Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster von Arcturus (Eine Scheibenwelt-Wichtelgeschichte für JoeyB) ================================================================================ Irgendetwas störte Karotte. Er wusste nur noch nicht, was es war. Und auch, wenn Mumm gesagt hatte, sie sollten den Fall den Assassinen überlassen – sie hatten etwas übersehen. Irgendetwas wichtiges. Taschenleeri ist tot und seine zwei Schwestern ebenfalls, überlegte er, während er durch die Dunkelgasse patrouillerte. Das Geschäftshaus ist abgebrannt. Die Innenausstattung und die Produkte im Laden hat es erwischt. Nachdem er ein paar ältere Damen, die in einem Hauseingang tratschten, gegrüßt und ihnen die Einkäufe in den Keller getragen und sich zudem darüber versichert hatte, dass in der Lichterstraße alles beim Rechten war, bog er in die Seitenstraßen ein. Aber das Lager war leer. Der Gebäudeteil mit dem Lager ist ausgebrannt, genau wie die anderen auch. Aber dort sind keine Waren verbrannt. Weil keine Waren da waren. Nur ein paar einzelne Figuren, vielleicht Fehlproduktionen. Nicht genug, für einen ganzen Bestand. Ein Schatten fiel vor Karotte auf den Boden. Entweder, Taschenleeri hat das Lager geräumt, bevor man ihn verbrannt hat... Es war ein großer Schatten. … oder irgendwer anderes hat das für ihn getan. Karotte sah auf. *** Kettil lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er hatte von der Sache mit Sarschnelli Taschenleeri gehört. Und er hatte seine Schlüsse gezogen. Der Mord selbst lag nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich. Die Assassinengilde kümmerte sich darum. Nun, da der Spielzeughändler nicht mehr war, würden auch die Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster-Übergriffe wieder zurückgehen, denn es gab niemanden mehr, der die Produktion aufrecht erhielt. Taschenleeri hatte das Geheimnis um das Produktionsverfahren mit in den Feuertod genommen. Alle würden beruhigter auf Patrouille gehen können, denn bald würde es keine kleinen tönernen Mistviecher mehr geben, die einem die Beine – oder andere wichtige Körperteile – würden brechen können. Aktuell befand Kettil sich jedoch nicht auf Patrouille, sondern saß, wie bereits erwähnt, auf seinem Stuhl im Hauptgebäude am Pseudopolisplatz. Er musste noch den Bericht über den Zwischenfall mit den Jungen und dem Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster schreiben, der gerade mit Monster und Vater in Kommandeur Mumms Büro war. Das Schreiben an sich war nicht schwer, denn bevor sein Vater ihn in die Stadt geschickt hatte, um Gold zu verdienen, hatte er dafür gesorgt, dass er lesen und schreiben lernte. Bin gestan Nachmittag ekkige Klamma auf hia Dadum einfügen ekkige Klamma zu Patrolle mit Hauptmann Karotte geganget. Wir sind villen Menschen begegnet, an deret Namene ich mich nicht alle erinneren könnet, abba mann könnet fragen Hauptmann Karotte, falles Interessa bestehet. Dann wir gefunden habet Gruppä von ungefär zwanzige Kindiger. In dieser Gruppä wir gefindet zwei Jungän und ein Net-in-die-Tasche-passet-Monster. Eina der Jungän laget blutig auf dem Bodden., stand mittlerweile auf dem Papier. Einige Tropfen Tinte waren vom Federkiel auf das Blatt getropft und ergaben dort einen ungewöhnlich großen Punkt. Kettil bemerkte diesen Punkt nicht. Er bemerkte auch nicht, wie der Punkt sich weiter vergrößerte und einige von den bereits geschriebenen Wörtern in sich aufnahm. Er war abgelenkt. Sein Blick richtete sich starr auf ein paar Zwerge in der anderen Ecke des Büros. Wäre sein Blick nicht starr auf diese Ecke fixiert gewesen, hätte er vermutlich Korporal Nobbs bemerkt, der gerade bedenklich nahe bei der Kaffeekasse stand, in die er erst vor kurzem eingezahlt hatte. Aber so bemerkte er Nobby nicht einmal. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf diese Zwerge. Sie standen in einer Gruppe. Das war für Zwerge nicht ungewöhnlich. Zwerge sammelten sich oft in Gruppen, insbesondere dann, wenn es darum ging, ein paar Trollen zu zeigen, wo die Axt hing. Darum ging es nicht. Er sah Lippenstift unter den Bärten und Lidschatten um die Augen. Einige hatten modische Spangen im Kopf- und Barthaar. Zwei der Zwerge trugen Röcke, er konnte ihre Knöchel sehen. Die Schuhe von einem der Zwerge hatten sogar hohe Hacken. Die Feder, mit der Kettil seinen Bericht schrieb, war eine gute Feder. Er hatte sie von dem Zwerg bekommen, der ihm das Schreiben beigebracht hatte. Es war nun allerdings auch eine sehr kaputte Feder, die dem Druck, den Kettils wütender Griff auf sie ausübte, nachgegeben hatte. Die Zwerge redeten aufgeregt miteinander, wenn auch zu leise, um sie aus der Entfernung zu verstehen. Eine kleine Flasche mit einer rosafarbenen Flüssigkeit im Innern ging von Hand zu Hand. Jeder von ihnen tauchte etwas, dass er auf diese Entfernung nicht genau erkennen konnte, aber bei dem es sich um ein Stäbchen zu handeln schien, in die Flasche. Nachdem das Stäbchen in die Flüssigkeit eingetaucht war, wurde es wieder zurück gezogen und über die Fingerkuppen gestrichen, dort, wo die Fingernägel saßen. Die anderen Zwerge in der Wache hatten ihn bereits vorgewarnt, doch die Realität war schrecklicher, als er gedacht hatte. Es war seine erste Begegnung mit dem Zwerg Typ „selbstbewusste Frau“ und sie löste einen Schock in ihm aus. Und als seien Lippenstift, Lidschatten, Spangen, Röcke und hochhackige Schuhe nicht genug, steckten sie nun auch noch ihre Köpfe zusammen und gaben seltsame Geräusche von sich. Kettil brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie kicherten. Sein Magen reagierte sofort: er machte eine Drehung um hundertachtzig Grad. Kettil drehte sich ebenfalls. Ruckartig wandte er sich der Tür zu, sprang von seinem Stuhl und rannte. Die Latrine erreichte zum Leidwesen einiger Kollegen nicht mehr. *** Ich glaube, ich habe es gefunden, dachte Karotte. Ich glaube, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Er musste seinen Kopf in den Nacken legen, um dem … dem … dem … nun, dem Ding, das da vor ihm stand, ins Gesicht schauen zu können. Gut, was heißt Gesicht? Das da war kein Gesicht. Es war eine Fratze. Ein Maul mit Augen und Hörnern und komischen Dingern am Kopf. Fühler, genau. Und er sah Nüstern. Und Flügel. Flügel, die vermutlich zu klein zum Fliegen waren, aber es waren verdammte(21) Flügel. Er wusste nicht, ob das wirklich ein großer Vorteil war, denn das Ding war vier Meter hoch. Es brauchte keine Flügel, um ihm das Genick und alle anderen Körperteile, an denen er hing, zu brechen. Als Karottes Verstand registrierte, dass das Wesen aus orangefarben lackiertem Ton bestand, übernahmen schließlich seine Beine die Kontrolle über seinen Körper. Sie machten eine halbe Drehung und setzten von allein zu möglichst großen Schritten an, um möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen. Einen Augenblick später war dort, wo Karotte eben noch gestanden hatte, ein Loch von einer Größe, die eine tönerne Pranke hinterließ, wenn sie mit voller Wucht auf dem Boden aufschlug. *** Kommandeur Mumm verfolgte mit starrem Blick, wie sich die Tür hinter Michaeleo Bringbunteslicht und seinem Sprössling schloss. Den Weg zu der Schublade fand seine Hand von allein, er brauchte es ihr nicht zu sagen. „Herr?“ Seine Hand zuckte zusammen. Sie war auf frischer Tat ertappt worden, das wusste die Hand ebenso, wie Mumm es wusste. Bemüht ruhig legte er sie wieder auf den Schreibtisch, wo sie hingehörte. „Du bist wach?“ „Die Ratte hat meine Tassen zerstört, Herr“, antwortete Fred Colon, scheinbar nicht ausgeschlafen, „und meine Kanne.“ Mumm nickte. Richtig. Der Junge würde eine Tracht Prügel bekommen, das hatte Bringbunteslicht ihnen versprochen. Er glaubte es. Allerdings glaubte er auch, dass die Gründe für die Prügel andere waren, als er sie sich wünschte. „Manchmal wünschte ich mir, Eltern würden für ihre Kinder haften.“ „Ja, Herr.“ Sie schwiegen. Es klopfte zaghaft. Wer auch immer das war – er sollte draußen bleiben. Mumm verdaute gerade, dass er beinahe zur Flasche gegriffen hatte. Und vor allem verdaute er, dass er sich von Fred dabei hatte erwischen lassen. Diese Gedanken bekam der Klopfende jedoch nicht mit oder ignorierte sie gekonnt, was sich im Öffnen der Tür deutlich zeigte. Widerwillig schaute Mumm hoch und dann wieder runter, weil es ein Zwerg war. „Herr? Frau Taschenleeri ist hier, Herr.“ Taschenleeri? Den Fall habe ich abgegeben! Er gehört den Assassinen, nicht mir!, dachte er, doch der Gedanke war wieder da. Und er bat nicht nur um Einlass, er hämmerte an die Tür. „Nein.“ Der Zwerg zog den Kopf ein, wirkte aber nicht kleiner, was vielleicht daran lag, dass er sich, mental, bereits möglichst klein gemacht hatte, um der drohenden Sturmflut zu entgehen. Ohne Erfolg. „Sie sagt, sie möchte Dich sprechen, Herr.“ „Schick sie zu den Assassinen.“ „Herr?“ Mumm schwieg und bohrte imaginäre Löcher in die Mauer hinter dem Zwerg. Der Stein knarzte leise, während seine Hand vor Anstrengung zitterte. „Sie sagt, sie möchte nur Dich sprechen, Herr.“ *** Karotte zog sein Schwert und rannte. Er würde es vermutlich nicht benutzen. Man rammte ein Schwert so schwer durch zwei Tonnen Ton, wenn diese hinter einem her rannten und nicht so aussahen, als würden sie stehen bleiben. Aber es gab ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Es sagte ihm, dass er mit dem Schwert zuschlagen konnte, wenn er wollte. Das er dann vermutlich als Fleck auf dem Kopfsteinpflaster enden würde, blendete das Gefühl aus. Du kannst etwas tun. Du bist nicht hilflos. Dieses Gefühl, an das er sich klammerte, bekam einen derben Schlag unter die Gürtellinie, als sich fünf Zentimeter spitzer Ton durch das Kettenhemd hindurch irgendwo zwischen die neunte und zehnte Rippe bohrten. Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er seinen Schrei nicht hörte, als er durch die Luft flog, bis er mit dem Rücken voran eine Hauswand fand. Sie war aus Lehm, wie Karottes Unterbewusstsein feststellte, als die Wand nachgab. Er fand sich in der Küche einer zwölfköpfigen Familie wieder, die gerade Wassersuppe und Kantenbrot aß. Zwölf Gesichter schauten ihn nicht glücklich an, als er sich, eine Hand auf die Wunde gepresst, aufrappelte. Zwölf Gesichter schauten noch viel unglücklicher, als ein orangefarbenes Tondrachengesicht durch das Loch zurück schaute. Die zehn Körper, zu welchen zehn der zwölf Gesichter gehörten, ließen ihre Schüsseln und Kantenbrote fallen, erhoben sich synchron und rannten in die andere Richtung davon, die Mutter trug die zwei Jüngsten in den Armen. „Tut mir Leid, Herr Matthias!“, rief Karotte ihnen hinterher, erinnerte sich jedoch daran, dass er ebenfalls laufen sollte, bevor er sich bei den anderen sechs Herren Matthias(22) und den den vier Frau und Fräulein Mathilda(23) entschuldigte, gerade ihr Heim zerstört zu haben. Ohnehin machte der Tondrache gerade ein wesentlich größeres Loch in die Wand. Karotte wartete nicht darauf, dass das riesige Nicht-in-die-Tasche-passen-Monster die Wand genug zerschlagen hatte, um hindurch zu passen. Mit den größtmöglichen Schritten, die seine Beine erlaubten, vergaß er die klaffende Wunde zwischen seinen Rippen, folgte eilig der Familie. Er kreuzte die Bahn von Herrn Heinrich, dem Bruder des Herrn Heinrich, welcher gerade zu Besuch war, und vertraute darauf, dass dieser die grobe Laufrichtung erkannt hatte. Als er Karotte den Ellenbogen in die Rippen rammte, um vor diesem durch die Tür zu kommen, war Karotte zumindest diese Sorge los. Dafür häuften sich die anderen. Der Ellenbogen, den er in die Seite bekam, drückte auf seine ohnehin bereits verletzten Haut und Muskelschichten. Diese schrien nicht unbedingt vor Freude laut auf und Sternchen glitzerten vor seinen Augen, während er kurz taumelte, die falsche Tür nahm und in den Keller fiel. Weitere Sternchen bildeten mit der Schwärze, die sich um ihn verdichtete, einen faszinierend realistischen Sternenhimmel. Da oben ist irgendwo Groß A'tuin, dachte Karotte und blinzelte. Dann kniff er die Augen zusammen, weder Schwärze noch Sternenhimmel verschwanden, aber es tat gut, etwas anderes zu spüren, als seine Rippen, die Knie, die er sich aufgeschlagen und die Hand, die er sich verstaucht hatte, und wenn es nur der Schmerz war, den man spürte, wenn man die Augen zu fest zusammen kniff. Mit zusätzlich zusammengebissenen Zähnen rollte er auf die Knie. Seine Hand fand sein Schwert. Er ignorierte, dass er sich zunächst an der Klinge schnitt, bevor er den Griff erreichte. Über ihm dröhnte es, als zwei Tonnen Ton einen Schritt vor den anderen machten. Ihm wurde deutlich bewusst, dass er hier raus musste, denn sonst endete er nicht als Fleck auf dem Kopfsteinpflaster, sondern als ein Fleck unter vielen in einem leeren Keller, der roch, als würde man ihn mit einer Latrine verwechseln.(24) Langsam öffnete er die Augen wieder. Groß A'tuin kommt näher! Er blinzelte. Groß A'tuin war ein Kellerfenster. Damit konnte er arbeiten. *** (21) Unbedarftere Personen hätten vielleicht nicht nur „verdammte“ geflucht, sondern „gottverdammte“ oder ähnliches. Auf der Scheibenwelt war es jedoch nicht klug, die Götter im Allgemeinen zu verfluchen, denn irgendeiner hörte einen immer und bekam es noch dazu in den falschen Hals. Leider hörten die Götter der Scheibenwelt nicht nur sehr gut, sie waren noch dazu egozentrisch veranlagt, leicht zu verärgern, recht gut beim Zielen mit Blitzen auf nicht-blitzresistente-Körper und ebenso gut beim Werfen mit Steinen auf arg- und wehrlose Fensterscheiben. Karotte wusste das. (22) Bei diesen handelte es sich um Vater, Großvater, Söhnen und Enkeln des angesprochenen Matthias. (23) Natürlich die Ehefrau und ihre drei Töchter. (24) Ein Fehler, den auch Karotte begangen hatte. Allerdings merkte er das in der augenblicklichen Situation nicht. Viel mehr interessierten ihn zwei Tonnen Ton, die jeden Augenblick den Kellereingang finden konnten. Hosted by Animexx e.V. 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