Missing you von moonlily ================================================================================ Kapitel 1: Missing you ---------------------- Missing you Grübelnd fuhr Seth, den Binsenstängel in der Hand, wieder und wieder die gleiche Zeile auf dem Papyrus entlang, doch gleichgültig wie oft er dies tat, an den vermerkten Zahlen änderte sich nichts. „Da stimmt doch etwas nicht“, murmelte er. „Das müssten mindestens vier Tiegel mehr sein.“ Der brünette Hohepriester schüttelte missmutig den Kopf. Das fing ja gut an. Gestern waren im Tempel die Abgaben aus Kusch eingetroffen, die es zu ordnen und auf die verschiedenen Lager, an die sie gehen sollten, zu verteilen galt. Eigentlich handelte es sich dabei um Arbeiten, für welche die ihm untergebenen Priester zuständig waren, doch wie er von seinem Vorgänger wusste, war es schon zu oft vorgekommen, dass etwas von den Abgaben spurlos verschwunden war. Sei es ein Töpfchen mit Salbe, eine der Fayencearbeiten, auf die sich die Bewohner von Kusch so gut verstanden, oder etwas anderes, und er verspürte keine Lust, dem Pharao beim nächsten Besuch des Tempels zu erklären, warum die Bestände von dem, was in den Listen vermerkt war, abwichen. Er hatte sich die Liste erst vor wenigen Minuten aus dem Stapel der Unterlagen, die er noch durcharbeiten musste, herausgesucht und schon fand er die ersten Fehler in den Aufstellungen. Wenn das so weiterlaufen sollte, würde er seinen Priestern morgen früh eine gehörige Standpauke halten müssen, sobald alle Zeremonien abgeschlossen waren, um die Gottheit angemessen zu begrüßen und zu versorgen. Solch eine Unordnung würde er in seinem Tempel nicht dulden. Wenige Zeilen darauf sah er die zweite Unregelmäßigkeit. „Das ist ja wohl ... Na warte, Ruti. Das hast du nicht umsonst getan.“ Seths Faust ballte sich. Wenn der Lagerverwalter dachte, er könne etwas von den Vorräten abzweigen, ohne dass er es bemerkte, irrte er sich gewaltig. Er hatte es trotz seiner jungen Jahre nicht so weit gebracht, weil er unaufmerksam bei seiner Arbeit gewesen war. Seth drehte den Kopf und blickte aus dem Fenster, ungefähr in die Richtung, in welcher das Gelände des Tempels des Amun-Ra lag. Ob sich Ruti gerade unter seiner Decke verkroch und zu den Göttern betete, er möge den Betrug nicht erkennen? Wie er den Älteren allerdings einschätzte, schlief dieser längst tief und fest und machte sich keine Gedanken darüber, was ihn in wenigen Stunden erwarten würde, wenn er ihn verhaften ließ. Die Götter und den göttlichen Pharao zu berauben, war ein schweres Vergehen, das mit harten Strafen geahndet wurde. Ein leises Klopfen an der Tür lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. „Ja?“, fragte er und ließ das Schreibgerät sinken. Ein junges Mädchen, das kaum älter als siebzehn sein konnte, trat ein. Das Tablett, das sie mit beiden Händen trug, war mit mehreren Schüsseln voll verführerisch duftender Speisen beladen und erinnerte ihn daran, dass er das Abendessen im Lotossaal versäumt hatte, wo die Millenniumswächter sonst gemeinsam mit dem Pharao speisten. Da er mitten in der Arbeit steckte (allein zwei Stunden hatte er zur Beantwortung verschiedener Schreiben benötigt), hatte er einen Diener geschickt, um Atemu abzusagen, in der Hoffnung, dass sein Cousin deswegen nicht verärgert sein würde. „Seine Majestät der Pharao schickt mich, Euch etwas zu essen zu bringen, Meister Seth“, erklärte sie mit einem kurzen Knicks und einer angedeuteten Verbeugung, um das Gleichgewicht des Tabletts nicht zu gefährden. „Er sorgt sich um Euer Befinden.“ „Richte ihm aus, dass seine Sorgen unbegründet sind und ich mich bei ihm bedanke. Stell das Tablett da drüben ab“, wies er sie an und deutete auf einen niedrigen Tisch im nebenan liegenden Wohnraum, an dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte, wenn er allein essen wollte oder nur wenig Zeit hatte. Er wischte die noch verbliebene Tinte, die an dem Binsenstängel haftete, mit einem Tuch ab, damit sie nicht eintrocknete, und legte diesen beiseite. Die Liste, an der er bis eben gearbeitet hatte, konnte er auch später fertig korrigieren, nun musste er doch erst etwas in den Magen bekommen. Den ganzen Tag über war er kaum dazu gekommen, mehr als ein paar Trauben und etwas Fladenbrot zu sich zu nehmen. Er war daran gewöhnt, vor wichtigen Zeremonien zu fasten, doch dann warteten normalerweise nicht Dutzende andere Aufgaben auf ihre Erledigung. Das Mädchen hatte Mühe, das Zittern zu unterdrücken, als sie an ihm vorbeiging, auch wenn sein Blick sie nur kurz gestreift und sich dann gleich wieder den Dokumenten zugewandt hatte. Bei den Mädchen und Frauen im Harem war der brünette Hohepriester neben dem Pharao eines der beliebtesten Gesprächsthemen. Jung, mächtig, gut aussehend ... und von einer kühlen Aura umgeben, doch statt dass diese die Frauen abschreckte, zog sie sie im Gegenteil nur noch mehr an. Sie stellte die Schüsseln und Platten auf dem angewiesenen Tisch ab und füllte Wein in seinen Becher. Seth verbarg unterdessen seine beim Durcharbeiten der Liste gemachten Notizen sorgfältig unter ein paar Papyrusrollen, seine Entdeckungen gingen vorläufig noch niemanden etwas an, und begab sich in seinen Wohnraum hinüber. Wortlos ließ er sich auf dem mit einem Kissen ausgelegten Hocker nieder, gab ihr einen Wink, dass sie gehen konnte, nahm sich etwas von dem dampfenden Taubenragout und begann zu essen. Zu seiner Überraschung blieb das Mädchen still in seiner Nähe stehen, auch wenn ihre Finger scheinbar nervös mit dem goldenen Reif an ihrem Handgelenk spielten. Sonst hatten die Diener es immer sehr eilig, aus seinen Räumlichkeiten zu gelangen, sobald er ihnen die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Er schnaubte leise. Was ihn ärgerte, war nicht ihr Verhalten an sich, sondern der Grund, den er dahinter vermutete. Bei Atemus bisweilen hervortretender Überfürsorglichkeit hielt er es glatt für möglich, dass er sie beauftragt hatte, ihm nicht nur das Essen zu servieren, sondern aufzupassen, dass er es auch wirklich aß und nicht unbeachtet stehen ließ, um sich weiter in seiner Arbeit zu vergraben. Über den Rand seines Bechers hinweg betrachtete er sie genauer. Ihr Name war Teti, die Tochter einer der Haremsdamen, wenn er sich richtig erinnerte. Seth wunderte sich, was sie hier zu suchen hatte. Ein gewöhnlicher Diener hätte vollkommen genügt, um ihm das Essen zu bringen. Wie ihre Mutter war sie mit ihren dunklen Augen eine kleine Schönheit und hatte, wie man im Palast munkelte, bereits einigen jungen Adligen den Kopf verdreht. Durch das feine weiße Leinen ihres Kleides, das unter der Brust gerafft und in viele kleine Falten gelegt war, zeichneten sich die Konturen ihres Körpers deutlich ab. Die goldenen Armreife und der aus Halbedelsteinen gefertigte Halskragen funkelten im flackernden Schein der Öllampen, die den Raum erhellten. Was hat Atemu wieder vor?, dachte er und griff nach dem Brot. Er kannte seinen Cousin. Der junge Pharao tat so gut wie nie etwas ohne Hintergedanken. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er wirklich war. Hinter ihm lag ein langer Tag, neben seinen Pflichten im Tempel hatten auch noch eine Konferenz über das Vorgehen gegen die Aufstände im Süden und ein Lokaltermin bei der zukünftigen Grabstätte des Pharao auf dem Programm gestanden. Wie jeder Herrscher Kemets hatte Atemu seine Architekten schon kurz nach seiner Krönung mit der Planung beauftragt, damit die Anlage rechtzeitig zu seinem Tod fertig gestellt war und er sich wieder mit seinen göttlichen Ahnen vereinen konnte. Von den Süßspeisen, die Teti ihm gebracht hatte, nahm Seth kaum etwas, stattdessen bediente er sich bei den Datteln und Feigen. Gebäck hatte er noch nie viel abgewinnen können, im Gegensatz zu Atemu und Mahado, die sich, sofern sie unter sich waren, regelmäßig darum stritten, wer das letzte Stück Kuchen bekam. „Habt Ihr noch einen Wunsch, Meister Seth?“, erkundigte sich Teti mit einem hinreißenden Lächeln, für das einige der adligen Herren einen Mord begehen würden, als er seinen Teller zurückschob. „Kann ich Euch noch etwas bringen?“ Sie reichte ihm eine Schale mit Zitronenwasser, damit er sich die klebrigen Finger abspülen konnte. Stirnrunzelnd bemerkte er, dass sie ihm dabei für einen Augenblick direkt und tief in die Augen sah, als wollte sie ein Geheimnis ergründen, das sich hinter den blauen Iriden versteckte. „Nein, das wäre alles. Du kannst abräumen.“ Er erhob sich von seinem Sitz, um sich zurück an die Arbeit zu begeben. Nach wenigen Schritten drehte er sich um. Teti stand direkt vor ihm, so nah, dass er die feinen Duftöle riechen konnte, mit denen ihr Haar parfümiert war. „Ist noch etwas?“, fragte er, die Augenbrauen hebend. „Es ... es ist nicht gut, dass Ihr so viel arbeitet“, begann sie. „Ihr solltet Euch ein wenig Ruhe gönnen.“ „Die kann ich mir dann gönnen, wenn ich meine Arbeit erledigt habe“, entgegnete Seth, nahm an seinem Schreibtisch Platz und griff nach den Unterlagen. „Wenn du mich nun entschuldigst.“ Das fehlte ihm noch, dass ihm eine junge Haremsdame Vorschriften machte, wie er zu arbeiten und zu pausieren hatte. Es konnte hundertmal Atemus Wunsch hinter diesen Worten stecken, er möge kürzer treten und mehr Arbeit in die Hand anderer geben. Seth dachte nicht daran. Die vielen Aufgaben übernahm er in den meisten Fällen nicht, weil sie ihm besondere Freude bereitet hätten oder er sich unter den Priestern noch mehr hervortun wollte, das hatte er gar nicht nötig. Sie stellten für ihn die beste und vor allem produktivste Möglichkeit dar, seinen Geist ständig beschäftigt zu halten. Es war ihm gleich, ob er spätabends, häufig auch erst kurz vor Morgengrauen, wie tot in sein Bett fiel, denn es lenkte ihn davon ab, dass eben dieses leer war. Der Mensch, den er sich an seine Seite wünschte, um es zu füllen, war viele Meilen weit entfernt. Es war Wochen her, seit sie sich zuletzt gesprochen hatten, er wusste nicht einmal, wie es ihm ging oder wo er sich momentan aufhielt. Ein paar kühle, zierliche Finger an seinen Schultern erinnerten ihn daran, dass er gerade nicht allein in seinem Arbeitszimmer war – und dass er nicht wusste, wie sie dorthin gelangt waren. Er musste ganz in seinen trüben Gedanken versunken gewesen sein, denn er hatte nicht bemerkt, wie Teti hinter ihn getreten war. Erst jetzt registrierte er die sanft kreisenden Bewegungen ihrer Fingerspitzen. „Das ist freundlich von dir gemeint, Teti“, sagte er höflich, „aber ich bitte dich, jetzt zu gehen. Ich habe zu arbeiten.“ „Wollt Ihr Euch nicht eine Pause erlauben und Euch für eine Weile entspannen?“ Sie schob den Papyrus fort, nach dem er gegriffen hatte. „Was soll das werden?“ „Entspannt Euch“, hörte er ihre Stimme an seinem Ohr. Gleich darauf fühlte Seth ihre Finger wieder über seinen Hals tasten und seinen Nacken entlang streichen. Er hasste es, von anderen bevormundet zu werden. Selbst mit Atemu gab es bisweilen Diskussionen, was er sich nur dank ihrer nahen Verwandtschaft erlauben durfte. Andererseits merkte er gerade auf schmerzhafte Art, wie verkrampft er in den vergangenen Stunden gesessen hatte. So beschloss er, Teti für einige Minuten gewähren zu lassen, umso leichter müsste es ihm danach fallen, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zuvor aber warf er rasch einen prüfenden Blick auf die Berge von Dokumenten, die sich auf der polierten Holzplatte häuften. Teti sollte nichts zu Gesicht bekommen, das nicht für ihre Augen oder die Augen anderer bestimmt war. Nach einer Weile spürte der Hohepriester zufrieden, wie sich die Verkrampfungen lösten. An sich, so überlegte er, war nichts dagegen zu sagen, wenn er die Liste noch fertig durchsah und danach ein Bad nahm. Um diese Zeit war es am Ufer des Nil und besonders im tagsüber häufig sehr belebten königlichen Badehaus herrlich ruhig. Keine kleinen Kinder, die um einen herumwuselten und sich gegenseitig mit Wasser bespritzten, keine Damen aus dem Harem, von denen manche versuchten, ihm mit bloßen Blicken die priesterlichen Gewänder vom Leib zu reißen. Er konnte sich glücklich schätzen, dass Atemu ihm bisher nicht nahe gelegt hatte zu heiraten. Es gab weit angenehmere Dinge, die Seth sich vorstellen konnte, als abends zu einer Frau und einem Haufen Kinder zu kommen und von ihr mit dem neuesten Hofklatsch unterhalten – oder eher genervt – zu werden, während die Kleinen alle zugleich seine Aufmerksamkeit forderten. Seine Gedanken wurden jäh von einem Lippenpaar in seinem Nacken unterbrochen, das dort nicht hingehörte. „Teti, was glaubst du da zu tun?“, knurrte er warnend. „Euch zu der Entspannung verhelfen, die Ihr benötigt und verdient, Meister Seth.“ Ihre Zunge leckte vorwitzig über sein Ohr, während sich ihre Hände von seinen Schultern nach vorne auf seine Brust zuschoben. Sie hatten gerade den äußeren Rand seines Halskragens erreicht, als er sie packte, von sich riss und von seinem Sitz aufsprang. Eisige Funken mit den Augen versprühend, fuhr er zu ihr herum. „Darauf kann ich verzichten. Hinaus.“ „Ab-aber ich ...“ Teti wich einen Schritt zurück, noch einen und noch einen. Dieser wütende Hohepriester machte ihr Angst. Die Frauen im Harem hatten sie gewarnt, dass es schwierig sein würde, Seth zu verführen, sehr schwierig sogar. Bislang hatte er alle Mädchen, die ihm sein Cousin zur Zerstreuung geschickt hatte, abgewiesen. Wie hatte sie sich da einbilden können, bei ihr würde alles anders laufen. Nein, zu alledem hatte sie es geschafft, ihn zu verärgern, wie es aussah. „Ich sagte raus!“, wiederholte er, dieses Mal einen schärferen Ton anschlagend. Die Atmosphäre im Raum hatte sich merklich abgekühlt. Das Mädchen nickte stumm, die Augen starr auf Seth gerichtet, schlüpfte hastig an ihm vorbei und verließ den Raum, ohne daran zu denken, dass sie das Tablett und die leeren Schüsseln hätte mitnehmen müssen. Nur weg von ihm, bevor er auf die Idee kam, seinen Millenniumsstab an ihr auszuprobieren. Der Brünette ließ sich auf seinen Hocker zurücksinken und vergrub die Stirn zwischen seinen Händen. Hinter seinen Schläfen pochte es, Kopfschmerzen versuchten sich bei ihm einzunisten. So ging es in keinem Fall weiter, er würde ein ernstes Wort mit Atemu reden müssen und das so schnell es ging. Seth wusste, dass der Pharao seine Frau, die Große Königliche Gemahlin, wie ihr Titel offiziell lautete, und seine Nebenfrauen eher aus der Pflicht zu sich rufen ließ, einen Thronfolger zu zeugen, als weil er den Wunsch nach ihrer Gesellschaft verspürte. Im Gegenteil, er war um jede Minute froh, die er vor ihnen seine Ruhe hatte. Das Herz des Göttlichen gehörte schon lange einem Sterblichen. Viele vermochten nicht, die feinen Zeichen zu lesen oder verschlossen möglicherweise auch nur die Augen davor. Seth jedoch hatte noch am Tag seiner Ankunft im königlichen Palast bemerkt, dass zwischen dem Pharao und seinem Obersten Magier Mahaado eine besondere Verbindung bestand. Es kam ihm häufig vor, als seien die beiden jungen Männer die zwei Hälften einer Medaille. Sie ergänzten einander in vielfacher Weise und es war nicht selten, dass der eine den Satz des anderen beendete oder Mahaado bei ihm auftauchte, noch bevor er überhaupt nach ihm geschickt hatte. Wahrhaft eine besondere Verbindung und auch wenn sie es nie öffentlich zeigen durften, beneidete Seth sie darum. Sie hatten wenigstens das Glück, dauerhaft zusammen leben zu können, während er und sein Liebster immer wieder über unvorhersehbar lange Zeiträume voneinander getrennt waren, nie wissend, ob sie sich noch einmal lebend wiedersehen würden. Einem Impuls folgend, zog sich der Hohepriester einen noch unbeschriebenen Papyrus heran, tauchte den Binsenstängel in die Tinte und begann zu schreiben. Geliebter! Mehr als zwei Neumonde sind nun vergangen, seit wir uns das letzte Mal sehen konnten und jeder einzelne dieser Tage, jede Nacht kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Es ist gleich, wie viel ich arbeite, meine Gedanken wandern immer wieder zu Dir und dieser wundervollen Nacht zurück. Oft genug geschieht es, dass ich des Nachts aufwache und denke, Du liegst neben mir, obgleich dem nicht so ist. Tagsüber gehe ich meinen Aufgaben im Tempel nach, überwache die Priester und sorge dafür, dass es den Göttern an nichts fehlt. Auch die umfangreichen Bauarbeiten unseres Pharao nehmen mich mehrere Stunden am Tag in Anspruch. Was Atemu mit all dem bezwecken will, kann ich nur mutmaßen. Sein Vater, Seine Göttliche Majestät Akunamkanon, ist in unsere Chroniken als großer Feldherr eingegangen, der die Feinde Kemets zurückschlug und sie den Respekt vor unserem Reich lehrte. Vielleicht ist Atemus Bestreben, sich unter seinen Ahnen einen Namen als Bauherr zu machen, denn wie jeder Herrscher wird auch er versuchen wollen, seine Vorgänger an Größe zu übertreffen. Ich schweife ab ... Wie ich Dich kenne, interessiert Dich nicht, was mein Cousin so treibt, solange sich seine Aktivitäten nicht gerade gegen Dich richten. Eigentlich ... ich kann nicht einmal sagen, warum ich gerade hier sitze und Dir schreibe. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich Dir dieses Schreiben zukommen lassen sollte, ebenso wenig wie ich Deinen momentanen Aufenthaltsort kenne. Du könntest ganz in der Nähe von Men-nefer sein und ich wüsste es nicht. Zu gut verstehst Du es, Dich zu tarnen und zu verbergen. Unerkannt, wie ein Schatten, schleichst Du durch unser Reich und bringst mich mit Deinen Taten wieder und wieder in Bedrängnis. Wie soll ich Dich vor dem Pharao rechtfertigen, welche Erklärung könnte ich ihm nennen? Du spielst mit ihm wie eine Katze mit der Beute, lockst ihn nahe an Dich heran, nur um im letzten Moment im Nichts zu verschwinden. Bis heute weiß ich manchmal nicht, ob ich jene Nacht, die uns zusammenführte, verfluchen oder den Göttern für sie danken soll. Bei der Erinnerung daran legte sich ein fast wehmütiges Lächeln auf Seths Züge. Er hatte ihn bis tief in die Wüste hinein verfolgt. Seine Gedanken waren derart von dem Ziel gefangen gewesen, ihn zu stellen und für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen, dass er nicht bemerkt hatte, wie seine Eskorte immer weiter zurückgefallen war und ihn schließlich verloren hatte. Wie ein Wüstensturm war er auf seinem Pferd durch den Sand geprescht, immer den Spuren des anderen folgend, bevor der Wind sie verwischen konnte. Unterwegs hatte er mehrmals geglaubt, ihn verloren zu haben und die Verfolgung aufgeben zu müssen, denn sein Gegner war geradezu mit der dunklen Nacht und der Wüste verschmolzen, bis sich Chons seiner erbarmt und ihm den Weg geleuchtet hatte. Dank des Mondes war er nach über zwei Stunden auf eine Ansammlung von Felsen gestoßen, wo er das Pferd des Flüchtigen entdeckte, doch von seinem Reiter war keine Spur. Bei der Untersuchung der Felsen hatte er sich für absolut vorsichtig gehalten, noch mehr als sonst, da er allein war – und dennoch war er von ihm überrascht worden. Nur zu gut erinnerte er sich an die rauen Hände, die ihn plötzlich gepackt und gegen den kalten Stein gepresst hatten. Seth hatte gedacht, sein letztes Stündchen habe damit geschlagen. Nie zuvor war er ihm so nahe gewesen und der Ruf seines Gegenübers war Furcht einflößend genug, um ihm eiskalte Schauer über den Rücken zu jagen. Wenn er aber daran dachte, was für ein Ende jene Nacht gefunden hatte ... Ein überaus angenehmes Prickeln durchlief seinen Körper, als er sich die kühlen Finger in Erinnerung rief, die sich, ohne dass sich ihr Besitzer mit Nachfragen aufhielt, unter das feine Leinen seiner Gewänder geschoben hatten, den Stoff ungeduldig beiseite zerrend. Lippen, die seine grinsend erforscht und ihn, als sie tiefer wanderten, an den Rand der Selbstbeherrschung und darüber hinaus getrieben hatten. So viele ihm bis dahin unbekannte Gefühle, die ihn überschwemmt und mit sich gerissen hatten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er sich damals schon gewünscht, diese Nacht möge nie zu Ende gehen. Ja, er hatte es bedauert, am nächsten Morgen aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass er allein war. Seitdem war so vieles geschehen, so viele Dinge hatten sich in seinem Leben verändert, von denen niemand im Palast etwas ahnte. Ihre geheime Verbindung machte ihn innerlich ebenso stark wie sie ihn nach außen angreifbar gegen seine Feinde machen würde, sollte sein Geheimnis je ans Tageslicht kommen. Sein Cousin würde diese Liaison niemals dulden. Aber, so musste Seth sich eingestehen, wären ihre Plätze vertauscht, würde er nicht anders urteilen. Der trocken gewischte Binsenstängel fand seinen Platz wieder auf der Ablage. Seth las sich das, was er geschrieben hatte, noch einmal durch und rollte den Papyrus sorgfältig zusammen, um ihn in einer kleinen Truhe zu verstauen. Es hatte keinen Nutzen, den Brief heute zu beenden, wenn er nicht wusste, wohin er ihn senden sollte. Die Taube, die sie zur Nachrichtenübermittlung benutzten, war noch nicht zu ihm zurückgekehrt. Seth rechnete zurück. Heute musste der elfte oder zwölfte Tag sein, dass er sie ausgeschickt hatte. Wenn sie noch nicht zu ihm zurückgekehrt war, konnte das nur bedeuten, dass sich sein Geliebter in weiter Ferne befand. Wenn die Götter ihnen ihren Segen entzogen, womöglich sogar ... Diesen Gedanken wollte er gar nicht zu Ende denken, aber auszuschließen war es nicht. Die Gefahr, dass er gefangen genommen wurde, bestand immer und überall. Die Flamme der Öllampe, die über seinem Arbeitsplatz in einer Halterung hing, flackerte, tanzte sekundenlang wild und warf Schatten an die Wand, wurde dann schwächer und erlosch. Der Hohepriester fand sich auf einmal von völliger Dunkelheit umgeben. Mond und Sterne waren hinter den Wolken verschwunden, die Lampe war seine einzige Lichtquelle gewesen. Er stand auf und tastete sich langsam durch den Raum, um nach einem Diener zu rufen, damit der ihm eine neue Lampe brachte. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und sah sich um. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis, dennoch spürte er mehr, als dass er es sah, dass er sich nicht mehr allein im Zimmer befand. „Wer ist da?“ Zwei kräftige Arme schlossen sich um ihn und zogen ihn an einen Körper hinter ihm. Seth fühlte heißen Atem über seinen Nacken strömen, gleich darauf ein leises, ihm wohlbekanntes Lachen an seinem Ohr. „Na, hast du mich vermisst, großer Hohepriester?“ Seth schloss für einen Moment die Augen. Auf seiner Haut bildete sich eine feine Gänsehaut, was den Mann hinter ihm kichern ließ. „Offenbar. Ich war lange weg.“ „Viel zu lange ...“ Er drehte sich in seinen Armen um. „Kura. Wo warst du?“ „Hier und dort“, äußerte sich der Räuber nebulös wie immer über seinen letzten Aufenthaltsort. „Wo mich die Geschäfte gerade hintrieben.“ „Geschäfte ...“, wiederholte der Brünette spöttisch und hob, auch wenn Kura es nicht sehen konnte, eine seiner Augenbrauen. „Und jetzt haben sie dich wieder nach Men-nefer verschlagen.“ „Dieses Mal war es nicht die Arbeit, die mich in diese Stadt gezogen hat, mein Schöner.“ Der Weißhaarige zog ihn dichter an sich, drückte seine Lippen gebieterisch auf die Seths und zwang ihn, sich etwas ins Hohlkreuz zu begeben. Seine Zunge schlich sich zwischen die Lippen seines adligen Geliebten, während dessen Hände in seinem Nacken Halt suchten. Seth genoss es, ihn endlich wieder so nahe zu spüren und ihn berühren zu können. Keinem anderen hätte er es gestattet, ihn so zu behandeln und ihn, den stolzen Hohepriester des Amun-Ra, einen der Ersten unter dem Pharao, in die Knie zu zwingen. „Was war es dann, wenn ... nicht deine Arbeit?“, flüsterte Seth atemlos, als sie sich schließlich voneinander lösten. „Du“, murmelte Kura und bedachte ihn kurz mit einem wölfischen Grinsen, um ihn gleich darauf in einen neuen Kuss zu ziehen. Er dirigierte Seth durch das Zimmer zu seinem Bett hinüber. Seine Hände suchten sich einen Weg unter dessen Kleider, während ihm Seth nicht minder begierig den Mantel von den Schultern streifte und zu Boden fallen ließ. „Du hast mir gefehlt, Kura“, sagte er und grinste, als dieser ihn auf das Bett stieß und ihm, einem Raubtier gleich, folgte. Die vergangenen Wochen, die er in Einsamkeit verbracht hatte, lösten sich auf und wurden wie Asche vom Wind davongetragen. Selbst wenn es wieder nur eine Nacht war, die sie miteinander teilen konnten, auch wenn Seth wusste, in ein paar Stunden, sobald Ra aus der Unterwelt zurückkehrte, würde er alleine sein ... Diese wenigen Momente, die sie miteinander verbrachten, waren für ihn kostbarer als alle Schätze des Königreiches. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)