Träume fangen von abgemeldet (aka Dreamcatcher) ================================================================================ Kapitel 6: fallen und fragen ---------------------------- Erst als ich neben José im BMW sitze, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Entsetzt hält er am Straßenrand und beginnt den Wagen nach Taschentüchern abzusuchen. Durch meine Traurigkeit hindurch spüre ich, wie überfordert er mit der Situation ist. Immer und immer wieder fragt er mich, was genau passiert ist. Aber ich kann ihm nicht antworten. Es fühlt sich an, als würde ich mich durch eine fremde Welt bewegen, die ihren Sinn verloren hat. Mit einem Körper, der nicht mehr zu mir gehört. Ich kann einfach nicht begreifen, dass die Erde sich weiterhin dreht, dass die Zeit weiter vergeht. Dass es irgendwo in diesem Land tatsächlich Menschen gibt, die noch lächeln können. Denn alles in mir ist erstarrt, betäubt. Als wäre ich gestorben. José und ich trennen uns vor meiner Haustür. Er fragt, ob er noch irgendwas für mich tun kann. Aber ich schüttle den Kopf. Zum Abschied legt er mir kurz die Hand auf die Schulter. Als wüsste er, dass wir uns vermutlich niemals wiedersehen. Die Wohnung ist finster und still, als ich sie aufschließe. Wie ein Grab. Ich mache mir nicht die Mühe, das Licht anzuschalten, sondern wanke sofort in mein Zimmer. Wie ein Roboter schließe ich die Tür hinter mir, ziehe mich aus und falle ins Bett. Dort rolle ich mich auf die Seite und weine, bis ich nicht mehr kann. Noch nie war eine Nacht so schwarz und kalt. Jeder Atemzug kostet mich Kraft und Überwindung. Mit beiden Händen umklammere ich fest meine Arme, um zu spüren, dass ich noch immer da und am Leben bin. Ich halte meine Augen weit geöffnet. Denn wenn ich sie schließe, sehe ich sein Gesicht vor mir und nehme seinen Geruch wahr, fühle seine Wärme. Ich kann es kaum ertragen. Ich sehne mich so sehr nach seiner Nähe, dass mein Körper sich in Agonie zusammen krümmt. Und immer wieder schallt One Night in Bangkok wie ein vergangenes Echo in meinem Kopf. Damals, vor zehn Monaten, habe ich es als Klingelton für Alejandro ausgewählt, weil es mich so an ihn erinnert hat. Wenn er ein Song wäre, dann wäre er ein aufsehenerregendes Orchester, zu dem sich die Menschen hingezogen fühlen. Oder ein starker Beat, nachdem man beim Tanzen automatisch seine Bewegungen richtet, ohne es zu bemerken. Ich sehe, wie neue Tränen die Dunkelheit vor meinen Augen verschwimmen lassen. Ich würde alles tun, um dieses Lied noch einmal von meinem Handy zu hören. Ein allerletztes Mal. Doch es schweigt. Die ganze Welt um mich herum schweigt. Irgendwann höre ich dann, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und Katja und Dennis nach Hause kommen. Sie kichern und unterhalten sich, laufen durch den Flur und schalten das Licht im Badezimmer an. Sie geben sich keine große Mühe, leise zu sein. Kein Wunder. Sie wissen ja nicht, dass ich hier bin. In dieser Nacht träume ich nicht. Es ist das erste Mal, seit zehn Monaten, dass ich nicht träume. Denn ich schlafe nicht. Ich falle nur. Falle, falle und falle. Als ich am nächsten Tag schwerfällig und leblos die Küche betrete, verschüttet Dennis um ein Haar seinen Kaffee vor Schreck. „Noah!“, keucht er entgeistert, „Was machst du denn hier? Mein Gott! – siehst du scheiße aus. Ist alles in Ordnung?“ Ich versuche, ihm nicht zu zuhören. Draußen strahlt die Sonne hell und gleißend vom blauen Himmel. Mir wird richtig übel von ihrem Anblick. „Kann ich Kaffee haben...?“, krächze ich. „Sicher...,“ er klingt schrecklich besorgt und beeilt sich, mir einen Becher zu bringen. Immer wieder wirft er mir erschütterte Blicke zu. „Mann...,“ murmelt er, während er mir Kaffee einfüllt, „Was ist denn los? Nun sag schon... Was hat der Kerl mit dir gemacht? Hat er dir irgendwie...weh getan?“ Meine Unterlippe beginnt zu zittern. „Nein...,“ schluchze ich. „Hier, trink!“, kommandiert er bestürzt und gibt mir den Becher. Ich trinke Kaffee. Mir ist schwindelig. Dennis verlässt fluchtartig die Küche und kommt einen Moment später mit der beunruhigten Katja zurück. Als sie mich ansieht, weiten sich ihre Augen. „Mein Gott...,“ flüstert sie. Meine besten Freunde setzen sich um mich herum und bombardieren mich mit Fragen, bis ich mich nicht mehr beherrschen kann. Ich beginne wieder zu weinen, sodass es den beiden die Sprache verschlägt. Und erzähle ihnen in knappen, abgehackten Sätzen, was geschehen ist. Katja nimmt meine Hand und drückt sie. Und Dennis legt den Arm um meine Schultern. Sie bemühen sich so sehr, mich zu trösten, dass ich nur noch mehr weinen muss. Sie sagen mir, dass es so besser ist. Dass ich es tun musste, um mich selbst zu schützen. Dass ich bald darüber hinweg sein und dann jemanden kennen lernen werde, der viel besser zu mir passt und mit uns gemeinsam grillt. Sie schlagen mir vor, die Uni ausfallen zu lassen und mich auszuschlafen. Sie bieten sogar an, ebenfalls zu bleiben, um mir beizustehen. Aber ich schüttle den Kopf. Ich will in die Uni. Ich will mit dem Heulen aufhören und mich ablenken. Ich will zurück ins Leben, um nicht durchzudrehen. Sie sehen erleichtert aus. „Das ist gut, Mann,“ sagt Dennis und nickt, „Du musst weiter machen.“ „Du bist so tapfer,“ wispert Katja und lächelt mich an, „Alles wird gut, glaub mir.“ Ich versuche wirklich ihr zu glauben. Aber ich schaffe es noch nicht. Im Seminar schlafe ich beinahe ein. Aber nur beinahe. Immer wieder fallen mir die Augen zu, aber schon einen Moment später schrecke ich hoch, weil es sich anfühlt, als würde ich durch den Boden des Raums in die Tiefe stürzen. Katja streichelt mir in regelmäßigen Abständen über den Rücken. Dennis schreibt alle Witze, die er kennt, in meinen Kalender, um mich aufzuheitern. Und Tina, Julia und Hannes lächeln mir ermutigend zu, wann immer mein Blick sie streift. Ich versuche verzweifelt, mich auf das gehaltene Referat zu konzentrieren. Doch über all meinen Sinnen liegt ein Nebel, der meine Umgebung verzerrt und dämpft. Eindrücke strömen auf mich ein und verschwinden, wenn ich sie zu fassen versuche. Überall glaube ich, Alejandros Stimme zu hören. Und jedes Mal reißt es mein Herz auseinander, wenn ich meinen Irrtum feststelle. Gott, er fehlt mir so sehr. So grässlich, so allumfassend, dass ich es in jeder Zelle meines Körpers fühlen kann. Als würde ich in Flammen stehen. Ich frage mich, wo er jetzt wohl gerade ist und was er gerade tut. Fährt José ihn zum Flughafen und fragt ihn, was gestern Nacht mit mir los war? Erzählt er es ihm? Sitzt Vincent auf dem Beifahrersitz und gibt abfällige Kommentare dazu ab? Verbietet Alejandro ihm den Mund oder stimmt er ihm zu? Denkt er an mich, so wie ich an ihn denke? Vermisst er mich, so wie ich ihn vermisse? Wünscht er sich, dass die gestrige Nacht niemals geschehen wäre, so wie ich es mir wünsche? Und ich frage mich, wie mein Leben jetzt aussehen wird. Ohne ihn. Und ohne die Anrufe mitten in der Nacht. Ohne das Warten auf seine Rückkehr. Ohne den Drang, mir die Abende frei zu halten, falls er mich spontan sehen will. Und ohne die Karamellbonbons. Ohne sein spöttisches Gelächter und seinen Gesang unter der Dusche. Ohne die Mahlzeiten im Bett und die Kissenschlachten und Schaumbäder. Ohne die endlosen Gespräche über Sterne, Fremdsprachen und amerikanische Krimiserien. Und ohne den innigen Sex und das gemeinsame Einschlafen danach. Ohne die Träume vom Fliegen. Werde ich ab jetzt nur noch Alpträume haben? Jede Nacht, bis ans Ende meiner Tage? Werde ich jede Nacht aus dem Schlaf schrecken und denken, was für einen abscheulichen Fehler ich begangen habe? Werde ich je wieder fliegen? Mein Gott. Zehn Monate lang hat mich dieses Geheimnis belastet. Bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Und nun, wo es fort ist, fühle ich mich so leer wie nie zuvor in meinem Leben. Nach dem Seminar stehen wir wieder draußen in der Sonne. Dennis, Katja und die Anderen machen unentwegt Pläne für den Tag, nur um mich abzulenken und vom Nachdenken abzuhalten. Vom Nachdenken, das ich erst gestern Nacht angefangen habe. Und das mir jetzt mehr Schmerz bereitet, als ich in den vergangenen zehn Monaten je empfunden hab. Damals, als ich nur gefühlt habe. Immer wieder fragen sie nach meiner Meinung zu einem Vorschlag. Dann nicke und lächle ich jedes Mal. Aber eigentlich höre ich ihnen gar nicht zu. Dabei sind sie alle so lieb, dass es mich trösten und aufbauen sollte. Sie versuchen so sehr mir zu helfen, dass es mir das Herz wärmen müsste. Aber mein Herz reagiert nicht. Und dann...unterbricht Katja sich plötzlich. Sie reißt die Augen auf und erbleicht. „Noah...!“ keucht sie und wir starren sie erschrocken an, „Dreh dich um!“ Ich wirble um die eigene Achse. Und höre die Anderen nach Luft schnappen. Mein Gott. Träume ich? Auf der Straße steht der graue BMW. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)