Geheimnisse in Paris von CaptainCalvinCat ================================================================================ Kapitel 1: A fall from grace ---------------------------- Es war ein wunderschöner Sommertag im Paris des Jahres 1925. Die Vögel zwitscherten und wie es in Paris so üblich ist, lustwandelten verliebte Pärchen durch die verschiedenen malerischen Gassen und Straßen der französischen Hauptstadt. Niemand ahnte, dass in den nächsten Tagen eine Reihe von ungewöhnlich spektakulären Diebstählen die sonst so ruhige Nacht in den Arrondissement genannten Stadtbezirken rund um das Arrondissement du Louvre stören würde. Die Sonne schien es gut mit der Stadt der Liebe zu meinen, verwöhnte sie sie in diesen letzten Juli-Tagen doch sehr stark mit ihrer Präsenz, aber die Betreiber der Straßencafés freute es und das sollte doch auch schon mal eine Nachricht wert sein. Und wo wir gerade bei Nachrichten sind: In der Redaktion der Zeitung „La Voix de Paris“ – also der „Die Stimme von Paris“ – begab sich gerade eine junge Reporterin in den Kampf mit ihrer alten Olivetti-Schreibmaschine. “Madame Lapin immer noch auf freiem Fuß!” Diese Schlagzeile setzte eine schöne rothaarige Frau gerade eben noch über ihren Artikel, ehe sie ihn noch einmal korrekturlas. Die grünen Augen beobachteten jede Satzstellung, jedes Kommata mit der gewohnten Kritik einer Lektorin und je mehr sie las, desto mehr furchte sich ihre Stirn, ehe sie den Zettel mit ihrer zarten Hand in eine handliche Kugel verwandelte und in den ohnehin schon vollen Papierkorb – Zeugnis einer sehr langen und sehr harten kreativ-journalistischen Phase des Kampfes mit Schreibmaschine und Worten – warf. Sie schüttelte den Kopf, stützte sich auf ihre Ellbogen und ließ den Kopf auf beide Handinnenflächen sinken, ehe sie trübsinnig ihre Schreibmaschine anstarrte. Der dunkelhaarige Mann, der ihr gegenübersaß, runzelte die Stirn, erhob sich und trat auf sie zu. „Tony?“, fragte er. Die grünen Augen, die gerade eben noch gedankenverloren in der Gegend herumgeblickt hatten, fixierten die braunen Augen des Mannes und ein Hauch von Ärgernis funkelte in ihnen. Doch dieser Funken verglomm rasch, als die Angesprochene ihn anblickte und sich ihr sinnlicher Mund zu einem sanften Lächeln verzog. Mit einer sanften Stimme fragte sie: „Ja, Alain?“ „Bist – bist Du sauer?“ Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen und ihre ebenen Gesichtszüge entspannten sich, ehe sie den Blick wieder auf Alain richtete. Mit einem Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Resignation, Liebe und Amüsement darstellte, schüttelte sie den Kopf: „Nein, Alain – nur einfach genervt.“ Der junge Alain wusste natürlich auch wieso. Der Artikel, den die Frau gerade eben mit einem gekonnten Wurf in den Papierkorb versenkt hatte, ging in die Details einer Polizeiaktion ein und schilderte diese leider nicht positiv. Sie, Antoinette Dubois, die von allen Tony genannt wurde, hatte eine vitale Rolle in dieser Aktion gespielt – wie eigentlich immer, wenn es gegen Madame Lapin ging. Diese Meisterdiebin war ihr das erste Mal begegnet, als sie ihren ersten Auftrag für die „Voix“ hatte – damals war sie zu einer Modenschau geschickt worden und verschiedene Wertgegenstände waren abhanden gekommen. Gestohlen von Madame Lapin – und seit diesem Zeitpunkt beschrieb es eine gewisse Konstante, dass sie sich immer wieder trafen. Sie hatte eigentlich gehofft, der Meisterdiebin eine Falle stellen zu können, aber wie so oft erwies sich Madame Lapin als gewitzte Gegenspielerin, welche Fallen offenbar im entscheidenden Moment erkannt und sich ihnen entziehen konnte. Sie war – das musste Tony ihr einfach anerkennen – zweifelsohne gut und geübt darin, Leuten, die hinter ihr her waren, zu entkommen. Jedes mal, wenn die Reporterin sich an ihre Fersen setzte, entkam sie durch irgendeinen ominösen Trick. Das diese Tatsache der jungen Frau sehr an die Nieren ging, war eigentlich verständlich. Erneut glitten die Hände zum Papierstapel, erneut spannte sie das Blatt in die Maschine ein und begann, zu tippen. Während Tony schrieb, verzog sie ihre Brauen, ihr schöner Mund wurde schmal und die Lippen wurden aufeinandergepresst. Alain, ihr Freund, warf einen Blick zu ihr und schluckte heftig. ‚Oha,’ schoss es ihm durch den Kopf, ‚sie ist wütend – wer kann es ihr verübeln?’ Er selbst erinnerte sich nicht an das letzte Zusammentreffen, denn Madame Lapin hatte ihn schnell und einfach überwältigt. Es war auf einem Staatsempfang gewesen – der japanische Botschafter hatte Geburtstag gehabt und man hatte den Saphir von Tokyo – einen wertvollen Edelstein – präsentieren wollen. Jeder, der etwas auf sich hielt, war da gewesen – die Polizei war mit beeindruckender Truppenstärke angetreten und – was niemand hätte wissen sollen – der Saphir von Tokyo war von Inspecteur Gustave Calvignac gegen eine Kopie ausgetauscht worden. Es hatte nur eine Hand voll Leute gegeben, die diese Information gehabt hatten – unter ihnen auch Antoinette. Sie hatte sich diesen Plan schließlich, zusammen mit Madame Calvignac, des Inspecteurs Frau, ausgedacht und ihn zusammen mit der Frau des japanischen Botschafters ausgeführt. Auch Alain war die Information geläufig gewesen und der junge Fotograf war sich sicher, dass er heute das Foto machen könnte, auf das er so lange gewartet hatte – das Foto seiner Freundin, wie sie Madame Lapin festnahm. Doch offenbar hatte die Meisterdiebin davon gewusst – denn sie hatte entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet. Tony hatte ihm nachher von allem erzählt. Die Madame hatte sich offenbar als Kellnerin ausgegeben. Tony und Alain mussten offenbar sofort von ihr erkannt worden sein und so war sie vermutlich gezwungen gewesen, ihren Ursprungsplan abzuändern. Als sie ihm das alles erzählt hatte, war ihm die Kellnerin in Erinnerung gekommen, die ihm und ihr ein Glas Champagner gegeben hatte. „Tony, auf dich!“, hatte er gelacht und das Glas in einem Schluck leer getrunken. Seine Freundin jedoch hatte nur kurz am Champagner genippt und das Glas dann erstmal fortgestellt, ehe sie ihm ins Ohr geflüstert hatte: „Wir müssen nüchtern bleiben – du weißt doch, das wir einen großen Fisch fangen wollen.“ Ihre Nähe, ihr Körper hatte ihn sich von jetzt auf gleich extrem entspannt fühlen lassen. Er hatte gelächelt, war gegen sie gesunken und dann auf einen Sessel. Das wiederrum hatte, so hatte sie ihm nachher erzählt, Tony alarmiert und sie hatte die Verbrecherin zu stellen versucht – aber der Schlag in den Magen, den der Bodyguard der Madame ihr verpasst hatte, hatte auch sie zu Boden gehen lassen. Verständlicherweise war Tony wütend und sie hämmerte auf ihre Tastatur ein, dass es durch die komplette Redaktion hallte. Das lies Monsieur Chailleau auf den Plan treten. Der Chefredakteur der „Voix“ öffnete die Tür seines Büros und schaute mit einem verwunderten Blick auf die rothaarige Frau, die normalerweise mit aufrechtem Rücken dort saß und sich auch in größter Wut derart unter Kontrolle hatte, die Tasten nicht zu ruinieren. Diesesmal flogen die Finger über die Tasten und sie trafen zwar jeden Buchstaben, auch mit der nötigen Wucht die dahinter saß, aber Chailleau hatte das Gefühl, das mit der jungen Frau irgendwas nicht stimmte. Das verriet ihm ihre gesamte Körperhaltung – normalerweise saß sie, wie schon gesagt, mit aufrechtem Rücken dort, den Blick fokussiert und die Finger in angemessenem, sanften, beinahe Tänzerischen Rhythmus über die Tastatur gleitend. Wenn die Tony, die normalerweise schrieb, mit einer Ballerina verglichen werden konnte, erinnerte diese Tony an einen Neanderthaler. Das Kreuz gebeugt, die Stirn kraus gezogen und der Rhythmus lies ihn an seine Zeit vor ungefähr 6 Jahren denken, in der er als Kriegsberichtserstatter im großen Krieg die Schrecken des Grabenkrieges portraitiert hatte. Das selbe Stakatto, das Tony ihrer Schreibmaschine zumutete, brachte in seinem Kopf die Erinnerung an das Rattern des Maschinengewehres zurück, das dicht neben ihm losgegangen war. Der Chefredakteur räusperte sich und trat auf Tony zu – auch wenn Alain ihm einen warnenden Blick zuwarf. Doch er war der Chefredakteur, er musste handeln. „Tony“, setzte er an und lächelte, als sie aufhörte und sich zu ihm umdrehte. „Was ist?“ Auch das war Chailleau neu – schlechte Laune kannte er bei ihr nicht. Sie war mitunter nachdenklich, aber niemals offen-feindselig. „Dein Artikel – ich brauche ihn bis spätestens heute abend.“, erklärte der ältere Mann und drehte sich um, um in sein Büro zu gehen. Dort angekommen, schloss er die Tür und seufzte. Tony hatte schlechte Laune – nicht, das es ungewöhnlich wäre, aber so dermaßen sichtbar, hatte sie noch nie schlechte Laune gehabt. Nicht einmal, als sie von den Handlangern Madame Lapins betäubt und in ein Sanatorium entführt worden war. Diese feindselige Tony – sie machte ihn grübeln. Als es klopfte, wandte sich der Chefredakteur erneut der Tür zu. „Ja, bitte?“ Die Tür ging auf und Bricolage kam herein – er war sowas wie Tonys väterlicher Freund und hatte einen sehr besorgten Gesichtsausdruck aufgelegt. „Tony ist zur Zeit nicht sie selbst.“, eröffnete er den Dialog, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Chailleau zuckte mit den Schultern: „Wem sagen Sie das, Bricolage? Haben Sie Vorschläge, was man tun könnte?“ „Nun, ich weiß es nicht – ich vermute aber, ihre Laune hat den Ursprung darin, dass sie diese madame Lapin nicht zu fassen bekommt.“ Der Chefredakteur nickte: „Aber es ist doch nicht ihre Aufgabe, die Polizistin zu spielen – sie soll ordentliche Artikel abliefern. Ich bezahle sie doch nicht dafür, dass sie Verbrecher fängt.“ „Sie wissen schon, Monsieur, dass Tony sich die Schuld für den Fehlschlag der Mission gibt?“ Erneut nickte der Chefredakteur und wandte sich von Bricolage ab, um die Skyline Paris zu bewundern – wann immer er hier stand und die Stadt sah, wie sie in der untergehenden Abendsonne golden schimmerte, fühlte er sich wieder wie der kleine, verliebte Schuljunge, der damals, vor knapp 60 Jahren am Montmatre gestanden hatte und auf Evelyn gewartet hatte. ‚Evelyn’, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf,`Du wärest heute auch noch bei mir, wenn nicht…’ Wenn diese Krankheit nicht gewesen wäre, die sie aus seinen Armen gerissen hatte. Chailleau musste sich zusammenreißen, um nicht zu schlucken. Er warf einen Blick aus dem Fenster und wandte sich dann an den anderen Mann. „Sie muss sich die Schuld nicht geben.“, erklärte er, was ihm nun von Bricolage ein Schulternzucken einbrachte und die Antwort: „Sagen Sie ihr das – sie macht sich schreckliche Vorwürfe.“ Tony hämmerte immer noch auf ihre Schreibmaschine ein. Es gab Tage, da konnte sie ineinemdurch Schreiben, ohne das sie etwas blockierte – und dann gab es eben auch schlechte Tage. Man verschrieb sich – das war nicht schlimm, dann x-te man das Wort durch und schrieb es erneut, das allerdings brachte sie aus dem Gedankenfluss – oder man konnte gar nichts zu Papier bringen. Sie war der Meinung, das man ihren Artikeln durchaus ansehen konnte, wann sie gute Tage hatte und wann nicht. Heute war einer der schlechten Tage. Der Kopf schwirrte ihr vor Selbstvorwürfen. „Warum habe ich nicht besser aufgepasst?“, dachte sie sich, „Ich hätte sie doch erkennen müssen!“ Wenigstens wurde nur die Kopie gestohlen, nicht das Original – und auch wenn dies der Hauptgrund für diesen Einsatz war, war das Nebenziel doch gewesen, Madame Lapin zu verhaften, was nicht erfüllt wurde. Ihre Finger glitten in einem abgehackten Stakkato über die Tastatur der Olivetti – die Sätze, die sie produzierte, ergaben mal mehr und mal weniger Sinn und irgendwann erkannte Tony, was sie da schrieb. Ein Armutszeugnis. Sie hatten sich vorführen lassen, wie die Frischlinge. Kaum, das sie diese Erkenntnis traf, riss sie auch schon das Blatt in einer einzigen, wütenden Bewegung aus der Schreibmaschine, zerknüllte und warf es mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb. Erneut ließ sie den Kopf auf die Hände sinken und starrte gedankenverloren nach draußen. Was hatte sie getan? Sie hatte versagt – eindeutig. Die Madame hatte sie vorgeführt, hatte mit ihr gespielt und hatte am Schluss gewonnen. Als ob Alain es gewusst hätte, trat er auf sie zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Tony“, setzte er an und lächelte, „Es ist nicht so, als ob Du daran die Schuld hättest. Gib sie dir nicht.“ Die Frau schloss die Augen und ließ ihren Kopf gegen seinen Torso sinken. „Ich weiß, dass ich nicht an allem die Schuld trage – aber… ich hätte es wissen müssen. Ich hätte sie erkennen können.“ Alain setzte sich neben sie, griff ihre Hand und schaute ihr in die Augen: „Ich hätte sie auch erkennen können – erkennen müssen – und ich hab mich gleich selbst ausser Gefecht gesetzt. Das war nicht unbedingt eine Glanzstunde von mir – aber du weißt doch: Es gibt Tage, da gewinnt man und Tage, da verlieren die Anderen.“ Ein Lächeln zeichnete sich auf Tonys Mund ab und Alains Herz hüpfte vor Freude. Er hatte es geschafft, er hatte seine Freundin aus ihrem Jammertal herausgeholt, er… Doch dann gefror ihr Lächeln, als sie einen Blick auf die Schreibmaschine warf. Erneut seufzte sie. Die Redaktion war im achten Arrondissement, oder dem Arrondissement de l'Élysée zu finden. Sie lag an der Rue du Rocher und war fußläufig sieben Minuten vom Gare Saint-Lazare entfernt. Dies erlaubte natürlich den Journalisten, bei Bedarf schnell nach Le Havre, Dieppe, Cherbourg oder in die Normandie zu fahren. Das kleine Hotel in der Nähe, ließ Reisende, die den Gare Saint-Lazare als Wechselbahnhof verwendeten, bei Bedarf ausruhen und ihnen ein paar Stunden oder Tage Freizeit gönnen. In diesem Hotel hatten sich die beiden Personen einquartiert und waren nun auf dem Weg zum Redaktionsgebäude der „Voix“. Lachen füllte die Straßen, Wärme ebenfalls. Da traf es sich sehr gut, dass sie ein Kleid angezogen hatte, das sich recht sonnennah ausnahm, wenngleich es immer noch züchtig wirkte. Er hingegen schwitzte jetzt schon in seinem Anzug und hoffte, es endlich hinter sich bringen zu können. Sie schauten sich um, die Frau ließ sich für jede Besonderheit der Umgebung einen Ausruf des Erstaunens über ihre Lippen kommen, während der Mann, sei es ob der Hitze oder sonstigen Faktoren, still blieb und sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich diese Kleidung ausziehen zu können. Nach knappen Sieben Minuten hatten sie das Gebäude endlich erreicht und machten sich daran, die Stufen im Redaktionsgebäude zu der Etage hinaufzusteigen, in der Tony gerade ihren dritten Versuch der Reportage in Angriff nahm. Die Tür ging und den beiden Besuchern wallte als erstes eine Geräuschkulisse entgegen, wie die beiden sie vermutlich noch nie erlebt hatten. Der abgehackte Stakkattorhythmus der Olivetti-Schreibmaschine, das leichte Klingeln der Glocke, wenn der Schlitten am Ende der Zeile angekommen war und natürlich das das reißende Geräusch von Papier aus einer Schreibmascine – all dies war in diesem Raum zu hören. „Entschuldigung.“, sagte sie mit einer angenehmen Stimmfärbung und einem Dialekt, der ihre Heimatwiege eher ins südliche Frankreich rückte, „Wir suchen Monsieur Chailleau.“ Alain drehte sich um, Tony tat dasselbe und beide erstarrten. Sie betrachteten die Neuankömmlinge, dann stand der junge Mann auf und deutete auf die Tür des Chefredakteurbüros: „Er ist da drin.“ „Danke.“, garagentorquietschte der Mann, was Tony dazu veranlasste, die Augenbrauen zu heben. Beide Personen kamen ihr sehr vertraut vor – er war ein Mann um die 1,73, hatte dunkle Haare und Braune Augen, sie mochte ungefähr einen Halben Kopf größer als er sein, hatte feuerrote Haare und grasgrüne Augen. „Hast Du das gesehen?“, riss Alains aufgeregte Stimme sie in die Gegenwart zurück. Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn an und fragte: „Hm?“ „Na, hast Du das gesehen? Dieser Typ und diese langbeinige Göttin?“ „Soso, Göttin ja?“, fragte Tony und diesesmal klang es teils verärgert, aber größtenteils amüsiert. Alain redete sich gerne mal in Schwierigkeiten und es machte ihr einen Heidenspaß, ihn mit diesen Äußerungen aufzuziehen. Sie drehte den Kopf von ihm weg – gespielt beleidigt – was Alain dazu veranlasste, zu realisieren, was er da gerade gesagt hatte. Doch kurz bevor er sich entschuldigen konnte, ging die Tür auf und die langbeinige Göttin im Kleid, sowie der Mann im Anzug verließen mit Bricolage das Büro des Chefredakteurs. „Dann setzt euch mal da rüber.“, sagte der alte Mann und der Anzugträger, sowie die Göttin traten auf Tony und Alain zu, lächelten freundlich, wenngleich Tony in seinen Augen eine gewisse Unsicherheit erkennen konnte. Als er zu sprechen begann, klang es zwar nicht mehr ganz so, als würde sich ein Garagentor, das schon lange nicht mehr geölt wurde, öffnen, aber die Stimme war definitiv merkwürdig. „Entschuldigung, können wir – können wir uns zu ihnen setzen?“, fragte er und Tony zuckte mit den Schultern: „Meinetwegen.“ Sie wandte sich wieder um und begann ihre Olivetti zu bearbeiten, als sie plötzlich merkte, das ihr jemand über die Schulter schaute. Und dieser jemand war nicht Alain, das bemerkte sie, als sie nach links blickte und ihren Freund sich mit der Göttin unterhalten sah. Na das war ja ein starkes Stück. Was nur bedeuten konnte, das Garagentorstimme ihr über die Schulter blickte. Sie seufzte, wandte sich zu ihm um: „Haben Sie nichts besseres zu tun?“ „Momentan nicht.“, kam es als Antwort. Er zuckte mit den Schultern: „Was schreiben Sie denn da?“ „Einen Artikel.“, war die Antwort und sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Wut auf die Situation und auf Madame Lapin nicht mehr länger unterdrücken konnte. Bei der Antwort merkte sie schon, wie die Wut sich durch ihre Schichten der Selbstbeherrschung leckte und hoffte, dass der Mann genug Grips hatte, um sich von ihr fernzuhalten. Sie wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine um, spürte aber wieder, wie er sich hinter ihr positionierte. „Es ist einer Ihrer Artikel über diese Person, nicht wahr? Diese Madame Lapin?“, fragte der Mann und sie drehte sich um, erhob sich und funkelte ihn an: „Ja, es ist einer der Artikel und ich wäre sehr erfreut, wenn Sie mich in Ruhe weiterschreiben ließen, denn ich habe einen Abgabetermin und sollte ihn wirklich einhalten!“ Erneut tropfte etwas Wut durch die Ummantellung aus Indifferenz der Situation gegenüber, aber der Mann verschränkte die Hände hinter dem Rücken: „Darf ich ihn lesen, wenn sie fertig sind?“ „Was? Nein! Wer sind Sie eigentlich?“ Mehrere Antwortmöglichkeiten, mehrere Antworten, zwei Fragen. Der Mann schaute sie verdattert an: „Haben Sie es vergessen? Meine Freundin und ich haben uns hier als Praktikanten beworben und sind angenommen worden. Andrè Lachat ist mein Name.“ Jetzt strahlte er: „Sie wurden – oder besser gesagt ich wurde Ihnen zugeteilt, weil ich in den Journalismus gehen will – meine Freundin will Fotografin werden. Deswegen sind wir hier. Tadaaa!“ Tony schaute ihn an – und für einige Minuten war sie wie vor den Kopf geschlagen. „Bitte?“, fragte sie und schaute ihn an, „Sie sind mein … Praktikant, ja?“ André nickte begeistert: „ja, und ich freu mich schon darauf mit Ihnen Madame Lapin zu jagen. Die schnappen wir uns, was?“ Als Chailleau gerade das Radio anschalten wollte, flog die Tür auf und Tony stand im Raum, die Arme in die Hüften gestemmt. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz!“, sagte sie mit einer Stimme, die nun gar nichts Nettes mehr an sich hatte. „Ich verstehe nicht?“ „Diese Praktikanten? Ich kann für die beiden keine Verantwortung übernehmen!“ Chailleau nickte: „Ah, ich verstehe – nein, sie sollen auch nicht für Beide die Verantwortung übernehmen. Nur Lachat ist ihr Praktikant. Madame Samedi ist die Verantwortung Alains.“ „Nichts gegen Alain, aber der Mann hat sich gestern von Madame Lapin betäuben lassen – ich bezweifele, dass er dazu in der Lage ist, auf eine Praktikantin aufzupassen.“ „Wenn Sie diese Aufgabe nicht erfüllen wollen, so ist das verständlich – nur haben sich die beiden Praktikanten wirklich darauf gefreut, von den Besten übernommen zu werden. Geben Sie ihnen ein paar Tage Zeit – wenn sie dann nicht mit ihnen Arbeiten wollen, teile ich die beiden anderen Journalisten zu.“ Die junge Frau seufzte: „Wirklich?“ „Ja – aber versuchen Sie wenigstens für zwei Tage mit ihnen auszukommen.“, lächelte Chailleau. „Das dürfte sich einrichten lassen.“, murmelte Tony, wandte sich um und verlies das Büro. Der Chefredakteur schaute ihr hinterher. „Vielleicht beruhigt das unsere Tony wieder.“, murmelte nun er und wandte sich wieder dem Radio zu, das er anschaltete, aus dem Erik Saties La diva de l’empire den Raum beschallte. Chailleau lehnte sich zurück und lies sich in die Welt des Musikers entführen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)