Briefwechsel von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Eins --------------- Lieber Toris. Ja, ich bin es, Eduard. Vielleicht fragst du dich, woher ich weiß, dass du bei Feliks bist? Nun, wo solltest du sonst sein? Wir wissen alle, dass du zu niemand anderem hättest gehen können. Alfred hätte dich aufgenommen, aber bis zu ihm ist es so weit. Wenn du, kurz bevor du Abends noch einmal zu Ivan müsstest, davonläufst, ohne Kleider oder Geld oder wenigstens irgendetwas mitzunehmen, kannst du nicht geplant haben, weit zu reisen. Oder du musst sehr, sehr panisch gewesen sein. Vielleicht ja auch beides? Ich weiß, dass du bei Feliks bist, und verstehe mich bitte nicht falsch: Ich gönne es dir. Ich weiß, wie viel Feliks dir bedeutet und dass dein Leben bei ihm hundertmal besser ist als das, das du mit uns zusammen in Ivans Haus führen könntest. Du hast schon so viel durchgemacht, Toris, und ich gönne dir eine Auszeit. Ich würde es dir genau so gönnen, wenn es eine Auszeit für immer wäre. Aber ich bin nicht Ivan. Oder besser gesagt, Ivan ist nicht ich. Toris, noch in der Nacht, in der du verschwunden bist, kam Ivan in unser Zimmer. Ich habe mich schlafend gestellt, also hat er Raivis aus dem Bett gezerrt und ihn nach unten in den Keller gesperrt. Das ist recht weit unten und die Wände sind dick, das weißt du ja. Deswegen höre ich nichts, selbst wenn Ivan eine Weile dort unten verbringt. Es ist so schwierig, alles ist schwierig. Ich muss nicht nur die Arbeit für zwei, sondern für uns drei machen. Ivan lässt mich kaum aus den Augen. Ich versuche, mich ein paar Minuten lang davon zu stehlen, um Raivis Essen zu bringen. Vor zwei Tagen hat Ivan mich erwischt. Seitdem habe ich es nicht mehr versucht. Es sind fünf Tage vergangen, seitdem du gegangen bist, Toris. Ich vermisse dich. Ich vermisse dein Lächeln und deine ewige Zuversicht, es würde schon alles gut werden. Ich vermisse auch Raivis, seine Tollpatschigkeit und sein ewiges Zittern. Man fühlt sich gleich viel sicherer, wenn man jemand noch Hilfloseren hat, den man hüten muss, findest du nicht auch? Ich bin müde und die Schrift verschwimmt vor meinen Augen. Es muss schon früh morgens sein, aber ich kann nicht schlafen. Ich bin zu müde dazu, kannst du dir das vorstellen? Ich bin sicher, du kannst es. Du weißt ja, wie Ivan ist. Wenn ich morgen früh nicht mit allem fertig bin, wird er mich auf diese bedauernde Art ansehen, sich umdrehen und in den Keller gehen. Zu Raivis. Ich frage mich, ob er glaubt, ich würde dann besser arbeiten, ob er mich bestrafen will oder ob er es schlicht genießt, irgendjemanden zu misshandeln. Jetzt, wo du weg bist, ist eben Raivis derjenige. Nachdem er mich neulich unten erwischt hat, hat er die Tür abgeschlossen, und er trägt den Schlüssel immer bei sich. Als ich Raivis zum letzten Mal gesehen habe, vor drei Tagen also, sah er überhaupt nicht gut aus. Bald geht es ihm so schlecht, wie es dir immer ging, Toris, und Raivis ist nicht wie du. Er ist klein und zart und leicht zum Weinen zu bringen. Am ersten oder zweiten Tag, nachdem du weg warst, habe ich die Fassung verloren und Ivan angeschrien, wieso er Raivis nicht in Ruhe lässt. Er ist schon wieder zur Kellertreppe gegangen, mit diesem Funkeln in den Augen, und zwar nur, weil sein Tee nicht rechtzeitig fertig war. Meine Schuld also. Alles, was er antwortete, war, dass er mich zum Arbeiten bräuchte und Raivis momentan andere Aufgaben zu erfüllen hätte. Wirklich, genau das hat er gesagt. Es fühlt sich schlecht an, Toris. Richtig schlecht. Was mich schon fast zum eigentlichen und einzigen Grund meines Briefes bringt. Toris, du hast es verdient, bei Feliks zu sein und glücklich zu sein (und ich wünsche dir von Herzen, dass er dich glücklich macht). Ich möchte nicht derjenige sein, der dich zwingt, zurück zu kommen. Wirklich nicht. Für Ivan ist das alles nur ein Spiel. Er weiß genau, dass du bei Feliks bist, und er könnte hin marschieren und dich zurück holen – machen wir uns nichts vor: Wenn er das wollte, wärst du längst wieder hier. Aber das will Ivan nicht. Stattdessen legt er Raivis als Köder aus und wartet ab, bis du von selbst zu ihm zurückkommst. Ich bin nichts weiter als ein Bauer auf seinem Schachfeld, der den Laden für die Dauer des Spiels am Laufen hält und dir nebenbei die Hiobsbotschaft überbringt. Ich hasse meine Rolle in diesem Spiel, Toris, aber ich kann nichts tun, um sie zu ändern. Falls Ivan weiß, dass ich dir diesen Brief schreibe, wird er ihn nicht abfangen. Er würde mir sogar die Briefmarke schenken, wenn ich ihn danach fragen würde. Es läuft alles nach seinem Plan, nach seinen Regeln, und das macht mich krank vor Wut und Machtlosigkeit. Aber andererseits, Toris, halte ich es einfach nicht aus. Ich kann nicht länger meinen Aufgaben nachgehen, als sei nichts, während Raivis dort unten wer weiß was durchmacht. Er ist nicht wie du, Toris. Raivis ist ein Kind, und Ivan weiß das ganz genau. Deswegen hat er ihn ausgewählt und nicht mich. Weil Raivis unschuldig ist. Du bist auch unschuldig, Toris. Du hast nichts falsch gemacht, und selbst wenn du nicht zurückkommst, kann dir niemand einen Vorwurf machen. Am allerwenigsten ich. Wenn du wieder hier bist, wird Ivan dir das Leben zur Hölle machen. Noch mehr, als er es vorher schon getan hat, meine ich. Glaub mir, er zeigt es nicht direkt, aber er ist wütend. Wobei wütend es noch nicht ganz trifft. Er ist enttäuscht, verletzt. Du weißt, was passiert, wenn man wilde Tiere verletzt: Sie werden aggressiv. Raivis ist seit fünf Tagen dort unten. Ich weiß nicht, wie lange er noch durchhält. Geschweige denn, was Ivan tun wird, wenn er nicht mehr kann. Ich weiß es nicht und will es mir nicht ausmalen. Was immer du tust, Toris: Überlege es dir gut. Und denk nicht nur an uns, denk auch an dich. Entscheide klug, was du tust. Ich möchte nicht, dass man am Ende sagt, ich hätte dich gezwungen, an diesen albtraumhaften Ort zurück zu kommen. Aber ich finde, du hast ein Recht, zu erfahren, was los ist. Und vielleicht hat Raivis auch das Recht, nicht so zu leiden. Sieh es mal so, Toris: Es ist alles ein Täter-Opfer-Prinzip. Ivan ist der Täter, und wir drei sind die Opfer. Auch du. Du hast keine Schuld, Toris. Die Sonne geht schon auf. Ich werde heute noch einmal versuchen, das Schloss zur Kellertür zu knacken und zu Raivis zu kommen. Ich werde ihm aber nichts von dem Brief sagen. Fühle dich nicht zu einer überhasteten Entscheidung gezwungen, Toris. Entscheide überlegt und klug. Aber entscheide dich. Mit freundlichen (wenn auch momentan sehr müden) Grüßen, dein Eduard. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)