Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 24: Mission "Unmöglich" ------------------------------- Leona war alles andere als begeistert, als sie ihr von ihrem Auftrag berichteten. Sie drohte sogar damit, es Viktor zu erzählen, bis Riou sie inständig anflehte, es nicht zu tun. Es schien tatsächlich zu wirken – die Barfrau seufzte irgendwann leise und versprach, Viktor nichts zu sagen, wenn sie innerhalb eines Tages wieder kamen. Und irgendwie hatte Jowy das seltsame Gefühl, dass es nur Riou zu verdanken war, dass Leona ihnen dieses Versprechen gegeben hatte… Sich von Pilika zu verabschieden, fiel ihm diesmal besonders schwer. Etwas in seinem Inneren hinterließ einen bitteren Beigeschmack in seinem Mund – und das kam nicht nur daher, dass er sich seit dem Aufwachen fühlte, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Es war mehr eine schlechte Ahnung, als wäre all das die schlechteste Idee seit Anbeginn der Zeit. Und wenn er genauer darüber nachdachte, war es das wohl auch… deshalb dachte er lieber nicht weiter darüber nach. „Ich verspreche dir, dass wir ganz schnell wieder zurückkommen“, versicherte er Pilika und zwang sich, sie aufmunternd anzulächeln. Das kleine Mädchen betrachtete ihn wenig überzeugt und schob dann schmollend eine Unterlippe vor, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihn finster ansah. „Du wirst sehen“, sagte Riou und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „wir sind zurück, bevor du merkst, dass wir weg sind.“ Pilika sah zu ihm auf und schüttelte heftig den Kopf, dann ergriff sie Jowys Hand mit ihren beiden und machte einen Moment lang tatsächlich den Eindruck, als wolle sie ihn nicht gehen lassen. „Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Tasha mir eine Puppe für dich gegeben hat?“, kam Leona ihnen zu Hilfe, die nun hinter ihrem Tresen hervorkam und zu der aufbruchbereiten Gruppe trat. Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf und sah fragend auf zu der Barfrau, die nach einer ihrer Hände griff und lächelte. „Ja“, erzählte sie und bedeutete dem Dienstmädchen, das hinter Pilika stand, mit dem Kopf, sich schnell etwas zu überlegen. „Es ist eine wirklich schöne Puppe!“ Jowy beobachtete, wie das Dienstmädchen ein ratloses Gesicht machte und dann die Treppe in den ersten Stock hinaufhastete. Pilika warf einen Blick zurück zu Jowy und sah ihn traurig an, doch er zwang sich, sie anzugrinsen und meinte: „Schon okay, Pilika. Wir sind bald wieder da, versprochen.“ Das kleine Mädchen nickte endlich und folgte Leona, die ihnen noch zuwinkte und dann auf der Treppe stehen blieb, da ein junger Mann mit blonden Haaren sie dort ansprach. Jowy warf Pilikas Rücken noch einen schnellen Blick zu, dann wandte er sich an seine Gefährten: „Lasst uns gehen, bevor sie es sich doch anders überlegt…“ Das ließen sich Riou, Nanami, Tsai und Kinnison nicht zwei Mal sagen und beeilten sich, die Taverne zu verlassen, gefolgt von Shiro, der seinem Herrchen hechelnd hinterher lief. Die dreckige Kleidung, die sie Leona am Vortag zum Waschen gegeben hatten, hatte ihnen die Barfrau am Morgen in die Zimmer gebracht; bei dieser Gelegenheit hatten sie ihr gleich von ihrem Plan erzählt. In seinen eigenen Kleidern fühlte sich Jowy gleich viel besser und immerhin rutschte ihm die Hose nicht mehr von den Hüften. Aber die Uniform, die in seinem Rucksack lag, lag ihm irgendwie schwer im Magen… Er wollte sie nicht wieder anziehen, wollte sich nicht erinnern an die gehetzten Gesichter seiner Kameraden, an ihre Schreie, an das Feuer, die Angst… Und er tat es doch, je krampfhafter er versuchte, es nicht zu tun. Erst, als sie das Stadttor erreichten und ein junger Mann in Uniform – der des Staates, mit dem Emblem der Stadt Muse auf der Brust – auf sie zukam, schaffte Jowy es, sich von den düsteren Bildern seiner Vergangenheit loszureißen. „Lord Jess hat mir aufgetragen, euch zur Grenze zu geleiten“, sagte der Mann, kaum, dass sie bei ihm ankamen. Er ließ seinen Blick über die kleine Gruppe gleiten und runzelte dann die Stirn. „Ihr seid ja fast nur Kinder…“ Tatsächlich war nur Tsai eindeutig ein Erwachsener, da auch Kinnison nur etwa ein Jahr älter als Jowy war… „Wir arbeiten für Muse“, entgegnete der Aristokrat kalt und tat sein Bestes, um eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. „Dass wir Kinder sind, spielt für Jess keine Rolle, warum interessiert es Euch?“ Der junge Soldat – selbst nur eine Hand voll Jahre älter als Jowy – sah ihn überrascht an, zuckte dann jedoch mit den Achseln und meinte: „Was soll’s. Ich soll euch nur zur Grenze bringen, alles Andere ist nicht meine Sorge.“ Dass er so gleichgültig reagierte, verunsicherte Jowy etwas. Waren sie wirklich nicht mehr wert als diese Ignoranz? War es Jess und seinen Leuten tatsächlich so egal, was mit ihnen passierte? Er schauderte, riss sich jedoch zusammen und beeilte sich, dem jungen Soldaten zu folgen. Um den Kopf des jungen Mannes lag ein orangebraunes Stirnband, das ihm die halblangen, schwarzen Haare aus der Stirn hielt – es war Teil der Uniform des Staates, die aus einem ledernen Brustharnisch mit einem orange-grünem Überwurf, einheitlichen schwarzen Hosen und hohen Lederstiefeln bestand. Unter dem Brustharnisch trug der Mann, wie alle anderen auch, ein schwarzes Hemd und, wie Jowy wusste, auch ein Kettenhemd. Dennoch fragte er sich ehrlich, ob diese Uniform gegen die massiven Rüstungen der Highlander ankommen konnte. Selbst ein Mitglied der Jugendbrigade war besser gepanzert als ein durchschnittlicher Soldat des Staates… Aber andererseits hatte er die Armee des Staates noch nicht in Aktion gesehen. Im östlichen Teil des Fürstentums von Muse waren nur Viktors Söldner stationiert gewesen, sie hatten über die kleinen Dörfer dort gewacht und einen Puffer zwischen Kyaro, dem Hoheitsgebiet von Highland, und Muse selbst gebildet. Jetzt, wo das Söldnerfort gefallen war und die Söldner sich gezwungen sahen, zu der Hauptstreitmacht von Muse zu stoßen, sah die Sache schon ganz anders aus. Und außerdem erwartete das Fürstentum Muse doch sicher Verstärkung aus den anderen Staaten des Bunds von Jowston – allein schon das Rittertum Matilda im Norden verfügte doch bestimmt über eine ernstzunehmende Streitmacht… Die Reise zur Grenze verlief größtenteils schweigend. Jedes Mitglied der kleinen Gruppe hing seinen eigenen Gedanken nach und der Soldat, der sie führte, schien auch nicht sonderlich gesprächig zu sein. Anhand der Satteltaschen, die der junge Mann aber an den Sattel seines Pferdes gebunden hatte, schloss Jowy jedoch, dass der Soldat mit einem Botengang zu den an der Grenze stationierten Männern unterwegs war. Ob er ihnen wohl Befehle von Anabelle persönlich brachte? Oder war es Jess, der seine Augen überall hatte und eigentlich regierte? Irgendwie hätte es Jowy nicht einmal überrascht, wenn der Beamte heimlich die Fäden in der Hand gehalten hätte. Aber andererseits schien Jess Anabelle in mehr als einer Hinsicht ergeben zu sein, sodass diese Möglichkeit wohl eher unwahrscheinlich war. „In etwa einer Stunde sind wir da“, sagte der Soldat, dessen Namen sie immer noch nicht kannten, irgendwann. Jowy hob den Blick von der Straße, die er in den letzten paar Stunden angestarrt hatte – als ob sie ihm eine Antwort auf viel zu viele Fragen geben konnte! – und nahm zum ersten Mal bewusst seine Umgebung war. Zu beiden Seiten der gepflasterten Straße türmten sich dunkle Wälder auf, welche sich einige Meilen in beide Richtungen zu ziehen schienen. Hinter ihnen lag in einiger Entfernung die Stadt Muse am Fuße eines großen Hügels und eine weite Grasebene, auf der sich nur vereinzelt kleine Siedlungen fanden. Trotz des grauen Wetters und des leichten Nieselregens konnte man immer noch meilenweit sehen und Jowy kam nicht umhin, sich ein bisschen auf dem Präsentierteller zu fühlen. „Wenn man von hier aus nach Nordwesten geht, kommt man an die Grenze zum Rittertum Matilda“, erzählte der Soldat unerwarteterweise, als er Jowys Blick bemerkte, und wies in die angegebene Richtung. „Ist das weit von hier entfernt?“, fragte Riou, dessen Gedanken anscheinend auch um die bevorstehende Schlacht um Muse gekreist hatten. Der junge Mann machte ein nachdenkliches Gesicht und zuckte dann die Achseln. „Es ist etwa ein Tagesritt“, antwortete er dann. „Aber wenn alles gut läuft, werden wir die Verstärkung aus Matilda nicht einmal brauchen.“ Jowy, der immerhin dabei zugesehen hatte, wie Luca Blight rechts und links Männer abgeschlachtet hatte, ohne sich darum zu kümmern, ob sie Freund oder Feind waren, war anderer Meinung, aber er verzichtete darauf, das laut zu auszusprechen. „Hmm“, machte Tsai nachdenklich, sagte jedoch nichts weiter zu diesem Thema und das Grüppchen setzte seinen Marsch fort. Jowy wickelte sich ein bisschen enger in den Umhang, den er sich übergeworfen hatte, als der Nieselregen eingesetzt hatte; er fröstelte plötzlich. Der Gedanke an Luca Blight und das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen, als er das Schwert erhoben hatte, um Pilikas Kopf von ihrem Hals zu trennen, gehörten zu den Sachen, die er am liebsten vergessen würde… Die Grenze kam schnell in Sicht – es war aber auch schwer, die massive Steinmauer, die zwei Mannsgrößen hoch und bestimmt eine halbe breit war, zu übersehen. Jowy wusste, dass sich diese Mauer bis zu den Tenzaan-Bergen zog, die eine natürliche Grenze zwischen dem Staatenbund und dem Königreich bildete. Die Straße führte die Reisenden direkt an das große Tor, welches von mehreren Soldaten des Staates bewacht wurde. Zwei von ihnen standen im inzwischen strömenden Regen und sahen unter den Kapuzen ihrer Umhänge grimmig in die Ferne, drei weitere hatten sich unter das Vordach des Wachhäuschens gestellt und unterhielten sich leise. Neben der Wachstube, angebunden an die Latten eines halbherzig errichteten Zaunes, standen drei bemitleidenswerte Pferde im Regen und schauten die kleine Gruppe irgendwie deprimiert an, als sie näher kam. „Jenseits von hier beginnt das Hoheitsgebiet des Königreichs Highland“, rief einer der Soldaten am Tor, als die Reisenden in Hörweite kamen. „Unbefugten ist der Zutritt verboten!“ „Wir sind auf Befehl von Kanzler Jess hier“, erwiderte Jowy und der junge Soldat, der sie hergeführt hatte, nickte bekräftigend. „Ich habe hier einen Brief mit seinen Befehlen, Sir“, erklärte er, kramte in einer der Satteltaschen und eilte, die großen Pfützen umgehend, zu den beiden Männern am Tor. Diese vertieften sich, den strömenden Regen so gut es ging ignorierend, in das Schriftstück und Stille kehrte ein. Jowy fröstelte wieder, während ihm die Feuchtigkeit in alle Glieder kroch, und sah sich mit einem unguten Gefühl im Bauch um. Die drei Männer neben der Wachstube fixierten die kleine Gruppe misstrauisch. „Wisst ihr, ich bin ganz aufgeregt“, flüsterte Nanami plötzlich und er sah sie irritiert an. Verlegen blickte das Mädchen von ihm zu ihrem Bruder und erklärte: „Ich fühle mich wie ein Spion oder etwas ähnlich Romantisches!“ Romantisch? In welcher Welt waren Spione etwas Romantisches? Jowy seufzte nur schwer und verzichtete auf einen Kommentar. Es brachte ja doch nichts, mit Nanami zu diskutieren… Und außerdem, wenn sie ihre Mission als romantisch erachtete, dann konnte sie sich ja nicht allzu viele Sorgen machen. Oder verbarg es zumindest sehr gut. „Alles klar, ihr könnt durchgehen“, verkündete der junge Mann schließlich, der sie hergeführt hatte. „Von hier aus geht ihr allein, meine Arbeit ist beendet.“ „Oh“, machte Riou stirnrunzelnd. „Trotzdem danke.“ „Befehl ist Befehl“, erwiderte der Soldat achselzuckend. „Jedenfalls… viel Glück. Ihr könnt das bestimmt brauchen.“ „Danke…“ Wenig motiviert nickte Jowy dem Mann zu, dann setzte er sich als erstes in Bewegung, durch das Tor, das einen Spalt breit geöffnet worden war, gerade breit genug, um hindurchzuschlüpfen. Auf der anderen Seite des Tores fanden sie sich in einem Wald wieder und einen Moment lang sah sich Jowy irritiert um. Wohin sollten sie gehen? „Wenn ihr nach Osten durch den Wald geht, ist das eine Abkürzung bis zum Highland-Camp“, erklärte einer der Muse-Soldaten durch den Torspalt. „Außerdem ist es ein sicherer Weg, ihr solltet unbemerkt bis zu ihrem Lager gelangen können.“ „Vielen Dank“, bedankte sich Riou und lächelte schwach, dann schloss sich das Tor und sie waren endgültig allein. Allein auf feindlichem Territorium. Territorium, das Jowy einmal als Heimat betrachtet hatte… „Wir sollten uns hier trennen“, sagte er schnell und warf Nanami, Tsai und Kinnison einen Blick zu. „Vergiss es!“, brummte Nanami und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich lasse euch beide doch nicht allein durch diesen Wald irren!“ „Sie hat Recht“, nickte Tsai. „Wir werden euch bis zum Lager des Feindes begleiten, keine Sorge.“ Jowy seufzte und protestierte nicht weiter. Wenn er ehrlich war, war er eigentlich ganz froh darüber, dass sich Tsai und Kinnison bereit erklärt hatten, sie zu begleiten… Bei Nanami war es etwas Anderes. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre sie bei Pilika in Muse geblieben, in Sicherheit. Aber er wusste, dass es ein vergebliches Unterfangen war, Nanami von etwas zu überzeugen… Kinnison ließ Shiro etwas vorauslaufen und den Weg klären, sodass der Pfad, den sie entlanggingen, sehr bald von den zerbissenen Überresten großer, roter Blumen gesäumt war. Es waren Baumgeister, die der Wolfshund da bekämpft hatte, die dafür bekannt waren, unachtsame Wanderer bei lebendigem Leib zu verspeisen, nachdem sie sie mit ihren Sporen außer Gefecht gesetzt hatten. Jowy, der niemals mehr Zeit als unbedingt nötig in einem Wald verbracht hatte, seit Riou damals als Kind in einem verloren gegangen war, war nun wirklich erleichtert darüber, dass der Jäger sie begleitete. Er kannte sich in den Wälder aus und wusste um ihre Gefahren… Nach einer weiteren Stunde Marsch erschien plötzlich ein mannshoher Zaun zwischen den Bäumen, wie aus dem Nichts, und sie sahen, wie Shiro unruhig davor hin- und herlief. „Das ist es“, stellte Tsai düster fest und umklammerte seinen Speer etwas fester. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Das war aber auch nur ein geringer Trost… „Von hier aus gehen Riou und ich alleine“, beschloss Jowy und warf Nanami einen grimmigen Blick zu, als sie erneut Anstalten machte, ihm zu widersprechen. „Ihr wartet am besten hier…“ Kinnison und Tsai nickten, Nanami tat es ihnen sichtlich ungern gleich. Mit einem Ächzen ließ Jowy seinen Rucksack auf den Boden sinken und holte die Jugendbrigadeuniform hervor. Gegen die Übelkeit, die diese Kleidung in ihm auslöste, mühsam ankämpfend, drehte sich der Aristokrat noch einmal zu seinen Gefährten um und spürte dann plötzlich, wie er leicht errötete. „Wir ziehen uns dann um, also…“ Nanami stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn verwirrt an. „Na und?“ „Könntet ihr uns bitte nicht dabei zusehen?“ Seine Wangen brannten vor Verlegenheit, doch er war nicht der einzige: Nanami lief so knallrot an, wie er selbst mit Sicherheit war, und drehte sich ruckartig um, angestrengt in den Wald hinter ihnen starrend. Tsai und Kinnison wandten sich ebenfalls ab und Jowy beeilte sich, die verhasste Uniform überzuziehen. Es war nicht so, dass er sich ganz hätte ausziehen müssen, um die Uniform anzuziehen – sie war groß genug, dass er sie über seiner eigenen Kleidung tragen konnte – aber es gab einen guten Grund dafür, dass er nicht gewollt hatte, dass man ihnen beim Umziehen zusah. Nämlich die Tatsache, dass er glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Ihm war klar, dass sich sein Unwohlsein auf seinem Gesicht widerspiegelte, als die Bilder aus jener Nacht doch wieder ans Licht kamen. Piet, Michael und all die anderen. Ihre Todesschreie, das Feuer, das Blut… Er wollte sich nicht an all das erinnern, er wollte es nicht, er wollte… „Jowy…?“ Er zuckte zusammen, als er Rious Hand auf seiner Schulter spürte und hob den Blick. Sein bester Freund sah ihn besorgt an – und wahrscheinlich völlig zurecht. Jowy wollte nicht wissen, wie er gerade aussah. Er schüttelte den Kopf und hob die Mundwinkel in der schwachen Parodie eines Lächelns, bis Riou zögernd nickte und sich wieder abwandte, um die graue Hose seiner Uniform überzuziehen. Jowy warf ihm noch einen Blick zu und registrierte, dass der andere Junge das gelbe Tuch, das Meister Genkaku ihm geschenkt hatte, abgelegt und in seinen Rucksack gestopft hatte; lediglich ein gelber Stoffzipfel ragte noch heraus. Seine Tunika stopfte er unzeremoniell in die graue Hose, dann griff er nach dem kurzärmeligen, grauen Hemd und dem ärmellosen, türkisen Überwurf. Seufzend machte sich Jowy selbst daran, das Hemd über sein Oberteil zu ziehen und knöpfte es mit zitternden Händen zu. Das letzte Mal, als er diese Uniform getragen hatte, schien eine Ewigkeit her zu sein, ein ganzes Leben. Damals war er nichts weiter als ein Junge im Dienste seines Heimatlandes gewesen, aber jetzt… Was war er jetzt? Zu Hause war er ein Vaterlandsverräter, hier im Staat war er den Leuten nur ein Klotz am Bein. Es gab kein Zurück mehr, aber gab es ein Vorwärts? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr. Widerwillig schloss der Aristokrat die letzten Schnallen des Brustpanzers, dann legte er das gelbe Tuch, das ihm als Gürtel diente, in seinen Rucksack und zog sich die dunkelgrauen Handschuhe über, die ebenfalls zur Uniform gehörten. Und obwohl jedes Teil saß, wie es sitzen sollte, fühlte sich Jowy in der Uniform nicht wohl – und das lag nicht nur daran, dass er negative Erinnerungen damit verband. „Sie ist zu groß…“, brummte er kritisch, während er an dem türkisen Überwurf und dem Kragen herumzupfte. „Seid ihr fertig?“, fragte Nanami ungeduldig und drehte sich um. Jowy zuckte unbestimmt mit den Schultern und antwortete: „Mehr oder weniger, aber…“ „Sie steht euch kein Stück“, stellte sie stirnrunzelnd fest und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr beiden seht einfach nicht richtig aus in diesen Uniformen.“ „Wirklich?“, fragte Riou besorgt. Bei ihm sah man noch deutlicher, dass die gestohlene Uniform zu groß war – der türkise Überwurf, der eigentlich hätte nah am Körper liegen sollen, hing trotz der Tatsache, dass er seine Tunika darunter trug, eher sackartig an seinem schlanken Körper. „Es könnte schlimmer sein“, winkte Tsai ab. „Aber ihr müsst trotzdem vorsichtig sein.“ Jowy nickte und warf einen schnellen Blick zurück zum Holzzaun, der das Highlanderlager umgab. Es musste schon ein Wunder geschehen, damit sie heil und unbeschadet wieder in Muse ankamen… „Seid vorsichtig“, bat Nanami, die nun wieder besorgt klang. „Wenn… wenn es gefährlich für euch wird, dann lauft einfach weg, ja? Vergesst den blöden Auftrag.“ Jowy sah sie an, registrierte die Angst in ihren brauen Augen und die Angespanntheit ihrer Gesichtszüge. Aber was sollte er darauf erwidern? Was konnte er sagen? Es war nicht so, dass er nicht an seinem Leben hing, aber dieser Auftrag… Natürlich, Jess hatte ihn ihnen nur gegeben, um sie loszuwerden, aber… Aber er wollte endlich beweisen, dass er auch zu etwas nütze war. „Keine Sorge“, sagte Riou an seiner Stelle und lächelte ihre Gefährten und vor allem seine Schwester aufmunternd an. „Wir kommen zurück. Und ihr haltet euch bedeckt, okay?“ „Wir passen auf“, versprach Tsai. „Und ihr solltet euch auch in acht nehmen.“ „Machen wir.“ Riou atmete tief durch und verschnürte seinen Rucksack, ehe er ihn Kinnison übergab. Jowy tat es ihm gleich, dann hob Tsai zum Abschied eine Hand, ehe die drei Menschen und der Wolfshund wieder im Walddickicht verschwanden… doch zweifellos in Sichtweite, nur für den Fall. Die Jungen tauschten einen Blick, dann gingen sie zum Zaun und schlugen mit vereinten Kräften und so leise wie möglich einen der Baumstämme aus der Erde, aus der er gezimmert worden war – der entstandene Durchgang war gerade breit genug, um hindurchzuschlüpfen… wenn man den Bauch einzog. Es war ihr Glück, dass niemand in diesem Teil des Lagers patrouillierte. Tatsächlich lagen die ersten Zelte in einiger Entfernung vom Zaun, inmitten vereinzelter Bäume. Offensichtlich hatten die Highlander ihr Camp direkt am Waldrand aufgeschlagen – und beängstigend nah an der Grenze zu Muse. Sie stellten den dünnen Baumstamm wieder an seinen angestammten Platz und Jowy beeilte sich, mit seinem Messer eine kleine Markierung in das Holz zu ritzen, damit sie ihn später auch wieder erkannten. Dann sahen sie einander noch einmal an. Das war es… jetzt waren sie wirklich Spione des Staates geworden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)