Träume fangen von abgemeldet (aka Dreamcatcher) ================================================================================ Kapitel 1: träumen und hassen ----------------------------- Ich kann fliegen. Sanft und beschwingt wie ein Vogel schwebe ich über den Himmel. Meine Flügel sind fragil und so leicht, dass ich mich vom Wind tragen lassen kann. Unter mir ist eine wunderschöne Landschaft. Ich kann grüne Bäume sehen und graubraune Berge, die in der langsam untergehenden Sonne glühen. Aber alles ist verschwommen und ungenau, als hätte ein Kind dieses Land unter mir mit wässriger Tusche gemalt. Ich kann keine Details erkennen. Ich kann nichts wirklich fassen. Ich denke, ich fliege schon lange. Obwohl Zeit hier keine Rolle spielt. Doch ich habe das Gefühl, dass ich mich schon sehr lange in der Luft befinde. Eine Ewigkeit. Eigentlich würde ich gern langsam sinken und irgendwo auf einem dieser kleinen Hügel landen. Doch irgendwie...weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll. Niemand hat mir gesagt, wie man mit dem Fliegen wieder aufhört. Aber jetzt...spüre ich mit einem Mal, wie müde meine Flügel bereits sind. Und die Sonne ist schon fast weg, das Land unter mir verdunkelt sich. Ich bekomme Angst. Wenn ich nicht schleunigst herausfinde, wie ich landen kann, dann werde ich ungehalten in diese Schwärze hinab fallen. Dumpf steigt Panik in mir auf. Jetzt...höre ich etwas. Von irgendwoher...kommt plötzlich Musik. Ich weiß nicht woher, aber sie kommt mir bekannt vor. Es sind laute, irgendwie scheppernde Klänge. Wild, ein bisschen wie ein Orchester. Jetzt verändert es sich. Klarere, höhere Töne gesellen sich zu dem blechernen Rhythmus dazu. Und umso mehr ich mich konzentriere, desto klarer werden sie. Ich weiß genau, dass ich diese Melodie kenne. Ganz genau sogar. Sie lässt mein Herz höher schlagen und mein Blut schäumen. Ich erinnere mich... Die Landschaft unter mir löst sich auf. Ganz plötzlich ist sie fort. Und dann fliege ich nicht mehr. Ich schlage die Augen auf. Mein Zimmer ist nachtschwarz. Und ein wenig kühl, weil ich wie immer mit offenem Fenster schlafe und die Nächte im Moment noch ziemlich frisch sind. Meine Bettwäsche raschelt, als ich mich bewege. Neben meinem Bett, auf dem Teppich, leuchtet das Display meines Handys hell auf. Die Ouvertüre von One Night in Bangkok schallt unnatürlich laut durch die Stille und übertönt das Ticken meiner Wanduhr. Fieberhaft schüttle ich den altbekannten Traum von mir ab und schnappe nach Luft. Dann drehe ich mich auf die Seite und greife nach meinem Handy. Ich muss den blinkenden Namen auf dem Display nicht lesen, um zu wissen, wer mich da gerade anruft. Die Musik hat es mir schon längst verraten. Mein Herz hämmert immer schneller vor Aufregung. Ich räuspere mich rau. "Bangkok, oriental setting, and the city don't know…" Atemlos unterbreche ich den Song. „Hey...,“ krächze ich schlaftrunken in mein Handy und streiche mir das Haar aus den Augen. Der Digitalanzeige meines DVD-Players kann ich entnehmen, dass es zwanzig vor drei ist. „Oh, entschuldige,“ antwortet eine warme, lässige Männerstimme am anderen Ende der Leitung und lässt meinen Magen unbändig kribbeln, „Ich habe vergessen, wie spät es schon ist. Ich habe dich geweckt, oder?“ „Nicht so schlimm...,“ nuschle ich und setze mich auf; im Hintergrund kann ich leises Rauschen hören, „Bist du wieder in der Stadt?“ „Ja, endlich. Ich bin gerade gelandet,“ erwidert er und klingt erleichtert, „Vor zehn Minuten, um genau zu sein. José fährt mich grad nach Hause. Hör mal, ich möchte dich heute gern noch sehen. Kannst du herkommen?“ Ich seufze und mein Herz verkrampft sich. Halb sehnsüchtig, halb betrübt. „Es ist mitten in der Nacht...,“ sage ich matt und schlucke. „Ich schicke dir José vorbei.“ „Aber ich hab morgen um zehn Uni...,“ „José fährt dich hin. Und du kriegst Frühstück hier. Also...? Was sagst du?“ Ich schlucke erneut und schweige einen Augenblick. In Momenten wie diesen spüre ich ganz deutlich, wie viel es mich kostet. Wie viel Energie und Ausdauer. Wie furchtbar viel Kraft. In Momenten wie diesen bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht einen schrecklichen Fehler begehe, einen völlig falschen Weg einschlage. Wie soll das auf lange Sicht gut gehen? Will ich tatsächlich, dass mein Leben so aussieht? Gott, ich hasse es, wenn er mich auf diese Art zu sich zitiert. Mich morgens um drei aus meinen Träumen reißt. Ohne Rücksicht auf mich und meinen Schlaf. Ohne Rücksicht auf mein Leben. Früher hat mich das nie gestört. Aber in letzter Zeit...immer mehr. Doch andererseits...weiß ich auch ganz genau, wenn ich ihm jetzt absage, werde ich den Rest der Nacht wachliegen und daran denken, wie wunderbar es wäre, jetzt bei ihm zu sein. Eine einzige Woche lang war er diesmal weg. Und ich habe ihn wahnsinnig vermisst. Wie immer. Jeden Tag, sobald die Sonne unterging, habe ich auf seinen Anruf gewartet und mich nach ihm gesehnt. Und jetzt ist er endlich zurück. Heil und gesund. Ich kann ihm einfach nicht absagen. Mein Herz verbietet es mir. „Also gut...,“ höre ich mich selbst flüstern, „Aber gib mir noch bis drei Zeit, damit ich kurz duschen kann.“ „Alles klar,“ antwortet er und ich höre das Grinsen in seiner Stimme, „Ich sag José Bescheid. Und zieh das schwarze Hemd an, ja? Darin siehst du so verdammt scharf aus.“ Mein Herz pocht schnell und hart gegen meine Rippen. Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel zu einem schwachen Schmunzeln verziehen. „Okay...,“ sage ich, „Bis gleich.“ „Bis gleich. Ich freu mich.“ Und es klickt in der Leitung. Knapp eine Viertelstunde später stehe ich mit verschränkten Armen unten an der Straße und warte. Ich friere ein bisschen. Und die Dunkelheit drückt schwer auf meine Augenlider. Kein Stern ist am Himmel zu sehen. Um diese Zeit und mitten in der Woche ist selbst dieses Viertel fast ausgestorben. Nur hin und wieder jagt ein Radfahrer an mir vorbei. Irgendwo in der Ferne johlen und lachen ein paar Betrunkene. Ich reibe mir die Augen. Ich bin müde. Mir fällt ein, dass ich mal irgendwo gelesen habe, dass der biologische Rhythmus des Menschen um drei Uhr morgens seine Tiefphase hat. Neben meinen Füßen steht mein gepackter Rucksack. Nach dem Duschen hab ich das, was ich morgen früh und später in der Uni brauchen werde, eilig hinein gestopft: Collegeblock, meinen Reader für Journalismusforschung, Kugelschreiber, Kalender, frisches T-Shirt und Socken, Zahnbürste. Und dann natürlich noch die Dinge, die ich immer mit mir herum schleppe: Schlüssel, Handy, Kaugummis, Portemonnaie, Studentenausweis. Ich ziehe fröstelnd die Schultern zusammen und meine Gedanken fließen ohne weiteres zu ihm. In meinem Bauch kribbelt es behaglich. Seufzend lasse ich meinen Blick die verlassene Straße entlang gleiten. Dort hat etwas Helles meine Aufmerksamkeit erregt. Tatsächlich. Scheinwerfer gleißen durch die Finsternis. Augenblicklich beschleunigt sich mein Herzschlag. Das Auto kommt näher. Mein Magen überschlägt sich, als ich es erkenne. Es ist ein grauer BMW, nagelneu und blitzsauber, mit getönten Scheiben. Er wird langsamer und hält dann direkt vor mir an. Ich atme tief ein, nehme meinen Rucksack und haste über den Fußweg zur Straße. Beim Wagen angekommen, öffne ich die Tür und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. „Guten Abend,“ sagt José und grinst mich an, „Beziehungsweise, guten Morgen.“ „Hallo, José,“ antworte ich und erwidere sein Lächeln, „Wie geht es dir?“ „Oh, ich kann nicht klagen,“ entgegnet der Chauffeur freundlich und lässt den BMW leise schnurrend anfahren, „Etwas müde bin ich. Aber das Gefühl kennst du wohl, wie?“ Ich schmunzle ein bisschen und lehne mich tief in den duftenden Ledersitz hinein. Hier im Wagen ist es angenehm warm. „Ja, allerdings...,“ murmle ich und muss prompt ein Gähnen unterdrücken. José lacht leise und nachsichtig, während er den Wagen um eine Kurve lenkt. „Tja, wir sind schon verrückt,“ brummt er, „Und alles nur, um ihn glücklich zu machen...,“ Ich lächle schief und betrachte José von der Seite. Er sieht tatsächlich sehr müde aus. Bartstoppeln bedecken sein Kinn und seine sonst so tadellos frisierten Haare hängen ihm heute dunkel und fransig in die Stirn. José fährt mich durch die nächtliche Stadt, in eins der teuren und geheimnisumwitterten Viertel. Vor meinem Fenster ziehen prächtige Häuser und elegante Vorgärten vorbei. Finster und schlafend. Mit jedem Kilometer, den wir fahren, steigt meine Ungeduld. Ich kann mein Herz lebendig und erregt unter meinem schwarzen Hemd schlagen spüren. Nach einiger Zeit halten wir schließlich vor einem Haus, dessen Fenster teilweise erleuchtet sind. In der Nacht sieht es noch unheimlicher aus als am Tag, finde ich. Es ist gepflegt und könnte schön sein, wenn es einem nicht das Gefühl vermitteln würde, man stecke seine Nase in Dinge, die lieber unentdeckt bleiben sollten. Aber vielleicht nehme auch nur ich es so wahr, weil ich weiß, was hinter diesen verschlossenen Türen geschieht. Ich bedanke mich bei José, wünsche ihm eine nun ungestörte Nacht und steige mit wild klopfendem Herzen aus dem BMW aus. Meine Schritte knirschen eindringlich auf dem Kiesweg und das Licht aus den Fenstern wirft meinen verzerrten Schatten auf den Boden. Die Haustür ist groß und dunkel. Es gibt zwar ein Klingelschild, doch das ist nur für Postboten. Menschen, die dieses Haus aus einem ganz bestimmten Grund betreten wollen, benutzen den bronzenen Türklopfer. So wie ich. Ich trete mir die Füße ab. Mein Herz führt einen unkontrollierten Trommelwirbel in meiner Brust auf, der mir beinahe den Atem raubt. Ich hab das schon hundert Mal gemacht. Trotzdem kostet es mich tatsächlich jedes Mal wieder Überwindung. Doch schließlich greife ich den Türklopfer und poche behutsam ein paar Mal gegen das polierte Holz. Einige Sekunden lang bleibt alles still. Dann höre ich Schritte auf der anderen Seite. Einen Moment später öffnet sich die Tür für mich. Es ist Gabrielle, die rundliche Haushälterin. Sie sieht genauso müde aus wie José. Doch sie hat es noch geschafft, ihr Haar in dem üblichen Knoten zu befestigen. Sie lächelt, als sie mich erkennt und winkt mich herein. „Da bist du ja, Schatz...,“ sagt sie liebevoll und schließt die Tür hinter mir, „Er wartet schon auf dich. Geh schon mal hoch. Ich glaube, er telefoniert noch. Gute Nacht.“ „Danke, Gabrielle,“ antworte ich leise, „Gute Nacht.“ Während die Haushälterin davon wuselt, durchquere ich die Eingangshalle und steige die Treppe hinauf, in das obere Stockwerk. Das Flurlicht brennt und leitet mich direkt in ein großes Schlafzimmer, dessen Wandlampen es matt beleuchten. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. So laut, dass es mir in den Ohren zu dröhnen scheint. Nun, wo ich hier bin, prickelt meine Haut und meine Gedanken schwirren. Und die Müdigkeit ist vollständig aus meinen Gliedern gewichen. Ich betrete das Zimmer, sehe mich um und lasse meinen Rucksack dabei langsam von der linken Schulter gleiten. Es sieht hier aus wie immer, wenn er grad von einer Reise zurück gekommen ist: kalt und unbenutzt. Dunkle, edle Möbel, eine helle Ledercouch, moderne Bilder an den Wänden, neuste Technik, was Stereoanlage und Fernseher angeht. Die Bettwäsche und die langen Vorhänge vor den riesigen Fenstern sind so blütenweiß wie in einer Waschpulverwerbung. Der Parkettfußboden und der helle Teppich sind erst vor kurzer Zeit gestaubsaugt worden. Auf den Regalen stehen Vasen mit frischen Blumen, auf dem Couchtisch eine Schale Obst. Ein Zimmer aus dem Prospekt. Nur der ungeöffnete Koffer neben dem Kleiderschrank passt nicht in dieses Bild der Perfektion. Manchmal habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, mit der Fingerkuppe prüfend über den Couchtisch oder die Kommode zu streichen. Ich habe nie auch nur ein Staubkorn entdeckt. José hat mir einmal im Vertrauen erzählt, dass er Gabrielle sofort alarmiert, wenn er weiß, wann er ankommen wird. Und sie steht dann auf und beginnt in Windeseile noch einmal damit, das ganze Haus zu putzen. Alles, damit er glücklich ist. Dabei ist er eigentlich gar kein Ordnungsfanatiker. Im Gegenteil. Er ist einer der Männer, die ihre Klamotten achtlos durch die Gegend werfen, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Und die Kaffeetassen bis Weihnachten herum stehen lassen würden, wenn nicht jemand anders sie für sie wegräumen würde. Ich bezweifle, dass er Gabrielle jemals wegen mangelnder Sauberkeit unter Druck gesetzt hat. Vermutlich tut sie es einfach deshalb, weil sie es tun will. Für ihn. So, wie auch José sich morgens um halb drei noch mal klaglos für ihn hinters Steuer setzt. Und ich meine Träume unterbreche. Für ihn. Um bei ihm zu sein, wenn wir die Möglichkeit dazu bekommen. So oft und so lange es eben geht. Und in diesem Moment höre ich sie. Endlich. Seine Schritte im Flur. Mein Herz macht einen Sprung und ein heißkalter Schauer rieselt über meinen Rücken. Ich wirble zur offenen Schlafzimmertür herum und spüre den Boden unter meinen Füßen erwartungsvoll vibrieren. Plötzlich ist meine Kehle trocken und meine Zunge taub. Ich warte. Und dann...steht er mit einem Mal im Türrahmen: groß und muskulös und dunkelhaarig. Er trägt einen schwarzen, aber trotzdem dezenten Anzug, über einem weißen Hemd. Und alles an ihm strahlt eine solch mächtige Präsenz aus, dass einem fast automatisch der Atem stockt. Sein Anblick lässt mein Herz beinahe zerspringen vor Freude. Ich lächle und versuche etwas zu sagen, aber ich kriege kein Wort heraus. Aber das muss ich auch nicht. Alejandro grinst nur, schließt die Tür hinter sich und kommt auf mich zu. Es gibt eine Zeit für Worte. Und es gibt eine Zeit, in der Worte überflüssig sind. Wie jetzt zum Beispiel. Alejandro und ich lassen unsere Körper sprechen. Ohne zu zögern nimmt er mein Gesicht in seine Hände und küsst mich auf den Mund. Mein Herz explodiert. Seufzend schlinge ich meine Arme um seine Hüfte, um ihn ganz nah bei mir zu spüren. Er öffnet meine Lippen mit seiner Zunge und küsst mich so intensiv, dass mir schwindelig wird. Er lässt seine Hände über meine Schultern wandern, zu meinem Hals, und zieht den Reißverschluss meiner Jacke auf. Raschelnd und unbeachtet fällt sie zu Boden. Alejandro drängt mich rückwärts zum Bett und ich lasse mich widerstandslos hinein schubsen. Er grinst, zieht sich Anzugjacke und Hemd aus und wirft sie gleichgültig zur Seite. Dann krabbelt er mir mit nacktem Oberkörper hinterher. Er beugt sich wieder über mich und küsst mich. Meine Lippen, meine Wangenknochen, meine geschlossenen Augen. Seine Hände streichen über den Stoff des schwarzen Hemdes, das ich für ihn angezogen habe. Er schiebt es hoch, um meinen Bauch zu küssen. Stück für Stück zieht er mich aus. Er küsst meinen ganzen Körper und zeichnet mit den Fingern Bilder auf meine Haut. Er nimmt mich vollständig in Besitz. Wie immer. Und ich lasse es geschehen. Ich keuche und stöhne bei seinen Berührungen und flüstere seinen Namen in die Nacht hinein. Ich küsse das Muttermal an seinem Hals, betaste jeden Zentimeter seines Körpers und greife schließlich fest in seine Schultern, um vor Lust nicht ohnmächtig zu werden. Alejandro schläft mit mir. Und ich lasse mich einfach fallen. Weil ich weiß, dass er da ist, um mich aufzufangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)