Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst von moonlily (Geburtstags-FF für Karma) ================================================================================ Kapitel 2: Maskerade -------------------- Kapitel 2 Maskerade „Joey, wo bleibst du mit den Kräutern?“, rief Mai nach ihrem neunjährigen Ziehsohn. Sieben lange Jahre waren vergangen, seit sie ihn mit sich genommen hatte, und in dieser Zeit hatte sie den aufgeweckten Blondschopf sehr lieb gewonnen, trotz des Unsinns, den er gern anstellte. Erst vorgestern hatte sich der Bäcker bei ihr beschwert, Joey und der Sohn des Metzgers hätten sich an seinen frisch gebackenen Kuchen vergriffen. Sie hatten sich am Rand von Dracis, der Hauptstadt des Fürstenreiches, in einem Haus niedergelassen, das wie Mais früherer Wohnsitz von einem großen Kräuter- und Gemüsegarten umgeben war. Den größten Teil der dort gezüchteten Pflanzen verkaufte sie an die Küche des fürstlichen Hofes, was übrig blieb, wanderte in den eigenen Kochtopf. Die Frauen der Stadt kamen dagegen zu ihr, um sie um einen Rat oder eine ihrer Kräutertinkturen zu bitten, die sie als Mittel gegen allerlei Krankheiten herstellte. „Bin doch schon da, Mai.“ Er schleppte einen Korb voll frischer Brennnesseln herein und stellte ihn auf dem Tisch ab. Seine Arme waren von oben bis unten gerötet und ließen Mai den Kopf schütteln. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du vorsichtig sein musst, wenn du Brennnesseln pflücken willst?“, seufzte sie, griff nach einer kleinen Flasche und träufelte Spitzwegerichsaft auf seine Arme, um das Brennen zu lindern. „Besser?“ „Ja. Seto meinte, ich wär ’n Mädchen, wenn ich Handschuhe trage. Das nächste Mal soll er welche pflücken.“ „Vergiss nicht, dass er der Prinz ist und dass Fürst Gozaburo es gar nicht gern sieht, wenn ihr zusammen spielt.“ „Er ärgert mich mehr, als dass wir spielen“, brummte Joey. „Von wegen er könne schon so toll mit dem Schwert umgehen und so, und ich sei nicht mal in der Lage, einen Stock richtig zu halten. Pah! Wenn ich einen Lehrer hätte, der mich im Schwertkampf ausbildet, dann würd ich es ihm schon zeigen! Aber so was von – und dann kriecht er vor mir auf dem Boden.“ Allein die Vorstellung ließ ihn breit grinsen. „Jetzt mach erst mal deine Matheaufgaben, du großer Ritter“, unterbrach sie ihn. „Och, Mann“, maulte er, holte seine Schreibtafel und trottete zu dem Tisch, um sich den ungeliebten Hausaufgaben zu widmen. Einige Stunden später, Joey lag nach der üblichen abendlichen Diskussion in seinem Bett und schlief seit einer Weile tief und fest, klopfte es an der Tür. Mai legte ihre Näharbeit beiseite, an der sie im Schein einer Öllampe gesessen hatte, und schob den schweren Riegel zurück. Der Mann, der draußen stand, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Auch wenn er sich in einen weiten Umhang gehüllt und sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen hatte, hatte Mai ihn sofort erkannt. „Fürst Gozaburo“, sie verbeugte sich tief vor ihm. „Was führt Euch zu mir?“ „Sei still und lass mich rein. Bist du alleine?“ „Mein Sohn schläft.“ Mai hatte kein gutes Gefühl dabei, als sie zur Seite trat und ihm Platz machte. Gozaburo warf einen knappen Blick auf den leise schnarchenden Jungen, setzte sich an den Tisch und wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. „Ich brauche einen Trank von dir.“ „Ist Eure Frau nicht wohlauf?“, erkundigte sie sich besorgt. Die beiden Frauen verstanden sich gut; Mai wusste, dass die Fürstin unter der Gefühlskälte ihres Ehemannes litt. „Ihretwegen bin ich nicht gekommen. Was ich von dir will, ist das stärkste Gift, das du auf Lager hast.“ „So etwas werdet Ihr in meinem Haus nicht finden“, wich sie aus. In ihrem Garten wuchsen zwar einige Giftpflanzen und auf dem obersten Brett des Regals, in dem sie ihre Tinkturen verwahrte, standen Tollkirschensaft und anderes, doch all das verwendete sie rein medizinisch, wie sie es einst ihrer Meisterin geschworen hatte. Gozaburo beugte sich ein Stück vor und funkelte sie mit kalten Augen an. „Lüg mich nicht an, du Hexe. Ich weiß, dass du so etwas hast und du wirst es mir geben.“ „Ich ... ich bin eine einfache Händlerin, keine Hexe. Wenn Ihr Gifte wollt, müsst Ihr eine solche oder Euren Medikus bemühen, Euch etwas zu mischen.“ Die Hand des Fürsten landete mit einem dumpfen Schlag auf der Tischplatte. Mai zuckte zusammen und sah von ihrem Rock auf, in den sie ihre Finger gekrampft hatte. „Strapaziere meine Geduld nicht, Weib. Im Morgengrauen erwarte ich dich mit dem, was ich wünsche, am Schlosstor oder du landest im Kerker. Das Volk wäre sicher erfreut, wieder einmal einer Hexenverbrennung zuzusehen.“ Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, ging er und ließ die blonde Frau in tiefer Verzweiflung zurück. Über eine halbe Stunde ging sie auf und ab und überlegte, was sie tun sollte. Sie hatte immer gewusst, dass es dazu kommen konnte, selbst wenn sie hier nur ihr Wissen über die Kräuter anwandte und nicht die anderen Künste, die man sie gelehrt hatte. Schließlich stand ihr Entschluss fest. „Was ’n los?“, murmelte Joey verschlafen, als sie ihn wachrüttelte. „Zieh dich an und pack deine Sachen, wir verreisen.“ „Mitten in der Nacht?“ „Ich erkläre dir alles später, jetzt beeil dich.“ Am nächsten Mittag hielt ein Trupp Soldaten vor dem Haus und trat, nachdem niemand auf den Befehl zu öffnen reagiert hatte, die Tür ein. Die Schränke und Regale waren leer, im Stall fehlten Esel und Wagen. Dem wütenden Fürsten konnte nur noch gemeldet werden, Mai und ihr Sohn seien spurlos verschwunden. „Ich will das nicht anziehen!“ Joey stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hör auf, so bockig zu sein.“ Wieder versuchte Mai, ihm den Stoff über den Kopf zu streifen und wurde von zwei rasch auseinander fahrenden Armen abgewehrt. „Aber ich bin ein Junge! Ich will wieder eine Hose tragen, keine Kleider.“ Sie ließ den Saum des hellgrünen Kleides sinken und sah ihn ernst an. „Willst du, dass uns Gozaburos Männer finden? Glaubst du etwa, mir mache dieses ganze Versteckspiel Spaß?“ „Nein“, gab Joey niedergeschlagen zurück und ließ sich endlich das Kleid überstreifen, das Mai ihm auffordernd hinhielt. Ihre überstürzte nächtliche Flucht war annähernd drei Jahre her und noch immer ließ der Fürst von Dracoria nach ihnen suchen, da Mai angeblich Pegasus von Crawford, einen Graf aus Gozaburos Gefolge, vergiftet hatte. Der Graf war in den frühen Morgenstunden tot in seinem Bett aufgefunden worden, neben sich eine Phiole der Art, wie Mai sie verwendete. Seither zogen Mai und Joey durch die Lande, ohne je lange an einem Ort zu bleiben. Vor zwei Tagen hatten sie die Grenzen von Alvaria passiert, dem Nachbarreich von Dracoria. Auch ihr Aussehen hatten sie verändert. Mais Haar war von gefärbten grauen Strähnen durchzogen, ihre Haut sah runzlig aus und ließ sie um Jahrzehnte älter wirken. Wäre Joey zufällig seinen leiblichen Eltern über den Weg gelaufen, hätten sie ihn nie und nimmer erkannt. Die blonden Haare hingen ihm in langen sanften Wellen bis zur Hüfte herunter, mal offen, mal zu einem dicken Zopf gebändigt. Seine weichen Gesichtszüge hatten Mai auf die Idee gebracht, ihn als Mädchen auszugeben, so dass sie ihn in der Öffentlichkeit nur noch mit Rapunzel ansprach, ob ihm diese Maskerade passte oder nicht. „Im Jahre 1243 bestieg König Orin den Thron und schlug drei Jahre später ... Hört Ihr mir überhaupt zu, junger Prinz?“ Yami, seines Zeichens königlicher Hoflehrer, drehte sich zu seinen beiden Schützlingen um. Über seine Lippen kam ein tiefes Seufzen. So manches Mal war er sich nicht sicher, ob sein Amt nun eine Ehre oder eine Strafe war. Ryou, der jüngere der beiden Zwillingsbrüder, hing wie immer an seinen Lippen und sog jedes Wort begierig auf, wie ein Schwamm. An ihm hatte Yami nichts auszusetzen, außer dass sein Musterschüler vielleicht fast schon ein wenig zu brav war. Ihm hätte ein wenig mehr Temperament nicht geschadet, über das sein Bruder Bakura dafür im Überfluss verfügte. Davon und von seiner ewig mangelnden Aufmerksamkeit konnte Yami ein trauriges Lied singen. Sein Stock, mit dem er an der Tafel auf die Daten gezeigt hatte, knallte vor Bakura auf den Tisch. Ryou fuhr zusammen, der Ältere dagegen sah seinen Lehrer mit offensichtlichem Desinteresse an. „Ja?“ „Wie erfreulich, endlich habe ich Eure Aufmerksamkeit“, brummte Yami ungehalten. „Ich würde es begrüßen, wenn Ihr meinem Unterricht ebenfalls folgen würdet.“ „Wozu brauch ich diesen ganzen Geschichtsstuss? Immer nur langweiliges Auswendiglernen oder Rechnen.“ Nicht schon wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen! Sich selbst verfluchend, dass er diese Stelle wider besseres Wissen angenommen hatte, sagte Yami zum bestimmt hundertsten oder tausendsten Mal: „Ihr seid der Kronprinz und werdet eines Tages dieses Land regieren.“ Spätestens an dem Tag, an dem Bakura die Krone auf sein weißes Haupt gesetzt bekam, würde er weit weg sein, das hatte er sich geschworen. Er sah das blühende Reich Alvaria bereits den Bach runtergehen und das zu erleben, wollte er sich nicht antun. Bakura verdrehte wie üblich die Augen. Als ob er darum gebeten hätte, die dreiundzwanzig Sekunden eher das Licht der Welt zu erblicken als sein Bruder. Leider entschieden diese Sekunden darüber, wer von ihnen der Nachfolger ihres Vaters werden sollte. Nach einer weiteren Empfehlung Yamis, sich Notizen zum Unterrichtsstoff zu machen statt seine Schreibtafel mit Kritzeleien zu beschmieren, wandte er sich wieder der Tafel zu, um mit seinem Vortrag über die glorreichen Ahnen des Königshauses fortzufahren. Bakura gähnte demonstrativ, lehnte sich zurück und begann mit seinem Stuhl zu kippeln, bis er fast hintenüber fiel. Ryou sah ihn nur kurz missbilligend an und korrigierte die Lebensdaten von Tarien dem Wütenden, die Yami eben genannt hatte. Würden sie sich äußerlich nicht gleichen wie ein Ei dem anderen, hätte es gut möglich sein können, dass einer von ihnen adoptiert war. „Du bleibst hier im Wagen, während ich meine Einkäufe mache“, sagte Mai und langte hinter sich, um nach ihrem Weidenkorb zu greifen. „Kann ich nicht mitkommen?“, fragte Joey mit der piepsigen Stimme, die er sich angewöhnt hatte, und setzte seinen Bettelblick auf. „Im Wagen ist es immer so langweilig und du bist stundenlang weg.“ „Ich beeile mich, versprochen.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und kletterte vom Wagen, den sie unweit vom Schloss abgestellt hatte. Es war Markttag, ihre Vorräte neigten sich wieder einmal dem Ende entgegen. Durch das unstete Leben hatten sie keine Möglichkeit mehr, ihr Gemüse selbst anzubauen. „Das sagst du jedes Mal“, murmelte er, kaum dass sie außer Hörweite war. Immer wenn sie in einen Ort kamen, hieß es, er solle im Wagen bleiben und sich möglichst nicht sehen lassen. Er hatte keine Lust darauf, sich dauernd unsichtbar zu machen und ruhig zu warten, während die Kinder draußen im Sonnenschein über den Marktplatz tollten und spielten. Er war zwölf, war es da zu viel verlangt, sich ein paar Freunde zu wünschen, mit denen er etwas unternehmen konnte? Vorsichtig spähte er durch die Planen, mit denen der Wagen verhängt war, hinaus auf den Markt. An den Ständen herrschte ein reges Kommen und Gehen, die Händler riefen lauthals ihre Waren aus und versuchten die Marktbesucher zu sich zu locken. Die unterschiedlichsten Gerüche drangen zu ihm, menschliche wie tierische, ein ganzes Duftpotpourri kam vom Blumenstand und über allem schwebte der süße Duft von frisch gebackenem Kuchen und Gebäck. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er ärgerte sich, Mai nicht gebeten zu haben, ihm etwas mitzubringen. Selbst hatte er keine Münzen bei sich, sonst hätte er die Gelegenheit genutzt, kurz aus dem Wagen zu schlüpfen und sich etwas zu holen. Einen brummigen Ausdruck im Gesicht, zog er die Plane wieder ordentlich zu und setzte sich auf eine Kleidertruhe. Er hasste es, nichts tun zu können außer warten. Die Zeit kroch unendlich träge dahin, bis ihm das Lachen der spielenden Kinder wie Hohngelächter vorkam. Zur selben Zeit und in gar nicht allzu weiter Entfernung gingen dem jungen Kronprinzen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Nach einer kurzen Mittagspause stand nun Mathe auf dem Programm, ein Fach, zu dem er eine zärtliche Hassbeziehung pflegte, während sein streberhafter kleiner Bruder wie immer so gar keine Probleme zu haben schien. Bakura sah sehnsüchtig aus dem Fenster in den Hof hinab, wo sein bester Freund Duke stand und ihm zuwinkte. Duke war der Sohn des Grafen von Gayis, des königlichen Schatzmeisters, und ging in der Stadt auf die private Schule, welche den Kindern der Adligen und reichen Bürger vorbehalten war. Bakura wollte selbst gern dorthin, doch sein Vater war leider der irrigen Ansicht, er würde bei einem Privatlehrer mehr lernen. Er warf einen Blick zu Yami und Ryou, beide waren in die Matheaufgaben vertieft, und tastete nach dem kleinen Dolch, der am Gürtel an seiner Seite befestigt war. Sein Vater hatte ihn und einen weiteren, identischen, zum letzten Geburtstag der beiden Jungen anfertigen lassen. Bei Ryous war es zweifellos eine Verschwendung des teuren Stahls und der kostbaren Edelsteine, mit denen der Griff verziert war, gewesen, fand Bakura. Sein Dolch hing unbenutzt in seinem Zimmer an der Wand und staubte voll. Seine Finger glitten über die Lederscheide, zogen die Klinge langsam heraus und schoben sie über die Tischkante. Die frühe Nachmittagssonne zauberte mithilfe des glänzenden Metalls funkelnde Lichtreflexe an die Wände. Er richtete sie aus, bis sie auf Yamis Hinterkopf trafen. Der Lehrer wandte sich zu ihm um, um ihn für die nächste Aufgabe an die Tafel zu beordern. „Würdet Ihr – Prinz Bakura!“, unterbrach er sich selbst, als er geblendet wurde und die Hand vor die Augen schlug, um das grelle Licht abzuwehren. „Was soll das?“ Er schnappte nach dem Dolch, den der Angesprochene schnell unter dem Tisch verschwinden ließ, um ihn in Sicherheit zu bringen. „Die Waffe, bitte“, verlangte Yami und baute sich vor seinem Schüler auf. Dieser schüttelte nur den Kopf und sah ihn mit verkniffener Miene an. Er dachte gar nicht daran, sein Lieblingsstück herzugeben. „Euer Hoheit, gebt mir die Waffe.“ „Nein!“ Die Miene des Erwachsenen verfinsterte sich zusehends, er streckte fordernd die Hand aus. Bakura wich vor ihm zurück, sprang plötzlich auf und lief aus dem Raum. „Euer Hoheit!“ Falls Yami ernsthaft dachte, er würde umdrehen, saß er einem gewaltigen Irrtum auf. Jetzt hatte er sich schon spontan selbst von der Mathestunde freigestellt, da konnte er die so gewonnene Zeit auch sinnvoll nutzen. Duke hatte bestimmt nichts gegen einen Ausflug. Er hastete durch die Gänge, in den Hof hinunter und sah gerade noch, wie sein Freund von dessen Vater fortgeführt wurde, um sich an die Hausaufgaben zu setzen. Der Weißhaarige brummte ungehalten. Einen gemeinsamen Ausritt konnte er demnach vergessen. Zwei Stockwerke über ihm wurden die Fenster aufgerissen, Yami streckte den Kopf heraus und rief den Wachen am Tor zu, nach seinem entflohenen Schüler zu suchen. Bakura duckte sich hinter einem Karren und wartete, bis die Wachen vorbeigelaufen waren. Sich immer möglichst im Schatten haltend, hastete er über den Hof, zum Tor hinaus. Die immergrünen, zu Kegeln geschnittenen Buchsbäume, mit denen die Auffahrt zum Schloss bepflanzt war, gaben ihm weitere Deckung, bis er das Schlossgelände hinter sich ließ und in die Stadt kam. Er zog den Umhang, den er auf seiner Flucht noch rasch aus seinem Zimmer geklaubt hatte, enger um sich und setzte die Kapuze auf. Mit einer so seltenen Haarfarbe geboren worden zu sein, war für ihn ein Fluch. Joey rutschte auf seinem Sitz hin und her, um eine bequemere Lage zu finden. Die Füße schliefen ihm schon ein. Wieder sah er nach draußen, von Mai war nichts zu sehen. Er hatte keine Lust mehr zu warten. Ein paar Minuten wollte er wenigstens raus, um sich die Füße zu vertreten. Er schlug die Plane zurück, kletterte aus dem Wagen und schloss sie hinter sich mit einem bestimmten Knoten, den Mai ihm gezeigt hatte. Die Sonne strahlte ihm warm ins Gesicht und brachte das lange Haar zum Leuchten. „Hey, wer bist du?“, sprach ihn ein Mädchen an, das sich aus der Gruppe der spielenden Kinder gelöst hatte und ihn neugierig ansah. „Dich kenn ich gar nicht, bist du neu hier?“ „Nur auf der Durchreise. Ich heiße Rapunzel“, stellte sich Joey lächelnd vor. „Rapunzel? Lustiger Name. Ich bin Marie“, kicherte sie. „Willst du mit uns spielen?“ Joey blickte unschlüssig zu den Jungen und Mädchen herüber und nickte schließlich. Es war lange her, seit er zuletzt mit anderen in seinem Alter etwas hatte machen können. Sie spielten Abwerfen mit einem Ball, der aus alten Stoffresten zusammengesetzt war. Joeys blasse Wangen bekamen schnell Farbe, während er in seinem Kleid hin und her lief, um dem Ball auszuweichen. Nach und nach schieden die Kinder aus, bis nur noch wenige im Spiel waren, darunter Joey. Flink war er immer schon gewesen. Er versuchte seinem Gegner den Ball abzunehmen, um selbst der Jäger zu sein und die Verbliebenen abzuschlagen, doch Marie war schneller und warf nun selbst nach ihm. Er duckte sich, der Ball flog über seinen Rücken hinweg in eine Seitengasse. „Ich hole ihn!“, rief er und lief los, die Chance wollte er sich nicht entgehen lassen. Die Gasse lag in tiefen Schatten zwischen zwei mehrfach aufgestockten Fachwerkhäusern. Dem Ball folgend, der über den schmutzigen Boden rollte, achtete er nicht auf das, was direkt vor ihm war, bis er gegen etwas stieß und einen lauten Fluch hörte, noch während er vorwärts stolperte und fiel. „Hast du keine Augen im Kopf, dumme Gans?“, wurde er angeknurrt. Er öffnete die Augen und starrte geradewegs in ein Paar rehbrauner Iriden, die ihn missgelaunt anfunkelten. „Geh von mir runter, aber ein bisschen plötzlich!“ Joey zog sich zurück, beleidigt wegen der „dummen Gans“ und zugleich peinlich berührt, weil sie direkt aufeinander gefallen waren. Er konnte nur hoffen, dass sein Rock das, was ihn als Junge verriet, gut genug verborgen hatte. Bei dem Gedanken schoss ihm nachträglich das Blut ins Gesicht. Der Junge, der unter ihm gelegen hatte, erhob sich und klopfte sich den Staub vom Umhang, immer noch verärgert über den Zusammenprall. Die Kapuze war verrutscht und offenbarte einen Teil der weißen Haarmähne. Die beiden Kinder musterten einander von oben bis unten. Bakuras Hand schoss ohne Vorwarnung vor und griff in Joeys offenes Haar. „Aaaau! Spinnst du?“, schrie er, als Bakura daran zog, und schlug nach ihm. „Rapunzel, spielen wir jetzt weiter oder nicht?“, riefen die anderen Kinder auf dem Marktplatz. „Komme!“, antwortete Joey und griff, den Blick nach wie vor ärgerlich auf sein Gegenüber gerichtet, nach dem Ball, mit dem er zurück zu seinen Spielgefährten lief. Bakura folgte ihm bis zum Rand der Gasse, verließ sie aber nicht. Er hätte gern selbst mit ihnen gespielt ... wenn sie nicht der Meinung wären, ihn immer gewinnen lassen zu müssen. Wo blieb der ganze Spaß, wenn er sich nicht mal anstrengen durfte? Lange konnte Joey das Spiel mit seinen neuen Freunden nicht genießen. Mai entdeckte ihn, als sie gerade in der dritten Runde waren. Den mit Lebensmitteln voll gepackten Korb noch am Arm und einen Ausdruck im Gesicht, der von Unheil kündete, schlängelte sie sich durch die Kinder zu ihm durch, packte ihn am Arm und zog ihn zum Wagen zurück. Auf dem ganzen Rückweg zu der Hütte, in der sie momentan ihr Quartier hatten, machte sie ihm Vorwürfe, von denen er nicht mal die Hälfte nachvollziehen konnte. War es denn so schlimm, mal ausnahmsweise ein paar Minuten mit Gleichaltrigen zu spielen? Keiner hatte bemerkt, dass sich hinter dem Kostüm des Mädchens ein Junge verbarg. Mai gab ihm keine Gelegenheit, sich großartig zu verteidigen, schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab und teilte ihm mit, er habe die nächsten Tage Hausarrest. Seit ihrem Ausflug nach Alva war rund einer Woche vergangen und Joey wurde das Gefühl nicht los, ständig von Mai beobachtet zu werden. Er hatte noch einmal versucht, ihr die Angelegenheit zu erklären, doch sie hatte ihn mit beleidigter Miene nach draußen geschickt. Mindestens genauso viele, wenn nicht noch mehr Gedanken machte er sich darüber, was seit neuestem mit seiner Stimme los war. Mal klang sie so hoch wie die, mit der er in seiner Verkleidung als Mädchen sprach, im nächsten Moment sprang sie ohne sein Zutun zwei oder drei Oktaven tiefer, dass er sich an das Brummen eines Bären erinnert fühlte. Heute Morgen beim Frühstück war es Mai aufgefallen, der Blick, den sie ihm daraufhin zugeworfen hatte, hatte ihm einen kalten Schauer über den Rücken geschickt, den er sich nicht erklären konnte. „Wo bleibt sie überhaupt so lange?“, murmelte er und sah zur Tür. Es dämmerte schon, sonst war sie spätestens um diese Zeit zurück. Sein Magen meldete sich mit lautem Knurren. Joey stand auf und wanderte zu der Kochstelle hinüber, über der auf einem eisernen Dreibein ein Kessel mit Kartoffelsuppe stand. Mai kam bestimmt bald, da würde sie nicht böse sein, wenn er ihr Essen schon mal aufwärmte. Er legte eine Handvoll Reisig auf die schwachen Glutreste und legte, als die Flammen größer wurden, Holz nach. Hinter ihm ging die Tür auf und wurde wieder geschlossen. „Hallo, Mai“, drehte er sich zu ihr mit strahlendem Lächeln um. „Du kommst spät.“ „Ich weiß“, antwortete sie und hängte ihren Umhang an einen Haken neben der Tür. „Nach dem Essen gehen wir noch mal weg.“ „Es wird schon dunkel“, wandte er vorsichtig ein. „Ist ein Ausflug da nicht zu gefährlich?“ „In diesem Fall nicht. Geh deine Sachen zusammenpacken.“ Mai wandte sich dem Kessel zu und begann konzentriert in der Suppe zu rühren, während ihr Ziehsohn durch die Hütte lief und seine Kleider und Spielsachen suchte. Gern tat sie das nicht, aber die Umstände ließen ihr kaum eine Wahl. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie ihn bald verlieren. Nach dem Abendessen schulterten sie die beiden prall gefüllten Rucksäcke und marschierten in den Wald hinein. Joey kannte ihn nur tagsüber, je länger sie zwischen den dunklen Bäumen umherstapften, desto mehr verlor er die Orientierung, bis er schließlich nicht mehr wusste, wo sie sich befanden. Die Zeit strich dahin, dem Jungen wurden die Beine schwer, die Schultern schmerzten ihm von dem ungewohnten Gewicht. Mai hielt unvermittelt an, Joey stieß gegen sie und hob den Blick. Sie standen am Rand einer großen, vom Mondlicht beschienenen Lichtung. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Rundturm, an dessen Mauern sich Efeu und wilder Wein empor rankten. „Wow ...“, brachte der Junge nur hervor. „Gefällt es dir?“ „Ja, und wie!“ „Das ist gut, denn das hier wird dein neues Zuhause“, erklärte ihm Mai. „Ui, und wann ziehen wir ein?“ „Du ziehst heute Nacht hier ein.“ Ihre Antwort ließ ihn stutzen. Er, nicht sie beide? „Und was ist mit dir?“ „Joey ...“, sie wandte sich ihm zu und legte die Hände an seine Schultern. „Du wirst hier ohne mich leben müssen, jedenfalls für eine Weile. Es ist zu gefährlich geworden, ich muss dich für einige Zeit verstecken. Für drei oder vier Wochen, vielleicht auch etwas länger. Aber ich werde dich jeden Tag besuchen, versprochen.“ „Und was soll ich die ganze Zeit allein machen?“ „Es wird dir hier an nichts fehlen“, sagte Mai und schob ihn auf den Turm zu. Im Näherkommen stellte Joey fest, dass er überhaupt keinen Eingang hatte, nur hoch oben unter dem Schindeldach waren mehrere Fenster zu sehen. „Und wie kommen wir da hoch?“ „Deshalb habe ich dir immer verboten, dir die Haare zu schneiden.“ Sie reichte ihm eine Spindel aus Ebenholz, wie sie zum Spinnen von Garn verwendet wurde. „Pass auf, dass du nicht an den Dorn kommst, ihre Schwester, die aus dem gleichen Holz gefertigt war, hat schon jemanden in einen sehr langen Schlaf geschickt. Wickle deine Haarspitzen um die Spule.“ Joey sah sie an, als sei sie nicht ganz richtig im Kopf, tat aber, was sie gesagt hatte, und beobachtete überrascht, wie seine Haare zu wachsen begannen und die Turmmauern hochkletterten, durch das offene Fenster, wo sie durch das Maßwerk liefen und sich dort verknoteten. „Jetzt steig hoch“, forderte sie ihn auf. Der Stein war rutschig und es zog immer wieder, an seinen eigenen Haaren hochzuklettern. Letzten Endes hatte er es geschafft und gelangte durch das Fenster in das Innere des Turms. Mai rief ihm von unten zu, ihm die Haare runterzulassen, und stieg hinterher. Das Turmzimmer war größer als die ganze Hütte, die sie vor ein paar Stunden verlassen hatten. In einer Ecke standen ein Herd mit Ofen, in dem ein kleines Feuer prasselte, daneben ein Schrank für Geschirr und Kochutensilien sowie ein Tisch mit geschnitzten Stühlen. Der Dielenboden war mit bunten Teppichen bedeckt, in einem Regal türmten sich Spielsachen ... Ja, Joey war sich sicher, es hier für eine Weile aushalten zu können. „Vorräte bringe ich dir regelmäßig mit“, sagte Mai, stellte ihren Rucksack ab und ging zum Fenster. „Lass mich runter und dann leg dich schlafen, du siehst hundemüde aus.“ Sobald sie unten und seine Haare wieder auf ihre normale Länge zurückgegangen waren, ließ sich Joey in die seidenen Kissen des großen Himmelbettes fallen und war wenige Minuten drauf tief und fest eingeschlafen. Die Zauberin beobachtete von unten noch, wie das Licht ausging, dann machte sie sich auf den Rückweg. Es fiel ihr nicht leicht, Joey mitten in der Wildnis einzusperren, doch wenn sie ihn bei sich behalten wollte, blieb ihr keine Wahl. Auf dem Markt hatte er sich ihr widersetzt, sein Stimmbruch hatte begonnen, er steuerte mit Volldampf in die Pubertät hinein. Wie lange würde es noch dauern, bis er entdeckte, dass man mit Mädchen nicht nur spielen oder sie hauen konnte? Darauf wollte sie nicht warten. Sie wollte nicht wieder verlassen werden und am Ende allein dastehen. Und so vergingen sieben Jahre ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)