Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster von Arcturus (Eine Scheibenwelt-Wichtelgeschichte für JoeyB) ================================================================================ Anmerkung: In dieser Geschichte wird es in den einzelnen Kapiteln Fußnoten geben, die mit in Klammern gesetzten Zahlen markiert sind.(1) Ihr findet diese Fußnoten am Ende des jeweiligen Kapitels und in der Charakterbeschreibung ganz unten. Ich rate euch daher, entweder das Kapitel zwei Mal zu öffnen oder die Charakterbeschreibung offen zu lassen, während ihr lest, damit ihr nicht immer scrollen und blättern müsst, wenn ihr auf Fußnoten trefft. Nun wünsche ich euch aber viel Spaß bei der Geschichte. Alles hat einen Anfang. Irgendwo, irgendwie und meistens wurde es irgendwann blutig. Auch diese Geschichte hat einen Anfang. Diesen Anfang verdanken wir dem cleveren Geschäftsmann Sarschnelli Taschenleeri. Sarschnelli Taschenleeri hatte bereits vor einiger Zeit das Geschäft seines Vaters Imma Taschenleeri, einst ein Laden, in welchem Nilpferdfelle verkauft wurden, und das nicht besonders gut, übernommen und einige gewinnbringende Änderungen vorgenommen. Zunächst einmal hatte Sarschnelli erkannt, dass er mit Nilpferdfellen keine großen Einzelhandelssprünge würde machen können, denn Nilpferdfelle waren teuer und außerdem aus der Mode. Stattdessen hatte er sich nun einer neuen Zielgruppe verschrieben: Wenn er von den Eltern kein Geld bekam, dann versuchte er es eben bei den Kindern. Der Grund für diesen Sinneswandel war einfach wie effektiv: Er hatte selbst zwei Kinder, die immer dann, wenn er gerade kein Geld bei der Hand hatte (also quasi immer) mit großen leuchtenden Augen auf ihn zu kamen und ihn darum baten, ihnen etwas zu kaufen – eine von Treib-mich-selbst-in-den-Ruin Schnappers Würstchen, eine dieser modischen Hosen, die alle Kinder neuerdings gerne trugen, einen Hund, ein Pony... Und das Schlimmste daran: Er konnte nicht nein sagen. Aber gerade das brachte ihn auf die Idee. Wenn er als treusorgender Familienvater seinen Kindern nichts abschlagen konnte - wieso sollte es anderen Eltern anders ergehen? Und so kam es, dass Ankh-Morporks erster Spielzeugladen seine Türen öffnete, um Kinderherzen zu beglücken – und Eltern die Ankh-Morpork-Dollar aus den Taschen zu ziehen. Das System lief gut. Zuerst hatte Sarschnelli Taschenleeri lediglich Holzspielzeuge hergestellt. So zum Beispiel kleine Figuren, wie Handwerker-Zwerge, Diebe, Kaufleute und Wachen – dass letztere eine gewisse Ähnlichkeit zu Kommandeur Samuel Mumm aufwiesen und irgendwann dazu neigten, den Kopf zu verlieren, war natürlich nicht nur Zufall. Kommandeur der Stadtwache Samuel Mumm fand das selbstredend weniger lustig - aber dem Volk gefiel es und so folgten diesen Figürchen bald Ringe, die man um seine Hüfte kreisen lassen konnte, Seile, mit denen man springen konnte, Karten, auf denen bunte Bilder gemalt waren, mit denen man spielen konnte (mit Lord Vetinari als stärkste Karte, natürlich), Kugeln aus Schlamm (natürlich frisch aus dem Ankh hinterm Haus) die in verschiedenen Farben glitzerten und rochen und die man nach Belieben formen oder nach (un)schuldigen Passanten werfen konnte. Der große Durchbruch aber erfolgte erst vor einem Monat. Die Idee hatte sein Sohn. Warum sollte man nur mit zehn Zentimeter großen Figuren Kämpfen spielen, wenn man auch größere Figuren benutzen konnte, die man nicht selbst bewegen musste? Ob in Ikonographen, Uhren oder Disorganizern - Kobolde gab es schließlich genug. Man musste ihnen lediglich eine Reihe von Bewegungsabläufen einspeichern. Und so entwarf Sarschnelli Taschenleeri eine ganze Reihe unterschiedlicher Figuren, die er in Ton brannte. Statt ihnen Worte in den Kopf zu legen, setzte er ihnen jedoch eben jene kleine Dämonen ein. Heraus kamen Wesen, die auf ihren Besitzer ohne Zweifel und ohne Widerworte(1) hörten und die ordentlich zuschlagen konnten. Er nannte seine Kreation Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster. Monster, weil viele der Tongeschöpfe eben diesen nachempfunden waren.(2) Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, weil die Tonmonster mit einer Durchschnittsgröße von dreißig bis vierzig Zentimetern schlicht in kaum eine Tasche passten. Es muss nicht erwähnt werden, dass diese Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster reißenden Absatz fanden, denn die meisten Kinder hatten von ihren Eltern ein gewisses Interesse daran geerbt, es lustig zu finden, wenn Anderen – in diesem Falle anderen Nicht-in-die-Tasche-passen-Monstern – Schmerz zugefügt wurden. (Die Betonung lag natürlich auf anderen - wenn man selbst Opfer eines solchen Angriffs wurde, fand man das sehr schnell nicht mehr lustig und schrie nach den Gilden und – wenn man niemand anderen fand – der Wache.) Allerdings erkannten einige findige Leute schon bald, dass diese Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster nicht nur anderen Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster Schmerzen zufügen konnten. Sarschnelli Taschenleeri hegte nachvollziehbarer Weise kein Interesse daran, seine neue Geschäftsidee in den Wind zu blasen, allein schon, weil seine Tochter sich nun nicht nur über ein Mini-Pony freute, sondern über einen Reitstall, und sein Sohn nicht nur einen Schoßhund sein Eigen nannte, sondern zwei Hunde, die ihn beinahe überragten und die die Köpfe auf den Tisch legen und sich die Rattenwurst schnappen konnten, ohne betteln zu müssen. Seine Frau hatte zudem nun endlich das schöne große Haus mit den Dienern, die sie schon immer wollte und ehrlich - was ging es ihn an, wenn ein Zwerg zusammengeschlagen auf der Straße liegen blieb?(3) *** Samuel Mumm, Kommandeur der Stadtwache, sah das ein wenig anders. Das hatte zweierlei Gründe: Einerseits folgte der Welle an zufriedenen Kindern eine Welle an Verbrechen, die es aufzuklären galt, was sich als äußerst schwierig erwies, wenn nicht gerade ein Verbrechen auf frischer Tat erwischt worden war. Die Gründe waren denkbar einfach: ob nun ein Mensch zutrat oder ein Zwerg zuschlug oder ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster – das Ergebnis war dasselbe. Und was noch schlimmer war (also zweitens:) diese Wesen verletzten nicht nur einander oder arme schuldige Bürger,(4) sondern auch Wächter. Allein in der letzten Woche hatte es sieben seiner Leute erwischt. Er dachte um. Trolle waren seine Männer der Stunde, wenn er wusste, dass sie bei einem Einsatz mit den Nicht-in-die-Tasche-passen-Monstern zu tun haben würden. Der Gedanke war simpel: einem Menschen konnte man die Schienbeine, Oberschenkel und Kniescheiben brechen, wenn man herzhaft dagegen schlug. Bei einem Zwerg erwischte es vermutlich eher den Kopf. Alles in allem war das jedoch sowohl für Menschen als auch für Zwerge ziemlich schmerzhaft und nicht unbedingt förderlich, wenn es um die Arbeitsmoral ging. Wer sich krankschreiben ließ, kam vielleicht nie wieder.(5) Trolle hingegen waren von Natur aus resistenter, der Silizium-Verbindungen wegen. Außerdem brauchten sie nur einmal das Bein zu heben und dann wieder aufzustampfen - bei der durchschnittlichen Höhe eines Trolls im besten Alter und einem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monsters, von denen die Größten lediglich rund einen halben Meter groß waren, (Wegen den Kindern. Sarschnelli Taschenleeri war zwar auf das große Geld aus, aber Kindern Spielgefährten zu geben, welche sie um einen Meter überragten und so nicht nur Kniescheiben und Schienbeine bedrohte, sondern auch alles, was naturgemäß höher lag, wollte er nicht.(6)) war es eine einfache Rechnung. Jedenfalls: Diese Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster waren ein akutes Problem. Das sah zwar Vetinari ähnlich – sie hatten am Morgen im rechteckigen Büro gestanden und lange geschwiegen – aber es war nicht das einzige Problem, dass beide sahen. In der gesamten Stadt gab es mittlerweile wohl mehrere hundert Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster – das heißt, hunderte Kinder mit großen unschuldigen Augen, die weinten, um sich schlugen und bissen, wenn man ihnen ihre Spielzeuge wegnehmen wollte. Und da waren noch die Eltern. Große, nicht ganz so unschuldige Erwachsene, die mit einem schweren Knüppel(7) hinter einem auftauchten, wenn man es versuchte. Kurzum: außer den Betroffenen und der Wache wünschte kaum jemand, dass diese Wesen wieder vom Markt und somit aus der Stadt verschwanden. Mumm selbst hatte sich in das Hauptgebäude der Wache am Pseudopolisplatz zurückgezogen und dachte nach. Gerne hätte er gesagt, dass er an einer Lösung des Problems grübelte und irgendwie tat er das ja auch, vielleicht mit etwas verschobenem Blickpunkt. Vor ein paar Tagen hatte sich Sybil zwei dieser Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster gekauft. Sie waren nicht groß, gerade einmal zehn Zentimeter. Sybil fand sie niedlich. Er nicht. Nicht, seitdem eines der Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster ihm beinahe den Finger gebrochen hatte, als er es berühren wollte. Aber Sybil fand sie niedlich. Und sie spielten so schön mit den Drachen. Es käme auch nur ganz selten zu einer Explosion. Seiner Meinung nach war das kein Spielen, sondern ein Kampf ums Überleben – während die Sumpfdrachen die kleinen Tonfigürchen als willkommene Zwischenmahlzeit ansahen, waren die Kobolde im Innern nicht sonderlich erpicht darauf, im Bauch eines dieser explosionsgefährdeten Tiere zu landen. Verdauung war genauso wenig eine Option, wie in die Luft gejagt zu werden. Und so rannten die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster in den Pferchen von einer Ecke zur anderen und mehrere hungrige Sumpfdrachen hüpften freudig hinter ihnen her, bis sie sich vor lauter Freude selbst entzündeten. Und das fand Sybil niedlich. Er seufzte. Frustriert griff er nach einem der Berichte im Eingangsfach, sah auf die Schrift und warf das Papier noch frustrierter zurück auf den Stapel. So konnte das nicht weiter gehen. Er musste eine Möglichkeit finden, die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster aus der Stadt zu werfen – und aus Sybils Sumpfdrachenstall. Möglichst, bevor ein Unglück geschah. *** Auf Patrouille mit Karotte Eisengießersohn zu gehen war schwierig. Diese Meinung war in den letzten zehn Minuten in Kettil Wagenreißer gereift. Es waren zehn sehr, sehr lange Minuten gewesen. Angefangen hatten sie damit, dass Karotte ihm, Kettil, einem der neuen Zwerge in der Wache, zeigen wollte, wie man auf Patrouille ging. Dann hatten sie das Wachhaus am Pseudopolisplatz verlassen. Seitdem hatte Kettil zwei Dinge gelernt: 1.) Karotte grüßte jeden, den er kannte. 2.) Karotte kannte jeden. Sie waren nicht weit gekommen, denn die Straßen waren voll. Das lag an der Uhrzeit, hatte Karotte ihm gesagt. Es war gerade Nachmittag und fast jeder Bewohner Ankh-Morporks schien auf den Beinen zu sein, um noch ein paar Besorgungen zu verrichten, bevor man sich in sein sicheres Heim zurück zog, oder um von seiner Arbeitsstätte nach Hause zu gehen, wo bereits warme Wassersuppe und leckeres Kantenbrot(8) auf ihn warteten. Kettil jedenfalls hatte in diesen zehn Minuten bereits mehr Ankh-Morporkianer kennengelernt, als während der zwei Wochen, die er nun hier war, zusammen. Gerade hatte Karotte wieder die Hand eines Mannes ergriffen und schüttelte sie artig. "Guten Tag Herr Allesmeins. Was macht die Arbeit?" "G-g-g-gut, H-h-h-herr", stotterte der Angesprochene, Angstschweiß auf der Stirn. Kettil verstand nicht ganz, weshalb, fand das Ganze aber befremdlich. Karotte hingegen schien von der Furcht seines Gegenübers nichts zu bemerken. "Und die Kinder sind wohl auf? Deine Ehefrauen auch?" Allesmeins versuchte, sich aus dem Griff des zwei Meter großen Zwerges zu befreien, ohne dabei zu unhöflich zu wirken, und scheiterte. "J-j-j-ja, H-h-h-h-herr." "Und Du stiehlst auch nicht wieder ohne Lizenz?" "N-n-nein, H-h-h-herr." Kettil, der erst seit gestern in der Wache war, stutzte. Der Mann zitterte nicht nur, er wurde auch noch rot und das schien nicht an den verstärkten höflichen Fluchtversuchen zu liegen. Er erkannte Lügen nicht sonderlich gut, aber die hier roch er mit dem Wind. "Das ist gut, Herr Allesmeins. Ich wünsche Dir noch einen guten Tag. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder." Karotte klopfte dem zitternden Gauner wohlwollend auf die Schulter, dann entließ er ihn lächelnd. "J-j-ja, H-h-herr." Kaum aus Karottes Griff entlassen, rannte Herr Allesmeins schneller, als Kettil ihm zugetraut hätte. Kettil sah zu Karotte auf. "Warum lässt Du ihn gehen? Er hat doch gelogen, oder?", fragte er zögerlich. Es war erst sein zweiter Tag, doch so nett Karotte auch war – irgendetwas in ihm wollte es nicht, dass er sich diesem Mann gegenüber einen Fehler erlaubte. Karotte jedoch schüttelte nur leicht verwundert den Kopf. "Aber nein. Herr Allesmeins ist ein herzensguter Mann. Warum sollte er uns belügen?" Kettil fielen ohne Nachzudenken mehr Gründe ein, als er Finger an der Hand hatte. Er kam nicht dazu, Widerworte anzubringen. Irgendwo krachte es. Es klang, als würde etwas Hartes gegen etwas nicht ganz so Hartes klatschen. Das Harte könnte Ton sein. Es krachte erneut. Ja, ganz sicher Ton. Kettil wohnte unter einer Töpferei. Er wusste, wie sich Ton anhörte, wenn er auf etwas weiches schlug. Der Töpfermeister warf jeden Abend die fehlgeschlagenen Brennversuche seiner Lehrlinge nach selbigen. Und er war gut im Treffen. Kinderstimmen jubelten. Karotte und Kettil tauschten keine Blicke miteinander. Sie brauchten es nicht. Das war eine Eigenschaft, die jeder Wächter entwickelte, sobald er in die Wache eintrat. Jeder Wächter wusste, was er zu tun hatte, wenn er auf Patrouille war. Wächter gingen gemeinsam in den Kampf. Wächter rannten gemeinsam davon. Es war eine eigene Sprache. Eine Sprache ohne Wörter, ein Spiel aus Gesten und Instinkten.(9) Kettil ließ Hauptmann Karotte den Vortritt, blieb jedoch dicht hinter ihm, denn noch etwas hatte er sehr schnell gelernt: Die Leute hatten vor Karotte Respekt. Vielleicht sogar Angst. Er nahm an, dass das an Karottes Größe lag: er war ein zwei Meter großer Zwerg und damit größer als die meisten Zwerge und viele Menschen. Er war auch breiter als die meisten Zwerge und Menschen. Auch wenn er die Gründe nur vermuten konnte, wusste er doch eines ziemlich sicher: Er war nur ein ganz normaler Zwerg, der vor kurzem in die Stadt gekommen war. Wenn er darauf hoffte, dass jemand vor ihm zurück wich, weil er jetzt in der Wache war, brach man ihm unter Umständen gleichermaßen empfindliche wie wichtige Gliedmaßen. Vor Karotte hingegen hatten die Leute Respekt. Sie überlegten es sich, ob sie ihm die Axt wirklich ins Gesicht rammen wollten. Bald kam eine Gruppe Menschen in Sicht, eine jener Trauben, die sich immer dann zusammen scharrten, wenn es etwas zu gaffen gab. Die meisten waren Kinder – und ab da wurde es ungewöhnlich. Während Karotte den Größenvorteil auf seiner Seite hatte, traf dies auf Kettil nicht zu und so war er dazu gezwungen, sich zu entscheiden – relative Sicherheit oder Befriedigung des Rechtsbewusstseins? Karotte nahm ihm diese Entscheidung ab. Kettil wusste nicht, was sein Kollege erkannt hatte, das ihm verborgen blieb, doch es brachte ihn dazu, einzuschreiten. Er zog seine Dienstmarke, hielt diese hoch und bahnte sich mit einem "Stadtwache, bitte tretet zurück!" seinen Weg. Das Kielwasser, das Karotte hinterließ, war breit genug für Kettil, um diesem eilig zu folgen, bevor sich der Kreis wieder schloss. Im Kreis angekommen musste der Zwerg nur noch an Karotte vorbei schauen, um sich ein Bild machen zu können. Das Erste, was er feststellte, war: Er hatte mit seiner Vermutung, da würde etwas aus Ton auf etwas, das nicht aus Ton bestand, treffen, Recht gehabt. Auch fand er bestätigt, dass dieses, was nicht aus Ton war, wesentlich weicher war. Es war ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster. Gelb lackiert, vierzig Zentimeter groß. Sah aus wie eine unförmige Ratte, die er nicht auf dem Teller haben wollte, und eigentlich mochte Kettil Rattenfleisch.(10) So weit war alles in Ordnung. Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster-Kämpfe gab es in letzter Zeit recht oft. Und ab und an waren auch kleinere Hunde oder größere Ratten das Ziel. Die Sache hatte nur einen Haken: Der Gegner der gelben Ratte war kein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster. Es war auch kein kleinerer Hund und keine größere Ratte. *** Während nicht weit entfernt vom Pseudopolisplatz zwei Wachen ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster und seinen Besitzer festnahmen, ahnte Sarschnelli Taschenleeri davon noch nichts. Er befand sich noch in seinem Laden in der Freudentränenstraße.(11) Der Tag war noch nicht ganz vorüber, aber bald, und er war erfolgreich gewesen. Das Geschäft brummte. Kinder mit ihren Eltern liefen ihm beinahe die Türen ein, nur um eines(12) der begehrten Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster zu bekommen. Die Tonwesen waren teuer. Dementsprechend wollte jedes Kind eins haben. Die ärmeren Eltern kauften ihren lieben Kleinen nur die kleinen Figuren, die er oft im Sonderangebot hatte. Das richtige Geld machte er mit den großen Figuren, denn man war natürlich im Vorteil, wenn das eigene Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster in einem Kampf dreimal so groß war wie das des Gegners - es war nämlich in der Regel auch dreimal so stark. Außerdem: Es war nur Ton und im Gegensatz zu Golems konnte man nur geringfügige Beschädigungen reparieren. Kinder ließen das gerne außer Acht, wenn sie ihre Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster aufeinander losließen.(13) Die Glocke über der Ladentür bimmelte fröhlich und Sarschnelli überlegte, ob er anbauen sollte. Er fertigte seine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster im Hinterhaus des Geschäftsgebäudes, mittlerweile mithilfe seiner beiden Schwestern. Doch die Nachfrage war groß. Nicht nur Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster wurden gekauft, wenn man schon einmal da war. Langsam wurden seine Lager zu klein. Außerdem lag sein Geschäft in einer recht hübschen Gegend. Saubere Fassaden. Der Dreck lag in der Straße nur ein paar Zentimeter hoch, wenn der Ankh nicht gerade zu viel Schlamm führte. Man wurde nur von der Diebesgilde überfallen. Nach Absprache, natürlich. Keine unlizensierten Diebe. Kein kniehoher Dreck, der einem Löcher in die neuen Stiefel fraß. Hier ließ es sich gut leben. Er könnte noch ein paar Etagen auf das Erdgeschoss setzen, dann wäre auch für seine Familie genug Platz, als Zweitwohnung. Er hätte wieder Zeit für seine Frau. Und für Aktivitäten im Bett.(14) Zwei Männer kamen zu ihm an die Kasse. Er musterte sie abwesend, in Gedanken bei seinen immer größer werdenden Zukunftsplänen. Vielleicht konnte er eins der Nachbargebäude kaufen und es in einen Pferdestall umbauen, denn der aktuelle lag beinahe schon außerhalb der Stadtmauern, ziemlich weit weg. Seine Tochter musste immer durch die Stadt, um zu ihren Lieblingen zu kommen und dort hatte er sie nicht im Blick.(15) "Bitteschön, die Herren? Was darf's denn sein? Eine Puppe für die Tochter vielleicht?" Die Männer hatten keine Kinder dabei. Geld für das andere Nachbargebäude hatte er sicher auch noch, oder konnte es sich verdienen, er musste nur seinen Schwestern weniger Lohn auszahlen. Seine Frau hatte schon immer einen eigenen Laden haben wollen, in der sie Schönheit gegen Geld anbieten konnte. "Oder lieber ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster für den Sohn?" Die Männer sahen auch nicht so aus, als wollten sie irgendetwas kaufen. Und wenn seine Frau gut verdiente, dann würden sie noch mehr Geld haben. Vielleicht reichte es dann für die weitere Anbauten. Ein ganzes Produktionsgelände. "Nicht?" Irgendwer schrie. *** (1) Die Kobolde hätten widersprechen können, wenn sie es gewollt hätten. Immerhin hörte man auch aus diesen Tonwesen immer wieder Sätze wie „Du musst erst den Knopf drücken, du Dummkopf!“ Da sie aber weder Phantasie noch ein Moralverhalten besaßen, wie es für den Satz „Nein, ich möchte den kleinen Timmy nicht schlagen und ihm auch nicht alle Knochen im Leib brechen und ihm nicht die Haut abziehen und ihn nicht in ein Fass voll mit Würsten von T.M.S.I.D.R. Schnapper stecken.“ notwendig gewesen wäre, verzichteten sie einfach darauf. (2) Eines hatte überraschend viele Tentakel, Saugnäpfe und Schnäbel, ein anderes hätte ein Miniatur-Mensch sein können, wäre es nicht so furchtbar hässlich gewesen. (3) Das passierte immerhin jeden Tag, auch ganz ohne sein Zutun. (4) Langjährige Stadtwachenerfahrung hatte Mumm unter anderem folgendes gelehrt: Es war klüger, davon auszugehen, dass zunächst einmal jeder eines Verbrechens schuldig war, auch wenn man noch nicht wusste, um welches es sich genau handelte. (5) Das war vielleicht nicht unbedingt die Schuld des Kranken, sondern die des Arztes. Das Ergebnis blieb allerdings dasselbe. (6) Außerdem hatte er noch keine wirksame Methode gefunden, dafür zu sorgen, dass Dämonen Tonkörper einer größeren Größe steuern konnten - bei fünfzig, maximal einundsechzig Zentimetern war Schluss, wenn er nicht mit Ausfällen und Bewegungsstörungen Vorlieb nehmen wollte. (7) Oder mit einem Nudelholz, mit dem man Zwergenbrot bearbeitet hatte. (8) Eine besondere Art von Brot, die fast ausschließlich aus Kanten besteht. An unnötigem, weichem, beißbarem Inneren wurde gespart. Immerhin war es billig. Allerdings wurde man davon nicht satt, weil man sich zuvor die Zähne daran ausbiss, was das Kauen des Kantens übermäßig erschwerte. Die Gilde der Zahnärzte freute dies allerdings, weshalb sie monatlich zehn Ankh-Morpork-Dollar an die zuständigen Bäcker spendeten. (9) Besonders die Instinkte sind hierbei interessant, denn in solchen Situationen wie die, in der Kettil und Karotte sich gerade befanden, sind vor allem zwei Aspekte von herausragender Wichtigkeit: Kampfesgeist und Flucht. Solange man nämlich mindestens zu zweit war und sich hinter dem anderen halten konnte, konnte man ruhig in die Gefahr gehen und seine Neugierde befriedigen, denn man war in der Regel nicht der Erste, der dem Gegner gegenüber trat. Logischerweise war man dann auch nicht die arme Sau, die einem Schlag standhalten musste, welcher einem die Nase brechen konnte. Auf der Flucht hingegen wurde man weit weniger häufig gefressen/verprügelt/von Tentakeln in irgendwelche ekligen, dunklen, stinkenden Löcher gezogen – zumindest wenn man schneller war, als der jeweils Andere. Dies Instinkte traf auf Hauptmann Karotte zwar nur bedingt zu, aber Kettil hatte auch nicht vor, vor Karotte zu treten oder langsamer zu laufen als dieser. (10) Aber nur mit viel Ketchup. Oder in der Suppe, ebenfalls mit viel Ketchup. (11) Niemand wusste so genau, woher die Straße ihren Namen hatte. Man munkelte, es läge an den wohlduftenden Gerüchen, die vom Ankh auf der anderen Seite der Häuserreihe herüber wehten, die einem vor allem im Sommer so manche Träne ins Auge trieben. (12) Oder auch zwei, drei oder zehn. (13) Außerdem heulte der Gegner so schön, wenn man sein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster kaputt machte. (14) Für letzteres benötigte er seine Frau nur bedingt, ein paar hübsche Näherinnen taten es auch. (15) Und seine Tochter kam langsam in das Alter, in welchem sie Interesse am anderen Geschlecht finden könnte. Oder am eigenen. Sam Mumm rieb sich die Schläfen. Karotte hatte ihn geholt. Er sei mit einem dieser neuen Zwerge, die erst gestern eingetreten waren, Karotte hatte den Namen genannt, aber Mumm hatte darauf verzichtet, ihn sich jetzt schon zu merken, er würde ihn noch oft genug hören, auf Patrouille gewesen. Sie hätten jemanden festgenommen und er solle sich das mal ansehen. Er war ihm in einen der Räume gefolgt, in denen sich die Wachen in der Nachtschicht aufhalten konnten, wenn es nichts zu tun gab. Es gab in dem Raum nicht viel. Einen Schrank, einen Tisch, vier Stühle, einer davon nur noch mit drei Beinen, vier Betten, der neue Zwerg, von dem Karotte geredet hatte, ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, sein gelbes Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster fest an die Brust gedrückt. Ein weiterer Junge, im selben Alter, lag auf einem der durchgelegenen Betten. Es war nicht zu erkennen, ob er gerade schlief, starb oder heulte. "Karotte, der Junge ist wie alt? Acht? Du nimmst einen Achtjährigen fest?" "Er ist elf, Herr", antwortete Karotte gelassen. "Es ist der Raphaeleo vom Wunderlichtermacher aus der Dunkelstraße." "Hat er Dir das gesagt?" "Ich kenne den Herrn Bringbunteslicht, seinen Vater, Herr." Sam nickte. Karotte kannte viele Leute. "Was hat er gemacht, dass Du ihn verhaftest?" Karotte warf einen Blick zu dem Jungen auf dem Bett. "Er hat seinem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster befohlen, den Axel vom Herrn Schweiß aus der Lichterstraße zusammenzuschlagen, Herr." "Herr Schweiß? Ist das der, der immer so sehr...?" "Ja, Herr. Ich glaube, der Axel hat eine Kopferschütterung, Herr." Eine Kopferschütterung?, dachte Sam. Mit Kopferschütterungen war nicht zu spaßen. Aber eine Frage tat sich ihm auf. "Wie kommt es dazu? Hat Raphaello sein Monster auf Kopfhöhe gehalten?" "Er heißt Raphaeleo, Herr. Der Axel hat auch zwei gebrochene Schienbeine. Und einen gebrochenen Oberschenkel." Das machte Sinn. Auch eine vierzig Zentimeter hohe Tonratte konnte dir den Kopf durchschütteln, wenn du auf dem Boden lagst. "Lass einen Arzt kommen, Karotte." "Ist bereits unterwegs, Herr. Die Eltern habe ich auch schon informieren lassen, werden bald hier sein, denke ich." "Gut." Mumm musterte Raphaello. Der Junge war nicht besonders groß. Er war auch nicht sonderlich muskulös. Aber seine Kleidung verriet, zu welcher Gruppe der Bursche gehörte. Die Hosen waren teuer. Das weiße Hemd auch. Durch die Stiefel spürte er bestimmt nicht das Kopfsteinpflaster der Straßen und nass wurden seine Füße sicher auch nicht. Wenn er in ein paar Jahren ein Erwachsener sein würde, würde er Trolle kaufen, um seine Gegner von seiner Meinung zu überzeugen. Vielleicht würde er die Trolle auch einfach nur auf Platte setzen und erwarten, dass die Trollhirne dadurch schon leer genug würden, um von selbst auf den Gedanken mit den geballten Fäusten und den Knüppeln mit Nägeln drin zu kommen. "Möchtest du irgendetwas zu dem sagen, was Hauptmann Karotte eben berichtet hat, Raphaello?" Der Junge schob das Kinn vor. "Ich heiße Raphaeleo! Und wenn du mir mein Rattschu wegnimmst, sag ich das meinem Vater!" Vielleicht hatte Mumm sich geirrt. Wenn der Bengel erwachsen war, würde er keine Trolle bezahlen oder auf Platte setzen, damit sie seinen Gegnern die richtige Meinung beibrachten. Sein Vater würde es für ihn tun. *** Sarschnelli Taschenleeri bemerkte, dass ihn die Stricke um seine Handgelenke und Fußknöchel nicht mehr fesselten. Er stand erleichtert auf und rieb sich die Arme. Diese Seile hatten ziemlich in seine Haut geschnitten. Auch die Schläge, die diese Kerle ihm verpasst hatten, hatten ziemlich weh getan. Während sein Bewusstsein sich gerade fragte, wieso er die Schmerzen nicht mehr spürte, war sein Unterbewusstsein bereits ein paar Schritte weiter und veranlasste seine Augen dazu, nach unten zu blicken. Er blinzelte. Unter ihm lag ein Körper. Die Hände auf den Rücken gefesselt, die Beine zusammengebunden und ein ziemlich großes Loch im Kopf. Er realisierte zwei Dinge auf einmal: 1.) Dieser Körper hatte eine faszinierende Ähnlichkeit mit seinem Körper. 2.) Er stand in diesem Körper. In. Nicht auf. Eilig sprang er einen guten Schritt zurück und wäre beinahe gefallen, hätte nicht etwas seinen Sprung abgefangen, als er zu stolpern begann. "A-aber! I-ich habe ihnen doch alles gesagt!" JA, DAS HAST DU, stimmte ihm jemand hinter ihm zu. Seine Stimme klang wie seine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, bevor er einen Kobold darin gebunden hatte. "I-ich h-habe ihnen doch gesagt, wie man die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster herstellt!" JA, DAS HAST DU, sagte die knöcherne Stimme erneut. "A-aber w-warum haben sie das dann getan? I-ich habe ihnen doch alles gesagt!" ICH GLAUBE, SIE WOLLTEN DEIN GEHEIMNIS NICHT MIT DIR TEILEN. Sarschnelli nickte bedrückt. "W-Wie s-soll meine Familie denn jetzt überleben?" SIE KÖNNTEN EINES DER PFERDE VERKAUFEN. ODER EINES ESSEN. "A-aber A-annabelle hängt an ihrem Sternenfeuerwind vom Heilgenwasser!" SIE KÖNNTEN EINES DER ANDEREN PFERDE VERKAUFEN. ODER EINES DER ANDEREN ESSEN. "A-aber A-annabelle hängt auch an Schneeblitzsönnchen von Lichterglanz und an Glöckchenprinzessin von der Maienweide und an Nichtvetinari dem Dritten von Gutezuchtgäulehier!" TUT MIR LEID. "Wie erkläre ich das nur meiner Frau?" DIR WIRD SCHON ETWAS EINFALLEN. DU WIRST GEWISS EIN WENIG ZEIT HABEN, WEISST DU? "G-glaubst D-du?" ICH GLAUBE ES NICHT. ICH WEISS ES. „O-oh, n-natürlich.“ Sarschnelli und die Stimme schwiegen. Während sie schwiegen, musterte der Spielzeugverkäufer erst die Leiche mit dem großen Loch im Kopf, also sich selbst, dann seine eigenen Füße, die merkwürdig durchsichtig erschienen und dann seine Hände, die ebenso blass waren. Er versuchte auch, sich die Hand auf seiner Schulter näher anzusehen. Er musste dafür den Nacken ganz schön drehen. "S-sag m-mal, warum ist Deine Hand so knöchrig?" DAS IST EINE LÄNGERE GESCHICHTE. „O-oh, a-achso.“ Sarschnelli schwieg. Ein Gedanke bildete sich gerade in seinem Bewusstsein und dieser brauchte Platz. Vorsichtig, so, als wüsste er nicht, ob er wirklich sehen wollte, was er sehen würde, drehte er sich um. Eine groß gewachsene Gestalt stand dort. Zweifelsohne gehörte die knöcherne Hand ihr. Sie hatte auch knöcherne Füße. Die Beine, den der Körper und die Arme wurden von einem schwarzen Umhang umhüllt, waren aber sicherlich ebenso knöchern. Die Gestalt grinste, aber ihr blieb aufgrund fehlender Haut- und Muskelschichten auch nicht viel anderes übrig. In den Augen leuchteten blaue Tiefen. „O-oh.“ SIEHST DU? *** Der gesamte Gebäudekomplex war weg. Gut, nicht weg wie ganz weg, aber weg wie „Bitte reiß es ein, dann kannst du hier billig bauen“ weg. Niedergebrannt. Auch die Nachbarhäuser standen nicht mehr. Zum Glück war der Ankh nicht weit, sodass die Anwohner genug Schlamm auf die Flammen hatten werfen können, um sie zu ersticken, denn sonst stünde Ankh-Morpork jetzt nicht mehr. Im Inneren hatte man drei Leichen gefunden. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Vermutlich waren es der Besitzer und seine zwei Schwestern, aber man würde es erst genau wissen, wenn die Rechtsmedizin etwas heraus fand, sagte Karotte. Mumm spuckte aus. Natürlich waren das der Besitzer und vermutlich waren es auch seine zwei Schwestern, die hier für Billiglöhne gearbeitet hatten. Man hatte gesehen, dass zwei Männer in den Laden gegangen waren. Die Kunden hatten zu diesem Zeitpunkt begriffen, dass es klüger war, das Weite zu suchen, sagte der Verkäufer von Gegenüber. Der Rest war einfach: Die Kunden hatten begriffen, dass sie besser verschwanden - der Ladenbesitzer nicht. Die Männer hatten den Laden verwüstet und Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster und anderes Spielzeug auf die Straße geworfen. Anschließend hatten sie sich Taschenleeri gepackt, ihn in die Produktionsstelle im Hinterhaus gezerrt und die Hütte angezündet - und seinen Inhaber und dessen Schwestern gleich mit. Die Frage war nicht, was geschehen war, die Frage war, wer ihnen den Spielzeugverkäufer vom Hals geschafft hatte. Die Flammen hatten die ganze Nacht gewütet. Eine Nacht, in der Mumm nicht viel Schlaf gehabt hatte, denn er war vor Ort gewesen und hatte, genau wie die Wächter, die er mitgenommen hatte, geholfen, Schlamm zu schütten. Geschlafen hatte er nur in den Augenblicken, nachdem er einen Eimer weiter gereicht hatte und bevor er den nächsten Eimer in die Hand gedrückt bekam. Jetzt stand er mit Karotte im ehemaligen Lagerhaus, beziehungsweise dem Teil des Lagerhauses, das noch stand. Die Mauern waren aus Stein gewesen, jetzt schwarz vor Ruß, aber sie standen noch. Auch das Dach hatte gehalten. Wenn man jetzt hoch sah, sah man durch die rußgeschwärzten Balken den grauen Himmel, aber man sah die Balken noch. Das wiederum bedeutete, dass sie einem zwar jederzeit auf den Kopf fallen konnten, aber zumindest im Moment nicht im Weg lagen. "Wenn Du mich fragst, sollten wir uns freuen", murmelte er, während er gegen etwas trat, das mal ein Dachziegel gewesen sein mochte. Karotte, am anderen Ende der kleinen Halle, drehte sich zu ihm um. "Aber der Herr Taschenleeri wurde verbrannt, Herr. Es ist ein Mord geschehen!" Natürlich war es das. Aber Morde geschahen ständig. Zumeist unter den wachen Augen der Assassinengilde. Wenn es nach Mumm ging, sollte man es auch den Assassinen überlassen, den Täter zu finden. Es war gewiss ein unlizenzierter Mord. Und wenn er lizenziert war, dann war es ohnehin nicht sein Problem. "Ja, Karotte. Aber denk mal nach. Wer auch immer Taschenleeri und seinen Laden in Brand gesteckt hat – er hat der Stadt einen Gefallen getan." "Herr?" "Die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, Karotte. Nur Taschenleeri wusste, wie man sie herstellte." Und damit war die Rechnung für Mumm einfach: Wenn keine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster mehr hergestellt werden konnten, dann erledigte sich das Problem irgendwann von selbst. Sybil hatte ihm eine Nachricht geschrieben. Einer ihrer Drachen hatte eines der Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster gefangen, gefressen und war anschließend explodiert. Das andere Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster hatte einen Drachen erwischt, schwerer Schlag in den Bauch. Diese Explosion würde sowohl dem Sumpfdrachen als auch dem Kobold dauerhaft in Erinnerung bleiben.(16) Und so würde es auch den anderen Nicht-in-die-Tasche-passen-Monstern ergehen. Gut, vielleicht wurden sie nicht gerade von neugierigen Sumpfdrachen gefressen, aber irgendwann gingen sie kaputt. Sie waren nur aus Ton. Und dann würde Ruhe herrschen. Es war tragisch für Sarschnelli Taschenleeri, ja. Man hatte ihn bei lebendigem Leibe verbrannt. Irgendwer war der Meinung gewesen, dass er seine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster besser nicht weiter verkaufen sollte. Und damit ging Mumm konform. Die Täter sollten vielleicht einen Orden erhalten. "Herr?" "Ja, Karotte?" "Ist dir schon aufgefallen, dass das Lager leer ist? Hier müssten doch Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster gewesen sein, oder? Aus der aktuellen Produktion. Aber sieh Dir an, was hier ist. Ein paar zertrümmerte Tonfiguren, ja. Aber müsste es hier nicht voller sein? Das Lager ist leer, Herr, wenn man von den gebrannten Dachziegeln absieht." Mumm zuckte mit den Achseln. Ein Gedanke kratzte an seinem Hinterkopf und bat um Einlass, doch er wusste, was für ein Gedanke es war. Hastig schlug er die mentale Tür zu. "Vermutlich hat er die letzte Produktion gerade verkauft. Vielleicht haben die Kerle sich auch ein Souvenir mitgenommen oder sie wollen die Monster noch verkaufen und sich damit eine goldene Nase verdienen. Sag den Assassinen, sie sollen nach Leuten Ausschau halten, die die Tonviecher verkaufen." Karotte runzelte die Stirn. „Herr?“ „Nein, Karotte.“ Einen Moment lang tauschten die beiden Männer eine Geste. Sie sahen sich nicht an. Beide blickten zu der einen zerbrochenen Tonfigur, die in ihrer Nähe lag. „Überlass es den Assassinen, Karotte. Die Täter sind vorne rein, haben Chaos gestiftet, Feuer gemacht und sind auf demselben Weg wieder raus. Und selbst wenn – sobald neue Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster in den Handel kommen, haben wir den Täter. Oder zumindest den Trottel, dem sie die Informationen verkauft haben, und wenn wir den haben, haben wir die Täter früher oder später auch.“ Karotte nickte und sah nur ein wenig widerwillig aus. *** „Du bist Herr Michaeleo Bringbunteslicht aus der Dunkelgasse, richtig?“, fragte Kommandeur Mumm. Er wollte dieses Gespräch nicht führen, doch er würde es müssen. Der Mann, der auf der anderen Seite seines Schreibtisches stand, nickte. „In der Tat. Du bist Samuel Mumm?“ „Für Dich Kommandeur Mumm, Herr Bringbunteslicht.“ Während Fred Colon neben ihm saß und so tat, als würde er nicht mit offenen Augen schlafen(17) musterte er den Mann vor ihm. Er war nicht viel größer als sein Sohn Raphaello, was Mumm zu dem Schluss kommen ließ, dass entweder die Mutter eine ziemlich große Frau oder eine sehr kleine Riesin sein musste. Oder er war einfach nicht der Vater und wusste es nur noch nicht. Ansonsten traf Herr Bringbunteslicht das Bild des Bürgertypus, den Mumm am wenigsten mochte: reicher Schnösel. Bringbunteslicht stammte aus einer Familie, die sich in der Alchemistengilde einen Namen gemacht hatte. Nachdem er seine Alchemistenausbildung beendete hatte, hatte er sich mit seinem Laden selbstständig gemacht. Seitdem stellte er buntes Licht in Form von seltsamen Kerzen her. Sie waren auf jeder Feier eine beliebte Dekoration.(18) Kurz nach der Gründung des Geschäfts war zudem sein Vater bei einer äußerst tragischen Explosion in Michaeleo Bringbunteslichts Labor ums Leben gekommen und hatte ihm den Familienbesitz vererbt. Der Mann schwamm im Geld. „Gut, gut. Warum noch einmal hast Du mich herbestellt, Kommandeur Mumm?“ Mumm widerstand dem Drang, sich die Schläfen zu reiben. „Dein Sohn hat seinem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster befohlen, Axel, dem Sohn vom Herrn Schweiß aus der Lichtgasse, die Schienbeine, einen Oberschenkel und den Schädel zu brechen, Herr.“ „Welchem der Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster?“ „Der gelben Ratte.“ Dieser Satz rief Raphaello auf den Plan, der seine gelbe Tonratte erneut beschützend an sich drückte.(19) „Das ist keine gelbe Ratte, das ist ein Rattschu!“ „Meinetwegen auch das“, murrte Mumm, „aber du hast ihm dennoch befohlen, dem Axel die Schienbeine, einen Oberschenkel und den Schädel zu brechen.“ Bringbunteslicht musterte seinen Sohn kritisch. „Hast du das, Raphaeleo?“ Wie auf Kommando schüttelte der Junge eifrig den Kopf. In Mumm stieg das Bedürfnis auf, nicht nur den Kopf des Jungen einmal kräftig durchzuschütteln. Dann machte der Bengel den Mund auf. „Natürlich nicht, Vater. Ich habe Rattschu gesagt, dass er das Stinktier bestrafen soll. Weil's stinkt. Alles andere hat es von ganz allein gemacht!“(20) Mumm wusste, dass das eine lange Diskussion werden würde. Es wurden immer lange Diskussionen, wenn man einem Vater, der immer stolz auf seinen Sohn gewesen war, beibringen musste, dass sein Sohn etwas Strafbares getan hatte, für das er bestraft werden musste. Das hier war eine Diskussion, die in diese Richtung gehen würde. Und sie würde besonders lang werden. Dieser Vater war nicht einfach stolz auf seinen Sohn – er war stolz auf seinen Sohn, weil dieser etwas Strafbares getan hatte, ohne sich dabei die Finger schmutzig zu machen. Wenn es nach dieser Anhörung eine Tracht Prügel geben sollte, dann nur, weil sich Raphaello dabei hatte erwischen lassen. *** (16) Vor allem, weil es keine weiteren Erinnerungen mehr geben würde. (17) Auch er hatte in der Nacht mitgeholfen, das Feuer bei Taschenleeri zu löschen. Vor allem, indem er Anweisungen gab und schnaufte wie ein Nilpferd. Sie hatten es irgendwann aufgegeben, ihm Eimer in die Hand zu drücken, aus Angst, er könnte vor Erschöpfung auf den Ankh fallen. (18) Neuerdings auch mit wahlweise schwarzem oder regenbogenfarbenem Licht, für Trauerfeiern. (19) Das war nicht die ganze Zeit so gewesen. Sie hatten den Jungen über Nacht in der Wache behalten, um sicher zu stellen, dass sein Vater erschien, um für ihn Rechenschaft abzulegen. Manche mochten das Erpressung nennen, Mumm nannte es einen schwerwiegenden Fehler. Nachdem der Junge erfahren hatte, dass sein Vater ihn erst am nächsten Nachmittag würde abholen kommen, hatte er sein gelbes Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster auf die Wache losgelassen. Die Bilanz waren zwei Tische, denen nun die Beine fehlten, drei Stühle, denen es ähnlich ergangen war, zwei gebrochene Schienbeine, die zwei Wächtern gehörten, welche das Tonwesen einzufangen versucht hatten, und ein zerbrochenes Kaffeeservice. Letzteres gehörte Fred Colon und war der Anlass für dessen Anwesenheit während der Anhörung. (20) Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Natürlich hatte Raphaeleo seinem Rattschu zuvor eingespeichert, welche Verhaltensabläufe es abspulen sollte, wenn es auf den Axel oder andere in diese Kategorie fallenden Kinder traf, denn dem Kobold im Inneren fehlte die Phantasie für derlei Grausamkeiten. Raphaeleo hatte hingegen genug für ein ganzes Dutzend. Irgendetwas störte Karotte. Er wusste nur noch nicht, was es war. Und auch, wenn Mumm gesagt hatte, sie sollten den Fall den Assassinen überlassen – sie hatten etwas übersehen. Irgendetwas wichtiges. Taschenleeri ist tot und seine zwei Schwestern ebenfalls, überlegte er, während er durch die Dunkelgasse patrouillerte. Das Geschäftshaus ist abgebrannt. Die Innenausstattung und die Produkte im Laden hat es erwischt. Nachdem er ein paar ältere Damen, die in einem Hauseingang tratschten, gegrüßt und ihnen die Einkäufe in den Keller getragen und sich zudem darüber versichert hatte, dass in der Lichterstraße alles beim Rechten war, bog er in die Seitenstraßen ein. Aber das Lager war leer. Der Gebäudeteil mit dem Lager ist ausgebrannt, genau wie die anderen auch. Aber dort sind keine Waren verbrannt. Weil keine Waren da waren. Nur ein paar einzelne Figuren, vielleicht Fehlproduktionen. Nicht genug, für einen ganzen Bestand. Ein Schatten fiel vor Karotte auf den Boden. Entweder, Taschenleeri hat das Lager geräumt, bevor man ihn verbrannt hat... Es war ein großer Schatten. … oder irgendwer anderes hat das für ihn getan. Karotte sah auf. *** Kettil lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er hatte von der Sache mit Sarschnelli Taschenleeri gehört. Und er hatte seine Schlüsse gezogen. Der Mord selbst lag nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich. Die Assassinengilde kümmerte sich darum. Nun, da der Spielzeughändler nicht mehr war, würden auch die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster-Übergriffe wieder zurückgehen, denn es gab niemanden mehr, der die Produktion aufrecht erhielt. Taschenleeri hatte das Geheimnis um das Produktionsverfahren mit in den Feuertod genommen. Alle würden beruhigter auf Patrouille gehen können, denn bald würde es keine kleinen tönernen Mistviecher mehr geben, die einem die Beine – oder andere wichtige Körperteile – würden brechen können. Aktuell befand Kettil sich jedoch nicht auf Patrouille, sondern saß, wie bereits erwähnt, auf seinem Stuhl im Hauptgebäude am Pseudopolisplatz. Er musste noch den Bericht über den Zwischenfall mit den Jungen und dem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster schreiben, der gerade mit Monster und Vater in Kommandeur Mumms Büro war. Das Schreiben an sich war nicht schwer, denn bevor sein Vater ihn in die Stadt geschickt hatte, um Gold zu verdienen, hatte er dafür gesorgt, dass er lesen und schreiben lernte. Bin gestan Nachmittag ekkige Klamma auf hia Dadum einfügen ekkige Klamma zu Patrolle mit Hauptmann Karotte geganget. Wir sind villen Menschen begegnet, an deret Namene ich mich nicht alle erinneren könnet, abba mann könnet fragen Hauptmann Karotte, falles Interessa bestehet. Dann wir gefunden habet Gruppä von ungefär zwanzige Kindiger. In dieser Gruppä wir gefindet zwei Jungän und ein Net-in-die-Tasche-passet-Monster. Eina der Jungän laget blutig auf dem Bodden., stand mittlerweile auf dem Papier. Einige Tropfen Tinte waren vom Federkiel auf das Blatt getropft und ergaben dort einen ungewöhnlich großen Punkt. Kettil bemerkte diesen Punkt nicht. Er bemerkte auch nicht, wie der Punkt sich weiter vergrößerte und einige von den bereits geschriebenen Wörtern in sich aufnahm. Er war abgelenkt. Sein Blick richtete sich starr auf ein paar Zwerge in der anderen Ecke des Büros. Wäre sein Blick nicht starr auf diese Ecke fixiert gewesen, hätte er vermutlich Korporal Nobbs bemerkt, der gerade bedenklich nahe bei der Kaffeekasse stand, in die er erst vor kurzem eingezahlt hatte. Aber so bemerkte er Nobby nicht einmal. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf diese Zwerge. Sie standen in einer Gruppe. Das war für Zwerge nicht ungewöhnlich. Zwerge sammelten sich oft in Gruppen, insbesondere dann, wenn es darum ging, ein paar Trollen zu zeigen, wo die Axt hing. Darum ging es nicht. Er sah Lippenstift unter den Bärten und Lidschatten um die Augen. Einige hatten modische Spangen im Kopf- und Barthaar. Zwei der Zwerge trugen Röcke, er konnte ihre Knöchel sehen. Die Schuhe von einem der Zwerge hatten sogar hohe Hacken. Die Feder, mit der Kettil seinen Bericht schrieb, war eine gute Feder. Er hatte sie von dem Zwerg bekommen, der ihm das Schreiben beigebracht hatte. Es war nun allerdings auch eine sehr kaputte Feder, die dem Druck, den Kettils wütender Griff auf sie ausübte, nachgegeben hatte. Die Zwerge redeten aufgeregt miteinander, wenn auch zu leise, um sie aus der Entfernung zu verstehen. Eine kleine Flasche mit einer rosafarbenen Flüssigkeit im Innern ging von Hand zu Hand. Jeder von ihnen tauchte etwas, dass er auf diese Entfernung nicht genau erkennen konnte, aber bei dem es sich um ein Stäbchen zu handeln schien, in die Flasche. Nachdem das Stäbchen in die Flüssigkeit eingetaucht war, wurde es wieder zurück gezogen und über die Fingerkuppen gestrichen, dort, wo die Fingernägel saßen. Die anderen Zwerge in der Wache hatten ihn bereits vorgewarnt, doch die Realität war schrecklicher, als er gedacht hatte. Es war seine erste Begegnung mit dem Zwerg Typ „selbstbewusste Frau“ und sie löste einen Schock in ihm aus. Und als seien Lippenstift, Lidschatten, Spangen, Röcke und hochhackige Schuhe nicht genug, steckten sie nun auch noch ihre Köpfe zusammen und gaben seltsame Geräusche von sich. Kettil brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie kicherten. Sein Magen reagierte sofort: er machte eine Drehung um hundertachtzig Grad. Kettil drehte sich ebenfalls. Ruckartig wandte er sich der Tür zu, sprang von seinem Stuhl und rannte. Die Latrine erreichte zum Leidwesen einiger Kollegen nicht mehr. *** Ich glaube, ich habe es gefunden, dachte Karotte. Ich glaube, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Er musste seinen Kopf in den Nacken legen, um dem … dem … dem … nun, dem Ding, das da vor ihm stand, ins Gesicht schauen zu können. Gut, was heißt Gesicht? Das da war kein Gesicht. Es war eine Fratze. Ein Maul mit Augen und Hörnern und komischen Dingern am Kopf. Fühler, genau. Und er sah Nüstern. Und Flügel. Flügel, die vermutlich zu klein zum Fliegen waren, aber es waren verdammte(21) Flügel. Er wusste nicht, ob das wirklich ein großer Vorteil war, denn das Ding war vier Meter hoch. Es brauchte keine Flügel, um ihm das Genick und alle anderen Körperteile, an denen er hing, zu brechen. Als Karottes Verstand registrierte, dass das Wesen aus orangefarben lackiertem Ton bestand, übernahmen schließlich seine Beine die Kontrolle über seinen Körper. Sie machten eine halbe Drehung und setzten von allein zu möglichst großen Schritten an, um möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen. Einen Augenblick später war dort, wo Karotte eben noch gestanden hatte, ein Loch von einer Größe, die eine tönerne Pranke hinterließ, wenn sie mit voller Wucht auf dem Boden aufschlug. *** Kommandeur Mumm verfolgte mit starrem Blick, wie sich die Tür hinter Michaeleo Bringbunteslicht und seinem Sprössling schloss. Den Weg zu der Schublade fand seine Hand von allein, er brauchte es ihr nicht zu sagen. „Herr?“ Seine Hand zuckte zusammen. Sie war auf frischer Tat ertappt worden, das wusste die Hand ebenso, wie Mumm es wusste. Bemüht ruhig legte er sie wieder auf den Schreibtisch, wo sie hingehörte. „Du bist wach?“ „Die Ratte hat meine Tassen zerstört, Herr“, antwortete Fred Colon, scheinbar nicht ausgeschlafen, „und meine Kanne.“ Mumm nickte. Richtig. Der Junge würde eine Tracht Prügel bekommen, das hatte Bringbunteslicht ihnen versprochen. Er glaubte es. Allerdings glaubte er auch, dass die Gründe für die Prügel andere waren, als er sie sich wünschte. „Manchmal wünschte ich mir, Eltern würden für ihre Kinder haften.“ „Ja, Herr.“ Sie schwiegen. Es klopfte zaghaft. Wer auch immer das war – er sollte draußen bleiben. Mumm verdaute gerade, dass er beinahe zur Flasche gegriffen hatte. Und vor allem verdaute er, dass er sich von Fred dabei hatte erwischen lassen. Diese Gedanken bekam der Klopfende jedoch nicht mit oder ignorierte sie gekonnt, was sich im Öffnen der Tür deutlich zeigte. Widerwillig schaute Mumm hoch und dann wieder runter, weil es ein Zwerg war. „Herr? Frau Taschenleeri ist hier, Herr.“ Taschenleeri? Den Fall habe ich abgegeben! Er gehört den Assassinen, nicht mir!, dachte er, doch der Gedanke war wieder da. Und er bat nicht nur um Einlass, er hämmerte an die Tür. „Nein.“ Der Zwerg zog den Kopf ein, wirkte aber nicht kleiner, was vielleicht daran lag, dass er sich, mental, bereits möglichst klein gemacht hatte, um der drohenden Sturmflut zu entgehen. Ohne Erfolg. „Sie sagt, sie möchte Dich sprechen, Herr.“ „Schick sie zu den Assassinen.“ „Herr?“ Mumm schwieg und bohrte imaginäre Löcher in die Mauer hinter dem Zwerg. Der Stein knarzte leise, während seine Hand vor Anstrengung zitterte. „Sie sagt, sie möchte nur Dich sprechen, Herr.“ *** Karotte zog sein Schwert und rannte. Er würde es vermutlich nicht benutzen. Man rammte ein Schwert so schwer durch zwei Tonnen Ton, wenn diese hinter einem her rannten und nicht so aussahen, als würden sie stehen bleiben. Aber es gab ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Es sagte ihm, dass er mit dem Schwert zuschlagen konnte, wenn er wollte. Das er dann vermutlich als Fleck auf dem Kopfsteinpflaster enden würde, blendete das Gefühl aus. Du kannst etwas tun. Du bist nicht hilflos. Dieses Gefühl, an das er sich klammerte, bekam einen derben Schlag unter die Gürtellinie, als sich fünf Zentimeter spitzer Ton durch das Kettenhemd hindurch irgendwo zwischen die neunte und zehnte Rippe bohrten. Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er seinen Schrei nicht hörte, als er durch die Luft flog, bis er mit dem Rücken voran eine Hauswand fand. Sie war aus Lehm, wie Karottes Unterbewusstsein feststellte, als die Wand nachgab. Er fand sich in der Küche einer zwölfköpfigen Familie wieder, die gerade Wassersuppe und Kantenbrot aß. Zwölf Gesichter schauten ihn nicht glücklich an, als er sich, eine Hand auf die Wunde gepresst, aufrappelte. Zwölf Gesichter schauten noch viel unglücklicher, als ein orangefarbenes Tondrachengesicht durch das Loch zurück schaute. Die zehn Körper, zu welchen zehn der zwölf Gesichter gehörten, ließen ihre Schüsseln und Kantenbrote fallen, erhoben sich synchron und rannten in die andere Richtung davon, die Mutter trug die zwei Jüngsten in den Armen. „Tut mir Leid, Herr Matthias!“, rief Karotte ihnen hinterher, erinnerte sich jedoch daran, dass er ebenfalls laufen sollte, bevor er sich bei den anderen sechs Herren Matthias(22) und den den vier Frau und Fräulein Mathilda(23) entschuldigte, gerade ihr Heim zerstört zu haben. Ohnehin machte der Tondrache gerade ein wesentlich größeres Loch in die Wand. Karotte wartete nicht darauf, dass das riesige Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster die Wand genug zerschlagen hatte, um hindurch zu passen. Mit den größtmöglichen Schritten, die seine Beine erlaubten, vergaß er die klaffende Wunde zwischen seinen Rippen, folgte eilig der Familie. Er kreuzte die Bahn von Herrn Heinrich, dem Bruder des Herrn Heinrich, welcher gerade zu Besuch war, und vertraute darauf, dass dieser die grobe Laufrichtung erkannt hatte. Als er Karotte den Ellenbogen in die Rippen rammte, um vor diesem durch die Tür zu kommen, war Karotte zumindest diese Sorge los. Dafür häuften sich die anderen. Der Ellenbogen, den er in die Seite bekam, drückte auf seine ohnehin bereits verletzten Haut und Muskelschichten. Diese schrien nicht unbedingt vor Freude laut auf und Sternchen glitzerten vor seinen Augen, während er kurz taumelte, die falsche Tür nahm und in den Keller fiel. Weitere Sternchen bildeten mit der Schwärze, die sich um ihn verdichtete, einen faszinierend realistischen Sternenhimmel. Da oben ist irgendwo Groß A'tuin, dachte Karotte und blinzelte. Dann kniff er die Augen zusammen, weder Schwärze noch Sternenhimmel verschwanden, aber es tat gut, etwas anderes zu spüren, als seine Rippen, die Knie, die er sich aufgeschlagen und die Hand, die er sich verstaucht hatte, und wenn es nur der Schmerz war, den man spürte, wenn man die Augen zu fest zusammen kniff. Mit zusätzlich zusammengebissenen Zähnen rollte er auf die Knie. Seine Hand fand sein Schwert. Er ignorierte, dass er sich zunächst an der Klinge schnitt, bevor er den Griff erreichte. Über ihm dröhnte es, als zwei Tonnen Ton einen Schritt vor den anderen machten. Ihm wurde deutlich bewusst, dass er hier raus musste, denn sonst endete er nicht als Fleck auf dem Kopfsteinpflaster, sondern als ein Fleck unter vielen in einem leeren Keller, der roch, als würde man ihn mit einer Latrine verwechseln.(24) Langsam öffnete er die Augen wieder. Groß A'tuin kommt näher! Er blinzelte. Groß A'tuin war ein Kellerfenster. Damit konnte er arbeiten. *** (21) Unbedarftere Personen hätten vielleicht nicht nur „verdammte“ geflucht, sondern „gottverdammte“ oder ähnliches. Auf der Scheibenwelt war es jedoch nicht klug, die Götter im Allgemeinen zu verfluchen, denn irgendeiner hörte einen immer und bekam es noch dazu in den falschen Hals. Leider hörten die Götter der Scheibenwelt nicht nur sehr gut, sie waren noch dazu egozentrisch veranlagt, leicht zu verärgern, recht gut beim Zielen mit Blitzen auf nicht-blitzresistente-Körper und ebenso gut beim Werfen mit Steinen auf arg- und wehrlose Fensterscheiben. Karotte wusste das. (22) Bei diesen handelte es sich um Vater, Großvater, Söhnen und Enkeln des angesprochenen Matthias. (23) Natürlich die Ehefrau und ihre drei Töchter. (24) Ein Fehler, den auch Karotte begangen hatte. Allerdings merkte er das in der augenblicklichen Situation nicht. Viel mehr interessierten ihn zwei Tonnen Ton, die jeden Augenblick den Kellereingang finden konnten. „Du bist ein dummer Junge!“, verkündete Michaeleo Bringbunteslicht, als er und sein Sohn die Wache verließen. Es war mittlerweile beinahe dunkel und eigentlich hatte er besseres zu tun, als seinen Sohn von der gottverdammten(25) Wache abzuholen. Er musste seinen Laden öffnen. Während der Nacht verkauften sich seine Kerzen am besten. Sie wirkten eben doch am fantastischsten, wenn er sie nicht nur in einem abgedunkelten Raum vorführte, sondern wenn es tatsächlich finster war. Außerdem sollte er heute eine Lieferung schwarzer Kerzen fertigstellen, für die Beerdigung des Herren Taschenleeri. Raphaeleo drückte sein Rattschu fester an sich, den Blick fest auf den Boden gerichtet. „Ja, Vater.“ Seinen Vater besänftigte das nicht, es brachte nur dessen Hand dazu, sich von selbst zu erheben und dann mit einiger Wucht auf den Hinterkopf seines Sohnes zu klatschen. „Du hast dich erwischen lassen!“ „Ja, Vater.“ Klatsch. „Von Hauptmann Karotte!“ „Ja, Vater.“ Klatsch. „Ausgerechnet von dem! Hättest du das nicht bei diesem Spinner Colon machen können? Oder bei Nobbs? Die nehmen die Beine in die Hand, wenn sie mehr Gegner haben, als sie zählen können! Aber nein, du gerätst ausgerechnet an Karotte Eisengießersohn!“ Kla- Die Hand verfehlte sein Ziel, als ein Troll mit Brustpanzer an ihnen vorbei hastete und er sich eilig ducken musste, um nicht von einer Hand, welche die Größe seines Kopfes hatte, erwischt zu werden. „Das nicht sein gut. Ich müssen erstatten Bericht!“, hörten Vater und Sohn den Troll noch murmeln, als dieser bereits um die Ecke hastete, dabei versehentlich die Kurve zu stark schnitt und ein trollförmiges Loch in der Mauer des Gebäudes hinterließ. Bringbunteslicht sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Trolle. Aus der Stadt werfen, sollte man sie. In der Stadtwache haben die nichts zu suchen. Der Einzige, der dort noch weniger zu suchen hat, ist dieser Trottel Mumm. „Wo waren wir?“ „Bei Karotte Eisengießersohn, Vater.“ Er nickte. Richtig. Klatsch! „Du bist ein dummer Junge!“, setzte Bringbunteslicht seine Litanei fort. Das dem Troll eine gewisse Anzahl von anderen Bürgern, nicht alle in Uniform(26), folgten, bekam er nicht mit, denn diese waren so umsichtig, während des Laufens einen Bogen um die beiden zu machen. Dies taten sie vornehmlich, um erst irritiert, dann staunend, seitwärts an ihnen vorbei zu rennen und anschließend rückwärts ihren Weg fortsetzten, um die beiden Irren weiter beobachten zu können.(27) *** Frau Taschenleeri war groß, in einen dicken Mantel gehüllt, welcher nicht aus Nilpferdfellen bestand, und schaute mit einem Blick auf Mumm herab, wie eine neureiche Dame, die nicht verstand, wieso der Mann vor ihr seinen Beruf noch ausübte und nicht bereits mit den Nilpferden schwamm. „Hör auf zu lachen!“, befahl sie im Brustton der Verzweiflung und schlug mit der Faust wenig damenhaft auf Mumms Schreibtisch. Mumm hörte, wie die Flasche Jimkin Bärdrückers in der Schublade klirrte und hob den Kopf, den er in den Händen vergraben hatte. Sein Mund grinste, seine Augen nicht. „Mach Dich nicht lächerlich. Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster sind nicht größer als einen halben Meter. Sie können nicht größer sein. Wegen der Kobolden.“ Große Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster waren wie Trolle. Große Kraft, beschissene Feinmotorik. Wenn sie über dich drüber rollten, warst du ein Fleck auf dem Boden. Probleme gab es, wenn sie eigentlich um dich herum rollen wollten. Frau Taschenleeri krallte ihre Hände in ihren Mantel. Ihre Fingerknöchel waren so weiß wie die Knochen unter der Haut. „Ich weiß“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Es war dennoch anderthalb Meter groß und ist über meinen Sohn gerollt. Nicht über den Fuß meines Sohnes, sondern über ihn selbst!“ Mumm lachte nicht mehr. Einige der Wachen auf der anderen Seite der Tür, die ihre neugierigen Ohren an die Holzplatte pressten, hatten den Umschwung leider noch nicht bemerkt. Der gesamte Raum summte vor unterdrücktem Kichern. Er schluckte. Mental drehte er sich um und stemmte sich gegen die ebenso mentale Tür, doch der Gedanke hatte seinen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen. *** Es war anstrengend gewesen, durch das Kellerfenster zu kriechen. Karotte war groß genug, um es zu erreichen, ja. Allerdings war er eigentlich einen halben Meter zu breit, um hindurch zu passen. Er würde später nicht sagen können, wie er es geschafft hatte, dennoch hindurch zu kommen. Vielleicht lag es an dem hier besonders bröseligen Lehm, aber irgendwann musste er nur noch die Beine aus dem Loch in der Wand ziehen. Bevor er sich aufrappelte, lauschte er. Viele Schreie ertönten, vielleicht hatte sich der Tondrache auf die Familie des Herrn Heinrich eingeschossen und verfolgte nun diese. Solange sie schrien, ging es ihnen wohl noch einigermaßen gut. Wer tot war, der schrie nicht mehr.(28) Sternchen glitzerten wieder vor Karottes Augen, doch dieses Mal konnte er sie weg blinzeln. Vorsichtig stand er auf. Er brauchte Hilfe. Er musste zur Wache. Wenn er im Schatten der Häuser blieb, konnte er es schaffen. Mit einer Hand die Wunde stützend, mit der anderen sein Schwert umklammernd, lief er wieder los. *** „Du hast Hausarrest, hast du gehört, Raphaeleo? Hausarrest. Für die nächsten vier Wochen. Und deine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster schließe ich weg, bis du gelernt hast, dich nicht von diesem Hauptmann Karotte festnehmen zu lassen. Hast du gehört, Raphaeleo? Hast du gehört? Ich rede mit dir!“ Michaeleo Bringbunteslicht stoppte und drehte sich um. Sein Sohn war bereits vor einigen Schritten stehen geblieben und starrte ihn nun an, als sei er ein großes böses Monster. Na, das hatte er gerne! Der Junge wusste ganz genau, was er falsch gemacht hatte, jetzt brauchte er ihn nicht so anzusehen. Aber das war typisch. Das hatte er alles von seiner Mutter. „Vater?“, fragte Raphaeleo leise, als er merkte, dass sein Vater seine Tirade beendet hatte. „Da ist ein Drachnich.“ Bringbunteslicht verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt ging das wieder los. Immer dieser Bengel! Gut, er würde mitspielen. „Ein was?“ „Ein Drachnich. Es ist ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, Vater.“ „Und was ist daran so schlimm?“, fragte er, während er sich umdrehte, in fester Erwartung, ein Tongeschöpf vor sich zu haben, das er zertreten konnte, wenn er es nur wollte. Er legte den Kopf in den Nacken und schluckte. *** Mumm wollte lachen. Er wollte lachen, weil alle Alternativen zu grässlich gewesen wären, um sie auch nur zu denken. Das wusste er und das wusste auch der Gedanke, den er so krampfhaft auf Abstand hielt. Dann platzte Detritus durch die Tür. Er öffnete sie nicht, bevor er eintrat. „Herr, da sein ein Nicht-passen-in-Taschen-Monster.“ Mumm zuckte mit den Achseln. Eine kleine Nervenzelle in seinem Hinterkopf klingelte. Sie sagte ihm, dass es nie gut war, wenn Detritus die Tür durchquerte, ohne sie vorher zu öffnen. Sie sagte ihm, dass es nie gut war, wenn Detritus die Tür durchquerte, ohne sie vorher zu öffnen, und zuvor eine Frau mit einer Hiobsbotschaft in sein Büro gekommen war. Im Geiste schlug er nach der Nervenzelle, um sie zum Schweigen zu bringen, und nahm dabei unwiderruflich den Rücken von der Tür. „Und? Tritt drauf, wenn es nach dir schlägt.“ Leider trat die Nervenzelle zurück. „Detritus sich das nicht haben getraut, Herr. Nicht-passen-in-Taschen-Monster waren eins und eins und eins mal größer als Detritus. Detritus lieber seien gerannt, Herr.“ Der Gedanke trat die mentale Tür aus den Angeln. Bevor Mumm etwas dagegen tun konnte, schritt er in seinen Kopf, breitete sich aus, erfasste jede Faser in seinem Körper und war da. *** Kettil wischte sich ein letztes Mal über den Mund. Er hatte sich in der letzten Stunde mehrere Male übergeben. Er würde es auch ein weiteres Mal tun, aber sein Magen war leer. Zudem hatte er sich gefühlte tausend Mal das Gesicht und vor allem den Bart gewaschen. Natürlich hatte er nichts dagegen, wenn er sich in einer Nacht mit zu viel Ale dazu entschloss, dass es sich ohne Mageninhalt besser lebte. Das war nicht weiter schlimm und passierte eben. Aber das – das vorhin war anders. Er fühlte sich schmutzig. Dreckig. Befleckt. Unrein. Ein Geschmack hatte sich in seinem Mund breit gemacht, der nicht von seinem Mageninhalt herrührte. Zwerginnen. Mit Röcken. Und Lippenstift und Lidschatten. Und Hackenschuhen. Die kicherten. Wieder würgte er, doch es kam nichts mehr, und so schluckte er den Ekel herunter. Er musste seinen Bericht weiter schreiben. Und vielleicht waren diese … diese … Diese jetzt weg. Er musste es hoffen. Noch immer geschockt verließ er die Latrine im Hof und betrat das Wachhaus. Nicht eilig ging er die Gänge entlang, zurück in das Büro, wo er seinen Schreibtisch hatte. Gerade, als er in eben dieses einbiegen wollte, schlug die Haupttür auf. Das war weiter nichts ungewöhnliches. Diese verfluchten Trolle schlugen die Türen immer auf, als wollten sie sie dazu bringen, aus den Angeln zu fliegen und arme, unschuldige Zwerge unter ihnen zu begraben. Kettil blinzelte. Das, was da in der Tür stand und gerade in Zeitlupe wie ein steifes Brett vornüber fiel, war kein Troll. Er blinzelte erneut. „Zur Hilfe! Zur Hilfe! Es ist Hauptmann Karotte!“ *** Raphaeleo ließ seine Arme sinken. Die Tonratte, die er gehalten hatte, klammerte sich für einen Moment noch an seinen Ärmel, dann beschloss sie, dass sie eine andere Gesellschaft vorzog. Sie ließ los und rannte zu der riesigen Drachenschlange aus Ton. Raphaeleo blieb nicht, um zu herauszufinden, was das Drachnich mit seinem Vater und ihm tun würde. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte. *** Mumm musste denken. Schnell. Karotte hatte gesagt, das Lager sei leer, die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster fehlten. Karotte hatte Recht gehabt. Sie hatten gefehlt. Es war genau das, was sie hatten sehen sollen. Niemand würde die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster verkaufen, weil niemand sie verkaufen wollten. Sie hatten an der falschen Stelle gesucht. Es war etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit hatte haben wollen, aber sie hatten es übersehen. Wegen der fehlenden Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster. Zwei Männer gingen vorne herein, dachte er verbissen, und zwei Männer gingen vorne auch wieder heraus. Niemand hat gesehen, wer durch den Hinterausgang kam und wer durch den Hinterausgang ging. Er hatte gedacht, dass man vielleicht die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster hinten raus geschmuggelt hatte. Und er hatte sich verrechnet. Seine Hand hob sich vom Griff der Schublade, damit er sie sich ordnungsgemäß gegen seine Stirn schlagen konnte. Frau Taschenleeri bemerkte den Wechsel in seiner Stimmung. Sie hatte ein sehr gutes Gefühl dafür, zu spüren, wenn man ihr glaubte. Sie brauchte dieses Gespür, denn sie war mit ihrem Mann verheiratet – gewesen. „Es hat uns in der Nähe der Dunkelgasse angegriffen“, sagte sie ruhig und ignorierte sowohl den Umstand, dass sie den Kommandeur der Wache noch vor wenigen Augenblicken auf den Ankh hatte werfen wollen, als auch den Troll, der noch immer in der Tür stand.(29) „Wir waren auf dem Weg zu Herrn Bringbunteslicht. Ich wollte mir die Kerzenlieferung ansehen.“ Der Gedanke in seinem Kopf hatte einen Pinsel gezogen und malte ein mentales Bild an die mentale Innenwand seines Schädels, während sie sprach. Aus wirren Linien bildeten sich Formen. Aus Formen bildeten sich Details. Aus den Details würde sich ein Bild formen, das er noch nicht erkannte, doch jeder Strich versetzte ihm ein Aha-Erlebnis wie einen Peitschenschlag. Es fehlten nur noch wenige Details, das wusste Mumm. Und er war bereit, sie zu suchen. *** Hilferufe hörte man im Wachhaus am Pseudopolisplatz häufiger.(30) Neu war, dass sie den Satzbestandteil „Hauptmann Karotte!“ beinhalteten. Vielleicht war es das, was Kettils Kollegen dazu trieb, die relative Sicherheit ihrer Schreibtische, Stuhlbetten(31) und Kaffeepokerrunden zu verlassen und nachzusehen, welcher Trottel da gerade Angst vor Karotte entwickelte und auch noch dumm genug war, das durch die Zentrale zu brüllen. Die Stimmung, neugierig bis hochgradig amüsiert, zumindest bei jenen, die Detritus nicht erwischt hatte, als er die Eingangstür aufgeschlagen hatte und dann die Gänge entlang gehastet war, kippte, als man merkte, dass es keine Angst vor Karotte war, die den blöden Zwerg schreien ließ, sondern die Angst um Karotte. *** (25) Der geneigte Leser erinnert sich an dieser Stelle vielleicht an Karottes Wissen über Götter. (26) Definitiv nicht alle in Uniform. Einer von ihnen trug einen Bauchkasten, aus dem Würstchen hingen und die er den anderen Laufenden anbot, ohne selbst stehen zu bleiben. (27) Irgendwann kam es, wie es kommen musste, und ein paar der Rückwärtslaufenden stießen gegeneinander, fielen und rissen andere mit sich, bis kein Durchkommen mehr war. Kaum, dass sich der Staub gelichtet hatte, hörte man auch schon , wie der Ausruf „Würstchen! Heiße Würstchen! Sumpfdrachenwürstchen im Angebot!“ wieder lauter wurde, als T.M.S.I.D.R. Schnapper seine Chance witterte. (28) Meistens. Gewisse Vampire, Werwölfe und anderweitig untote Bewohner der Stadt mochten an dieser Stelle ihre durchaus gerechtfertigten Einsprüche einlegen. (29) Und der diese nach wie vor nicht zu öffnen gedachte. (30) Vornehmlich von schuldigen Bürgern, die sich keiner Ordnungswidrigkeit bewusst waren und die, in ihrem Suff, die anwesenden Wachen für Tentakelmonster mit Saugnäpfen und Schnäbeln hielten. (31) Auch wenn Zwerge Trolle verabscheuten – gegen ein Schläfchen auf einem Trollstuhl hatten sie nichts einzuwenden, solang sich nicht plötzlich jemand setzte. Groß genug waren sie und mit ein wenig Eisen und Leder auch ausgesprochen bequem. Fred Colon, welcher sich zwar wenig elektant – oder so – aber zumindest höflich aus Mumms Büro zurückgezogen hatte, als Frau Taschenleeri eingetroffen war,(32) um dann sein Ohr von der anderen Seite an die Holztür zu pressen, war der erste ranghöhere Diensthabende, der vor Ort eintraf. Dies lag vornehmlich daran, dass er nach Detritus Auftritt in den Hintergrund gestoßen, geschubst und gedrängelt wurde, erst, um Detritus Platz zu machen, dann, weil noch mehr neugierige Wachen ein gewisses Interesse an der aktuellen Situation zu zeigen begannen. Nun jedoch wechselte das Interesse, weg von Mumms Büro, hin zu Kettils Schreien und so schob ihn die Masse – frei nach dem Motto „besser er als wir“ – einfach vor sich her. Als er den Körper, der ziemlich sicher Karotte gehörte – er kannte keinen anderen Wächter, der auch nur halb so aussah, wie der Hauptmann – und der nach wie vor im Eingangsbereich lag, erblickte, blieb er stehen. Der Zwerg, der verloren zwischen ihnen und Karotte stand, verbesserte die Situation nicht. Freds Gesichtsfarbe wechselte von vor-Anstrengung-rot zu erschüttert-blass-mit-von-der-Anstrengung-herrührenden-roten-Flecken. Das Auftauchen von Frau Taschenleeri, die beklagte, dass ihr Sohn von einem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster überrollt worden war, das war ein Zeichen gewesen. Da war er sich sicher. Und dieses Zeichen hatte ihm sagen wollen: Nimm Resturlaub. Beende jetzt deine Schicht. Geh. Und versteck dich unter deinem Bett. Er hätte es tun sollen. Spätestens, nachdem Detritus ihm beinahe zu einem neuen Leben als hässlicher Fleck an der Flurmauer verholfen hatte. Und jetzt? Jetzt war es zu spät. Aus der Nummer kam er nicht wieder raus.(33) Du packst das schon, Fred. Es ist nur Karotte. Es ist nur der bewusstlose Karotte. Kein Grund, in Panik auszubrechen. Es ist nur ein bewusstloser Karotte, der einen erschreckend großen Riss im Kettenhemd hat. Und es ist das Kettenhemd, das da eine komische, rote Flüssigkeit verliert. Ganz sicher. „Jetzt tut doch was!“, rief der Zwerg, der sich mittlerweile neben seinen Hauptmann gekniet hatte. „Ich hatte meinen Damit-du-dir-und-den-anderen-im-Falle-größeren-Übels-helfen-kannst-Kurs noch nicht!“ Dermaßen persönlich angesprochen, reagierten einige der Anwesenden reflexartig: Sie traten hastig zurück. In Fred Colon hingegen legte es einen Schalter um, der in der Regel unangetastet blieb.(34) Er straffte die Schultern und trat zwei Schritte vor. „Du und Du und Du!“, sprach er laut und deutlich und ungewöhnlich scharf, während er auf die drei stärksten Nicht-Trolle zeigte, die er gerade sehen konnte, „Ihr tragt ihn auf sein Zimmer. Du!“ Sein Finger zeigte nun auf einen Zwerg, „Holst Zeug zum Verbinden und etwas zu trinken. Nimm das stärkste, dass Du finden kannst! Und Du!“ Sein Finger wanderte auf den Zwerg im Rock daneben, „Du holst den Kommandeur. Na los!“ Zwei Dutzend Wachen blinzelten synchron. Dann setzten sie sich ebenso synchron in Bewegung.(35) *** Schmerz durchzog seinen Leib. Ausgehend von der Schulter zog sich eine gewaltige Woge blendender Hitze durch seinen Körper und erfasste jede noch so kleine Faser, jede Zelle. Sehnen und Muskel rissen mit Leichtigkeit, als sich die Zähne von der Länge seines Unterarms in ihn bohrte, doch sie töteten ihn nicht. Noch nicht zumindest. Etwas riss an ihm und wirbelte ihn herum. Ein Knacken sagte ihm, dass seine Beine gegen die Mauer, die einer Drehung um hundertachzig Grad im Weg waren, verloren. Doch er spürte es nicht. Vielleicht, weil der Schmerz in ihm eine Grenze erreicht hatte, in der man ihn nicht mehr addieren konnte. Weit entfernt hörte er seinen Sohn schreien, dann war da nur noch dieses kratzende Geräusch. Und Bewegung. *** „…wir ha … ur no … ffee … da ...“ Rauschen. „… er … mit!“ Rauschen. „… Trink … nicht selbst …“ Sein Oberkörper wurde angehoben, doch sein Kopf sackte kraftlos in den Nacken. Seine Augenlider flatterten und öffneten sich langsam, eher, weil sie es wollten, nicht weil er es wollte. Dunkelheit tanzte zu Hitze und Kälte, die übelkeitserregend durch seinen Körper pochten. Helle Lichtblitze zogen wie Sterne durch sein Blickfeld. Zwei davon waren blau und sahen ihn an. Er versuchte, zurück zu sehen, doch bevor er seinen Blick fokussieren konnte, hatten sie sich von ihm abgewendet. NICHT HEUTE. Seine Augen brannten und er kniff sie zusammen. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern und wertete es als positiv – immerhin spürte er überhaupt wieder etwas. Es fiel ihm schwer, die Augen wieder zu öffnen. Ein Echo von leuchtender Dunkelheit und finsteren Sternen schwamm über seine Netzhaut und wurde zu einem Gesicht, das menschlich hätte sein können, wäre es nicht so hässlich gewesen. „Ich glaube, er ist wach, Fred.“ „Dann geben wir ihm das Zeug, bevor es sich ändert.“ Der Blick des Gesichts richtete sich auf ihn. Irgendwie sollte es mitleidig wirken, doch es erinnerte ihn zu sehr an eine makabere Fratze. „Besser, Du schluckst, Herr.“ *** Vor seinem inneren Auge leuchteten bunte Striche und erschufen größere Formen, Strukturen, Gebilde, ein mentales Bild, das er noch nicht in seiner Gesamtheit erfasst hatte. Wohin er auch sah, es war überall. Trotzdem schob er es nach hinten, ins Gedächtnis, oder versuchte es zumindest, während er durch das Loch in seiner Tür schritt. Der Zwerg – die Zwergin, verbesserte er sich beim Anblick ihres mehrschichtigen Rockgebildes – eilte mit strammen Schritt voraus. Er hätte nicht gedacht, dass jemand mit so kurzen Beinen so verflucht schnell sein konnte. Was geschehen war, hatte er – nein, sie – in einem Satz zusammengekürzt: Der Hauptmann Karotte habe plötzlich im Eingangsbereich gelegen und er sähe nicht so aus, als sei er nur betrunken. Mumm fluchte den ganzen Weg über. Scheinbar hatte Karotte ebenfalls gefunden, wonach sie gesucht hatten. Mit durchschlagendem Erfolg. Die schaulustigen Wachen öffneten zwischen ihnen einen Gang, nur einen Spalt weit, als sie ihn kommen sahen. Vielleicht auch nur wegen Detritus, der hinter ihm ging und den Boden mit jedem Schritt beben ließ. Die Zwergin jedenfalls musste sich quetschen und verschwand schließlich aus seinem Blickfeld. Die Tür stand offen. Durch diese sah er, dass die drei Männer, die Karotte getragen haben mussten, noch im Raum standen, ebenfalls zwei Zwerge, die vielleicht das Verbandszeug geholt hatten. Karotte selbst lag in seinem Bett, Fred Colon und Nobby Nobbs an seiner Seite – der eine hielt den Ärmsten aufrecht, der andere flößte ihm so lange eine Flüssigkeit ein, bis er hustete. „Er blutet, Herr“, begrüßte Fred ihn. „Irgendwas hat sich durch sein Kettenhemd gebohrt und durch das Fleisch darunter. Es sieht nicht tödlich aus, aber wir haben es verbunden und es kommt jemand her.“ Er durchquerte den Raum und setzte sich auf den Stuhl, den der Feldwebel freiwillig räumte, nachdem er den verwundeten Karotte zurück in die Kissen hatte sinken lassen. Dann blendete Mumm alles Unwichtige aus. Eine seiner Hände legte er auf Karottes Oberarm, was diesen dazu veranlasste, träge von Nobbys Gesicht weg zu sehen und sich stattdessen ihm zuzuwenden. Er war furchtbar blass, fand Mumm, so, als sei er mit der Wunde mehrere Kilometer gerannt. Vermutlich war er das auch. Seine Pupillen waren geweitet und an seinem Kinn lief ein Rest der braunen Flüssigkeit, die Nobby ihm einzuflößen versucht hatte, hinab. Es stank nach beißendem Kaffee. „Ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, nicht wahr?“ Karotte brauchte einen Moment, um zu nicken. „Drache“, murmelte er und Mumm musste genau hinhören, um alles zu verstehen, „...aus Ton, Herr.“ „Ziemlich groß, nehme ich an?“ „Riesig.“ Zwar nickte Karotte nicht, aber Mumm tat es für ihn. Und er machte sich Sorgen. Riesig. Karotte war riesig. Er zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass er einem Großteil der Bevölkerung Ankh-Morporks auf den Kopf hätte spucken können. Für Karotte war nichts „riesig“. Eigentlich war es oftmals eher zu klein, es sei denn, es richtete sich an Trolle von Detritus' Ausmaß. Wenn Karotte etwas als riesig bezeichnete – er schluckte hart. Der Gedanke in seinem Kopf hob drohend den mentalen Pinsel. Eine Frage musste er noch stellen, bevor er seinem Kollegen die wohlverdiente Ruhe würde gönnen können: „Kannst Du mir sagen, wo es war, bevor Du ihm entkommen bist?“ Der Mann schwieg lange. Nicht im Sinne von nicht-mehr-wissen-lange sondern von füge-hier-die-nötige-Kraft-ein-lange. Und so gern Mumm auch aufgesprungen und losgestürmt wäre – irgendwer hetzte hier riesige Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster auf seine Leute! – er wusste, dass das so noch nicht ging. Darum ignorierte er auch Nobbys und Freds drängende Blicke. Schließlich sprach Karotte. Nur ein einziges Wort. „Dunkelgasse.“ Es genügte ihm. Er suchte noch einmal Karottes Blick und drückte seinen Arm kurz. „Ich kümmere mich darum.“ Alle weiteren Worte wären zu viel gewesen, das wusste er und das wusste Karotte auch. Vorsichtig stand er auf und rückte sich den Helm zurecht. „Fred, Nobby, sorgt dafür, dass Karotte den Arzt überlebt. Ich werde euch später brauchen, bis dahin bleibt hier.“ Die Angesprochenen salutierten, ohne sich zu bewegen. „Und was machst Du, Herr?“ „Ich finde das letzte Detail.“ *** Samuel Mumm hatte nicht vor, sich aufschlitzen zu lassen wie eine Dose Sardinen. Jetzt nicht nur frustriert, sondern zudem sehr, sehr wütend, stapfte er zurück ins Erdgeschoss – und kam nicht weit. Wieder wurde die Eingangstür aufgerissen und eine neue Hiobsbotschaft stürmte ins Innere, diesmal in Form des Sohns von Bringbunteslicht. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich einfach nur umdrehen und gehen sollte. Dann war der Moment, in dem er diese Entscheidung hätte treffen können, vorüber und der Bengel hing an seinem Wams. „Das Drachnich hat meinen Vater!“, plärrte er ihm entgegen und versuchte, ihn in Richtung Tür zu ziehen. „Das Drachnich hat meinen Vater!“ Er musste nicht fragen, was ein Drachnich war – er hatte eine gewisse Ahnung. Der Gedanke setzte den mentalen Pinsel ab, trat zurück und betrachtete sein Werk. Mumm nickte dem Jungen zu. Es war nicht die Zeit, ihn in eine Zelle zu sperren und so zu tun, als hätte er es mehr verdient, als der werte Herr Vater, auch wenn er unter anderen Umständen durchaus ein gewisses Interesse daran gehabt hätte. „Wo?“ Der Junge, anscheinend verdattert davon, dass der Kommandeur der Stadtwache ihn nicht abschüttelte und auch nicht nach ihm trat, obwohl er so aussah, als würde er es gerade äußerst gerne tun, ließ los. „Wir waren auf dem Heimweg!“ „Bleib hier.“ Er drehte sich um und rannte zu seinem Büro. *** Zettel flogen durch die Luft. Ein Disorganizer flog hinterher und beschwerte sich lautstark. Dann hatte Mumm, was er suchte. Es war nur eine einfache dreiseitige Liste. Eigentlich hatte er sie schon wegwerfen wollen, aber er glaubte sich daran zu erinnern, dass ein Gedanke, der um Einlass bettelte, ihn davon abgelenkt hatte. Wäre dieser nicht so verflucht penetrant gewesen, würde er sich jetzt bedanken. Stattdessen blätterte er zwischen den einzelnen Seiten hin und her, bis er sah, was er suchte. Eilig sprang er auf, obwohl er schon stand, stolperte bei der Landung fast und verließ sein Zimmer. Er konnte das Bild sehen. Klar und deutlich, als stünde es direkt vor ihm. *** Raphaeleo drückte sich in die hinterste Ecke, die er in der Eingangshalle hatte finden können. Vielleicht war es nicht seine beste Idee gewesen, gerade hier Hilfe zu suchen. Aber sie hatten auch dem Stinktier geholfen. Gut, es wäre ihr gutes Recht gewesen, ihm nicht zu helfen, immerhin hatte er seinem Rattschu gesagt, es solle dem Stinktier mal zeigen, was es so kann. Nur wusste er nicht, wen er sonst um Hilfe hätte bitten sollen. Sicher, er wäre auch nach Hause gerannt, aber zwischen ihm und seinem Zuhause saß ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster von der Größe eines kleinen Hauses und fraß vermutlich gerade seinen Vater – oder was Drachnichs eben so taten, er selbst hatte ja nie eines gehabt und die Kämpfe, die er gesehen hatte, waren alle ziemlich schnell vorbei gewesen. Und es war ja nicht so, dass die Wache ihm nicht half – wobei er ein wenig das Gefühl hatte, dass dieser Kommandeur Mumm vor allem sich selbst half und weniger ihm, so als sei er nur ein kleines Puzzleteil eines größeren Ganzen – aber genau da lag ja das Problem, denn wie sie ihm helfen wollten, machte ihm Angst. Kurz nachdem dieser Mumm ihn einfach hatte stehen lassen, war er mit einer Liste zurückgekehrt und er hatte seltsam zufrieden gewirkt. Seitdem summte der Bau mit dem Kommandeur in der Mitte. Mehr als einmal musste sich Raphaeleo flach auf den Boden werfen, wenn er sich in der Bahn eines Trolls befand. Dann brach eine kleine Gruppe, bestehend aus Kommandeur Mumm, einem ziemlich dicken Kerl, einem ziemlich hässlichen Kerl und mehreren Trollen, auf. *** (32) Auch, weil diese weder seine Kaffeekanne noch seine Tassen zerstört hatte. (33) Weil seine Kollegen ihm den Fluchtweg in die Sicherheit der Menge abschnitten. (34) Würde dieser Schalter dauerhaft auf „an“ stehen, wäre Fred jetzt kein Feldwebel der Wache, sondern Kommandeur – es war besser für alle Beteiligten, dass er es nicht tat. (35) Bereits wenige Stunden später würden alle Beteiligten der festen Meinung sein, sie hätten nichts gesehen, nichts gehört und nichts getan, allen voran Fred Colon selbst. Es war zum Wohle aller. „Wohin gehen wir, Herr?“ Mumm drehte sich nicht zu seinem Feldwebel um. Er wusste, dass dieser hinter ihm ging – was mit den Trollen in der letzten Reihe zu tun hatte, welche zu breit waren, als dass er zwischen ihnen hindurch hätte fliehen können. Zudem streiften die beiden äußeren Trolle zuweilen mit ihren Schultern und Armen die Hauswände und hinterließen Schrammspuren von nicht geringer Größe. „Ich weiß, wer Taschenleeri umgebracht hat.“ „Zwei große Männer, die nicht so aussahen, als hätten sie Interesse an Spielzeug?“ Er antwortete nicht auf Nobbys Einwurf, sondern drückte lediglich einen Holzgriff, an dem ein ziemlich spitz und scharf aussehendes Metallblatt befestigt war, von sich. „Nimm die Pike – das ist doch eine Pike? – runter, Nobby, du könntest jemandem ein Auge damit ausstechen. Oder andere Dinge, die derjenige vielleicht noch braucht.“ „Aber sie ist dazu da, anderen das ein oder andere Auge auszustechen, Herr.“ „Mir?“ Beschämt sank die Klinge ein wenig tiefer und wippte nun auf Höhe seines Ellenbogens auf und ab. Vielleicht war das nicht unbedingt eine Verbesserung. Wobei – es war ohnehin egal. Nobby führte nicht nur eine Pike mit sich. Eigentlich sah Mumm gerade mehr spitze Klingen und Kugeln mit Stacheln als Nobby. „Und wer es nun war, Herr?“, dröhnte Detritus Stimme von hinten. Mumm knurrte leise. „Jemand, auf den ich gleich hätte kommen sollen.“ „Wir gehen in Richtung Dunkelgasse, nicht wahr, Herr?“ Statt zu antworten, senkte er den Kopf ein wenig, starrte stur geradeaus und verstärkte seinen Schritt. Wenn sie Glück hatten, lauerte nicht bereits hinter der nächsten Ecke ein Gegner, dem sie nicht gewachsen waren. *** Es war einfacher, wenn man lag, stellte Karotte fest. Mumm hatte Nobby und Colon zu sich gerufen, nur eine andere Wache war bei ihm geblieben, um dafür zu sorgen, dass er morgen wieder aufwachen würde. Es ging los, dass wusste er. Und er wäre gerne mit dabei gewesen. Es war wirklich einfacher, wenn er lag. Dann konnte er einfach nur so da liegen und an die Decke starren und so tun, als würden seine Kameraden nicht gerade in ihr Unheil marschieren. Das leise Summen der Wachleute unter ihm wirkte beruhigend. Ab und zu glitzerten Funken vor seinen Augen und er konnte sich vorstellen, dass es eine Kerze in einem Stollen war oder Groß A'tuin oder rassiermesserscharfe blinkende Tonklauen… Vor der Tür stapfte ein Troll vorbei und ließ den Boden ein wenig beben, gerade genug, um angenehm zu sein. Müde schloss er die Augen. Auf diese Weise fühlte es sich nicht ganz so schlimm an. Wenn er wieder aufwachte, würden die Anderen zurück sein und es würde keine riesigen Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster mehr geben, die ihn überfielen und aufschlitzten. Das Stampfen des Trolls schwoll auf und ab und wirkte unglaublich einschläfernd. Karotte schlug die Augen wieder auf. Der Troll lief scheinbar einen Marathon – und zwar nicht vor seiner Tür, sondern vor seinem Fenster. *** Die Straßen waren still, in den Fenstern schimmerte kein Licht, etwas, das er bereits registriert hatte, als sie das Wachhaus am Pseudopolisplatz verließen, aber das er erst jetzt richtig bemerkte. Das konnte nur zwei Gründe haben: entweder, die Bewohner versteckten sich unter ihren Betten oder die Neugierde hatte sie aus eben jenen vertrieben. Er hoffte auf ersteres, er glaubte an letzteres. Kein Bürger Ankh-Morporks würde sich ein Spektakel entgehen lassen, das vor seiner Haustür umher stapfte. Zumindest, wenn alle anderen genauso dachten und er getrost davon ausgehen konnte, dass er schneller rennen konnte als zumindest einer der Trottel um ihn her. Seine Vermutungen wurden bestätigt. Bereits Straßen weiter hörten sie es summen. Der ganze Stadtteil musste sich versammelt haben. Er blieb stehen. Nobby, Fred und Detritus und die anderen Trolle taten es ihm gleich – bis auf Diorit, der den vor ihm stehenden Fred Colon noch ein paar Meter weiter schob. „Das ist in der Dunkelgasse, oder?“, fragte Nobby und umfasste nicht nur seine Pike kampfbereit. Mumm nickte. „Detritus? Geh mit Diorit, Löss und Ivorit und sieh nach. Verursache keine Verletzten, wenn D7du es vermeiden kannst. Wenn du eines dieser Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster findest, zeig ihm, dass du härter bist als gebrannter Ton.“ Detritus und seine Trolle salutierten. Ein Ball aus Klingen, Kugeln mit Spitzen und Nobby duckte sich, als eine Trollhand über seinen Kopf hinweg zu schaben drohte. „Detritus wird aus Nicht-in-Taschen-passen-Monster machen Haufen bunten Staub und dann blasen in Ivorits Kopf, damit sein überhaupt etwas drin, Herr.“ Mumm nickte. „Abmarsch.“ Es klirrte verdächtig, als der Ball aus Klingen und Kugeln mit Spitzen, der Nobby war, sich nun ganz auf den Boden warf und drei Meter zur Seite rollte, um Ivorit zu entgehen, der anscheinend nicht nur zu salutieren vergessen hatte, sondern auch, dass die Führung bei Detritus lag. Die anderen Trolle folgten ihm eilig. Auch als sie schon eine Straße weiter waren, hörte man noch Detritus' dröhnende Stimme. „Sein du auf Platte? Ich Nicht-in-Taschen-passen-Monster mache zu Staub mit dir in Hand, wenn du sein auf Platte. Du sein dummer Troll!“ Nobby hob den Kopf, als er sich sicher war, dass keine akute Gefahr von mehreren hundert Kilogramm Troll mehr drohte. Ohne einen Kratzer rappelte er sich auf. „Und was machen wir, Herr?“, fragte Colon, der immer noch zu der Ecke sah, hinter der Detritus und seine Truppe eben verschwunden war. Man sah ihm ziemlich deutlich an, dass er die Trolle nicht hatte begleiten wollen. „Detritus eskaliert den Angriff in der Dunkelgasse. Wir sorgen dafür, dass er in den nächsten Tagen keine Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster mehr eskalieren muss.“ Fred, Nobby und die letzten beiden verbleibenden Trolle nickten. „Und wie tun wir das?“ „Das werden wir wissen, wenn wir da sind.“ „Herr, da lang geht es in die Lichterstraße.“ Er nickte grimmig. „Genau da wollen wir hin.“ Fred und Nobby tauschten einen Blick, der vage folgende Frage stellte: Wollen wir wirklich? *** Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Karotte brauchte einen Moment, um die Augen des Zwergs zu fixieren, der sich über ihn gebeugt hatte. „Kettil?“ „Ja, Herr. Was kann ich für dich tun, Herr?“ Für einen Moment überlegte er, ob er dem Zwerg einfach den Befehl geben sollte, aus dem Fenster zu schauen. Dann wurde ihm klar, dass er es mit eigenen Augen sehen musste. „Hilf mir bitte hoch.“ „Der Arzt hat gesagt, Du sollst liegen bleiben, Herr.“ Hitze und Kälte wallten gleichzeitig durch seinen Körper, als er sich mit einem Ruck aufsetzte. Einen Augenblick lang war alles schwarz, doch er war nicht gewillt, ohnmächtig zu werden. Tief durchatmend, wurde es langsam besser. Er spürte Kettils Hand auf seiner Schulter, doch er griff danach und hinderte den Zwerg daran, ihn wieder zurück ins Kissen zu drücken. „Mumm hat dir einen Befehl gegeben, nicht wahr?“, fragte Karotte leise. Kettil schwieg. „Ich hätte dir den Befehl an seiner Stelle ebenfalls gegeben“, sprach Karotte weiter und suchte den Blick des anderen. „Ich möchte nicht, dass Du diesen Befehl brichst. Darum werde ich mich an ihn halten. Aber ich muss mir etwas ansehen. Bitte, bring mich zum Fenster.“ „Du willst Kommandeur Mumm nicht folgen, Herr?“ Er seufzte. „Doch. Aber ich vertraue ihm. Wenn er sagt, dass er es ohne mich schafft, dann tut er das auch. Hilfst Du mir hoch?“ *** Verspätet merkte er, dass er auf dem Boden aufgeschlagen war. In diesem Moment bemerkte er ebenfalls, dass die Zähne, die ihn gepackt hatten, nicht mehr in seinem Oberkörper steckten und so sein Blut nicht mehr durch ihre Anwesenheit daran hinderten, Urlaub außerhalb seines Körpers zu machen. Er versuchte, seine Hände dazu zu bringen, sie auf die Wunden zu pressen, doch diese gehorchten ihm nicht mehr. Sein Körper wusste, dass während der Zeit zwischen dem Angriff und dem eben erfolgten Aufprall auf dem Boden einige innere Organe verletzt worden waren. Er selbst wusste das zwar nicht, aber es war auch ein Wissen, das er nicht mehr notwendigerweise wissen musste. Allerdings war es das, was ihm den Rest geben würde, ehe der Blutverlust das übernehmen konnte. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Blut sickerte in seine Lungen und hätte ihn husten lassen, hätte er dazu noch die Kraft gehabt. Füße erschienen in seinem Blickfeld. Unbewusst erinnerte er sich daran, dass er die Schuhe kannte, doch in seinem Bewusstsein kam diese Information nicht mehr an. *** Kommandeur Mumm Recht hat, dachte Detritus, als sie die Dunkelgasse erreichten. Die Bürger der anliegenden Straßen hatten sich versammelt und wohnten dem Spektakel bei, nur ein paar wenige, aus der ersten Reihe waren sich bewusst, dass das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster mit ihnen weiter machen würde, wenn es mit dem fertig war, was es gerade tat. Detritus und seine Trolle standen nicht in der ersten Reihe, aber wenn sie sich aufrichteten, waren sie groß genug, um so viel zu sehen, als stünden sie ganz weit vorn. Es sein Nicht-in-Taschen-passen-Monster. Und es sein groß wie Pferd und rollen in das Haus da vorn und wieder raus und wieder rein. Immerhin, dieses Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster war zwar größer, als es hätte sein dürfen, aber wenn sich Detritus auf die Schultern der anderen drei stellte, war es kleiner als er. Die Schlussfolgerung war simpel: Er würde dieser Nicht-in-die-Tasche-passen-Rolle jetzt zeigen, wie man richtig rollte. „Ihr sehen Nicht-in-Tasche-passen-Monster, ja? Gut. Dann ihr wissen, was zu tun. Wir gehen hin ohne zu treten auf Menschen und Zwerge drumrum. Dann wir ihm zeigen, dass Trolle nicht sind dummer Ton. Wir jetzt gehen.“ Vier Trolle von der Gewalt einer mittelgroßen Steinlawine salutierten und schoben sich dann durch die Menge. *** Mumm blieb stehen und drehte sich ruckartig nach links. Dann zog er noch einmal die Liste, die er aus dem Eingangsstapel auf seinem Schreibtisch gefischt hatte, hervor und studierte sie sorgfältig, während er Colon ignorierte, der über seine Schulter zu schauen versuche. Ohne Aufforderung hob er den Arm, sodass auch Nobby einen Blick auf die Liste werfen konnte. „Herr? Das ist die Inhaberliste der Freudentränenstraße“, murmelte Fred hinter ihm leise. Er spürte, dass auch zwei Trolle so dicht hinter ihm standen, dass er eigentlich hätte Angst haben sollen, doch er ging davon aus, dass die Buchstaben auf der Liste sie genug verwirrten, um sie davon abzuhalten, grundlos auf ihn zu fallen, nach ihm zu treten oder zu schlagen oder ihm Platte anzubieten. „Richtig.“ „Was wollen wir mit der Inhaberliste der Freudentränenstraße, Herr?“ Mumm deutete mit dem Finger auf einen der Einträge. Ohne weiter auf die Liste zu schauen, sah er auf und blickte geradeaus. Nobby und Colon folgten seinem Blick. „Oh.“ Er nickte. „Nobby? Machst du uns bitte die Tür auf?“ „Ich darf nach Fallen und Attentätern in den Schränken und Kommoden Ausschau halten, nicht wahr, Herr?“ Es klirrte und schepperte leise, als Nobby die Tür in Augenschein nahm. Nicht nur seine Augen leuchteten verdächtig. *** Das Fensterbrett beklagte sich leise ächzend, als Karotte sich nicht nur darauf stützte, sondern zudem eine nicht geringe Kraft darauf ausübte, während er es umklammerte. Er starrte stur nach unten und Kettil tat dasselbe. Mittlerweile war es dunkel und nur Fackelschein leuchtete den Pseudopolisplatz aus, der unter Karottes Zimmer lag. Man musste genau hinsehen. Aber man sah es. Groß und weder Mensch noch Troll noch Zwerg. Sicher vier Meter. Mit einem Maul und Klauen und Flügeln, mit denen es vermutlich nicht fliegen konnte, was aber egal war, da es gar nicht fliegen musste. Wenn man ganz genau hin sah und die Fackeln gerade günstig leuchteten, konnte man meinen, dass seine Haut von oranger Farbe war. Karotte wusste es besser. Die Haut war nicht von oranger Farbe, weil es keine Haut gab. Das, was da unten auf dem Pseudopolisplatz hin und her stapfe und hierhin und dorthin starrte, als würde es etwas suchen, war aus gebrannten Ton. Die Farbe war keine Haut, sie war Lack. Kettil neben ihm zitterte leise, er spürte es durch seine Hand, mit der er sich auf den anderen Zwerg stützte. Vielleicht lag es an Karottes Gewicht, denn dieser war doppelt so groß und fast doppelt so breit wie seine Stütze, doch vermutlich war es Furcht. Karotte kannte diese Art von Furcht. Er spürte sie gerade selbst. Und dann wurde ihm klar, was das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster suchte. Das war nicht gut. „Kettil?“ „Ja, Herr?“ „Du siehst das Wesen da unten?“ „Ja, Herr?“ „Es ist ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster.“ „Ja, Herr?“ „Es ist das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster.“ „Herr?“ „Hol mir mein Kettenhemd und mein Schwert, sei so gut.“ *** Mehrere Tonnen Stein trafen auf beinahe ebenso viel Ton. Die Menge tobte. Sicher, einige hatten sich nicht sonderlich erfreut gezeigt, als die Trolle der Stadtwache sich ins Gedränge geschoben hatten, auch, weil es zum vermehrten Auftreten plötzlicher Knochenbrüche bei jenen gekommen waren, die nicht wussten, dass man einem Troll auswich, weil er einem nicht ausweichen würde. Und doch: Diese Stimmung war schnell umgeschwungen. Der Kreis um das Haus, welches von dem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster angegriffen worden war, hatte sich schlagartig vergrößert. Es hatte vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Arena, deren Sitze aus Fleisch bestanden. Der zwischen erstem und zweiten Geschoss angebrachte SchriftzugBri gbun slich s Wund rli ter anufak ur tauchte die Szene in passendes Licht. Einige Buchstaben waren herunter gefallen und beleuchteten jetzt Beine und Füße der Kontrahenten. Stein schlug auf Ton und Detritus musste einsehen, dass ein zwei Meter großes nilpferdförmiges Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster keine Kaffeekanne war. *** Bringbunteslicht wollte husten, doch er wirkte wenig erleichtert, als selbiges tatsächlich wieder funktionierte. Irgendetwas fehlte. Er fasste sich an den Hals und bemerkte, dass seine Hand zwar tatsächlich seinen Hals berührte, gleichzeitig aber nach wie vor regungslos auf dem Boden lag. Er folgte der zweiten Hand. Da lag auch ein Körper auf dem Boden, Unterarm, Oberarm, Oberkörper, Kopf. Sein Körper, um genau zu sein. Eigentlich sollte er jetzt Angst haben, doch er spürte keine. DAS SIND DIE NERVENZELLEN, WEISST DU?, dröhnte eine Stimme neben ihm wie eine Kerze bevor man sie entzündete. DEINE NERVENZELLEN LIEGEN DA UNTEN UND FANGEN AN ZU VERWESEN. MACH DIR NICHTS DRAUS. DU WIRST SIE NICHT MEHR BRAUCHEN. *** Nobby klirrte. Mumm konnte nicht ganz genau sagen, ob es Nobby selbst war oder die Klingen und Kugeln mit Stacheln oder die Tür. Vermutlich traf alles gleichzeitig zu. Ein leises Knarren irritierte die Geräuschkulisse nachhaltig. Ein Kopf wurde in dem aus Klingen und Kugeln mit Stacheln bestehenden Ball sichtbar und suchte seinen Blick. Er nickte nur, dann war Nobby im Inneren des Gebäudes verschwunden. „Was wird uns erwarten, Herr?“, fragte Fred, der nach wie vor neben ihm stand. Er musste ihm nicht sagen, dass er jetzt lieber unter seinem Bett sein würde als hier. „Weißt Du, was ein Drachnich ist?“ Fred nickte langsam. „Eines dieser Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, Herr. Ich habe es einmal gesehen, als die Nachbarskinder sich gegenseitig mit ihren Nicht-in-die-Tasche-passen-Monstern verprügelt haben. Es ist eine Art blau lackierte Schlange.“ „Stell sie dir in groß vor.“ „Wie groß, Herr?“ Er bekam keine Antwort, denn es war Antwort genug. „Oh.“ Mumm nickte bestätigend und wusste, dass die Gesichtsfarbe des Anderen von rot zu weiß mit roten Flecken umgeschlagen war. Allerdings wusste er auch, dass dieser jetzt nicht mehr weglaufen würde. Nicht, bevor er selbst es tat. Ein weiterer Grund war klein, gelb, zog an seinem Hosenbein und winkte, als er sich umdrehte. Dann sah er auf. Die blau lackierte tönerne Schlange war nicht klein. Sie winkte auch nicht. Es dauerte, bis er in sein Kettenhemd kam. Man bekam den Arm nicht richtig hoch genug, wenn man eine frische Wunde zwischen den Rippen hatte. Außerdem war Kettil nicht so kooperativ, wie er es hätte sein können. Aber Karotte brach Mumms Befehl nicht. Er würde ihm nicht folgen. Er würde seinen eigenen Kampf kämpfen. Nicht nur, weil er es wollte, sondern weil es seine Pflicht war. Es dauerte auch, als er die Treppen nach unten stieg. Der Verband stützte ihn zwar, aber seine Verletzung tat weh. Zurück ins Bett zu gehen und es den anderen zu überlassen, wie Kettil es vorgeschlagen hatte, war keine Alternative. Von unten hallte Kampflärm herauf. Anscheinend hatte das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster den Eingang gefunden. Jemand krachte durch eines der Geschosse über ihm. Er verdoppelte seine Anstrengungen. *** Viele Wege blieben nicht übrig. Eine tönerne Schlange von bestimmt einem Dutzend Metern Länge, die einen Kreis um einen schloss, war ein hervorragendes Argument dafür, den einzigen Weg einzuschlagen, der blieb. Die lächelnde und winkende gelbe Tonratte an seinem Hosenbein tat ihr übriges. Der Gedanke übertrug sich wie von selbst zu Fred, den Trollen und Nobby, der gerade seinen Kopf durch die Tür steckte. Mumm rannte, hängte Fred, Flintstein und Tuff ab und verschwand als Erster hinter der Tür. Fred stolperte hinterher, die Trolle vergrößerten die Tür ein wenig und walzten die Anderen beinahe platt, weil sie nicht ans Anhalten gedacht hatten. Ein furchtbar schabendes Geräusch auf der anderen Seite der Tür bestätigte die Vermutung, dass die Schlange nicht ewig nur einen Kreis bilden würde. Und das tat eine neue Vermutung auf: Wenn sie nicht ewig einen Kreis um sie ziehen würde, dann passte sie vermutlich auch noch durch die Tür und den Durchgang, in dem sie gerade Schutz suchten. Fred und Nobby dachten dasselbe. Der Weg durch die Tür auf der anderen Seite wurde dementsprechend eng, erledigte sich jedoch, als ein tönerner Riesenkopf hinter ihnen durch den Gang schabte. Panik wallte in allen dreien auf und sprengte alle Rahmen. Mumm fiel, Nobby und Colon hinterher. Es war kein angenehmer Fall, auch wenn er nur auf dem gepflasterten Boden des Innenhofes aufschlug – denn die anderen beiden rammten ihn mit ihrem Gewicht ein paar Zentimeter tiefer. Wenigstens waren es nicht Flintstein und Tuff. „Kommandeur Mumm“, sprach eine Stimme weiter vorn. Hervorragend. Scheinbar hatte er gefunden, was er gesucht hatte. Es war nur ein furchtbar schlechter Auftritt seinerseits. Ganz ganz toll. Wenigstens rollte Colon von ihm runter.(36) *** Bringbunteslicht nickte langsam. Ja, die Nervenzellen würde er wohl tatsächlich nicht mehr brauchen. Irgendwie würde er den ganzen Körper wohl nicht mehr brauchen. Ein wenig schade war es schon. Er hatte seinen Körper gemocht. Einen Moment lang musterte er die Gestalt neben ihm. Dunkler Umhang, Knochen ohne Muskeln und Haut darüber und ein Schädel, aus dem zwei blaue Löcher strahlten. Er nickte nicht, aber ja, irgendwie hatte er das erwartet. Uninteressant. Schnell schaute er weiter und fand etwas interessanteres: Den Besitzer der Füße, die er noch vor kurzem durch seine Augen gesehen hatte. Gerne hätte er die Fäuste geballt und auf ihn eingeschlagen, doch das kam ihm ein wenig sinnlos vor. SETZ DICH LIEBER ODER GEHE WEITER. HIER WIRD ES NOCH SPANNEND UND DAS DARF ICH NICHT VERPASSEN, sagte Tod neben ihm. Tatsächlich brach einen Moment später die Tür, die von der Straße zum Innenhof führte, auf. Zwei Trolle stolperten herein, drei Menschen blieben erst in der Tür stecken und klatschten dann gemeinsam auf den harten Boden. SIEHST DU? Vermutlich hatte er Recht. Bringbunteslicht machte einen Schritt zur Seite und setzte sich neben den Tod. „Das sind die Trottel von der Stadtwache, richtig?“ Das Skelett nickte. *** Seine Faust steckte im Ton. Das Ding innen hohl sein wie Zwerg ausgenommener, dachte Detritus. Mit einem Ruck befreite er seine Hand, nutzte den Schwung und fiel zur anderen Seite. Das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster nutzte seinen Schwung ebenfalls und versetzte sich erneut in eine rollende Bewegung. Es traf ihn am Bein, doch er gab ihm nur einen Tritt und beförderte es in die Luft. Das sein besser als Schlag Zwerg über Netz. *** Auf halber Treppenhöhe traf er Grinsi, die gerade nach oben eilte. Sie stoppten alle drei und sahen einander ein. Kettil, der hinter Karotte zum Stehen kam, biss die Zähne aufeinander und schwieg. Er sah Lippenstift, Lidschatten und einen Rock. „Ich muss-“, setzten beide an und stoppten. Karotte nickte. „Ich wollte Dich wecken, Hauptmann. Draußen ist-“ Er nickte erneut. „Ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster, das wahrlich in keine Tasche passt. Ich weiß.“ Genauer hatte er es gehört und dann gesehen – aber ja, er wusste, was im Gange war, und dass die ganze Situation nicht sonderlich ideal verlief. Dennoch fühlte er sich ein wenig besser. Man brauchte ihn. Man wollte nicht, dass er oben in seinem Zimmer lag und zusah, man holte ihn. Und dass ausgerechnet Grinsi ihn holen ging, kam ihm gerade recht. „Grinsi? Was hast Du noch in deinem Labor? Ich brauche etwas, das eine Explosion auslösen kann.“ Die Zwergin überlegte nicht lange. „Wie groß soll die Explosion sein?“ „Du hast das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster draußen gesehen?“ Sie nickte. Eine Explosion, die stark genug war, um ein schönes, großes Loch in einen Haufen Ton zu sprengen. Wenn Grinsi sich mit etwas aus kannte, dann damit. „Du hast höchstens eine Viertelstunde. Nimm Kettil mit.“ „Und was machst Du, Herr?“ „Ich sorge dafür, dass ihr diese Viertelstunde habt. Mir wäre es lieber, wären es nur zehn Minuten.“ Er wartete auf keine Antwort mehr. Er setzte sich wieder in Bewegung und rannte die Treppe hinab. Jetzt war keine Zeit, um in Selbstmitleid zu versinken. Auch wenn er es später bereuen würde, für diesen Moment blendete er den Schmerz aus und überließ dem Adrenalin, das durch seinen Körper pumpte, die Führung. *** Irgendwo drückte sich etwas scharfkantiges in seine Rippen. Mumm versetzte Nobby ein paar nicht sonderlich nette Stöße mit dem Ellenbogen, bis dieser Freds Beispiel folgte. Das Scharfkantige – was auch immer es gewesen war, verlor an Druck. Er hatte das dumme Gefühl, als würde er bluten. Ein denkbar ungünstiger Start.(37) Trotzdem rappelte er sich auf.(38) Er hätte jetzt gern den Triumph ausgekostet, richtig gelegen zu haben, denn dieser Mann vor ihnen war in der Tat der, den er unter Verdacht gehabt hatte, doch irgendwie wollte dieser sich nicht einstellen. Lag vermutlich daran, dass es noch immer nicht viel zum Triumphieren gab. „Du hättest nicht herkommen sollen, Kommandeur Mumm“, sagte Herr Schweiß. Er klang nicht sonderlich heroisch oder böse, als er das sagte. Nicht einmal gelangweilt. Eher mitleidig. „Ich habe herkommen müssen. Du bringst meine Leute um.“ „Karotte Eisengießersohn hat geschnüffelt. Hättest Du dich da raus gehalten, hättest Du dein Leben wie gehabt weiter leben können.“ „Aber ich hätte so nicht weiter leben wollen.“ Mumm stellte beruhigt fest, dass Herr Schweiß sich anscheinend gerne reden hörte. Ansonsten wäre er bereits Geschichte gewesen. So aber hatte er noch ein wenig Zeit. Nicht viel, vermutlich, aber genug, um die Lage zu peilen. Der Innenhof war leergeräumt. Flintstein und Tuff standen in seiner Nähe, scheinbar irritiert genug, um nicht auf die Idee zu kommen, dass ein kaputter Herr Schweiß ein guter Herr Schweiß war. Nobby und Fred waren bei ihm. Hinter ihm schlängelten sich ein Dutzend Meter Ton aus dem Durchgang. Eine zusammengesunkene Gestalt weiter hinten erkannte er erst verspätet. Scheinbar hatte Herr Schweiß bereits, was er wollte. „Nun wirst Du gar nicht mehr leben, Herr Mumm.“ Das sah Mumm anders. Aber im Gegensatz zu seinem Kontrahenten wusste er, wann er genug geredet hatte. Er zog sein Schwert und rannte los. *** Kettil hatte Karotte aufhalten wollen – allein schon, weil er ihn mit dieser … dieser … Dieser zurück ließ – aber Grinsi hielt ihn davon ab. „Du hast ihn gehört. Wir haben eine Viertelstunde. Weniger. Ich brauche fünf Minuten, um zusammen zu suchen, was ich brauche und noch einmal fünf, um sie so zusammen zu mischen, dass sie das tun, was ich will. Willst du die anderen fünf darüber streiten, dass wir ihn nicht gehen lassen dürfen oder dass ich einen Rock trage? Ich nicht.“ Kettil öffnete den Mund, aber schwieg. Ohne ihn loszulassen rannte Grinsi los. *** Irritierte Blicke folgten ihm, als er die letzten Treppenstufen hinter sich brachte, kurz stehen blieb um durchzuatmen, und dann die Eingangshalle durchquerte. Scheinbar hatte sich doch noch nicht ganz herumgesprochen, dass man ihn einschalten wollte. Der Boden zitterte und er hörte, wie mehrere Wachen weiter ins Gebäudeinnere flohen. Er verübelte es ihnen nicht. Allerdings würde sich diese Flucht nicht lohnen, wenn sie hier verloren. Trotzdem. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Die Tür war aus den Angeln gebrochen und gab den Blick auf den Platz vor dem Gebäude frei. Er sah es. Anscheinend hatten seine Kollegen es geschafft, es vom Wachhaus weg zu locken. Und sie kämpften noch. Das waren die einzigen guten Nachrichten. Er wollte nicht zählen, wer nicht mehr stand. Und er brauchte nicht zählen, wer noch stand, weil es kontinuierlich weniger wurden. Ein Obergefreiter schlug den Weg ins Wachhaus ein, stoppte aber, als er ihn sah. „Hauptmann Karotte!“ Er zog sein Schwert. Dann verließ er den Schutz des Gebäudes. *** Etwas Schweres traf seine Schulter und schleuderte Mumm aus seiner Bahn. Er wusste nicht, was genau ihn getroffen hatte, aber andererseits wusste er auch nicht, wo oben und wo unten war. Irgendwo brüllten Tuff und Flintstein, dann schlug Ton auf Stein. Den Geräuschen nach zu urteilen erhielten die beiden nach ihrem Angriff eine kostenlose Flugstunde. Etwas klirrte. Er fragte sich nicht, was es war, sondern rollte auf die Seite. Aus der Bewegung kam er wieder in den Stand. Herr Schweiß zog sein Schwert aus dem Boden. „Dachtest Du, dass es so einfach wäre, Herr Mumm?“ „Nachdem Du eine Horde Kobolde dazu gebracht hast, zwei Tonnen Ton zu steuern?“, knurrte Mumm und dachte: Natürlich nicht. Aber man wird doch wohl hoffen können. Auch jetzt hoffte er wieder, vornehmlich darauf, dass Herr Schweiß vergaß, wie man ein Schwert richtig herum hielt, während er redete. „Es ist einfach, wenn man ihnen eine Hierarchie gibt, weißt Du?“ Leider vergaß Herr Schweiß nicht, wie man ein Schwert richtig herum hielt. Er hob seines und schlug zu. *** Hierarchie brachte dem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster in der Dunkelgasse wenig. Immerhin – sie hatte ausgereicht, um ein Loch in die Außenwand von Bringbunteslichts Wunderlichtmanufaktur zu reißen und die Böden der ersten und zweiten Etage dazu zu bringen, ihren neuen Aufenthaltsort im Erdgeschoss zu wählen. Aber gegen vier Trolle, die größer waren als es selbst(39), scheiterte selbst die beste Hierarchie, wenn der Ton nicht hart genug war. Detritus schlug zu und wo er traf, da war kein Ton mehr. Die Hand noch immer in dem Ding, begann er, sich zu drehen. Gravitation und Schwerkraft erledigten den Rest. Löss freute sich beinahe, als ein ziemlich löchriges Tonnilpferd auf ihn zuflog. Er sprang nicht, sondern hob einfach nur die Hand. Die Menge buhte.(40) Trotzdem änderte sich die Flugbahn des Monsters nicht mehr. Ton brach, als er sich um Löss' Hand schob. Mehrere Kobolde beschlossen, dass es jetzt an der Zeit war, auf Hierarchie und Besitzer zu pfeifen, und beendeten das Spiel. Durch das Loch nahe des Kopfes verließen sie das sinkende Schiff – oder so ähnlich – und nahmen die Kraft, die sie dem Tonkörper verliehen, mit. Dieser, nun steuerungslos, taumelte auf Ivorit zu, der bereits in Pose stand, um ihn weiter zu schlagen, beschloss aber bereits in der Luft, dass es für eine stabile Konstruktion zu wenig Ton und zu viele Löcher und Risse gab. Blaue Tonscherben rieselten zu Boden und formten interessante Muster. Die Menge jubelte. 1:0 für Team Troll.(41) *** (36) Dies ging nicht von ihm selbst aus, denn er sah gerade kleine Tonschlangen vor dem inneren Auge herumschlängeln. Viel mehr lagen sowohl Nobby als auch Mumm unter ihm. Das wiederum hatte gewissermaßen eine Wirkung wie ein kleiner Berg. (37) Wobei das den Start kaum noch ungünstiger machen konnte, denn diesen Pegel hatte Mumm längst erreicht. Immerhin – er war auf einen Innenhof geflohen, in dem ein Verbrecher auf ihn wartete und hinter ihm befand sich eine tönerne Schlange, die nicht so aussah, als würde sie sich vegetarisch ernähren. (38) Es blieb ihm auch nicht viel anderes übrig, wenn er nicht als Mitternachtssnack für ein Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster enden wollte. (39) Zumindest, wenn Detritus sich auf die Schultern der Anderen stellte. (40) Ihrer Meinung nach war das hier viel zu einseitig. Dass Detritus und seine Trolle gerade ihr Leben retteten, war zweitrangig. (41) Detritus Gedanken dazu waren in etwa wie folgt: Es sich zahlen aus ab und an zu spielen schlag Zwerg in die Luft gegen Trolle vom Zukunftschweinelager. Kettil lag flach auf dem Boden und hielt sich die Hände über den Kopf. Tiegel flogen durch die Luft. Ein leeres Schälchen traf beinahe seinen Schädel. Dann war es ruhig. Die Flüche verstummten. Es gab keinen Triumphschrei oder ähnliches. Grinsi begnügte sich damit, die Chemikalien so schnell wie möglich zusammen zu mischen, ohne dass sie ihnen um die Ohren flogen. *** „Ja, so ist es richtig! Schlag zu! Gib ihm eins auf sein dummes Maul! Mach den Trottel fertig!“ Bringbunteslicht hatte es – wie es für einen Ankh-Morporkianer üblich war – nicht lange in seiner sitzenden Position gehalten. Kurz nachdem die ersten Schwerthiebe geschlagen worden waren, war er aufgesprungen, fuchtelten seitdem mit den Fäusten herum und gab Mumm Tipps, welche dieser zu seinem Glück nicht hörte. VORHIN WAR NOCH DER ANDERE DER TROTTEL, sagte Tod hinter ihm. Er griff in eine schwarze Tüte, die er sich vor kurzem geholt hatte, zog ein schwarzes Stück irgendwas hervor, das irgendwie an aufgeplatzten Maiskörner erinnerte, und schob es sich zwischen die Kiefer. Er kaute und schluckte. Ein zerkautes schwarzes aufgeplatztes Maiskorn fiel zwischen seinen Rippen hinab, dort, wo bei einem Menschen die Speiseröhre war, und gesellte sich zu den anderen. „Ja, aber der hat mich wenigstens nicht umgebracht.“ DER ANDERE HAT DICH AUCH NICHT UMGEBRACHT. SEIN NICHT-IN-DIE-TASCHE-PASSEN-MONSTER HAT DAS FÜR IHN GETAN. „Aber er hat zugeschaut, wie ich an meinem eigenen Blut erstickte!“ DAS IST WAHR. ABER JETZT SETZ DICH HIN. DU STEHST MIR IM BILD. *** Das protestierende Ziehen in seiner Seite ignorierte Karotte, als er sich flach auf den Boden warf. Mehrere Klauen und ein Schwanz sausten über ihn hinweg. Er stieß sein Schwert hoch und bohrte es in den Oberschenkel des Drachen-Nicht-in-die-Tasche-passen-Monsters. Dann realisierte er, dass die Idee vielleicht nicht ausgereift genug war, ließ den Griff los und rollte einmal um die eigene Achse. Ein Pranke stampfte da auf, wo er eben noch gelegen hatte. Sein Schwert blieb im Oberschenkel stecken, schien dem Monster aber keine größeren Probleme zu bereiten. Stein und Ton krachten über ihm zusammen und er nutzte die Chance, davon zu robben. Nicht, dass der Troll das Tonwesen wirklich hätte aufhalten können. Es wirbelte herum. Der Schwanz traf Karotte an der Hüfte und hinterließ unangenehm tiefe Kratzer. Für einen Moment blendete der Schmerz ihn. Den Kampfschrei, der folgte, hörte er nur, aber er wusste, dass ein Zwerg mit seiner Axt losrannte. Metall kratzte über Ton. Karotte kroch weiter. Er fürchtete nur, dass er im Kriechen kein Weltmeister werden würde, sollte das hier noch länger dauern.(42) *** Die Menge verlief sich, als die Anwohner merkten, dass das Schauspiel vorüber war. Die meisten gingen ins Bett, die anderen beschlossen, sich für den Rest des Abends frei zu nehmen, denn diese Nacht war erfolgreich genug. Für Detritus war es das nicht. Er bückte sich(43) und griff nach einigen der Tonscherben am Boden. Sorgsam verstaute er sie in einer Tasche unter seinem Brustpanzer. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Als Beweis, oder so. Der Boden bebte leicht, als die anderen Trolle zu ihm kamen. „Das Spaß gemacht hat. Was wir jetzt tun, Detritus?“, fragte Löss, den Detritus für den intelligentesten der drei hielt. Er schnaubte trotzdem missbilligend. „Was du glauben? Wir gehen und retten Kommandeur Mumm.“ *** Kettil hob den Kopf und spähte vorsichtig nach links. Er sah Schuhe und mehrere Schichten Rock aus Leder, dann den typischen Brustpanzer und den Bart. Grinsi beachtete ihn gar nicht. Sie rührte verschiedenes Zeug zusammen. Aber wenigstens warf sie nicht mehr mit Töpfen. Er beschloss, dass es sicher genug war, um aufzustehen. Plötzlich riss sie die Faust, noch immer einen Rührlöffel in dieser haltend, in die Höhe, was ihn dazu veranlasste, mit seinem Hintern erneut die Sicherheit des Bodens zu suchen. „Bist du fertig?“, fragte er, vorsichtig. Sie ergriff die Schüssel und nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr Bart leicht glimmte. Trüge sie keinen Kittel über der Uniform, sie sähe damit fast ein wenig verwegen aus. Wenn diese Röcke nicht wären. „Komm mit“, sagte sie und schritt an ihm vorbei. Er schluckte und verbesserte sich hastig. Sie sah verwegen aus. *** Ein Schwertknauf traf Mumm im Gesicht. Er spürte nicht, dass er fiel, aber er spürte sehr wohl, dass er auf dem Boden ankam. Schritte entfernten sich und er fragte sich, warum. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Schmerz durchfuhr sein Bein und blendete ihn. Irgendetwas hob ihn in die Luft, doch dieser Ausflug dauerte nicht lange. Was auch immer in seinem Bein steckte, riss ihn herum und schleuderte ihn davon. Er knallte mit voller Wucht gegen etwas hartes, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Der Schmerz war ohrenbetäubend. *** Karottes Hände fanden ein Schwert. Es gab zwei Fragen, die er sich in diesem Moment nicht stellte: 1. Wem gehörte es? Und 2. Würde er es noch dringender brauchen als ich? Die Antworten würden ihm unter Umständen ohnehin nicht gefallen. Er rammte das Schwert in den Boden und zog sich daran hoch. Er wusste, dass er aus mehr als nur einer Wunde blutete. Der Blutverlust war nicht zu stark, aber lange würde er nicht mehr aushalten können. Dumpfes Pochen durchzog seinen Körper und jagte den letzten Rest Adrenalin durch seine Adern. Er fixierte den Gegner, der gerade einen Troll durch die Luft schleuderte, zog das Schwert aus dem Boden und rannte wieder los. *** Detritus musste nicht lange suchen. Der Lärm, den eine riesige Tonschlange verursachte, wenn sie Samuel Mumm durch die Luft warf, hallte weit. Er führte ihn – und Schaulustige – zu einem Loch in einer Wand, wo früher eine Tür gewesen sein mochte. Er fragte nicht, ob sie richtig waren. Er schob aus dem Weg, wer im Weg stand, und durchquerte die Maueröffnung, die bequem viel Platz bot. Löss, Ivorit und Diorit grollten hinter ihm wie ein schweres Gewitter. Als er das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster sah, schnappte dieses gerade nach Nobby, der alles nach ihm warf, was er hatte(44), dann aber sein Heil in der Flucht suchte. Detritus stockte – denn er kannte dieses Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster. Doch dieses Mal verbannte er seine Angst. Gröhlend rannten die vier Trolle los, um ihre Pflicht zu tun. Bald flog der Erste ebenso gröhlend durch die Luft, verfehlte Fred Colon, der sich auf dem Boden zusammengekauert hatte, um nur wenige Zentimeter, und schlug in der Außenmauer einer Scheune ein. Lehm rieselte durch die Öffnung, die er hinterließ. *** Mumm blieb liegen. Er hatte die Zähne zusammengebissen, doch er war wieder so weit klar, dass er sagen konnte, wo er sich befand. Er wusste, dass Fred nicht mehr kämpfte. Er wusste auch, dass einer der Trolle K.O. war. Und er wusste ebenso, dass Nobby gerade seine letzte Unterhose geworfen hatte und jetzt darum bemüht war, sie wieder zu bekommen. Aber Detritus Auftauchen gab ihm Luft. Er musste sich etwas einfallen lassen und das bald. Etwas bimmelte in seiner Tasche. Er wollte danach greifen, doch dann hörte er bereits das „Geh endlich ran, Herr, Du hast einen Termin!“ Seine Bewegung gefror in diesem Augenblick, nur für einen Moment. Er starrte hoch zu der Riesenschlange. Sie brauchen nur eine Hierarchie, dachte er und dann: Eigentlich ist es nur eine Kiste voll Disorganizer, die alle zu einer anderen Zeit klingeln wollen. Und irgendwo haben sie einen Knopf, den man drücken muss, um sie an zu schalten. Er atmete tief durch. Oder aus. *** Sie erreichten die Eingangstür genau rechtzeitig, um Hauptmann Karotte an ihnen vorbeisegeln zu sehen. Er schrie nicht einmal. Kettil zwang sich dazu, ihm nicht nachzusehen. „Wie benutzen wir den Sprengstoff?“, fragte er, betont ruhig. Es wäre besser, würde er im Augenwinkel sehen, wie Karotte aufstand, doch er lag einfach nur da. Grinsi dachte anscheinend dasselbe und schluckte. „Er muss ins Innere geworfen werden. Vielleicht reicht auch dagegen, aber das Innere ist … endgültiger.“ Er nickte. „Du wirst keine hochhackigen Schuhe tragen, wenn ich im Dienst bin“, murmelte er leise, sagte dann: „Ich lenke ihn ab, du wirfst.“ Dann zog er seine Axt. *** Mumm wusste, was er zu tun hatte. Er wusste nur noch nicht, wie er das schaffen sollte. Detritus, der neben ihm einschlug, löste das Problem. Vorsichtig robbte er näher. „Detritus?“, fragte er vorsichtig. Der Troll stützte sich auf und sah ihn an. „Ich froh, Dich zu sehen lebend, Kommandeur Mumm.“ Er nickte knapp – er fürchtete, dass irgendetwas in seinem Nacken seine Aufmerksamkeit fordern würde, sollte er den Kopf zu stark bewegen. „Ich auch. Hast du diese runde Stelle gesehen, am Hinterkopf? Versuch, sie zu treffen.“ „Warum, Herr?“, fragte Detritus, doch eine Antwort bekam er nicht mehr. Herr Schweiß hatte wohl bemerkt, dass einer der Gegner sein Gehirn doch noch benutzte, statt panisch davon zu laufen, und deshalb scheinbar beschlossen, dass er diese Sache selbst in die Hand nahm. Mumm schaffte es gerade noch, sein Schwert hoch zu reißen. Er verlor die Balance. Ein Hieb gegen seine Seite hätte seine Karriere beinahe beendet. Nur durch Glück glitt das Schwert am Metall seines Brustharnisches ab. Er stolperte zurück, stieß dann zu, aber sein verletztes Bein gab ihm nicht genügend Halt, um sicher zu treffen. „Beeil dich!“, rief er Detritus noch zu, dann nahm ihn der Kampf voll ein. *** Bringbunteslicht saß wieder, doch er wippte nach wie vor ungeduldig hin und her und kommentierte das Kampfgeschehen. „Irgendetwas ist ihm eingefallen, richtig?“, fragte er und starrte in Richtung Mumm. „Um dem Stinktier den Garaus zu machen, richtig?“ VIELLEICHT, antwortete Tod. Er war ein wenig bedrückt, seine Tüte war mittlerweile leer und er hatte nicht das versprochene Gefühl, als würde er zwingend mehr haben wollen. Ohne etwas schmecken zu können, war die Sache wirklich ein wenig langweilig. *** Detritus begnügte sich damit, keine Antwort zu bekommen. Wäre er nicht Gefahr gelaufen, Kommandeur Mumm ebenfalls zu treffen, hätte er vermutlich versucht, dessen Gegner in den nächsten Hinterhof zu werfen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seinen Befehl. Ja, er sah die Stelle, die Kommandeur Mumm gemeint hatte. Allerdings sah er auch, dass die Schlange, die gerade Löss durchkaute, schneller sein würde, als er, wenn er versuchte, zuzuschlagen. Er schaute sich um. Ivorit lag nicht weit von ihm entfernt und sah Steinschnuppen vor den geschlossenen Augen. Kurzentschlossen stapfte er los. „Ich dir haben gesagt, wenn du auf Platte, ich mit dir schlagen Monster aus Ton zu Staub. Ich nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ich es auch tun, wenn du nicht auf Platte“, grollte er, als er vor dem Troll stehen blieb. Kurzentschlossen wuchtete er sich den Anderen auf die Schultern und rüttelte ihn in eine möglichst werfbare Position. Dann sah er zu der Schlange, die gerade erneut hinter Nobby her schlängelte. Umsichtig griff er eine der Tonscherben unter seinem Brustpanzer hervor. Nicht ganz so umsichtig warf er sie und vertraute darauf, dass Nobby es schon überlebte, wenn er ihn traf. Nobby dürfte dennoch erfreut darüber gewesen sein, dass Detritus' Wurf ihn verfehlte und stattdessen am Ton eines gewissen Nicht-in-die-Tasche-passen-Monsters abprallte. Die Schlange drehte sich herum. „Hierher, du Nicht-in-Taschen-passen-Monster!“, rief der Troll, bevor sie sich darauf besinnen konnte, dass Nobby näher war. „Ich aus dir machen Monster, das passen in Tasche! Du kommen her und mich holen!“ Vielleicht wirkte die Provokation, vielleicht dachte sich der Leitkobold im Kopf der Schlange auch nur, dass zwei Gegner auf einmal zu besiegen, einfacher war, als hinter dem flinken Nobby hinterher hetzen zu müssen. *** „Was macht der Troll denn jetzt? Er sollte lieber dieses Stinktier fertig machen! Der hat es verdient, jawohl!“, ereiferte sich Bringbunteslicht auf seinem teuren Platz. DU WIRST ES GLEICH SEHEN. Tod zerknüllte die leere Tüte und warf sie hinter sich.(45) Knochen rieben aneinander, als er gemächlich aufstand und nach seiner Sense griff. DU ENTSCHULDIGST MICH? ICH HABE NOCH ETWAS ZU ERLEDIGEN. *** Kettils Axt schlug gegen Ton und hinterließ eine Kerbe. Für das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster war es nicht mehr als ein Kratzer. Dennoch fühlte es sich gestört und wirbelte herum. Sein Schwanz wirbelte mit und traf Kettil auf Höhe seiner Brust. Der Zwerg schlug nicht unweit des Wachhauses in einer Gruppe Fässer ein. Ein kleines, tönernes Gefäß klirrte leise, als es durch ein Loch, welches sicher einer der Trolle geschlagen hatte, flog und auf der gegenüberliegenden Innenwand zerbarst. Grinsi hatte nur einen Versuch gehabt. Sie ließ sich der – zugegeben recht kurzen – Länge nach fallen. *** Dertrius zählte bis drei und dann noch einmal bis zwei. Es war eher Zufall, dass Ivorit zur rechten Zeit durch die Luft flog und zur rechten Zeit am rechten Ort aufschlug. Das Gewicht des Trolls drückte den Kopf der Schlange nach unten. Dabei entstand eine Spannung, die sich schlagartig löste, als ein Neigungswinkel erreicht war, an dem die Gravitation stark genug wirken konnte, um Ivorit gen Mutter Erde zu ziehen. Der Kopf schnellte wieder hoch. Im Inneren des Kopfes schlug zunächst ein Hämmerchen gegen den Kobold, der ihn lenkte, ein leises Klicken begleitete diesen Vorgang. Dann schnellte der Kopf nach oben, was zur Folge hatte, dass der Kobold eine recht unsanfte Begegnung mit dem Oberkiefer des Nicht-in-die-Tasche-passen-Monsters machte. Bevor sich seine Augen schlossen, überlegte er, ob er sich für die kommende Woche krankschreiben lassen sollte. Als Folge dieses Ausfalles brach die instabile Hierarchie im Inneren der Schlange zusammen. Der Schwanz zuckte hoch, weil der Kobold, der diesen Teil befehligte, der Meinung war, er sei der neue Kopf. Ein anderer wollte sich nach links bewegen, um die Verfolgung von Nobby Nobbs wieder aufzunehmen, doch der benachbarte Kobold lenkte seinen Teil in die entgegengesetzte Richtung, um es Detritus heimzuzahlen. Das Innere des Tongeschöpfs summte mit einem Mal wie ein Bienenschwarm ohne Königin. Das war zu viel für die tönerne Außenhülle. Es knackte verräterisch. Dann zerbrach der Körper in seine Einzelteile. *** Sowohl Mumm als auch Schweiß hielten inne, die Klingen gekreuzt. Sie hatten beide mitbekommen, wie Detritus den anderen Troll warf und mit diesem traf. Beide konnten nur ahnen, was passieren konnte, doch es war Mumm, der die richtige Entscheidung traf. Jahrelanges Leben in der Unbesonnenheitsstraße hatten ihn ebenso darauf vorbereitet, wie jahrelanger Wachdienst. Er schluckte den Schmerz, holte mit dem gesunden Bein aus und trat zu. Dann sah er zu, dass er Land gewann. Der Schlangenkopf fiel. *** Der Knall war ohrenbetäubend. Helles Licht flutete den Platz, erlosch, eine Druckwelle folgte. Dann rieselte es Tonscherben. Für einen Moment glaubte Korporal Grinsi Kleinpo, sie würde sogar ihre Chemikalienfläschchen klirren hören, bis sie registrierte, dass es ihre Ohren waren, die klingelten. geistesgegenwärtig hielt sie sich die Hände über den Kopf. *** Herr Schweiß sah noch, wie ein tönerner Riesenschlangenschädel auf ihn zuraste. Dann wurde alles dunkel. Nur eines war an der Sache positiv: Es ging zu schnell, um irgendetwas zu spüren. Eine Hand tastete über seinen Körper und griff nach ihm. Einen Augenblick später stand er neben dem Tonkopf, der nur noch aus Scherben bestand. Sein Blick sah zu der Hand, die ihn immer noch am Kragen hielt. Ihr fehlten so wichtige Dinge wie Haut und Knochen. Auf den Schädel, auf den er dann starrte, traf ähnliches zu. Der Tod deutete auf ein Häufchen schwarzer, durchgekauter Maisflocken. DU HAST DIR GANZ SCHÖN ZEIT GELASSEN. MEINE GESPRENGTER MAIS IST SCHON SEIT FÜNF MINUTEN LEER. *** (42) Er würde zudem bald gar nichts mehr sein als ein Fleck auf dem Kopfsteinpflaster, sollte das hier noch länger dauern. (43) Allerdings nicht allzu tief, denn seine Arme waren so lang, dass sie für gewöhnlich immer kurz über dem Boden hingen. (44) Dies schloss seine Unterhose mit ein. Bei menschlichen Gegnern hatte das noch immer geklappt. (45) Das würde noch einen Spaß für die Spurensicherung geben. Von dort, wo sich in der letzten Nacht die tönernen Zähne der Riesenschlange in Mumms Bein gebohrt hatten, zog sich ein subtiler Schmerz die Wade hoch und bis in den Oberschenkel. Beleidigt pochend, weil der Kommandeur der Wache statt im Bett zu bleiben, schon wieder unterwegs war, sorgte er dafür, dass dieser sich nur auf eine Krücke gestützt fortbewegen konnte und ihm jeder Schritt dieses Tages unvergesslich in Erinnerung blieb. Er verfolgte ihn, als er das Bett verließ und auch, als er zum Mittagessen ging. Genauso war er präsent, als er sich zu rasieren versuchte und anschließend das Haus verließ, um bei den Sumpfdrachen vorbei zu schauen, denn er musste Sybil sagen, dass er jetzt ging, nein, humpelte, nun, wie auch immer. Ebenso war er da, als er die Straßen zum Palast des Patriziers entlang ging, statt die bequeme Kutsche zu nehmen und sich krank zu fühlen.(46) Auch war er da, als er über den Hof schritt, vorbei an Trollen, die rote, gelbe, blaue, grüne und rosa-orange-violett-getüpfelte Tonfiguren zusammen trugen und zu großen Bergen auftürmten. Für einen Moment ließ er von ihm ab, als er auf dem Stuhl vor dem Büro des Patriziers Platz nahm, nur um bald darauf zurückzukehren und seine wohlverdiente Ruhe einzufordern. Mumm legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein und aus. Es gelang ihm nicht recht, wieder zu Atem zu kommen. Das lag vielleicht an der Uhr. Tick Tack Tick Tack TickTickTick Tack Tick Tack ...Tick Tack Tack(47) Nachdem, was er glaube, dass es eine halbe Stunde war - die Uhr über der Tür sagte ihm gerade, dass es um Zwei war und auch die Taschenuhr, die die Wache ihm vor seiner Beförderung zum Kommandeur geschenkt hatte, sagte dasselbe, aber ganz trauen tat er dem Frieden nicht, stand er auf, klopfte an und trat ein. Der Patrizier sah auf. Zweifelsohne studierte er gerade die Berichte, die Mumm ihm geschrieben hatte, bevor Sybil ihm angedrohte, ihm den Sumpfdrachen Gifticus vom Zehnbeißer unter die Bettdecke zu legen.(48) "Ah, Mumm, setze dich doch." "Ja, Herr." Mumm salutierte, so gut er es konnte, wenn er sich an eine Krücke klammerte und zwanghaft versuchte, nicht umzufallen. Seine Augen brauchten einen Moment länger, um den gewissen Punkt, eine Handbreit von Vetinaris Kopf entfernt, zu fixieren, als üblich. Dennoch nahm sich sein Blick fest vor, sich von diesem Punkt nicht mehr abzuwenden, bevor diese Unterredung beendet war. "Ich bin erfreut zu sehen, dass es dir gut geht, Mumm", sagte der Patrizier und beide kamen stumm zu der Übereinkunft, dass es eine höfliche Lüge war. Denn die Sachlage war simpel: Es ging Mumm nicht gut. Selbst Fred Colon würde sehen, dass es Mumm nicht gut ging, obwohl sich dieser gerade sein Kopfkissen vor die Augen hielt und von bissigen Kaffeetassen aus Ton faselte. "Ja, Herr." "Wie geht es Hauptmann Karotte, Mumm?" "Ich denke, er schläft Herr. Nachdem wir ihn in sein Zimmer gebracht haben, war er die ganze Nacht damit beschäftigt, nicht zu sterben. Dann ging der Arzt, Herr." Vetinari nickte verstehend. Ärzte waren eine knifflige Angelegenheit.(49) "Der Herrn Schweiß aus der Lichterstraße scheint nicht so glimpflich davongekommen zu sein, Kommandeur." "Ja, Herr. Es ist schwierig, glimpflich davon zu kommen, wenn der Kopf einer zwei Tonnen schweren Tonschlange auf einen fällt, Herr." "Dem Herrn Bringbunteslicht fiel kein Kopf einer zwei Tonnen schweren Tonschlange auf den Körper und er ist dennoch nicht glimpflich davon gekommen, Kommandeur. Die beiden mochten sich nicht sehr, nehme ich an?" "Nein, Herr. Aber die Zähne besagter Schlange haben klaffende Löcher in seinem Oberkörper hinterlassen, Herr. Bringbunteslicht und Schweiß kannten sich seit dem Kindergarten. Hatten dieselben Ideen. Stritten sich oft darüber, wer von ihnen den kleinen Maxi kopfüber in die Kerze gehalten hat. Seit der Alchemistenausbildung wurde es schlimm. Beide interessierten sich für bunte Lichter, Herr." Vetinari nickte. Zweifelsohne eine Familientradition. "Dabei hatten sie sich doch sogar auf zwei Läden an unterschiedlichen Lokalisationen der Stadt geeinigt." "Die Stadt hat sich darauf geeinigt, Herr. Man dachte, die Dünste, die bei Herrn Schweiß' Kerzen entstanden, würden weniger auffallen, wenn der Ankh sie überdeckte. Darum überredete man ihn dazu, in der Freudentränenstraße einen Laden zu mieten, Herr. Wenn er keine Kunden hatte, half er Herrn Sarschnellis Schwestern oft dabei, genügend Schlamm aus dem Ankh zu schaufeln, heißt es." "Ich denke, ich sehe den Zusammenhang, Kommandeur." "Ja, Herr." Der Punkt eine Handbreit neben Vetinaris Kopf schwamm ein wenig vor seinem Blickfeld, doch Mumm zwang sich dazu, nicht zu blinzeln.(50) "Herr?" "Ja, Mumm?" "Wir versuchen immer noch, die Tonscherben aus der Außenwand des Wachhauses am Pseudopolisplatz zu holen, Herr." "Ich nehme an, dass ihr dabei einiges abschlagen müsst? Putz und Farbe und so weiter." "Ja, Herr." "Nun, ich denke, ich bin dir dankbar, dass Du mir die Trolle aus der Wache geliehen hast, Kommandeur." "Ja, Herr.“ „Ich dachte, ein Troll spürt es weniger heftig, wenn ihm von einem wütenden Elternteil ein Knüppel mit Stacheln darin über den Körper geschlagen wird." "Dafür spüren es die Eltern umso mehr, sollte der Troll es dennoch bemerken, Herr." Er schluckte. Seine Augen brannten, aber es hatte einen Vorteil - dieser Schmerz schob sich vor alle anderen, die ihn gerade plagten. Nicht nur der Biss würde ihm in guter Erinnerung bleiben. Als Wilikins seine Verletzungen verband, hatte er gesagt, er könne nicht so weit zählen, wie der Herr Blutergüsse habe. Mumm hatte die dumpfe Befürchtung, dass er Recht haben könnte. "Herr?" "Ja, Mumm?" "Ich habe letzte Nacht drei Leute verloren, Herr. Und der Zwerg Kettil wird den Dienst wohl kündigen, falls er aufwacht. Mit einem Bruch im Rücken geht es sich so schlecht auf Patrouille, Herr." "Er ist weit geflogen, als er das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster für Korporal Kleinpo ablenkte, nehme ich an?" "Ja, Herr. Das Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster hat gut gezielt, Herr. Er fiel in die Fässer mit Platte, die Detritus vor kurzem konfizidiert hat. Wir kamen noch nicht dazu, sie zu untersuchen und anschließend zu entsorgen, Herr. Es ist sehr tragisch." Vetinari nickte erneut. Mumm konnte das Lächeln des Mannes hinter dem Schreibtisch spüren, nicht sehen, da er nach wie vor den Punkt im Auge behielt(51). "Mumm?" "Ja, Herr?" "Spielen Detritus und der Bibliothekar nach wie vor dieses Pfeilwurfspiel mit euch?" "Ja, Herr. Wir werfen die Pfeile durch das Loch in der Wand und versuchen, das Kaffeegeld zu treffen, das in Korporal Nobbs Schreibtisch auf der anderen Seite der Mauer versteckt ist, Herr." *** Mehrere Schauer krochen Mumm nachträglich über den Rücken, als die Tür zum Rechteckigen Büro hinter ihm zuschlug. Hastig blinzelte er. Und blinzelte. Und blinzelte. Irgendwann konnte er wieder mehr sehen, als nur den Punkt eine Handbreit neben dem Kopf des Patriziers. Der Flur nahm erst Farbe an, dann kamen die Konturen dazu. Er erkannte den unbequemen Stuhl, auf dem die Wartenden warten mussten, bevor sie eintreten durften. Er sah auch die Dellen in der Wand, die er dort hinterlassen hatte. Für einen Moment überlegte er. Dann trat er mit voller Wucht gegen die Mauer und fügte eine weitere Delle hinzu. Der Schmerz in seinem Bein trat zurück. Doch das war egal. Fast so etwas wie Zufriedenheit durchströmte ihn, als er davon humpelte, Richtung Wachhaus am Pseudopolisplatz. *** (46) Was lediglich dazu führte, dass er sich krank fühlte, als er den Palast schließlich erreichte, aber er konnte sich sagen, dass es damit zusammenhing, dass er erst kurz nach Sonnenaufgang ins Bett gekommen war, nicht mit der klaffenden Wunde im Bein. (47) Kein Mensch konnte in einem solchen Rhythmus atmen. Nicht einmal Mumm, obwohl er es zweifelsohne versuchte. (48) Mumm wusste nicht, für wen die Drohung die Schwerwiegendere war. Ihm in die Zehe zu beißen bedeutete für den armen Gifticus eine Explosion, die er zweifelsohne nie vergessen würde. Vor allem, da es seine letzte sein würde. (49) Patienten neigten dazu, ihnen weg zu sterben. Man konnte froh über jeden sein, der den Arzt überlebte, dann war das schlimmste in der Regel überstanden. (50) Wenn er blinzelte, könnte es passieren, dass etwas Schlimmes geschah, während er die Augen schloss. Vor allem in diesem Büro. (51) Dieser tanzte mittlerweile die traditionelle Ankh-Morpork-Polka, es fehlten nur die Zwerge zwischen seinen nicht existenten Beinen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)