabus’ Nase hatte er sich verlassen können, seit er ihn als Welpe bekommen hatte. Es dauerte nicht lange und er sah zwischen den Bäumen braunes Fell aufblitzen. Aus der heutigen Jagd würde er als Sieger hervorgehen und Duke damit seinen Rang als bester Jäger wieder abnehmen. Die Pferdehufe gruben sich unablässig in den weichen Waldboden und wirbelten das trockene Laub vom Vorjahr auf. Bakura trieb das Tier an, noch schneller zu laufen, denn seit er ihn verfolgte, war er dem Hirsch kaum näher gekommen. So ein flinkes Biest hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Ihn zu erlegen, würde ihm ein besonderes Vergnügen sein. Die Bäume wurden dichter, das Licht, das bis auf den Boden drang, weniger. Der Eifer des Prinzen verwandelte sich zusehends in Ärger, während er dem immer wieder kurz auftauchenden Hirsch folgte. Er war kurz davor, Diabus zurückzupfeifen und seine Solojagd abzubrechen, um zur Jagdgesellschaft zurückzukehren, als er ein Stück voraus eine Lichtung entdeckte, in deren Mitte ein großer Turm stand. Bakura zügelte sein schnaufendes Ross überrascht. Er kannte den Wald in und auswendig, hatte unzählige Stunden zwischen den alten Bäumen verbracht ... Doch nie zuvor war ihm dieser Turm aufgefallen. „Rapunzel! Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, hörte er da eine Frauenstimme rufen. Neugierig geworden, stieg er von seinem Pferd, schlich näher an den Turm heran und versteckte sich zwischen ein paar hohen Büschen. Von dort beobachtete er, wie ein blondes Mädchen an das Fenster trat, das ganz oben im Turm lag, und einen dicken Haarzopf zu der unten wartenden Frau herabließ. Diesen schlang sie sich um die Hüfte und ließ sich daran wie an einem Seil nach oben ziehen. Der Prinz konnte nur staunen, da musste Magie am Werk sein. Der Hirsch war ebenso schnell aus seinen Gedanken verschwunden, wie er während der Jagd vor ihm aufgetaucht war. Während er den Turm weiter im Auge behielt, glitten seine Gedanken zu dem Gespräch mit seinem Vater zurück. Er hatte absolut keine Lust zu heiraten, nur ebenso wenig eine Ahnung, wie er sich geschickt aus der Affäre ziehen sollte. Dazu die Mahnung, sich bei der Brautschau anzustrengen ... Andererseits, wenn er so darüber nachdachte, stieß ihn das Schicksal hier geradezu auf die Lösung. Das Mädchen konnte unmöglich freiwillig in diesem Turm sitzen und wenn er sie dort rausholte, hatte er seine Braut. Nach der Hochzeit konnte er sie immer noch im am weitesten entfernten Winkel des Schlosses einquartieren. Sie schien praktischerweise sogar schon an das Leben allein gewöhnt zu sein und würde sich später nicht beschweren, wenn sie ihren Gatten nie zu Gesicht bekam. Es dauerte einige Minuten, dann traten die beiden Frauen wieder ans Fenster und die Jüngere ließ ihre Besucherin zurück auf den Boden. Bakura schüttelte den Kopf angesichts dieser umständlichen Transportart. Die Treppe zu benutzen, wäre doch viel leichter. Er wartete, bis die Frau die Kapuze ihres Umhangs aufgesetzt und sich entfernt hatte, und marschierte entschlossenen Schrittes auf den Turm zu. „Rapunzel, lass dein Haar herab!“, wiederholte er das Gehörte und wartete, bis die so Genannte am Fenster erschien. Joey hatte sich kaum hingesetzt, als er zum zweiten Mal an diesem Tag den ihm so vertraut wie teilweise, wegen des Namens Rapunzel, verhasst gewordenen Ruf vernahm. „Hast du was vergessen?“, rief er nach unten und erstarrte, als er statt Mai einen jungen Mann mit schneeweißen Haaren sah, der mit süßsaurer Miene zu ihm hochblickte und sich dabei wegen der Höhe des Turms beinahe den Hals verrenkte. Vor Schreck musste er sich mehrmals räuspern, um sich nicht durch seine normale, tiefere Stimmlage zu verraten. Mit viel Üben hatte er es in den letzten Jahren geschafft, dass seine Stimme zwar als tief, aber einigermaßen weiblich durchging. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“ „Ich möchte dich retten, schönes Mädchen“, säuselte Bakura, der bei diesen Worten am liebsten gewürgt hätte, und rang sich ein freundliches Lächeln ab. „Wovor denn?“ „Vor dem, der dich hier gefangen hält. Lass deine Haare runter, damit ich zu dir rauf kann.“ Joey beäugte ihn misstrauisch und schüttelte den Kopf. Er wollte gern mit anderen Menschen sprechen, nur einen Unbekannten in sein Turmzimmer zu holen, war ihm dann doch zu riskant. „Nein, das geht nicht. Tut mir leid.“ „Aber –“ Bakura verfolgte verdattert, wie die Blondine in ihrem Zimmer verschwand. Wenn sie dachte, er würde so leicht aufgeben, dann täuschte sie sich aber. Es musste noch einen anderen Weg in den Turm geben. Er ging um das Gebäude herum, einmal, nochmals und ein drittes Mal – von einem Eingang war nichts zu sehen. Die Steine waren dicht an dicht gemauert, er fand auch keine nachträglich verschlossene Tür. „Hey!“, rief er. „Ich will dir helfen! Jetzt lass mir schon die Haare runter.“ „Verschwinde!“, schallte es aus dem Inneren des Turms zurück. „Blöde Zicke“, murmelte der Prinz. Wenn sie seine Hilfe nicht wollte, sollte sie doch sehen, wie sie allein da raus kam. Er schwang sich in den Sattel, pfiff nach Diabus und gab seinem Pferd die Sporen, um sich auf die Suche nach seiner verlorenen Jagdgesellschaft zu machen. Der Klang der Hörner wies ihm den Weg, doch was sie verkündeten, gefiel ihm gar nicht. Der Hirsch war erlegt und er konnte sich denken, wessen Pfeil ihm den Tod gebracht hatte. Heute war eindeutig nicht sein Tag, er hätte im Bett bleiben sollen. Missmutig näherte er sich seinem besten Freund, der sich von den anderen Jagdteilnehmern gerade beglückwünschen ließ. „Wo hast du gesteckt?“, begrüßte ihn Duke. „Du hast meinen Schuss verpasst, ein Pfeil und der Hirsch war Geschichte.“ „Schön für dich.“ „So verärgert wegen unseres kleinen Wettbewerbs, mein Freund?“ „Nicht nur. Ich erzähle dir nachher davon, wenn wir ungestört sind.“ „Schau einer an! Wir denken uns nichts Böses und du stürzt dich Hals über Kopf in ein romantisches Abenteuer“, lachte Duke. „Was soll daran romantisch sein?“, brummte Bakura und ließ sich in einen der weichen Lehnsessel am Kamin fallen. „Es würde mein Problem lösen, das ist alles.“ „Aber immerhin, einer holden Jungfrau in Nöten läuft man heutzutage nicht mehr ständig über den Weg und die Drachen sind auch rar geworden, um große Heldentaten zu verüben. Ich an deiner Stelle würde zusehen, dass ich die Dame da raushole.“ „Du bist witzig. Und wie soll ich das anstellen, ohne Tür und ohne dass sie mich hoch lässt?“ „Nicht verzagen, wir finden schon einen Weg, dich zu deiner Schönen zu bekommen.“ Bakura knirschte unwillig, als ihm Duke gönnerhaft auf die Schulter klopfte. Am folgenden Tag verließ Bakura das Schloss bereits kurz nach dem Frühstück. Er wollte nicht, dass Duke ihm folgte, um ihm bei der Rettungsaktion auf welche auch immer geartete Weise zu helfen. Es reichte, wenn er sich vor seiner Zukünftigen zum Narren machte. Im Wald irrte er eine ganze Weile umher, bis er den Pfad wiederfand, dem er gestern gefolgt war. Er prägte sich die Strecke ein, um später den Rückweg leichter zu finden. Am Rand der Lichtung band er sein Pferd an einem Baum fest und lud die Ausrüstung ab, die er in einem großen Rucksack verstaut hatte. Von seinem Versteck hinter einem großen Busch aus beobachtete er den Turm zunächst einmal, um zu schauen, ob Rapunzel (wenn sie seine Frau werden sollte, brauchte sie einen neuen Namen, eine Königin, die nach einem Gemüse benannt war, wollte er nicht) überhaupt allein war. Seine Mühe wurde belohnt, Rapunzel und ihre Gefängniswärterin traten ans Fenster und verabschiedeten sich. Kaum war letztere weit genug fort, kam der Prinz aus seinem Versteck. „Hey, Rapunzel!“, rief er. „Hast du heute bessere Laune und lässt mich dich retten?“ Ein paar Stockwerke höher glaubte Joey nicht richtig zu hören. Das klang ganz nach dem Kerl von gestern. Hatte er ihm nicht ausdrücklich genug gesagt, er solle ihn in Ruhe lassen? Er war keine Prinzessin, die vor dem großen bösen Ungeheuer gerettet werden musste, und sollte der Weißhaarige herausfinden, dass er es mit einem anderen Mann und nicht mit einem Mädchen zu tun hatte, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde er dadurch aus dem Turm herauskommen – um mit zerschlagenen Gliedern am Boden zu liegen. Er legte die Brennnesseln, von denen er die Blätter zum Trocknen abzupfte, in ihren Korb zurück, zog sich die dicken Handschuhe aus und öffnete das Fenster, um seinen Besucher in die Schranken zu weisen. Sein Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ein Ton herauskam, stattdessen sah er mit großen Augen nach unten. Bakura hatte den Rucksack neben sich auf den Boden gestellt und blätterte hochkonzentriert in einem Buch mit gelbem Einband, auf den in schwarzen Lettern der Titel Türme erklimmen und Jungfrauen in Nöten retten für Dummies geprägt war. Bei seinen gestrigen Recherchen in der Bibliothek war er darauf gestoßen und hatte es sofort mitgenommen, in der Hoffnung, dort einen guten Tipp zu bekommen. Der erste Hinweis in Kapitel Drei Türme erklimmen ließ ihn schon mal den Kopf schütteln. Öffnet die unten liegende Tür im Turm und steigt die Treppe hinauf. Die zu Rettende erwartet Euch üblicherweise im höchsten Turmzimmer, wahlweise auch auf einem Bett, wo sie darauf harrt, mit einem Kuss geweckt zu werden. Nähere Informationen zum richtigen Wachküssen erfahrt Ihr in Kapitel Sechs. „Ach nee, die Treppe nehmen … Da wär ich von selbst ja nie drauf gekommen!“, höhnte Bakura und blätterte weiter. Der nächste Vorschlag klang schon vernünftiger. Die Finger und Fußspitzen in die schmalen Mauerritzen krallend, versuchte er an der Außenmauer hochzuklettern. Nach etwa anderthalb Metern griff er daneben und stürzte. Die darauf folgenden deftigen Flüche ließen Joey das Blut in den Kopf steigen. Der Mann musste eine sehr schlechte Kinderstube gehabt haben. Neugierig war er dennoch geworden, was er noch alles anstellen wollte. Er rückte sich einen Stuhl und den Brennnesselkorb ans Fenster und machte mit seiner Arbeit weiter, immer mal einen Blick nach draußen werfend. Zwei weitere Anläufe Bakuras, den Turm mit bloßen Händen zu erklimmen, schlugen ebenso fehl wie der erste. Anschließend versuchte er es mit einer zusammenklappbaren Leiter, musste dies jedoch abbrechen, kaum dass er sie aufgestellt hatte. Er hatte die längste, im Schloss verfügbare mitgenommen. Sie war etwa vier Meter zu kurz. Bakura ließ sie ins Gestrüpp fallen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken, und öffnete den Rucksack, aus dem er einen eisernen Enterhaken holte, an dem ein langes Seil befestigt war. Er trat einige Schritte zurück, holte aus und warf … ein gutes Stück daneben. Grummelnd zog er den Haken wieder zu sich heran. Das Seil ein gutes Stück unter dem Haken fassend, holte er erneut Schwung und warf. Eine halbe Stunde später musste er sich eingestehen, dass es lediglich eine Verschwendung von Zeit und Energie war, auf diese Art in den Turm gelangen zu wollen. Joey amüsierte sich dagegen über seine ständigen vergeblichen Versuche und ärgerte ihn mit seinem Lachen. Bis zur Mittagszeit hatte sich der Prinz durch mehr als ein Dutzend Vorschläge seines längst verfluchten Ratgebers gearbeitet, allesamt gescheitert. Allmählich kam er zu der Überzeugung, einen Ball zu veranstalten und eine der dort erscheinenden Schnepfen, pardon, Damen zu heiraten, würde einfacher sein und seinen Vater ebenso zufriedenstellen. Joey wusste nicht, wann er das letzte Mal so gut unterhalten worden war. Zwischendurch huschte er kurz an den Herd, um nach dem Gemüse und seinem Fleischstück zu sehen, das in einer gusseisernen Pfanne vor sich hin schmorte. Der Duft des Fleisches erinnerte Bakura daran, dass sein Magen mittlerweile selbst zum Steinerweichen knurrte. Er suchte in seinem Gepäck nach dem Essen, das er sich heute früh aus der Küche organisiert hatte. „Das glaub ich nicht“, murmelte er und durchwühlte alles nochmals. Hatte er das Pech denn heute für sich gepachtet? Das Päckchen mit Brot und gebratenem Huhn lag zu Hause im Palast, wahrscheinlich irgendwo in dem wohl organisierten Chaos seines Zimmers. Wie er diese Rapunzel einschätzte, würde sie ihm nichts zu essen abgeben und nach Hause zurückzukehren, dafür hatte er weder die Zeit noch die Lust. Wenigstens hatte er Pfeil und Bogen mitgenommen. Die Wälder waren reich an Wild, erst vor wenigen Minuten hatte er ein Kaninchen gesehen. Pfeile … Augenblick mal! Sein Blick schnellte von seinen Waffen zum Turm zurück. Direkt neben dem Fenster war ein Eisenring angebracht, um Gegenstände wie schwere Körbe nach oben zu befördern. Das war doch überhaupt die Idee! Er marschierte zu seinem Pferd zurück, nahm das Tau vom Sattel und befestigte daran eine lange Garnschnur, die er wiederum an den Schaft seines Pfeils knüpfte. Er musste es nur schaffen, einen Pfeil derart zu schießen, dass er durch den Ring flog und auf der anderen Seite wieder herunterkam, dann konnte er das Tau mithilfe des Seils nach oben ziehen. So viel zu seinem Ratgeber. Selbst war der Prinz! Zum Zielen ließ sich Bakura mehr Zeit als sonst, um den Ring ja nicht zu verfehlen. In dem Augenblick, da er schießen wollte, flatterte eine Taube über seinen Kopf hinweg, schnappte nach einer seiner Haarsträhnen und zog daran. Er knurrte empört, er hielt doch nicht als Innenausstatter für Taubennester her! „Lass mich los, du Mistvieh!“ Er wollte nach dem Tier schlagen und ließ den noch voll gespannten Pfeil los, der von der Sehne schnellte und surrend durch die Luft nach oben flog. Derweil hatte es sich der Blondschopf am Tisch bequem gemacht und genoss sein Mittagessen. Es war mindestens eine Woche oder länger her, seit Mai ihm das letzte Mal Fleisch mitgebracht hatte, da wollte er jetzt jeden Bissen sorgsam auskosten. Er schrak gewaltig zusammen, als sich ohne Vorankündigung ein Pfeil in seinen Braten bohrte, kaum dass er sich den ersten Bissen davon abgeschnitten und in den Mund geschoben hatte. Der anfängliche Schreck verwandelte sich binnen Sekunden in Empörung. Das Fleisch wurde ihm vor seinen Augen vom Teller gezogen. Bakura, der keine Ahnung hatte, was sein Pfeil getroffen hatte, spürte nur den Widerstand, als er ihn an der Schnur wieder einholen wollte, um einen zweiten Schuss zu probieren. Joey packte das Bratenstück, ignorierte, dass er sich die Finger verbrannte und die Tischdecke mit Bratensaft bekleckerte, und versuchte den Pfeil herauszulösen. Das war immer noch sein Essen, kampflos würde er es nicht aufgeben. Die Eisenspitze hatte sich hinter einer Sehne verhakt, er würde sie herausschneiden müssen. Um an das Messer zu kommen, musste er quer über den Tisch greifen und sich halb darauf legen. Sein Griff um das Fleisch lockerte sich etwas. Gleichzeitig zog Bakura mit aller Kraft an dem widerspenstigen Garn, das endlich nachgab und ihm seinen Pfeil zurückbrachte. Perplex blickte er auf den dampfenden Braten, der am anderen Ende baumelte. „Hey, das ist meins!“ „Danke für deine Großzügigkeit“, erwiderte Bakura grinsend und biss in das Fleisch. Ein kurz gebratenes Steak wäre ihm zwar lieber gewesen, aber man konnte nicht alles haben. „Gib mir mein Essen zurück, du dreister Dieb.“ „Noch nie was davon gehört, mit anderen zu teilen?“ „Mit dir ganz bestimmt nicht. Außerdem hab ich nicht drum gebeten, von dir vor irgendwas gerettet zu werden.“ „Du wirst aber gerettet, klar? Wie wär es also, wenn wir die Sache abkürzen, indem du mir dein Haar gleich runterwirfst?“ „Vergiss es!“ Joey musste das beenden, sofort. Seine Stimme drohte zu kippen, zu lange konnte er diese hohe Tonlage nicht mehr aufrechterhalten und in einem Streit, auf den ihr Gespräch sonst über kurz oder lang hinauslaufen würde, erst recht nicht. „Wirf dein Haar runter oder ich komme so rauf!“, verlangte Bakura und erntete schallendes Gelächter. „Ha ha, das kannst du aber nicht!“ Joey streckte ihm die Zunge heraus und verschwand, um wenigstens noch den Rest seines Essens zu verzehren, bevor es ganz kalt war. Duke kam seinem Freund über die Schlossauffahrt entgegengelaufen. „Nanu, wo hast du deine holde Schönheit gelassen?“ „Sitzt noch im Turm und soll meinetwegen da versauern. Die will überhaupt nicht gerettet werden, was soll ich mir da die Mühe machen?“ „Und dein Vater? Was ist mit dem Thron?“ „Wird sich schon finden.“ Bakura saß ab, überging Dukes Kopfschütteln und warf ihm den nutzlosen Ratgeber vor die Füße. „Wenn du willst, kannst du ja dein Glück versuchen. Vielleicht lässt sie dich eher zu sich.“ „Warum, mir fliegen die Herzen auch so zu“, lachte Duke. „Aber ich hätte da eine Idee. Wie wäre es mit einer kleinen Wette?“ „Was für eine Wette?“ Er sah den Schwarzhaarigen misstrauisch an, das spitzbübische Lächeln gefiel ihm nicht. „Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, die Kleine zu retten. Wenn doch, helfe ich dir, an meinen Cousin Marik ranzukommen. Ich weiß, dass du was von ihm willst. Einem kleinen Abenteuer wäre er sicher nicht abgeneigt.“ „Und wenn ich verliere?“ „Darf ich mich einen Abend mit Ryou treffen. Alleine.“ „Nur über meine Leiche!“ Er konnte sich denken, wo diese Verabredung enden würde. „Morgen hab ich sie da rausgeholt.“ Gesagt, getan, am nächsten Morgen stand er wieder vor dem Turm. Es wäre doch gelacht, wenn er das nicht schaffte. Bakura warf sich die Kapuze des dunklen Umhangs über, den er sich besorgt hatte und der dem von Mai ähnelte, und trat unter das Turmfenster. „Rapunzel, lass mir dein Haar herab!“ Gestern hatte er sich stundenlang in seinem Gemach eingeschlossen und diesen Satz geübt, bis er das Gefühl hatte, die Stimme der Frau imitieren zu können. Joey stand verwundert auf, heute hatte er nicht mit Mai gerechnet. Natürlich freute er sich über ihren unverhofften Besuch. Letztes Mal hatte sie gesagt, sie könne erst wieder in ein paar Tagen zu ihm kommen, weil sie in ein weiter entfernt liegendes Tal wandern wollte, um besondere Kräuter zu sammeln. Er löste seine Haare, die er im Nacken zusammengebunden trug, und wickelte sie um die Spindel, die er neben dem Fenster an einem Haken befestigte. Sofort begann das blonde Haar zu wachsen, bildete einen Zopf und wurde immer länger, bis es den Boden erreichte. „Kann es sein, dass du zugenommen hast, Mai?“, ächzte er, als Bakura die ersten Meter erklommen hatte. „Oder viel Gepäck? Du kommst mir heute etwas … schwerer vor. Aaaaauuu! Zieh doch nicht so. Soll ich etwa Haarspliss kriegen?“ Bakura kümmerte es herzlich wenig, ob er ihm laufend an den Haaren zog oder nicht. Er wollte nur nach oben, sich Rapunzel über die Schulter werfen und sich mit ihr mithilfe des Seils, das er mitgenommen hatte, aus dem Turm abseilen. Joeys Finger trommelten derweil ungeduldig gegen die Mauer, an die er gelehnt stand. Sonst brauchte Mai nicht so lange, um zu ihm zu gelangen. „Wie schön, dass du mich doch besuchst“, wandte er sich mit einem herzlichen Lächeln um und versteinerte mitten in der Bewegung. „D-du … du bist nicht Mai.“ „Gut erkannt. Ich freue mich, dass du es dir doch noch anders überlegt hast“, sagte Bakura, der gerade über das Fenstersims stieg. „Also lass uns gehen, Ra –“ Bakura blinzelte und schüttelte ungläubig den Kopf. Das. Ist. Jetzt. Nicht. Wahr. Für einen Moment musste er sich an dem hölzernen Fensterrahmen festhalten, um nicht versehentlich aus dem Fenster zu fallen. Joeys Augen weiteten sich erschrocken, der einzige Teil seines Körpers, der momentan zu einer Regung fähig war. Hätte er doch nur hingesehen, bevor er seine Haare verlängert hatte. Mai hatte ihm immer wieder eingeschärft, sich nicht mit Fremden einzulassen. „Hey, du bist ja ’n Kerl!“, deutete der andere mit dem Finger auf ihn. „Was dagegen?“ Allmählich kam wieder Leben in ihn. „Und du trägst ein Kleid. Auch noch mit Rüschen.“ Der Prinz verzog angewidert das Gesicht. Sein Gegenüber kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut, so hatte er in den ersten Jahren immer in den Spiegel geblickt. Inzwischen war davon nur noch Gleichgültigkeit übrig geblieben. Er wusste nicht, was damals in Mai gefahren war. Als sie ihn im Turm einquartiert hatte, war er noch der Hoffnung gewesen, die Maskerade habe endlich ein Ende und er dürfe wieder als Junge herumlaufen. Leider weit gefehlt. Die Zauberin hatte sich so daran gewöhnt, eine hübsche Tochter namens Rapunzel statt eines Sohns namens Joey zu haben, dass sie es ihm verweigert hatte, sich wieder seinem Geschlecht entsprechend zu kleiden. Das hellblaue Kleid, das er heute anhatte, war Mais Geschenk zu seinem achtzehnten Geburtstag gewesen. Er stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn herausfordernd an. „Na und, ich hab nichts anderes. Soll ich etwa nackt herumlaufen?“ Bei diesen Worten konnte Bakura beim besten Willen nicht anders, auf sein Gesicht trat ein breites, anzügliches Grinsen. Er musterte ihn genüsslich von oben bis unten. „Netter Vorschlag, Kleiner. Soll ich dir beim Ausziehen helfen?“ Er zuppelte an Joeys Rock, der daraufhin zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen sie brachte. „Vor solchen Kerlen wie dir hat mich Mai gewarnt. Verschwinde.“ „Tse. Du ziehst dich nicht nur an wie ’n Mädchen, du verhältst dich auch so.“ „Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt. Es zwingt dich niemand, hier zu sein.“ „Aber dich.“ „Mai hat mich nicht gezwungen!“, verteidigte er sofort seine Ziehmutter. „Ich bin gern hier.“ „Ebenso gern, wie du dieses Kleid trägst?“ „Äh … Also …“ Was sollte er da groß lügen, es war ja so. Er hätte einiges dafür gegeben, wieder eine Hose tragen zu dürfen. „Fangen wir anders an.“ Bakura räusperte sich und riss sich von dem Gedanken los, wie der Blonde ohne das Kleid aussehen könnte. „Rapunzel ist sicher nicht dein richtiger Name. Wie heißt du wirklich?“ „J … Joey. Und erfahre ich jetzt endlich, wer derjenige ist, der meinen Turm seit drei Tagen belagert?“ „Du hast die Ehre mit Bakura, Prinz von Alvaria“, stellte er sich mit einer formvollendeten Verbeugung vor. Trotz seiner Abneigung, was den Benimmunterricht anbelangte, gab es hin und wieder Zeiten, in denen er doch mal kurz aufpasste. „Und wer ist diese Mai, deine Gefängniswärterin?“ Ohne auf eine weitere Einladung zu warten, ließ sich Bakura auf einen der Stühle fallen und legte die Füße gemütlich auf dem Tisch ab. Schon bei dem Gedanken daran, hinterher alles putzen zu müssen, damit Mai nichts von dem Überraschungsbesuch erfuhr, seufzte Joey innerlich. Er hasste Hausputz. „Sie ist meine Mutter. Und sie hat mich nicht mit böser Absicht hergebracht, sie will mich nur beschützen.“ „Beschützen – vor was denn? Den Eichhörnchen?“ „Vor den Menschen. Es gibt zu viele böse auf der Welt, sagt sie.“ Zögernd setzte er sich Bakura gegenüber hin, immer noch unsicher, ob er ihn nun rauswerfen oder noch etwas Zeit in seiner, wenn auch etwas unflätigen, Gesellschaft verbringen sollte. Er hatte sich die ganzen letzten Jahre gewünscht, wenigstens einmal mit jemand anderem zu sprechen. „Und denkst du, ich gehöre auch dazu, zu diesen bösen Menschen?“ Bakura beugte sich ein Stück zu ihm vor. Erst jetzt, aus der Nähe betrachtet, fiel ihm der warme schokoladenbraune Ton von Joeys Augen auf, die sowohl Neugier als auch Unschuld und Naivität ausstrahlten und ihn in gewisser Weise an die seines Bruders erinnerten. „Hmm … Du belagerst mich tagelang, klaust mein Mittagessen …“, begann er aufzuzählen. „Das war keine Absicht“, fiel Bakura ein, „aber mein Kompliment, kochen kannst du.“ „Danke“, er holte Luft, um seine Gedanken wieder zu sammeln, „du verschaffst dir mit einem Trick Zugang zu mir …“ „Stört dich das wirklich so sehr, dass ich da bin?“ Der jüngere Blonde zuckte etwas zurück. Während ihres Gesprächs hatten sie sich einander immer weiter genähert, bis ihre Nasenspitzen kaum mehr als zwei Fingerbreit voneinander entfernt waren. „Nicht direkt stören …Es ist ungewohnt“, überlegte er. „Sonst kommt mich nur Mai besuchen.“ „Du verlässt deinen Turm nie?“ „Geht schlecht, an den eigenen Haaren runterzuklettern. Du solltest jetzt gehen, Bakura, ich habe noch einiges zu tun, bis sie wieder herkommt. Sie ist es gewohnt, dass ich meine Arbeit bis dahin fertig habe.“ „Was dagegen, wenn ich dich morgen noch mal besuche?“ „Na ja … warum nicht“, willigte er ein. Immerhin bot das ein wenig Abwechslung von seinem Alltag. „Wenn du dann so freundlich wärst.“ Bakura stand auf und stellte sich neben das Fenster, wo er sich von Joey abseilen ließ. Er bestieg sein Pferd und überließ es diesem, ihn sicher nach Hause zu tragen. Um selbst auf den Weg zu achten, war er zu abgelenkt. Die Geschichte würde ihm Duke niemals glauben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)