Seelensplitter von Moonprincess ================================================================================ Ägypten VII: Eis ---------------- „Das kann nicht wahr sein! Wie konnte ich ihn nur übersehen?“ Atem schlug mit der Faust in eines der Kissen, die die Liege in Hebas Wohnzimmer bedeckten. Am liebsten wäre er aufgesprungen, aber sein verstauchter Fuß schmerzte inzwischen so sehr, daß er glaubte, beim nächsten Schritt würde Feuer sein Bein verzehren. „Es ist nicht deine Schuld, Atem“, versuchte Nefertiti ihn zu beruhigen, während sie gleichzeitig die inzwischen abgetrocknete und in eine warme Decke eingewickelte Amisi auf den Armen schaukelte. „Es ist ein Wunder, daß du überhaupt zum Palast zurückgefunden hast bei diesem Wetter.“ „Ich hätte trotzdem besser achtgeben sollen.“ Atem ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. Erschöpft schloß er die Augen. „Wie konnte das alles nur passieren?“ murmelte er. „Wer würde so was unschuldigen Kindern antun? Wer steckt die Stadt an?“ „Ich weiß es nicht.“ Nefertiti barg ihr Gesicht an Amisis Köpfchen. „Ich wünschte, wir wüßten, was mit Hetep-Heres ist. Sie wird am Boden zerstört sein.“ Sie schluchzte leise. „Wir werden sie finden“, antwortete Atem. „Und auch diejenigen, die das getan haben. Wenn es Bakura war, dann schwöre ich bei allen Göttern, sorge ich dafür, daß er sich wünscht, nie geboren worden zu sein.“ Er war so wütend. Auf Bakura, auf die Brandstifter, auf die Mörder und vor allem auf sich selbst. Als ob es nicht reichen würde, was heute geschehen war, hätte er um ein Haar auch noch Heba über den Haufen geritten. Hoffentlich war es nichts Ernstes. Wo, bei allen Göttern der Unterwelt, blieb Isis? Nefertiti bemerkte seine Unruhe und setzte sich neben ihn. „Ihm wird es schon gutgehen“, versicherte sie Atem. „Isis und Mana kriegen ihn schon wieder hin.“ „Welch Beruhigung! Es ist meine Schuld, daß er...“ „Nein, das ist es nicht“, unterbrach Isis ihn mit ruhiger Stimme. Sie hatte die Tür zum Schlafzimmer geschlossen und kam zu Atem und Nefertiti hinüber. „Was hat er?“ erkundigte Atem sich ungeduldig. „Eine seiner Rippen ist gebrochen. Er wird eine Weile Schmerzen beim Atmen haben und darf sich nicht zuviel bewegen. Die Rippe hat zum Glück nicht seine Lunge punktiert oder sich verschoben. Ich habe den Heilungsprozess beschleunigt, also wird Prinz Heba bald wieder ganz gesund sein.“ „Das ist Glück im Unglück.“ Nefertiti wischte sich über ihr feuchtes Gesicht. „Und was soll daran nicht meine Schuld sein?“ hakte Atem nach. „Pharao, die Rippe ist deshalb gebrochen, weil sie schon vorher angebrochen war. Als Heba vor dem Pferd zurückgewichen und gestürzt ist, ist sie erst völlig gebrochen. Er hatte schon eine ganze Weile Schmerzen in der Brust, aber sie, so sagt er zumindest, als nichts Schlimmes abgetan. Er sagte auch, er wüßte nicht, wie die Rippe überhaupt vorgeschädigt werden konnte.“ Isis sah Atem aufmerksam an. „Er lügt.“ Atem stand vorsichtig auf. „Das denke ich auch, aber ich kann nur seinen Körper heilen, seine Seele...“ Sie zuckte mit den Achseln und seufzte. „Vielleicht redet er mit Euch. Was auch immer er verbirgt, es belastet ihn sehr.“ „Isis?“ Nefertiti war ebenfalls aufgestanden. „Hast du nichts vorhersehen können? Ich meine...“ Sie sah hilflos auf Amisi. Isis senkte den Kopf. „Leider nicht, Euer Hoheit. Meine Visionen sind in letzter Zeit immer seltener und unklarer geworden. Vielleicht habe ich die Götter erzürnt.“ „Bestimmt nicht“, versicherte Atem ihr und sah sie ermutigend an. „Du bist ein guter Mensch und ich bin froh, dich als Erwählte Priesterin in meiner Nähe zu wissen. Es liegt an Bakura. Seit seinem Auftauchen ist die Magie im Ungleichgewicht.“ „Ich hoffe, Ihr habt recht, Majestät. Denn dann müssen wir Bakura nur fangen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.“ Atem nickte. „Ich sehe jetzt nach Heba.“ Wenigstens etwas, das er tun konnte. Er verdrängte die Gedanken an Blut und Fleisch und an das Grauen, das ihm aus dem Krieg nach Hause gefolgt war, und trat in Hebas Schlafzimmer. Mana erhob sich eilig als sie ihn sah. Mit einem Wink forderte Atem sie auf zu gehen. Er nickte ihr dankbar zu. Als er allein mit Heba war, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem eben noch Mana gesessen hatte. Heba war blasser als die Leinenlaken auf denen er lag. Ein großer Bluterguß kennzeichnete auf seiner Brust die Stelle, an der die Rippe gebrochen war. Schmerz stand in seinen Augen und Schweißtropfen rollten von seiner Stirn. Atems Kehle wurde ihm unangenehm eng und sein Herz zuckte schmerzhaft in seiner Brust. Selbst wenn er nicht für die ursprüngliche Verletzung verantwortlich war, daß Hebas Rippe schließlich doch gebrochen war, war seine Schuld, ganz gleich, was Isis sagte. „Heba? Ich bin’s, Atem.“ Er ergriff Hebas Hand und hielt sie fest. Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf Hebas blassen Lippen. „Atem“, wisperte er. Mühevoll atmete er ein. „Geht es... dir gut?“ „Meinem Körper soweit schon, mach dir keine Sorgen. Es tut mir leid. Das hier ist nur meine Schuld. Ich hätte Wüstenläufer zügeln sollen als wir innerhalb der Palastmauern waren.“ „Ich hätte nicht im Weg stehen sollen“, erwiderte Heba. „Es ist nicht deine Schuld.“ „Doch, das ist es. Zumindest zu einem Teil.“ Atem streichelte leicht über Hebas Hand. „Wenn ich es irgendwie wieder gutmachen kann, sag es.“ „Ich werde bald wieder gesund sein. Das reicht mir.“ Hebas Hand zuckte etwas. „Isis sagte, die Rippe wäre schon angeknackst gewesen. Eine Ahnung, wie das passieren konnte?“ Heba wandte sein Gesicht ab und starrte blicklos zum Balkon. „Nein.“ Atem steckte seine Finger in die Zwischenräume von Hebas kürzeren, so daß sich ihre Handinnenflächen berührten. „Du weißt es“, sagte er. „Bitte erzähl es mir.“ Heba preßte die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts!“ Sein Gesicht wurde rot. „Du bist ein schlechter Lügner, mein Kleiner.“ Atems Stimme verriet seine Traurigkeit. „Ich habe dir doch gesagt, daß du mir alles erzählen kannst. Warum nimmst du das Angebot nicht an?“ „Atem, bitte frag mich solche Dinge nicht“, wisperte Heba gequält. „Heba...“ „Nein!“ Heba entriß Atem seine Hand und rollte sich zu einem Ball zusammen. Er preßte sein Gesicht gegen seine Knie und gab ein gequältes Stöhnen von sich als seine gebrochene Rippe sich bemerkbar machte. Atem sprang auf. „Hör auf damit! Du tust dir nur selber weh. Du mußt gerade liegen oder der Bruch könnte sich verschieben.“ Er faßte Hebas Schultern und spürte das feine Zittern, das ihm bisher entgangen war. „Heba?“ „Du solltest dich nicht um mich kümmern.“ Hebas Stimme war hoch und dünn. „Bitte, Atem, geh jetzt.“ „Was redest du da? Ich kümmere mich um dich, weil du mir wichtig bist.“ Atem war frustriert. „Jetzt laß diesen Unsinn und leg dich richtig hin!“ Heba rührte sich nicht, aber das Zittern unter Atems Händen wurde stärker. „Bitte, Heba“, bat Atem sanfter. Hebas Widerstand erlahmte und Atem konnte ihn wieder in die Rückenlage ziehen. Ein Blick in Hebas Gesicht offenbarte ihm die Tränenspuren auf seinen Wangen, auch wenn Heba seine Augen geschlossen hielt. „Ich kann dich nicht zwingen, darüber zu reden, aber...“ „Kein Aber!“ preßte Heba hervor und wandte sein Gesicht erneut von Atem fort. „Es ist vorbei! Ich bin draußen! Ich will nicht darüber reden. Ich will es nur vergessen. Verstehst du das nicht, Atem?“ Er schluchzte verzweifelt und es brach Atem das Herz. „Die Ketten, die mich an Harda fesseln, werden nie verschwinden. Sie werden immer da sein, aber ich will nicht auch noch ständig daran denken müssen.“ Atem saß für eine Weile schweigend neben Heba. Schließlich legte er langsam seine Hand neben Hebas, sie zu ergreifen wagte er allerdings nicht. „Ich verstehe dich“, sagte er leise. „Vor zwei Jahren waren wir im Krieg gegen die Hethiter. Ich will dir nicht zu genau schildern, was ich gesehen habe, aber soviel Leid und Schmerz, der Tod, das Blut, die ganzen Verletzten... All das ist noch immer in meinem Kopf und es geht nicht weg. Ich wache sooft nachts schweißgebadet auf und habe Angst, Angst, daß ich wieder dort bin. Angst, daß ich meinen Verstand verliere, wenn ich das alles noch einmal durchstehen muß. Meine Ketten fesseln mich an die vielen Schlachtfelder, die ich gesehen habe. Ich wollte es meinem Vater sagen, ihn um Rat bitten, aber... Als ich zurückkam, war er gestorben und plötzlich war nichts mehr so wie früher. Alle haben erwartet, daß ich meine Aufgabe als Pharao gut mache. Ich muß stark sein. Niemand darf meine Schwächen sehen, noch nicht einmal meine eigene Familie. Wenn ich nicht für sie stark bin, wer ist es dann?“ Atem verstummte. Er faßte Hebas Hand und preßte sie gegen seine feuchte Wange. „Du weinst“, sagte Heba leise. Seine Stimme klang erstickt. „Ich kann mich vor ihnen verstecken, aber nicht vor dir, Heba. Selbst wenn ich es wollte, ich kann es nicht.“ Heba setzte sich vorsichtig auf. Es kostete ihn sichtlich einiges an Mühe, aber er beugte sich zu Atem und nahm ihn in den Arm. „Sieh dir das an! Da will ich dir helfen und jetzt heule ich mich bei dir aus.“ Atem drückte Heba sanft und strich über dessen Rücken. „Du fühlst dich kalt an“, fügte er mehr zu sich selbst hinzu. „So fühle ich mich auch“, antwortete Heba. „Wie... erstarrt.“ Atem setzte sich neben Heba auf das Bett und zog ihn neben sich, so daß er einen Arm um ihn legen konnte, immer vorsichtig, Heba keinen weiteren Schmerz zuzufügen. „Besser?“ „Etwas.“ Heba hob den Kopf in seine Richtung und lächelte schwach. „Weißt du, nachdem meine Eltern tot waren... Da ging es seltsamerweise noch. Mein Onkel nahm mich zu vielen Anlässen mit, ich bekam das beste Essen, die beste Kleidung. Ich hatte Wachen, die immer um mich waren. Leider nur selten Marilita, aber... Antes hat immer gesagt, daß er nicht will, daß mir auch etwas passiert. Ich wußte damals noch nicht, daß er selbst meine Eltern ermorden ließ. Ich war so... blind.“ Heba lachte gequält. „Ich merkte erst, daß etwas nicht stimmte als ich keine Briefe mehr von dir bekam. Zuerst dachte ich, du hättest mich vergessen, aber ein Teil von mir wußte, daß das niemals geschehen könnte. Dann sah ich, wie eine Wache einen meiner Briefe an dich nicht an einen Boten weitergab, sondern im Herd verbrannte. Ich war so wütend! Ich lief zu dem Wächter und habe ihn angeschrieen, aber er hat nur gelacht und gesagt, daß ich dankbar sein kann, daß ich noch am Leben bin.“ Atem streichelte über Hebas Arm. Er tat es einfach, ohne sich darüber Gedanken zu machen. „Marilita hat mir dann gesagt, daß ich besser nicht mehr schreiben soll. Antes hat sie kaum noch in meine Nähe gelassen, aber wann immer sie da war, hat sie mir geholfen. Sie hat mir gesagt, daß ich Antes nicht vertrauen darf, daß mein Leben in Gefahr sei. Ich habe ihr nicht geglaubt. Welches Kind könnte schon so etwas glauben? Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte nicht, daß mein letzter lebender Verwandter ein Mörder war, dem mein Tod sehr gelegen kommen würde.“ Heba schwieg für ein paar Sekunden. Er lehnte sich an Atem und seufzte. „Dann hat Antes mir einen Ausritt versprochen. Ich habe mich so gefreut. Ich wollte endlich aus dem Palast raus. Es hat mich davon abgelenkt, wie schrecklich ich meine Eltern vermisse. Alles war schön an dem Tag. Die Sonne schien und vom Meer her kam eine milde Brise. Antes ließ mich kurz alleine, angeblich weil ihn die Natur rufen würde. Also bin ich alleine ein Stück weitergeritten. Dann war da dieser Mann... Er sprang einfach aus einem Gebüsch, mein Pferd scheute und dann... weiß ich nichts mehr. Als ich aufwachte, konnte ich nichts mehr sehen. Die Heiler sagten, die Götter müßten mich beschützt haben, daß ich überhaupt noch am Leben wäre. Da fing ich endlich an, die Wahrheit zu sehen.“ Atems Haß auf Antes wuchs mit jedem Wort Hebas. Dennoch schwieg er. Er merkte, daß Heba sich das alles ohne Unterbrechung von der Seele reden mußte. „Ich schnitt mich, ich stolperte und fiel hin, ich lief in Türen und Mauern... Es war hart und ich wußte, daß es irgendwie Antes’ Schuld war, aber ich hatte keinen Beweis, aber noch viel weniger hatte ich einflußreiche Freunde. Antes erklärte, ich sei nun unfähig, einmal König zu werden und ich solle besser eine Verzichtserklärung unterschreiben, damit er an meiner Stelle regieren könnte. Marilita riet mir davon ab. Solange ich nicht unterschreiben würde, wäre mein Leben in weniger großer Gefahr als wenn ich es täte.“ Heba atmete mehrmals tief ein und aus, dann fuhr er fort: „Als Antes merkte, daß meine Blindheit ihm offenbar keinen Vorteil verschaffte, versuchte er, mich mit anderen Mitteln zum Unterschreiben zu bewegen. Zuerst sagte er, daß ich in meinem Zustand keine Bücher mehr brauchen würde und ließ jede Schriftrolle aus meinem Zimmer entfernen. Das machte mich traurig, aber ich hatte ja noch andere Dinge, die mir am Herzen lagen. Also nahm er mir meine Spiele weg, da ich, nach seiner Aussage, zu alt für solche Kindereien sei und ließ alles verbrennen. Danach war mein Zimmer praktisch leer. Antes hielt es jetzt für zu groß für jemanden wie mich, der doch kaum Platz bräuchte, also wurde ich in eine alte Dienerunterkunft verbannt, in der seit Jahren keiner mehr gelebt hatte. Vor meiner Tür waren ständig Wachen postiert. Ich konnte nirgends alleine hingehen, noch nicht einmal ins Bad.“ Heba wurde rot vor Scham und Tränen rannen über seine Wangen. Atem drückte ihn mitfühlend. „Ich habe das Ankh, das du mir geschenkt hattest, die ganze Zeit versteckt. Ich wußte, würde Antes es finden, er würde es mir auch wegnehmen und es zerstören. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, auch noch das zu verlieren. Als Antes feststellte, daß ich immer noch nicht unterschreiben wollte, drohte er, Marilita zu foltern und zu töten, während ich zuhören müßte. Ich konnte sie nicht leiden lassen, noch nicht einmal, wenn es meinen eigenen Tod bedeuten würde, also habe ich die Verzichtserklärung unterschrieben und damit die Herrschaft meines Onkels legalisiert.“ Heba rieb sich über die Augen. „Dann hörte Marilita, daß ich als Geisel für den ägyptischen Königshof im Gespräch war. Sie hat mich vorbereitet, mir gesagt, wie ich mich benehmen müßte. Daß ich so tun würde müssen, als wäre dies das Schlimmste, was mir geschehen könnte und daß ich nicht aus Harda fort wollen würde. Alles, damit Antes keinen Grund sah, daß es mir hier gutgehen könnte. Aber bevor ich abreiste...“ Heba schniefte. „Ah, das ist so schwer.“ „Du machst das großartig“, ermunterte Atem ihn. „Rede weiter.“ Heba nickte. „Er ließ mich zu sich kommen und sagte, daß ich lernen müßte, wo mein Platz von nun an sei. Daß ich von jetzt an keinen Wert mehr hätte, daß ich nutzlos und ein verkrüppelter Idiot sei.“ Er schluchzte. „Marilita war auch da und er hat ihr befohlen... Sie mußte mich treten, Atem! Er hat sie gezwungen, mich solange zu treten, bis ich zusammengekrümmt am Boden lag und kaum mehr Luft bekam. Dann hat er gesagt, sie soll mich zum Botschafter schaffen. Oh, sie hat so geweint. Sie hat sich tausendmal entschuldigt, aber ich weiß ja, daß sie es nur getan hat, damit ich Antes entkommen konnte.“ Heba drehte sich leicht und barg sein tränenüberströmtes Gesicht an Atems Schulter. Er konnte nicht mehr sprechen. Atem schlang seine Arme um Heba und hielt ihn fest. Er sagte auch nichts, denn auch er weinte. Weinte wegen Hebas Schicksal und wegen der Dinge, die ihn selbst so quälten. Schließlich erzählte er Heba, was heute geschehen war. Daß seine älteste Nichte und ihre zwei Brüder ermordet worden waren und er nur das jüngste Kind hätte retten können. Heba ließ ihn nicht los und seine Tränen vervielfachten sich, als er Atems Geschichte mit Trauer und Entsetzen zuhörte. Schlußendlich waren beide so erschöpft, daß sie kaum mehr aufrecht sitzen konnten. Heba rutschte auf die andere Seite des Bettes und deutete auf den freien Platz neben sich. „Du solltest dich auch etwas hinlegen“, sagte er und schniefte. Atem konnte nur nicken. Er hatte das Gefühl, daß er heute keinen unfallfreien Schritt mehr machen konnte. Er streifte seine Sandalen ab und ließ sich nur in seinem Schendit neben Heba nieder. Sanft nahm er Hebas Hand in die seine und in dieser Nacht hatte er seit langem keinen Alptraum mehr. *** „Also was wissen wir?“ Atem saß zusammen mit Nefertiti, den Erwählten Priestern und Siamun in dem kleinen Beratungszimmer. „Nicht viel, Majestät. Die Brandstifter haben uns leider nichts hinterlassen, aus dem sich ihre Identität schließen läßt“, erklärte Karim. „Der Anschlag auf die Familie Eurer Schwester war nicht vorhersehbar. Es ist gut möglich, daß die Brände damit im Zusammenhang stehen, aber es kann auch reiner Zufall sein“, fuhr Mahado fort. „Ich habe mir den Tatort angesehen. Der Regen hat glücklicherweise verhindert, daß das Haus von Prinzessin Hetep-Heres ganz niederbrennen konnte.“ Akunadin sah ernst aus. „Was ich gesehen habe, war entsetzlich, so wie Ihr es geschildert habt, Pharao. Ich halte es nicht für eine Tat Bakuras. Nichts spricht dafür. Wenn er es gewesen wäre, er wäre außerdem aufgetaucht, um damit zu prahlen. Das, was ich sah, wirkte auf mich eher wie die Tat eines Wahnsinnigen.“ „Bakura ist wahnsinnig“, brummte Atem. „Aber wo waren die Diener und wo ist unsere Schwester?“ hakte Nefertiti nach. „Ich habe mit meiner Millenniumskette versucht, die Prinzessin aufzuspüren. Nichts!“ „Nach Zeugenaussagen hatte die Dienerschaft freibekommen. Von Prinzessin Hetep-Heres“, erklärte Set. „Sie wollte einen Abend alleine mit ihrer Familie verbringen.“ „Aber wenn die Dienerschaft weg war, wie konnte dann Minnefers Wein vergiftet werden?“ Atem lehnte sich nachdenklich zurück. „Das Gift könnte schon in der Amphore gewesen sein“, antwortete Set. „Allerdings wundert es mich, daß er den Wein trotz des bitteren Geruchs getrunken hat. Das ist es, was mich so stutzig macht.“ „Nicht nur dich, Set.“ Atem massierte seine Schläfen. „Habt ihr etwas aus der Dienerschaft herausbekommen können?“ „Nichts. Wir haben alle befragt, aber keiner hatte etwas mit dem vergifteten Wein zu tun“, erzählte Akunadin. „Sie alle waren Minnefer und Hetep-Heres treu ergeben und sind erschüttert über den Tod ihres Herrn und seiner Kinder.“ Siamun seufzte. „Ich hätte noch eine Möglichkeit zu bieten, wie es geschehen ist.“ Seine Stimme klang brüchig. „Und die wäre?“ Atem sah ihn aufmerksam an. „Ich hatte den begründeten Verdacht, daß jemand Informationen über unser Heer und unsere Truppenstärken nach Harda übermitteln läßt. Die Art von Informationen, die normalerweise nur höherrangigen Offizieren zugänglich ist. Ich ließ alle möglichen Kandidaten ausspionieren.“ „Du hast meinen Schwager verdächtigt?“ Atem hob finster eine Augenbraue. „Nicht direkt. Ich nahm an, jemand aus dem Haushalt wäre ein hardaischer Spion. Die Dienerschaft ist nach ihrer Befragung auszuschließen. Minnefer war es ebenfalls nicht. Seine Loyalität der Krone gegenüber ist unzweifelhaft.“ Siamun schloß gequält die Augen. Atem hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengrube. Die Richtung dieser Enthüllungen gefiel ihm gar nicht. „Wer ist dann der Spion?“ „Ich habe mich nicht getäuscht als ich dachte, die Informationen gingen nach Harda. Aber sie gingen zuerst an den Kult des Apophis, dem... dem Hetep-Heres angehört. Dann erst wurden sie nach Harda weitergeleitet.“ „Das ist unglaublich! Ich hoffe, du hast Beweise für diese Behauptungen.“ Atem war aufgesprungen und fixierte Siamun wie ein Löwe das Lamm. „Ich habe jeden Beweis hier genauestens dokumentiert.“ Siamun schob eine dicke Schriftrolle zu Atem. „Ich wollte mit Euch dieser Tage darüber sprechen. Wenn ich geahnt hätte, zu was Hetep-Heres fähig ist... Ach, Pharao, vergebt mir!“ Siamun senkte den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld.“ Nefertiti war aufgestanden. In ihren Augen glänzten Tränen. „Es war Hetep-Heres. Sie hat uns verraten.“ „Wir wissen aber nicht, ob sie auch die Mörderin ist“, warf Atem scharf ein. „Dieser Verdacht wird dieses Zimmer nicht verlassen, bis wir einen unwiderlegbaren Beweis für oder gegen Hetep-Heres’ Schuld haben. Unterwandert diesen Apophis-Kult. Unsere Antworten finden wir wahrscheinlich dort. Solange bleibt dieser Skandal unter striktem Verschluß.“ Die Anwesenden murmelten zustimmend. Atem drehte sich auf der Hacke um und marschierte mit wehendem Umhang aus dem Zimmer. Er brauchte dringend etwas frische Luft. Er konnte nicht glauben, daß seine eigene Schwester zu solchen Dingen fähig war. Aufgrund des Altersunterschiedes hatten sie nicht soviel Zeit miteinander verbringen können wie andere Geschwister, aber dennoch hatten sie sich immer gut verstanden und Atem hatte geglaubt, auf Hetep-Heres vertrauen zu können. ‚Sie kann keine Mörderin sein, schon gar nicht die ihrer eigenen Kinder!’ dachte Atem und fuhr sich frustriert durch die Haare. ‚Aber was sucht sie beim Apophis-Kult? Wozu brauchen diese Leute so detaillierte Informationen über das Heer ihres eigenen Landes und wieso teilen sie diese auch noch Harda mit? Bis jetzt waren die Apophis-Anhänger zwar nicht gerade geachtet, aber ein Verbrechen haben sie nach Stand unseres Wissens nicht begangen. Sie mögen suspekt sein, aber so gefährlich? Was geht hier nur vor?’ Es war ein furchtbarer Gedanke, daß er sich in seiner eigenen Schwester so getäuscht hatte. Er fühlte sich betrogen und ein Betrug einer Person, der man jahrelang so vollkommen vertraut, die man geliebt hatte, war wie ein scharfes Messer im Herzen. Atem hielt an als er vor Hebas Tür stand. In letzter Zeit schien ihn jeder Weg zu seinem alten Freund zu führen. Als Atem heute morgen aufgestanden war, hatte Heba noch geschlafen und er hatte ihn nicht wecken wollen. Jetzt war es schon später Nachmittag und Atem entschied, daß er Heba besuchen sollte. Wenn er noch länger über Hetep-Heres und ihre möglichen Untaten nachdenken mußte, würde er sicher wahnsinnig werden. Bei Heba konnte er wenigstens eine Weile das alles vergessen. Atem betrat die Zimmerflucht und klopfte schließlich an der geschnitzten Schlafzimmertür. „Heba? Darf ich reinkommen?“ Mana öffnete ihm die Tür. „Komm rein, aber sei leise“, flüsterte sie. Atem nickte und stand gleich darauf neben Hebas Bett. Heba sah schlechter aus als gestern. War er gestern ungesund blaß gewesen, verriet sein jetzt knallrotes Gesicht und sein zusätzlich erschwerter Atem das Fieber. Er schlief. „Wie geht es ihm?“ wisperte Atem. Mana nahm einen feuchten Lappen und wischte über Hebas heiße Stirn. „Es wird schon. Das Fieber ist nur ein kleiner Rückschlag. Die Belastungen der letzten Tage waren wohl etwas viel für ihn.“ Sie sah Atem besorgt an. „Und ich glaube, du brauchst auch eine Pause. Wie geht es deinem Fuß?“ „Dafür haben wir im Moment zu viele Probleme, Mana. Und danke, meinem Fuß geht es den Umständen entsprechend.“ „Atem, es geht dir schlecht. Gestern... gestern war ein furchtbarer Tag. Willst du nicht darüber reden?“ Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah ihn aufmerksam an. „Das geht nicht. An der Geschichte hängt jetzt ein ganzer Rattenschwanz von Interna und Staatsgeheimnissen.“ „Aber nicht an deinen Gefühlen. Auch wenn du dich oft so benimmst.“ Mana warf den Lappen mit einem leisen Platschen in die Wasserschale auf dem Nachttisch. „Ja, es geht mir schlecht. Bist du jetzt zufrieden?“ Atem hatte keine Lust, sich über seine Gefühle auszutauschen. Er hatte sowieso schon genug Probleme, sie zu ordnen, ohne sein Seelenleben vor noch mehr Menschen auszubreiten. „Ich wollte Euch nicht verärgern, Pharao.“ Mana sah fort. „Heba hat sich Sorgen gemacht, ob es Euch gut geht, und ich wollte nur helfen.“ Atem wurde wieder ruhiger. „Tut mir leid, Mana. Es ist nicht deine Schuld. Ich weiß nur im Moment selbst nicht, wo mir der Kopf steht.“ „Kann ich verstehen. Du hast aber gestern mit Heba gesprochen“, sagte sie leise. „Aber warum nicht mit mir oder Nefertiti? Oder Mahado?“ „Mahado hat momentan mit den Vorbereitungen für den Schutzzauber für das Grab meines Vaters genug zu tun.“ „Das mag sein, aber was ist mit mir oder Nefertiti?“ „Nefertiti hat genug eigene Sorgen und du... Nimm es mir nicht übel, aber es ist einfacher für mich mit Heba zu sprechen. Vielleicht weil er nicht so sehr in all dem mit drin steckt.“ „Ich verstehe.“ Mana stand leise auf. „Dann sollte ich jetzt gehen.“ „Bist du wütend?“ erkundigte Atem sich und setzte sich auf den nun freien Stuhl. „Ich wollte dich nicht verletzen.“ „Nein. Wir können schließlich nicht entscheiden, wer für uns die wichtigste Person im Leben sein wird. Es passiert einfach.“ Sie lächelte und wurde etwas rot. „Es ist nur dumm, wenn sie... nicht bemerken, was du für sie fühlst.“ „Ich verstehe nicht, was du meinst, Mana.“ Sie drehte sich zögerlich um. „Na ja, weißt du... Mahado beachtet mich so wenig in letzter Zeit. Wenn er mir nicht gerade etwas beibringt, rennt er mir immer davon. Ich glaube, er kann mich nicht so gut leiden wie ich ihn.“ Mana verknotete ihre Finger und sah zu Boden. Atem brauchte eine Minute, um zu begreifen, was Mana ihm sagen wollte. Er blinzelte. „Oh.“ Wie seltsam, daß er nie darauf geachtet hatte, aber jetzt sah er plötzlich, daß Mana kein kleines Kind mehr war. Sie war zur Frau herangereift. Atem mußte sich erst wieder daran erinnern, daß sie gleich alt waren, doch aus irgendeinem Grund hatte er Mana immer als jünger betrachtet. „Ich denke nicht, daß er wegläuft.“ „Ach ja? Ich komme zu ihm und er wird so komisch und sagt, daß er beschäftigt sei. So als sei ich ihm lästig.“ Mana seufzte. „Hast du ihm gesagt, was du empfindest?“ „Wie denn, wenn er immer wegläuft? Atem, ich glaube nicht, daß er mich so mag.“ Sie seufzte. „Es hilft ja nichts. Ich muß zum Unterricht. Wenn ich nicht pünktlich bin, wird er immer so wütend in letzter Zeit.“ Mana öffnete die Tür. „Danke, daß du mir zugehört hast.“ „Kein Problem“, erwiderte Atem, aber sie war schon fort. Vielleicht sollte er Mahado fragen, was los war. Sonst hatte er nie ein Problem mit Mana gehabt. Daß er plötzlich wütend wurde oder Mana mied, paßte so gar nicht zu seinem Freund. „Das Leben geht weiter“, murmelte er zu sich selbst. Hetep-Heres war eine Spionin des Apophis-Kults, jemand ermordete grausam ihre Kinder, Heba und Amisi waren nur knapp einem üblen Schicksal entronnen, Mana war verliebt und Nefertiti litt stumm. Und er stand zwischen allen und fühlte sich langsam so, als ob er gar nicht mehr wüßte, was er tun oder fühlen sollte. Er zupfte die Leinendecke zurecht und beobachtete, wie Hebas Brust sich mühsam hob und senkte. Atem mochte der mächtigste Mann in Ägypten sein, aber im Moment hatte er nicht das Gefühl, wirklich über Macht zu verfügen. Es schien, daß die Götter ihn wohl besonders hart prüfen wollten und ihm Stück für Stück nahmen, was ihm wichtig war. Familie, Freunde, Sicherheit. Dafür konfrontierten sie ihn mit Krieg, Tod und Wahnsinnigen. Er hatte schon sehr früh gewußt, daß es nicht einfach war, Pharao zu sein, aber die Probleme, die er gerade zu lösen hatte, wurden immer größer und vereinnahmten ihn immer mehr. Gedankenversunken faßte Atem Hebas Hand und strich mit seinem Daumen über die weiche Haut. Irgendwie beruhigte es ihn, Heba nahe zu sein. Der hübsche Junge hatte eine herrlich warme Ausstrahlung, die Atem anzog. Nur ein Unmensch könnte Heba nicht mögen, dessen war er sich sicher. Atem lehnte sich vor und preßte seine Stirn gegen Hebas Hand. Sanft ließ er seine Finger über die Handinnenseite gleiten. Ab und zu spürte er eine der kleinen Narben, die er gestern abend bemerkt hatte, aber hauptsächlich fühlte er nur zarte, warme Haut. „M-mana?“ Hebas unsichere Stimme riß Atem aus seinen Gedanken und er ließ Hebas Hand los, als hätte sie ihn gebissen. „Sie ist beim Unterricht, aber ich hoffe, du nimmst auch mit mir vorlieb. Guten Morgen, mein Kleiner.“ Atem versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schuldig er sich fühlte, bei so einer gedankenlosen Aktion erwischt worden zu sein. Auf Hebas Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus und Atems Herz setzte bei diesem Anblick einen Moment aus. „Guten Morgen, Atem. Natürlich! Ich freue mich, daß du hier bist. Ich meine, du hast soviel zu tun und...“ „Ich werde trotzdem Zeit finden, damit ich dich besuchen kann. Wie fühlst du dich?“ „Als ob ich seit Stunden direkt unter der Sonne liegen würde.“ Heba stöhnte. „Ich gebe dir etwas Wasser.“ Atem goß einen Becher ein und hielt ihn vor Hebas Lippen. „Hier.“ Heba tastete nach Atems Hand und nahm ihm vorsichtig den Becher ab. „Danke.“ Er nahm mehrere gierige Schlucke. „Besser.“ „Gut. Mana sagte, du hättest dir Sorgen gemacht?“ Atem nahm den Becher und stellte ihn zurück auf den Nachttisch. „Ja, schließlich... schließlich hast du... Es ist schlimm, jemanden zu verlieren, dem man nahe steht.“ Heba drehte seinen Kopf in Atems Richtung. Manchmal vergaß Atem, daß Heba ihn nicht sehen konnte, wenn der, so wie jetzt, seine Augen auf ihn gerichtet zu haben schien. „Ja. Es macht mich so wütend, daß irgend jemand drei Kinder abschlachtet. Warum?“ Atem schob den Gedanken, daß Hetep-Heres es gewesen sein könnte, weit von sich. Ihm war auch so schon schlecht genug. „Ich weiß es nicht. Ich verstehe es auch nicht.“ Heba wischte sich über die Augen. „Ach, Heba... Laß uns bitte über etwas anderes sprechen. Ich habe heute den ganzen Tag nichts anderes gehört.“ Heba nickte. „Ich bin da, wenn...“ „Ich weiß.“ Atem stand auf und ging mehrmals hin und her. „Heute war kein guter Tag. Mein einziger Trost ist, daß Amisi nichts passiert ist. Zu ihrem Glück wird sie sich nie daran erinnern, was geschehen ist.“ „Nein, aber sie wird dennoch aufwachsen und etwas vermissen.“ „Ich weiß, was du meinst. Aber meine Geschwister sind wenigstens nicht ermordet worden.“ „Das wurde mein Bruder auch nicht, aber... Ich weiß, daß es ihn gegeben hat, auch wenn ich damals zu klein war, als daß ich mich an ihn erinnern könnte.“ „Ich wußte gar nicht, daß du einen Bruder hattest.“ „Er war ein Jahr jünger als ich. Die Geburt war schwer und er war wohl nicht ganz gesund. Er hat nur ein paar Monate gelebt, der arme Kleine.“ „Ich hatte noch drei Geschwister und siebzehn Halbgeschwister. Sie sind alle gestorben als sie Babies oder Kleinkinder waren. Hauptsächlich an irgendwelchen Krankheiten.“ „Der Tod ist überall“, murmelte Heba nachdenklich. Atem schnaubte. „Wem sagst du das? Es treibt mich in den Wahnsinn.“ Heba setzte sich vorsichtig auf. „Atem.“ „Hm?“ „Ich wünschte wirklich, ich könnte dir helfen.“ „Das tust du bereits. Ich fühle mich immer etwas besser, wenn ich bei dir bin.“ Heba schwieg nachdenklich einen Moment. „So geht es mir bei dir auch.“ Atem setzte sich wieder. „Da wollte ich nicht über den Tod sprechen und dann tue ich es doch.“ „Der Tod gehört dazu. Wenigstens bleibt uns der Trost, daß wir die, die wir verloren haben, eines Tages wiedersehen werden.“ „Das ist wahr.“ Atem lächelte. „Trotzdem hoffe ich, daß dieser Tag noch etwas auf sich warten läßt. Hier sind genug Menschen, mit denen ich alt werden möchte.“ Heba lächelte ebenfalls. „Stimmt.“ Er stöhnte leise und verzog das Gesicht. „Ich sollte dich lieber schlafen lassen, als dich mit meinen Problemen zu überhäufen.“ Atem beugte sich vor. „Du siehst erschöpft aus.“ „Du hast recht. Ich sollte mich ausruhen, damit ich bald wieder ganz gesund bin.“ Heba legte sich langsam hin. „Wenn du es bist, unternehmen wir irgendetwas. Das verspreche ich dir. Mir fällt die Decke auf den Kopf und dir sicher noch mehr.“ Atem beobachtete wie Heba zustimmend nickte. Nach einer Weile schlossen sich Hebas Augen und er schlief ein. „Mein hübscher, kleiner Heba“, murmelte Atem. Ja, er mußte wirklich dringend aus dem Palast. Mit Heba irgendwo hingehen, wo sie einfach nur Spaß haben konnten und kein Leid, kein Kummer sie stören würde. ‚Aber wir bleiben Freunde. Ich werde nichts sagen oder tun, um unsere Freundschaft zu zerstören.’ Ein leises Klopfen ertönte nach einer Weile und gleich darauf steckte Isis ihren Kopf ins Zimmer. „Pharao?“ fragte sie leise. „Ich bin hier“, erwiderte er und kam zur Tür. „Ihr solltet in den Besprechungsraum kommen. Es gibt Neuigkeiten“, wisperte sie. „Ich bleibe derweil bei Heba.“ „Verstanden. Danke, Isis.“ Atem machte sich auf den Weg. Ein harter Knoten hatte sich in seinem Bauch gebildet. Er wußte bereits, daß die Neuigkeiten ihm nicht gefallen würden. Im Beratungszimmer waren Nefertiti, Siamun, Set und Akunadin versammelt und unterhielten sich. Sie sahen auf als Atem eintrat. „Was gibt es?“ „Siamun hat von einem seiner Informanten erfahren, daß Hetep-Heres sich im Haus des Hohepriesters des Apophis-Kults aufhält.“ In Nefertitis Stimme schwang Aufregung mit. „Wer ist dieser Hohepriester?“ Atem stand mit verschränkten Armen vor dem Tisch. „Sein Name ist Halicon“, antwortete Siamun. „Er ist kein Ägypter und ich bezweifle, daß das sein richtiger Name ist. Er hat ein großes Haus in den Außenbezirken. Laut meiner Berichte hat er mehrere Kornsilos auf seinem Grund und beschäftigt um die sechzig Arbeiter.“ „Und Hetep-Heres ist dort. Warum?“ Atems Augen bohrten sich in Siamuns. „Das weiß ich nicht. Nur, daß sie wohl seit gestern nacht dort ist. Ob sie sich aus Zwang oder freiwillig in seinem Haus aufhält, ist mir ebenfalls unbekannt.“ „Dann werden wir das herausfinden. Wir reiten hin und erzwingen, wenn es sein muß, Hetep-Heres’ Herausgabe.“ „Ich will mitkommen!“ Nefertiti war aufgesprungen. „Euer Hoheit, das halte ich für keine gute Idee“, sagte Set. „Euch könnte etwas passieren, sollte die Situation eskalieren.“ „Set hat recht, Hoheit“, stimmte Akunadin zu. „Ihr verfügt über keine Magie.“ „Aber ich habe Selbstverteidigung gelernt. Ich bin vielleicht nicht die Beste, aber... Sie ist auch meine Schwester. Bitte, Atem, laß mich mitkommen.“ Ein Blick in Nefertitis Augen und Atem wußte, daß sie sich nicht davon abbringen lassen würde, mitzugehen. Es war besser, er wußte, wo sie war als daß sie ihm heimlich folgte und sich damit erst recht in Schwierigkeiten brachte. Seine Schwester konnte sehr stur sein, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte. „Na schön, aber du bleibst immer in der Nähe von einem von uns. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.“ Siamun seufzte. „Ich wünschte, ich wüßte es, mein Pharao. Ich habe das beständige Gefühl, an dieser Geschichte nicht ganz unschuldig zu sein, aber ich wollte mit den Beweisen warten, bis ich mehr über Hetep-Heres’ Rolle in diesem Spiel erfahren hatte.“ Seine Augen verrieten seinen Kummer. „Niemand macht dir einen Vorwurf, Siamun. Keiner konnte ahnen, daß so etwas passieren könnte. Wir fangen diesen Halicon und dann wissen wir bald mehr darüber, was hier gespielt wird.“ In Kürze waren die Pferde, inklusive des inzwischen friedlich heimgekehrten Wüstenläufers, gesattelt und die kleine Gruppe ritt verhüllt zum Stadtrand. Sie wollten nach den gestrigen Ereignissen die Stadt nicht mit Soldaten in Unruhe versetzen. Atem hatte einen bitteren Geschmack im Mund als er die teilweise noch rauchenden Ruinen sah. Arbeiter versuchten, Tote zu bergen und die, die ihr Haus und ihr ganzes Hab und Gut verloren hatten, saßen an den Straßenecken. Entweder starrten sie leer vor sich oder sie schrieen und weinten. Die Stadt wieder aufzubauen war eine enorme Aufgabe. Dazu mußten all die nun Obdachlosen versorgt werden, damit sie nicht auf die Idee kamen, in ihrer Verzweiflung in der Kriminalität Zuflucht zu suchen. Das würde nur noch mehr Probleme verursachen. Nefertiti ritt neben Atem. „Das ist alles so furchtbar“, wisperte sie ihm zu. „Diese armen Leute...“ „Wir werden ihnen helfen“, antwortete Atem ebenso leise. „Ja. Und wir werden hoffentlich bald wissen, wer dahinter steckt“, fügte Nefertiti hinzu. „Das alles gefällt mir nicht“, murmelte Atem. „Wir wissen zu wenig und das macht uns verwundbar.“ Schließlich kam die Gruppe in einem der Außenbezirke zum Stehen. Siamun hatte nicht gelogen. Halicons Haus war groß und machte den Eindruck als hätte sein Besitzer mehr als nur genügend Getreide. Atem fragte sich, wie sich der Hohepriester eines der geschmähtesten Götter solchen Luxus leisten konnte. Aber sie würden bald klüger sein. Atem schlug seine Kapuze zurück und ritt mit seinem Gefolge in den Hof. Sobald er gesehen wurde, stob das Gesinde nur so auseinander als hätte man sie gepeitscht. Ein Diener rannte sofort ins Haus. „Hinterher!“ kommandierte Atem und saß ab. Springen hatte ihm Isis streng verboten, wenn er nicht noch eine viel verheerendere Verletzung in Kauf nehmen wollte. Mit gezückten Waffen oder Millenniumsgegenständen folgte die Gruppe dem Diener. Sie erwischten ihn bevor er in das Obergeschoß rennen konnte. Nefertiti stellte ihm ein Bein und er stürzte zu Boden. „Wo ist Prinzessin Hetep-Heres?“ Atem packte den Mann an der Schulter und zog ihn hoch. „In den Gemächern des Herrn, aber Ihr dürft da nicht rein.“ Der Mann zitterte, dennoch war seine Loyalität seinem Brötchengeber gegenüber bewundernswert. „Das werden wir ja sehen“, knurrte Atem. „Oder willst du mich aufhalten?“ „Das werde ich nicht“, antwortete der Mann und senkte den Blick. „Ich warne Euch nur.“ „Du wolltest wohl eher deinen Herrn warnen.“ Atem ließ den Diener los, der ungeschickt zwei Schritte taumelte bevor er sich wieder fing. Atem mußte nichts weiter sagen. Sie alle eilten in das Obergeschoß. Die Frage, wo genau Hetep-Heres sich befand, erübrigte sich, denn sie hörten ihre Stimme. Es war ein, für Atems Ohren, gequältes Stöhnen. Der Gedanke, daß Halicon seiner Schwester gerade etwas zu Leide tat, machte Atem fast rasend. Mit einer Handbewegung zertrümmerte er die Tür. Die Schatten verpufften zischend. Atem stürmte in das Zimmer, aber was er sah, hatte nichts mit dem gemein, was er sich vorgestellt hatte. Es war viel, viel schlimmer. Ein großes Bett stand in der Mitte des Zimmers. Ein Mann, von dem Atem vermutete, daß er Halicon war, lag darauf. Und auf seiner Leibesmitte saß wie eine Reiterin Hetep-Heres. Der Geruch von Sex und Schweiß hing in der Luft und Atem hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Nur von weiter Ferne drang das entsetzte nach Luft schnappen seiner Gefährten an seine Ohren. Viel mehr hörte er das Keuchen und Stöhnen, das vom Bett kam. Mit zwei großen Schritten war Atem beim Bett, packte Hetep-Heres an den Haaren und riß sie grob von ihrem Liebhaber, um sie zu Boden zu schleudern. Sie landete mit einem Heulen, dann sah sie ihn an. Atem hatte erwarte, daß sie entsetzt sein würde, stattdessen breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Oh, sei gegrüßt mein kleiner Falke.“ Sie rappelte sich auf. „Sei gegrüßt?“ Atems Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Dein Mann und drei deiner Kinder sind tot, alles war in heller Aufregung, dir könnte ebenfalls etwas passiert sein und du fickst mit einem Hochverräter?“ „Was? Nur drei?“ Hetep-Heres sah enttäuscht aus. „Dabei dachte ich, ich hätte sie alle erwischt.“ Der Knauf von Atems Schwertheft schlug mit einem gräßlichen Krachen gegen ihren Unterkiefer. Blut rann aus ihrer aufgeplatzte Unterlippe. „Atem! Nicht!“ Nefertiti war so entsetzt, daß sie sich an seinen Schwertarm hängte, um Schlimmeres zu verhindern. „Nicht? Sie hat gerade zugegeben, daß sie ihre eigenen Kinder und ihren Mann ermordet hat“, erwiderte Atem mit zornbebender Stimme. „Du weißt genau, welche Strafe auf dieses Verbrechen steht, selbst wenn sie keine Hochverräterin wäre.“ „Hochverräterin?“ Eine tiefe Stimme lenkte die Aufmerksamkeit aller auf Halicon, der sich in der Zwischenzeit einen Schendit übergezogen hatte. Er hatte eine helle Hautfarbe, einen dunkelbraunen Schnurrbart und einen kahlgeschorenen Kopf. Er trat neben Hetep-Heres und nahm sie in den Arm. „Ich sehe keinerlei Verrat.“ „Wir wissen, daß sie vertrauliche Informationen über das Heer an den Apophis-Kult weitergegeben hat. Das ist Hochverrat“, erwiderte Siamun kalt. Sein sonst so gütiges Gesicht zeigte jetzt Abscheu und Wut. „Sie wollte nur das richtige tun. Nicht wahr, Tenghe?“ Halicon sah mit väterlichem Stolz auf Hetep-Heres herab. „Tenghe?“ Atem starrte seine ältere Schwester ungläubig an. „Ich wurde erleuchtet“, erwiderte diese. „Ich wollte meinem Mann und meinen Kindern nur helfen. Ich wollte sie von dieser Welt erlösen.“ „Erlösen? Du hast sie zerhackt!“ Atem hätte am liebsten noch einmal zugeschlagen, aber Nefertiti hielt ihn zurück. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Wieso nur? Was hat dir Halicon erzählt, daß du solche schrecklichen Dinge tust“, schluchzte sie. „Er mußte mir nichts erzählen. Seht euch doch um! Überall ist Tod und Schmerz. Das wollte ich meiner Familie ersparen.“ Atem fauchte: „Indem du sie tötest? Hast du komplett den Verstand verloren?“ „Ich habe sie nur befreit. Jetzt müssen sie niemanden mehr verlieren.“ Hetep-Heres, nein, Tenghe kicherte. „Sie sind frei von Schmerz und Leid.“ Atem dachte an Merenptahs angsterfülltes Gesicht, daran, wie er verstümmelt worden war und seine Nerven rissen vollends. „Du bist nicht meine Schwester.“ Nefertiti wollte protestieren, aber ein Blick aus Atems wütenden Augen ließ sie verstummen. „Du bist nicht meine Schwester, Hetep-Heres oder Tenghe, wie auch immer du dich nennen magst. Du bist niemandes Mutter, niemandes Gattin, niemandes Schwester und niemandes Kind. Ich verstoße dich aus unserer Familie für alle Zeiten.“ Tenghe sah ihn so verletzt an, daß er es kaum fassen konnte. Was hatte sie erwartet? Halicon zog sie an sich. „Schon gut. Eines Tages wird auch er verstehen. Unser Kult steht allen offen, die sich Frieden wünschen.“ “Mir wird schlecht“, erwiderte Akunadin. „Sie sind beide durch und durch verdorben. Kreaturen leben in ihren Seelen.“ „Nehmt sie fest“, befahl Atem. Doch dazu kam es nicht. Schwarze Schatten schossen aus dem Boden, legten sich um Tenghe und Halicon und verschwanden schließlich. Zurück blieb nichts weiter als das Knistern der magisch aufgeladenen Luft. *** „Wieso hast du das getan?“ Nefertiti sah Atem mit tränennassen Augen vorwurfsvoll an. Sie waren inzwischen in den Palast zurückgekehrt. Die Jagd auf Halicon und Tenghe hatte begonnen. Es war zweifelhaft, daß man sie so schnell finden würde. Die ganze Sache sah viel zu sehr nach abgekartetem Spiel für Atem aus. Er wußte nicht, was das bedeutete, aber es war nicht gut. „Was getan? Sie geschlagen?“ erkundigte er sich erschöpft und ließ sich in einen Korbsessel fallen. „Das auch, aber warum hast du sie verstoßen?“ Nefertiti ging ruhelos vor ihm auf und ab. „Es geht ihr nicht gut! Hast du das nicht gesehen? Dieser Halicon hat sie doch ganz verrückt gemacht.“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir können keine Mörder in unserer Familie dulden. Sie hat gemordet, sie hat für unsere Feinde spioniert. Darauf steht die Todesstrafe oder eine Strafe ähnlichen Ausmaßes.“ Atem verschränkte die Arme vor der Brust. Wollte Nefertiti es nicht begreifen? „Aber, Atem, sie ist unsere Schwester! Wir können sie nicht verstoßen oder töten!“ Nefertiti schluchzte. „Wie kannst du nur so grausam sein?“ „Ich bin also grausam?“ Atem stand auf. Seine Stimme war gefährlich ruhig. „Weißt du, was wirklich grausam ist?“ Er ging auf Nefertiti zu und sie wich zurück. „Wenn du sehen mußt, wie deine Nichte und deine Neffen in ihrem Blut schwimmen. Wenn du nicht mehr weißt, welches Bein zu welchem Kind gehört. Wenn du ihre Angst und ihr Leid in ihren kleinen Gesichtern sehen mußt. Tenghe hat das getan! Du wirfst mir Grausamkeit vor, aber ihr nicht? Ich glaube, bei dir im Hirn stimmt eher etwas nicht als bei mir.“ Atem spie Gift und Galle. „Ich... sie ist doch unsere Schwester“, wiederholte Nefertiti. Atem war zu zornig, um zu bemerken, daß Nefertiti noch lange nicht alles, was geschehen und was sich ihnen enthüllt hatte, verarbeitet hatte. „Meine ist diese Schlange nicht! Diese Bestie stammt nicht aus meiner Familie.“ „Warum sagst du nur so schreckliche Dinge?“ wimmerte Nefertiti. „Weil sie die Wahrheit sind, bei allen Göttern! Mach deine Augen auf und benimm dich nicht wie ein Kleinkind. Du bist die Große Königsgemahlin, kein dummes Bauernmädchen.“ Atem kam immer näher und schließlich hatte er Nefertiti an einer Wand in die Enge getrieben. Er keuchte vor lauter Wut. „Sieh es ein! Sie hat uns belogen und betrogen, sie ist eine Mörderin und wahnsinnig obendrein. Weißt du, was das bedeutet? Ich kann es nicht zulassen, daß ihr kriminelles Benehmen unserer Familie schadet.“ Nefertitis Lippen wurden schmal. „Ah ja? Und was ist mit deinem familienschädlichen Benehmen? Wo ist unser Thronfolger? Wo ist dein Sohn, Atem? Jeden Tag liege ich vor Bastet, Thoeris und Bes auf den Knien, um für ein Kind zu beten, das einmal auf deinem Thron sitzen wird. Um für ein Kind zu beten, das einmal unserer Namen gedenkt. Um für ein Kind zu beten, das uns Freude schenkt und um das wir uns kümmern können. Du hingegen reitest den Stallburschen, aber sobald du eine nackte Frau siehst, läufst du davon wie ein Hase!“ „Ich kenne meine Fehler“, zischte Atem. „Aber es geht hier nicht um mich! Genauso wenig geht es um dich und deinen verletzten Stolz. Es geht um Mord, Nefertiti, um Kindsmord und Hochverrat. Und das alles in unserer eigenen Familie. Ist dir klar, was das heißt? Jede Person hier könnte ein Spion sein, wenn wir noch nicht einmal unserer eigenen Familie trauen können.“ „Hörst du dir überhaupt selber zu? Das ist völlig paranoid, Atem!“ rief Nefertiti. „Paranoid? So wie es aussieht scheint es eher Gang und Gebe zu sein, in der eigenen Familie gegeneinander zu intrigieren.“ „Na wunderbar! Dann laß doch gleich Heba einsperren, sicher ist er ein Spion von König Antes!“ Das Klatschen war so laut, daß es selbst Atem erschreckte. Nefertiti sah ihn ebenfalls erschreckt und ungläubig an. Eine Hand legte sie auf ihre Wange, die sich zu röten begann. „Nefertiti!“ Bevor Atem noch irgend etwas sagen konnte, war Nefertiti aus seiner Reichweite geflohen. Sie lief in ihr Schlafgemach und verriegelte die Tür. Atem konnte ihr nur nachstarren und sich fragen, was in aller Welt ihn dazu gebracht hatte, seine Schwester und Gemahlin zu schlagen. Das war das Letzte! Seine Ehefrau zu schlagen war geächtet und jede Frau konnte Anklage gegen solche Mißhandlungen erheben. Atem fühlte sich wie Schmutz! Seit er in den Krieg gezogen war, war alles anders geworden. Er war anders geworden. Er fand keine Ruhe mehr und seine Anspannungen und Aggressionen fraßen und nagten an ihm bis er ihnen nicht mehr widerstehen konnte. So wie eben. Es war nicht Nefertitis Schuld. Sie mußte mit dieser ganzen furchtbaren Geschichte doch auch erst fertigwerden. Wie konnte er das von ihr verlangen, wenn er selbst noch daran zu knabbern hatte? Sie hatte recht, er wurde selber schon ganz verrückt von all dem Dreck, der in seinem Kopf herumschwamm und ihn immer wieder wie ein Raubtier aus den Schatten überfiel. Unruhig verließ Atem seine Zimmerflucht, um mit langen Schritten die unzähligen Gänge zu durchqueren. Er konnte nicht stillsitzen und Nefertiti würde verständlicherweise heute sowieso kein Wort mehr mit ihm wechseln wollen. Wieso war das alles nur so verworren geworden? Zuerst Bakura, jetzt Tenghe und Halicon. Welche Gefahren lauerten wohl noch auf ihn? Wie viele Krisen und Kriege bis endlich wieder Frieden, Ruhe und Ordnung im Lande herrschten? Was mochte es ihn kosten, Ägypten und sein Volk vor seinen Feinden zu bewahren? Wie lange bis er sich aus seinen dunklen Erinnerungen befreit hatte? Wie lange bis er sich wieder kontrollieren konnte? Plötzlich sah Atem auf und stellte verwundert fest, daß seine Füße ihn unbewußt vor Hebas Tür getragen hatten. Seit Heba hier war fühlte Atem sich von ihm angezogen. In seiner Nähe zu sein machte für ihn selbst die schlimmsten Dinge einfacher zu ertragen. Er fühlte sich besser und ruhiger. Vielleicht sollte er hineingehen und abwarten, ob sein Zustand sich so weit besserte, daß er eine Lösung seiner Probleme fand. Aber Heba würde zu dieser Stunde sicher schon schlafen und nachts in sein Zimmer zu schleichen kam Atem vor, als würde er ein Tabu brechen. Als würde er beginnen, Heba in seine Probleme hineinzuziehen. Als würde er ihn... Er suchte nach dem richtigen Wort und kam schließlich auf „beschmutzen“. Atem war sich seiner Gefühle für Heba nicht sicher. Er wußte nicht, was sie bedeuteten und er fürchtete, daß seine Vermutung stimmen könnte. Dennoch konnte er sich nicht von der Tür losreißen. Nur fünf Minuten... Atem fühlte sich schlecht, als er die Tür öffnete und in die dunklen Gemächer trat, aber er wußte nicht, wie er seiner Unruhe und seiner Aggressivität sonst Herr werden sollte. Leise trat er in Hebas Schlafzimmer und war überrascht, ein großes, violettes Augenpaar auf sich gerichtet zu finden. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken“, entschuldigte Atem sich leise. „Atem? Du hast mich nicht geweckt. Ich kann nicht schlafen. Ich habe vorhin bereits zuviel geschlafen und außerdem ist es mir zu warm.“ Heba lächelte verlegen. „Ja, du hast recht. Die Luft hier drin hat sich noch gar nicht abgekühlt.“ Atem überlegte kurz. „Wir könnten uns auf den Balkon setzen, wenn du magst.“ „Das würde mir gefallen.“ Heba setzte sich vorsichtig auf. „Tut es noch sehr weh?“ „Nur wenn ich atme“, scherzte Heba und Atem mußte lachen. „Das war eine dumme Frage, das stimmt. Sollen wir etwas zu essen mitnehmen?“ „Wenn du Hunger hast...“ Heba sah ihn freundlich an und Atem schlug sein Herz bis zum Halse. Er räusperte sich. „Du siehst etwas dünn aus. Ich will nur, daß du nicht noch kränker wirst.“ „Irgendwo sollte noch ein Töpfchen Honig stehen. Darauf hätte ich jetzt Lust.“ Heba tastete vorsichtig über seinen Nachttisch. „Ah, hier!“ Atem hatte das Töpfchen in der Dunkelheit gar nicht bemerkt. „Honig ist jedenfalls ein guter Anfang.“ Er half Heba hoch. Hätte sein Fuß nicht geschmerzt, er hätte ihn wohl auf die Arme genommen und getragen. Vorsichtig führte er Heba auf den Balkon und gemeinsam ließen sie sich auf einer kleinen Bank aus Sandstein nieder. Die Bank war so eng, daß Heba und Atem einander berührten als sie sich darauf setzten, was Atem plötzlich peinlich war. „Geht’s?“ fragte er stattdessen. Er wollte nicht, daß Hebas Rippe erneut brach. „Ja, mir geht es gut. Danke, Atem.“ Heba hielt den kleinen Honigtopf in einer Hand und öffnete ihn mit der anderen. „Magst du auch was?“ erkundigte er sich und tauchte einen Finger in die goldgelbe, zähe Masse, um ihn dann Atem vors Gesicht zu halten. „Sicher“, erwiderte Atem und nahm Hebas Hand, damit er den Honig bequem von dessen Finger lecken konnte. Erst als seine Lippen den Finger umschlossen, wurde ihm klar, daß das hier keine gute Idee war. Der Honig war süß und fruchtig, aber darunter lag ein Geschmack, den kein Honig haben konnte: Die Süße von Hebas Haut. Atem schloß die Augen und reinigte sanft Hebas Finger von den klebrigen Tropfen, während er diesen einzigartigen Geschmack genoß. Als er Heba wieder ansah, bemerkte er die leichte Röte auf dessen Wangen. Atem schob es auf das Fieber. „Jetzt bist aber du dran“, erklärte er, um sich von dem eben Geschehenen abzulenken. Er tauchte ebenfalls einen Finger in den Honig und hielt ihn direkt vor Hebas Lippen. In dem Moment, in dem eine zarte, rosa Zunge Atems Finger berührte, verfluchte er sich selbst. Das hier war wohl die schlechteste Idee von allen. Er sah weg und richtete seinen Blick auf die Sterne, die über ihnen am Himmel funkelten. Er mußte diese Situation entschärfen und zu reden erschien ihm dafür der beste Weg. „Ich bin ein Idiot“, begann er. „Schlimmer als das: Ich bin ein Mann ohne jede Ehre, der seine eigene Frau...“ Er schüttelte den Kopf. Heba hörte auf, Atems Finger von Honig zu befreien, um seinem Freund zuzuhören. Atems Hand hielt er mit seinen beiden eigenen fest. „Atem, was ist passiert?“ „Wir haben herausgefunden, wer die Kinder und Minnefer ermordet hat. Es war Hetep-Heres“, erwiderte Atem. Sanft drückte er Hebas Hände. „Ich habe sie verstoßen und mich deshalb ganz furchtbar mit Nefertiti gestritten und plötzlich.... Ich wollte es nicht, aber plötzlich habe ich sie geschlagen.“ Seine gepreßte Stimme verriet seine Seelenqual. „Das hat sie nicht verdient.“ „Atem, du.... Hast du dich bei ihr entschuldigt?“ Hebas Augen hatten sich geweitet und Tränen liefen über seine Wangen. „Es tut mir leid, daß Hetep-Heres... Wie konnte sie das ihren eigenen Kindern antun?“ „Nein. Nefertiti wird das jetzt auch kaum hören wollen." Atem seufzte. „Darauf wüßte ich auch gerne die Antwort. Hetep-Heres hat es angeblich aus Liebe getan. Das ist doch verrückt!“ „Alles scheint in letzter Zeit ziemlich verrückt zu sein.“ Heba sah weg und schluchzte leise. „Ich bin es auch.“ Atem entzog Heba sanft seine Hand und stand auf, um an das Balkongeländer zu treten, von dem er einen guten Blick auf die friedlichen Palastgärten hatte. „Wieso sonst sollte ich meine Schwester schlagen, wenn ich nicht ebenfalls krank im Kopf bin?“ Heba blinzelte und legte den Kopf schief. „Aber, Atem, du bist doch nicht verrückt“, antwortete er verwirrt. „Doch, ich bin es. Du wirst dich sicher daran erinnern, was ich dir über den Krieg gegen die Hethiter erzählt habe. Seit damals... Gewalt ist mir zu vertraut geworden. Menschen zu töten, zu verletzen, das macht mir nur noch wenig aus. Ein Schwertstreich und ein Leben ist beendet und schon fällt der nächste und der nächste und der nächste unter meiner Klinge. Das erschreckt mich, Heba. Das macht mich krank. Ich träume ständig davon und wache mit dem beängstigenden Gefühl auf, ich wäre wieder dort. Gestern nacht, als ich bei dir schlief, haben die Alpträume mich zum ersten Mal seit Monaten nicht mehr geplagt.“ Atem lachte bitter. „Dabei darf ich dir gar nicht nah sein oder es wird dir so ergehen wie Nefertiti.“ „Das alles hört sich so furchtbar an“, sagte Heba schließlich traurig. „Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Bitte laß mich dir helfen! Ich weiß, du würdest mich nie verletzen.“ „Ich habe meine eigene Schwester verletzt, Heba. Ich will nicht, daß es das nächste Mal dich trifft, nur weil ich mich nicht mehr kontrollieren kann.“ Atem sah seinen Freund an, dann wandte er sich der Balkontür zu. „Nein, geh nicht! Bitte, Atem!“ Heba weinte und seine blicklosen Augen folgten Atem. „Du bist mir wichtig. Geh nicht einfach fort, nur wegen eines Fehlers! Du kannst daraus lernen und ein guter Ehemann sein. Ein guter Freund sein“, fügte er mit leiser werdender Stimme hinzu. Atem hielt an und lehnte sich gegen die Mauer. „Ich werde Nefertiti niemals ein guter Ehemann sein. Selbst wenn ich sie niemals wieder schlage.“ Er sah zu Heba. „Das verstehe ich nicht!“ Er war aufgestanden. „Du... du bist ein guter Mensch, Atem, das weiß ich.“ „Mit Nefertiti habe ich insgesamt sieben Gemahlinnen“, erklärte Atem schließlich leise. „Ich habe noch nie einer von ihnen beigewohnt und ich werde es auch nie.“ „Das... verstehe ich nicht.“ Heba fuhr sich durch seine wirren Haare während Röte seine Wangen überzog. „Das heißt, ich kann nicht mit ihnen schlafen“, erklärte Atem. „D-das habe ich verstanden. Ich meinte eher, warum du... nicht kannst.“ Hebas Stimme war sehr leise geworden. Es war klar, daß er Atem helfen wollte, so unangenehm das Problem ihm auch war. „Weil ich...“ Atem zögerte kurz, aber dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen. Wenn Heba die Wahrheit erfuhr, würde er sich von Atem fernhalten. Auch wenn ihn selbst das schmerzte, wenigstens würde er den anderen dann in Sicherheit wissen können. „Ich kann nur mit Männern schlafen.“ Heba blinzelte einmal, zweimal und dann ein drittes Mal. Sein Gesicht zeigte weder Abscheu noch Wut, nur Verwunderung, die durch diese herrlichen Augen noch vervielfacht wurde. Dennoch zog das Schweigen sich unangenehm in die Länge und so hakte Atem nach: „Heba?“ Der schüttelte den Kopf als wolle er seine Gedanken abschütteln. „Ich wußte nicht, daß...“ Er verstummte und drehte den Kopf von Atem fort. „Was? Daß ich Männer anziehend finde? Vor zwei Jahren wußte ich das auch nicht.“ Atems Stimme war nur ein Hauch, aber Heba hörte ihn wohl dennoch. „Nein, daß es... “ Heba biß sich auf die Lippen als wolle er sich daran hindern, weiterzusprechen. „Was ist es? Daß es widerlich ist? Widernatürlich? Daß daraus keine Kinder entstehen können?“ Atem wurde laut. Er wollte eine Antwort hören, ganz egal, welche. Er mußte einfach. „Nein. Daß du bist wie... wie ich.“ Heba hatte den Kopf gesenkt und seine blonden Haarsträhnen nahmen Atem den Blick auf sein Gesicht. „Wie ich?“ wiederholte Atem verwirrt. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. „Du meinst, du bist auch an Männern interessiert?“ „Ja, nicht ausschließlich, aber... Ich habe nie jemanden getroffen, der auch... der auch Männer so mag. Wenn mein Onkel das herausgefunden hätte, er hätte mich bestimmt erwürgt. Ich habe immer nur gehört, wie er gesagt hat, daß echte Männer nur mit Frauen...“ Heba brach ab. Das Thema hatte ihn zum Zittern gebracht. „Oh Heba! Ich wollte keine Wunden aufreißen.“ Atem kniete sich vor Heba und ergriff dessen Hände. „Dein Onkel ist nicht hier.“ „Du hast gesagt, es sei widernatürlich und widerlich“, erwiderte Heba leise. „Noch nicht einmal du findest es richtig.“ Er entzog Atem seine Hände und wandte seinen Kopf zur Seite. Dennoch konnte Atem kurz die Tränen auf Hebas Wangen sehen. Er hätte am liebsten jedes Wort auf der Stelle zurückgenommen, aber Heba würde das nur für reine Freundlichkeit halten, nicht für die Wahrheit. Heute war wohl der Tag, an dem er es sich mit jedem verdarb, der ihm etwas bedeutete. Trotzdem wollte er wenigstens versuchen, seinen Fehler wieder gutzumachen. „Für einen Pharao, der einen Thronfolger zu zeugen hat, ist es nicht richtig. Aber du... Du bist der beste Mensch, den ich kenne, mein Kleiner. Nichts an dir ist widerlich oder widernatürlich.“ Atems sanfte Worte schienen insoweit zu Heba durchzudringen als daß er sich etwas entspannte. „Ja, aber...“ Atem ergriff erneut Hebas Hände und strich mit seinen Daumen beruhigend über Hebas Haut. „Kein Aber. Du bist mir sehr wichtig. Ich weiß selbst nicht, wieso meine Gefühle in deiner Nähe so verrückt spielen. Ich weiß nur, ich kann dich nicht unglücklich sehen. Ich will, daß deine Augen vor Glück strahlen, Heba. Deine wunderschönen, sanften Augen... Du hilfst mir dabei, ruhig zu werden, nicht die Kontrolle zu verlieren. Das hört sich bestimmt sehr verdreht an, schließlich bist du erst ein paar Tage wieder hier, aber es ist so.“ „Nein, es ist nicht verdreht. Ich habe es auch gefühlt“, erwiderte Heba und hob langsam den Kopf. „Du bist mir auch sehr wichtig. Es fällt mir so einfach, mit dir zu reden, auch über die Dinge, über die ich niemals reden wollte oder konnte. Ich dachte immer, wenn ich darüber sprechen würde, würde es nur noch schlimmer werden, aber anstatt dessen scheint es besser zu werden. Ein bißchen jedenfalls.“ Er lächelte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich weiß auch nicht, was es ist, aber es ist nicht schlecht.“ „Nein, schlecht kann es niemals sein. Nicht bei dir.“ Atem zog Hebas Hand an seine Lippen. Jeder Gedanke, daß er Heba von sich fernhalten müßte, hatte sich aufgelöst. Er würde Heba niemals verletzen können, dessen war er sich plötzlich sicher. „Heba, bitte gestatte mir, dir den Hof zu machen.“ „Hof machen?“ Heba sah Atem groß an. „Du meinst wie... wie ein Paar?“ „Ja, ich fühle mich zu sehr zu dir hingezogen, als daß es nur Freundschaft sein kann. Aber ich will dich auch nicht überrumpeln. Wenn du es nicht willst, ist das in Ordnung.“ Er hob eine Hand und strich Heba einige Haare aus dem Gesicht. Heba lächelte glücklich und schloß die Augen. „Ich gestatte es dir, Atem.“ Atem preßte noch einmal seine Lippen auf Hebas Handrücken. „Ich danke dir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)