Der letzte erste Donnerstag von Skorpion ================================================================================ Kapitel 7: Freitag, 13. Oktober 2111 ------------------------------------ Freitag der dreizehnte, mein ganz persönlicher Unglückstag. Als ob die letzten Tage nicht schon schlimm genug waren. Aber heute habe ich mit Damien auch meine Hoffnung verloren. Ich ging heute wieder normal zum Unterricht. Dank Schlafmittel verlief die Nacht ohne Alpträume, dafür konnte ich mich kaum überwinden, aus dem Bett zu steigen. Melanie half nach, indem sie mir ihr nasses Frottiertuch an den Kopf warf. Ich denke jedenfalls, dass sie es war, sie lachte am lautesten. Und dann begann der Unterricht ausgerechnet mit einer, unangekündigten, Französischprüfung. Die eine Hälfte wusste ich nicht, die andere löste ich falsch. Wäre ich wacher gewesen, hätte ich wenigstens ein paar peinliche Fehler vermeiden können. Ich schob es auf die Schlafmedikamente. Viel Zeit darüber nachzudenken, blieb mir nicht. Um zehn Uhr gab es eine weitere Veranstaltung mit Aquila. Ich hatte seine „grosse Veränderung“ schon verdrängt, aber als er vorne auf der Bühne stand und begann, fühlte ich mich sofort wieder an den Tag seine Antrittsrede zurückversetzt. So verbrachte ich auch seine Begrüssung in Erinnerungen. Das Wort Liveübertragung liess mich aufhorchen. Das war die grosse Neuigkeit, künftig würde man uns live beim Dämonen jagen zusehen können. Jedenfalls in den Fällen, die absolut unbedenklich sein würden. Also Zombies, verwandelte Werwölfe und durchgedrehte Vampire. Gute Christen gegen böse Monster. Intelligentere Dämonen könnten durch die Show gewarnt werden, war Aquilas Argument. Und dass Dämonen miese Tricks brauchen könnten, die professionelle Jäger durchschauten, aber unvorbereitetes Publikum nicht. Und wer sähe schon gern zu, wie ein, als hilfloses Mädchen getarnter Dämon, getötet würde. Da stimmte sogar ich Aquila zu. Dafür würde es Specialsendungen geben, geschnitten und mit Erklärungen ergänzt. Die Betrachter könnten sogar wie in einem Game mitspielen, mit dem Michaelsorden mitfiebern. Selbst in die Jägerrolle schlüpfen. „Sollen sie uns für unsere Aufgabe beneiden. Gerade bei den Soldaten können wir talentierten Nachwuchs brauchen,“ erklärte Aquila. Eine Art Rekrutierung also. Aber es kam noch besser. „Wir werden das Publikum mitmachen lassen. Sie dürfen für ihre Lieblingsjäger voten. Jeder der einen längeren Auftritt in der Übertragung hat, bekommt ein Onlineprofil. Wir müssen die Distanz verringern und wenn dadurch die Benutzerzahlen im Catholicnet steigen, umso besser. Ich sass da und fragte mich mit jeden Satz was noch kommen würde. Ich will nicht behaupten etwas von Marketing zu verstehen, aber Aquilas Rezepte schienen mir altmodisch und vor allem unpassend, für den Orden. Nachdem Aquila seinen Redeschwall beendet hatte, horchte ich auf die Reaktionen um mich herum. Sie waren zwiespältig, die einen freuten sich auf Heldenauftritte, die anderen hielten die Sache für lächerlich. Mich überholte eine Gruppe Mädchen, die das Problem unbewusst auf den Punkt brachten. „Ich werde nie mehr ungeschminkt an einem Einsatz teilnehmen. Wenn sie mich filmen, will ich gut aussehen. Und ich muss mir unbedingt die Grimasse abgewöhnen, die ich mache wenn ich zaubere“ „Zum Glück sind die Uniformen einigermassen figurbetont, ich wünschte ich wäre schon Offizier, die sehen schick aus.“ Dann hatten sie mich überholt. Die kritischen Meinungen waren in Unterzahl wie ich auf dem Weg zum Speisesaal feststellte. Trotzdem freute ich mich über jeden Zweifel. Aquila schien doch nicht so beliebt, wie ich im ersten Moment befürchtet hatte. Ich sagte mir, dass meine Leistungen und meine mollige Figur mich wohl von Videostreems verschonen würden. Ein bisschen Ruhm wäre schon schön, aber lieber verzichte ich, als zum Quotenlacher zu werden. „Maria, wie weit bist du mit deiner Geschichte?“ fragte Nathalie als ich nach dem Mittagessen an ihrem Tisch vorbei ging. „Wird schon“, antwortete ich obwohl ich mir nicht sicher war, um nicht zu lange aufgehalten zu werden. „Sehr gut, ich denke, Aquila wird die Liveübertragungen mir der Adventsaktion starten, und ich denke wir haben die beste Idee. Streng dich also an.“ Sie nickte mir zu und beugte sich dann wieder über ihren Teller. Damit wusste ich in welches Lager sie einzuordnen war. Kein Wunder, Nathalie ist hübsch und talentiert genug, um Zuschauerstimmen zu sammeln. Aber heisst das nicht auch, dass ich in Gefahr laufe, ebenfalls aufgenommen zu werden. Es ist kaum vermeidbar, dass ich irgendwann im Bild zu sehen sein werde. Nathalie wird sowieso die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich musste bloss unauffällig im Hintergrund bleiben. Meine Aufgabe war die Geschichte, dann konnte ich mich zurückziehen. Die Schlussfolgerung war klar, ich musste eine geniale Geschichte abliefern, und schon beim Gedanken daran wurde ich nervös. Noch fehlte mir die entscheidende Idee und langsam aber sicher begann ich, die Angst vor dem leeren Blatt zu verstehen. Als der Unterricht endete hatte ich einen Plan: Inspiration. Ich steuerte also direkt auf die Bibliothek zu. Zu spät fiel mir ein, dass das keine allzu gute Idee sein könnte. Damien bemerkte mich, bevor ich mich davon schleichen konnte. Er rief mich zurück und so standen wir einmal mehr vor dem Esoterikregal und ich starrte auf den Boden. Die Stille wurde unerträglich. Damien sagte nichts, versuchte nicht in meine Gedanken einzudringen. Und wenn doch, so geschickt, dass ich nichts davon merkte. „Es tut mir Leid“ murmelte ich schliesslich. Er schnaubte, einen Moment lang dachte ich aus Wut, doch dann gab er ein seltsames Geräusch von sich und ich sah auf. Er grinste, unterdrückte anscheinend ein lautes Lachen. Die Situation war absurd, wann hatte ich ihn zum letzten mal lachen sehen? Nicht dieses arrogante, distanzierte Grinsen. Lachen. Richtig fröhlich lachen? Wahrscheinlich vor der Explosion, als wir noch kindische Streiche spielten. Damiens lachen war nicht fröhlich, eher höhnisch, und es galt nicht mir. „Er war da, hat sich alles angesehen.“ Erklärte Damien schliesslich und befriedigte damit meine Neugier. „Er hat alles genau untersucht, wahrscheinlich weil er glaubte, ich hätte etwas übersehen.“ „Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich überflüssigerweise ein zweites mal. „Er war zu stark, ich konnte ihn nicht aufhalten.“ Die Erinnerung an das brennende Tor kehrte zurück. An das hilflose Gefühl, ich schüttelte den Kopf. „Maria,“ Damiens Stimme klang herablassend. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wie solltest du ihm auch standhalten, wenn er dich direkt mit Magie attackiert. Dir fehlt da definitiv das können.“ Ich starrte wieder auf den Teppich, liess die losen Haarsträhnen über mein Gesicht fallen und hoffte, dass Damien nicht merkte, dass ich rot wurde. „Ich habe dir doch gesagt, dass der Zettel ein Ablenkungsmanöver war, kein Grund nervös zu sein. Allerdings musst du in Zukunft lernen, deine Barrieren wieder aufzubauen. Als du aus Aquilas Büro kamst, musste ich kaum Magie anwenden, um zu sehen, was los war. Und das ist gefährlich.“ Ich nickte, trotz seiner beruhigenden Worte fühlte ich mich nicht besser. Ich hatte ihn nicht mal enttäuscht, er wusste von Anfang an, dass es so kommen würde. Damien seufzte: „Maria, was mache ich nur mit dir? Du musst endlich lernen, dich selbst zu behaupten. Es reicht nicht, wenn du dich klein machst und hoffst, dass dich keiner sieht.“ Seine Füsse setzten sich in Bewegung. Ich folgte ihnen mit den Augen dem Regal entlang und zurück. Hin und zurück, dann blieb er vor mir stehen. „Ich denke, Aquila wird dich in Ruhe lassen. Er denkt, er weiss alles. Und bis du auf dich selbst aufpassen kannst dauert mir zu lange. Also, beschleunigen wir das. Sieh mich an!“ Ich hob zögernd den Kopf. Damien sah mich direkt an, kühl und distanziert wie immer. „Ich habe Michelangelo zwar versprochen, auf dich aufzupassen, aber ich kann nicht immer da sein. Ich habe besseres zu tun, und Nathalie auch. Darum ein letzter Tipp: Traue niemandem, ausser dir. Kein Wort an irgendjemanden Lebenden. Wenn du dich ausheulen willst, richte dich meinetwegen an deine toten Freunde. Die Bibliothek war unscharf geworden. Ich fühlte Tränen über meine Wangen laufen und Damien wandte sich zum gehen. „Ach ja, solltest du die Bedeutung der Nummer herausfinden, komm zu mir oder vernichte das Buch. Bloss lass es Aquila nicht kriegen, ich mag den Typen nicht.“ Ich starrte ihm nach, obwohl ich ihn durch die Tränen kaum sah. Nachdem er verschwunden war, suchte ich mir einen Sessel, rollte mich darin zusammen und weinte. Es war einfach zu viel. Die Tränen halfen wenig. Ich will stark sein, ich will von Damien respektiert, gemocht werden. Ich will selbstständig sein, Aquila die Stirn bieten. Ich will Michelangelos Erwartungen erfüllen, übertreffen. Stattdessen manövriere ich mich von einer Katastrophe in die andere. Ich schrieb den Tagebucheintrag in der Bibliothek, unterbrochen von Heulkrämpfen. Das Tagebuch sollte mir Kraft geben, aber ich habe das Gefühl, es macht alles noch schlimmer. Beim schreiben durchlebe ich alles ein zweites mal, intensiver, mit der Zeit, mir Gedanken dazu zu machen. Damien, ich konnte ihn nie recht fassen. Aber eigentlich bin ich ihm einfach egal. Er versucht nicht mal, mir etwas vorzumachen. Ich sollte dafür dankbar sein, aber es schmerzt nur. Aquila hatte recht, und ich hasse ihn dafür. Er hat Damien durchschaut. Und mit Sicherheit war auch Nathalie nur nett, weil Damien sie gebeten hatte. Anders lässt sich ihr plötzlicher Wandel nicht erklären. „Wenn du heulen willst, tue das bei deinen toten Freunden.“ Er hat recht, wer will mir sonst zuhören? Aber wieso meine Freunde? Sind es nicht genauso die seinen? Am 16. jährt sich der Todestag. Zum 14. mal. Was wenn ich damals auch einfach gestorben wäre? Verdammt, verdammt, verdammt! Und ich habe nicht mal den Mut, dem ganzen ein Ende zu setzen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)