Epilogue von mystique (KaibaxWheeler) ================================================================================ Kapitel 3: Enforcement ---------------------- 3. Kapitel: Enforcement Mein Erwachen am darauf folgenden Morgen wurde begleitet von Kopfschmerzen und einer penetranten Übelkeit. Schwerfällig richtete ich mich auf, nur um festzustellen, dass ich die vergangene Nacht mit meiner Kleidung verbracht hatte. Während ich mich erhob und begann, mir mein Oberteil abzustreifen, fiel mein Blick auf das Fenster am anderen Ende des Raums. Es war geschlossen; Regen prasselte von außen dagegen, und die Pfütze auf dem Parkettboden schimmerte im Licht der Nachttischlampe. Meine Kopfschmerzen ließen es nicht zu, mir weitere Gedanken darüber zu machen, sie führten mich geradezu mechanisch ins angrenzende Badezimmer, wo ich die Tabletten gegen sie in dem kleinen Schrank über dem Waschbecken vorfand. Dort, wo sie immer waren. Unbestimmte Zeit später fiel die Tür zu meinem Schlafzimmer leise hinter mir ins Schloss, während ich, betäubt von der Schmerztablette, in die Küche ging, um mir meinen allmorgendlichen Kaffee zu gönnen. Doch noch bevor ich die Tür der Küche öffnen konnte, nahm ich Geräusche wahr, die befremdlich in meinen Ohren nachklangen. Geräusche von jemand anderem. Geräusche von Wheeler, der es tatsächlich wagte, meine Küche zu benutzen. „Morgen Kaiba“, meinte er, ohne sich umzudrehen, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir schloss. „Warum bist du so früh schon auf?“, entgegnete ich, seinen Gruß nicht erwidernd, mit Blick auf die digitale Uhr oberhalb des Backofens. Es war viertel vor sieben. Wheeler stand vor dem Herd, die Abzugshaube war eingeschaltet und summte leise, während es vor ihm in der Pfanne brutzelte. Auf meine Worte hin wandte er den Kopf und lächelte mich an. „Ich bin ein Frühaufsteher.“ Er schien bester Laune und das nervte mich. Wheeler ein Frühaufsteher? Zehn Jahre waren eine lange Zeit, da wurde selbst Wheeler, der damals als Morgenmuffel bekannt war und regelmäßig in Unterricht einschlief, zu einem Menschen, der früh aufstand. Doch was interessierte es mich überhaupt? Ich begann mir, ihn ignorierend, einen Kaffee zu machen. Die Maschine brummte, während ich mich an einen der Schränke lehnte und Wheeler dabei beobachtete, wie er Eier in die Pfanne gab. Sekunden verstrichen, bevor er meinen Blick bemerkte und mich ansah. „Ich dachte mir, da ich schon hier übernachten darf, wäre es nur fair, wenn ich als Entschädigung das Frühstück mache.“ Er deutete über die Schulter auf den gedeckten Tisch, der mir erst jetzt bewusst auffiel. Es musste an der Tablette liegen, denn für gewöhnlich war ich nicht so unaufmerksam. Ich griff nach meiner gefüllten Kaffeetasse und setzte mich an den Tisch. Schweigend, dabei hin und wieder an dem Kaffee nippend, sah ich Wheeler zu, bis er schließlich den Herd ausstellte und mit der Bratpfanne zum Tisch kam. „Wie viele Eier möchtest du?“ Als ich ihm nicht antwortete, häufte er mir kurzerhand zwei auf den Teller und anschließend sich selbst dieselbe Menge. Ich ließ ihn weiterhin nicht aus den Augen und machte auch keine Anstalten, das Frühstück anzurühren. Dumme Fragen, deren Antwort mich eigentlich nicht hätte interessieren dürfen, lagen auf meiner Zunge und waren viel zu dicht dran, laut ausgesprochen zu werden. Hatte er letzte Nacht den Weg zurück in sein Zimmer gefunden? Hatte er überhaupt geschlafen? Hatte er das Fenster in meinem Zimmer geschlossen? Warum war Wheeler zu einem Frühaufsteher geworden? Draußen war es noch dunkel, der Regen schlug wie kleine Kieselsteine gegen die Fenster, die Küche wurde einzig beleuchtet von einer kleinen Lampe, deren Existenz ich bis heute vergessen hatte und welche auf einem der Fensterbretter stand. Wheeler ließ die Gabel mit dem Ei, die er bereits an seinen Mund gehoben hatte, sinken. „Was ist? Hast du keinen Hunger?“ Das Geräusch der Tasse, die ich in einer ruckartigen Bewegung zurück auf den Tisch stellte, klang wie ein Hammerschlag in der erdrückenden Stille, die von dem gleichmäßigen Summen der Abzugshaube begleitet wurde. „Warum bist du zurückgekommen?“ Die Gabel klirrte, als er sie ablegte. „Was meinst du?“ „Warum bist du zurückgekommen? Zehn Jahre - davon sechs außerhalb dieser Stadt - und du tauchst aus dem Nichts wieder auf. Nenn mir einen Grund.“ Meine Stimme klang schon lange nicht mehr annähernd gleichgültig, wie ich es gerne gehabt hätte. Ungeduld, begleitet von zunehmender Schärfe, schlug Wheeler entgegen und ließen seine Züge erstarren. „Ich dachte, es interessiert dich nicht“, bemerkte er und wirkte dabei ungewohnt abweisend. „Glaub mir, das würde es nicht, wenn du nicht seit deinem Auftauchen versuchen würdest, mir eine scheinbare Charakterstörung nachzuweisen.“ „Ich habe schon gesagt, dass ich Dinge wieder ins Reine bringen möchte. Reicht dir diese Erklärung nicht?“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seltsamerweise wirkte diese Reaktion auf mich mehr defensiv, als der Situation erhaben. „Was soll daran eine Erklärung sein, Wheeler?“ „Ich schulde dir keine.“ „Das stimmt, aber du kannst mir nicht weiß machen, dass du aus plötzlicher Sehnsucht nach deinen Freunden zurückgekehrt bist.“ Er biss sich auf die Lippe. Sein Blick wanderte unruhig durch die Küche, bis er schließlich an mir hängen blieb. „Ich habe einen Fehler gemacht, Kaiba, und ich habe sechs Jahre gebraucht, um mich damit abzufinden. Jetzt bin ich darüber hinweg und kann meinen Freuden wieder unter die Augen treten.“ „Was für ein Fehler muss es sein, dass du sechs Jahre brauchst, um damit fertig zu werden?“, entgegnete ich spöttisch. „Hast du jemanden umgebracht oder was?“ „Darüber macht man keine Witze, Kaiba“, zischte er und seine Augen verengten sich. „Wer sagt, dass es ein Witz war?“ „Ich habe niemanden umgebracht, Kaiba. Ich rede nicht von so einem Fehler.“ „Es wäre besser für dich. Denn andernfalls sähe ich mich gezwungen, die Polizei zu informieren.“ Er wirkte, als müsse er sich zur Ruhe zwingen, dann straffte sich seine Haltung und das Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, ich hätte jemanden umgebracht. Mach dich nicht lächerlich, Kaiba. Nein, ich rede von einer anderen Sache, aber sie dürfte dich nicht interessieren. Jedenfalls bin ich jetzt wieder hier und es ist an der Zeit, mich bei den anderen zu entschuldigen. Vor allem bei meiner Schwester.“ Sein Blick trübte sich. „Sie wird sich für alles die Schuld gegeben haben.“ Je länger er mit diesem Blick auf seinen Teller hinabstarrte, desto unwohler fühlte ich mich. An der Tablette konnte es nicht liegen, denn ihre Wirkung hielt für mehrere Stunden, es war vielmehr wegen Wheeler. Sein ganzes Verhalten warf Fragen auf, die ich mir nie hatte stellen wollen. „Wo wohnt deine Schwester?“, fragte ich beiläufig und nahm einen Schluck Kaffee, bevor ich nach der Gabel griff und zu frühstücken begann. „Wieso willst du das wissen?“ Ich sah ihn abschätzend an. „Ich erinnere mich nur an deine gestrigen Worte. Du meintest, du hättest kein Geld. Wie willst du ohne einen Yen zu deiner Schwester kommen, noch dazu bei Regen? Zu Fuß?“, fügte ich spottend hinzu. Er hob die Hand und fuhr sich durch die Haare. „Daran hatte ich noch nicht gedacht.“ Er grinste verlegen. Ich ließ die Gabel sinken. „Du bist tatsächlich noch genauso planlos, wie vor zehn Jahren. Man könnte meinen, du seiest noch immer nicht erwachsen.“ „Bei dir ist es das genaue Gegenteil“, meinte er und erwiderte meinen Blick aufrichtig. „Du wirkst mehr als nur erwachsen. Aber zu gleichen Teilen verbittert.“ Zunächst hielt ich seine Worte für einen Scherz, doch als der Ernst nicht aus seinen Augen wich, wurde mir klar, dass es alles andere als das war. Er meinte es so, wie er es sagte. Verbittert ... „Ich bitte dich Wheeler, wie kommst du auf Verbitterung? Fängst du jetzt wieder mit deinen Psychospielen an?“ Er schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“ Ich tat es mit Freuden und wir frühstückten schweigend. Stunden später stand ich vor der Tür zu Wheelers Zimmer. Ich stutzte, als ich mir des Gedankens vollendlich bewusst wurde. Wheelers Zimmer? Seit wann betitelte ich es so? Nur weil er eine Nacht dort verbracht hatte, wurde es nicht automatisch zu seinem Eigentum. Es war mein Anwesen, meine Villa und demnach mein Zimmer. Auch, wenn ich es nie benutzte. Momente lang spielte ich mit dem Gedanken, anzuklopfen, doch ich besann mich fast augenblicklich eines Besseren. Mein Haus, meine Regeln, kein Klopfen. Ich legte eine Hand auf das kalte Metall der Tür, welches so leblos wirkte, wie alles in diesem Haus und drückte sie hinunter. Mit einem Knarren schwang die Tür auf. Mein Blick fiel auf Wheeler, der ausgestreckt auf dem Himmelbett lag, den Blick an die Decke gerichtet. In diesem Moment wirkte er so befremdlich klein auf dem großen Bett und ich brauchte Sekunden, um mich von diesem Anblick loszureißen und mich zu daran entsinnen, warum ich überhaupt erst einen Schritt in dieses Zimmer gesetzt hatte. „Wir sollten los.“ Meine Worte wirkten fehl am Platz genauso wie meine Stimme. Sie klang in meinen eigenen Ohren wie die eines anderen und doch stammte sie von mir, da Wheeler seine Lippen nicht bewegt hatte. Wie eine Marionette drehte er den Kopf in meine Richtung. Es war dämmrig in diesem Zimmer, denn draußen war der Himmel noch immer bedeckt von dunklen Regenwolken, die ihren Inhalt gen Erde schickten und einen endlosen Vorrat des kalten Nass zu beherbergen schienen. Wheelers Gesichtszüge lagen im Schatten, doch er begann zu sprechen, bevor ich meine Worte mit Nachdruck wiederholen konnte: „Wir?“ „Ja, wir. Es sei denn du legst Wert darauf, bei strömendem Regen durch Domino zu irren.“ Die Federn der Matratze quietschten, als Wheeler sich aufsetzte. Noch immer konnte ich sein Gesicht kaum sehen, doch seine Stimme sagte mehr über seinen Gefühlszustand aus, als jede Mimik es hätte tun können. „Willst du damit sagen, du fährst mich?“ Er war verwirrt. Zweifellos. „Ja, Wheeler. Möchtest du es schriftlich?“ „Warum?“ Ich verschränkte die Arme und lehnte mich an den Rahmen der Tür. Das Holz war kühl, das spürte ich sogar durch den dichten Stoff meines Oberteils. Irgendwo in diesem Haus musste es undichte Stellen geben, denn ich spürte ebenso, dass es in meinem Nacken unangenehm zog. Ich musste bei Gelegenheit jemanden herbeordern. Doch das spielte momentan nichts zur Sache. Meine Lippen verzogen sich zu einem reservierten Lächeln. „Ich tue es nicht aus Nächstenliebe, Wheeler. Doch ich gehe davon aus, dass ich dich nicht loswerde, ehe du nicht – wie hast du dich noch gleich ausgedrückt? – alles ins Reine gebracht hast.“ Wheeler schwang die Beine über den Bettrand. „Sag es mir und ich verlasse sofort deine Villa, Kaiba. Ich bin nicht auf dein Asyl angewiesen.“ Seine Stimme war kälter als das Holz des Türrahmens. „Interessante Einstellung, Wheeler. Dennoch kann ich nicht zulassen, dass du – verantwortungslos wie du bist – durch diese Stadt irrst. Devlin und Taylor würden es nicht gutheißen, wenn ich es zuließe und wie ich dir bereits gestern gesagt habe, bin ich nicht erpicht darauf, mir ein neues Stammcafé zu suchen.“ Es war offensichtlich, dass er diese Lüge durchschauen würde. Ich selbst hatte keine Antwort auf sein warum, die auch nur annähernd glaubwürdig war, geschweige denn mich selbst durch angebrachte Argumentation befriedigte. Nein, ich hatte keinen nachvollziehbaren Grund, ihm dieses Angebot zu machen. Vielleicht tat ich es aus Langeweile. Tatsächlich klang dieser Grund wieder verhältnismäßig plausibel. „Verstehe.“ Seine Stimme holte mich zurück in die Realität und ich begegnete seiner Aussage mit Skepsis. Meine Argumentation war weniger als nachvollziehbar gewesen, doch er ging darauf ein. Vielleicht waren wir uns doch ähnlicher als angenommen. Ich stieß mich von dem Türrahmen ab und gab ihm mit einer unmissverständlichen Geste zu verstehen, dass er mir folgen sollte. Wir ließen die Zimmer hinter uns, folgten den Gängen und Treppen hinab in die Eingangshalle, wo wir uns Jacken überzogen. Anschließend folgten weitere verlassene Gänge und Treppenstufen hinab in die Tiefgarage unter der Villa. Als die schwere gesicherte Eisentür hinter uns zufiel und nichts als schwere Stille zurückließ, wurde mir vollends bewusst, wie lange ich nicht mehr hier unten gewesen war. In einer Reihe standen meine Wagen, auf Hochglanz poliert von einem Mann, der jede Woche kam, um sich um sie zu kümmern, nur um anschließend wieder zu gehen und sie in der Dunkelheit der Garage zurückzulassen, in welcher sie standen und auch weiterhin tun würden, ohne jemals benutzt zu werden. Ich konnte mich nicht erinnern mit auch nur einem von ihnen mehr als ein Mal gefahren zu sein. Ich erledigte meine Arbeit zwar von der Firma aus, doch für den Weg dorthin stand jeden Morgen ein schwarzer Wagen vor der Eingangstür in der Einfahrt bereit. Für vereinzelte Reisen benutzte ich denselben Wagen und denselben Chauffeur und anschließend ein Privatflugzeug, aber keinen von meinen eigenen Wagen. „Das bedeutet, es ist dein Ernst gewesen“, meinte Wheeler neben mir und wirkte fassungslos. „Denkst du, ich würde scherzen?“ „Nein“, wandte er ein und lächelte mich auf eine Art an, die mich für wenige Momente wieder in das Gesicht eines Achtzehnjährigen blicken ließ. „Das mit deinen Wagen, meine ich. Dass du für jeden Tag in der Woche einen hast. Ich hab es für eine Lüge gehalten.“ „Auch wenn zehn Jahre vergangen sind, heißt es nicht, dass ich lüge“, sagte ich, ohne ihn anzusehen und sprach damit unwiderruflich die zweite Lüge innerhalb weniger Minuten aus. „Anscheinend.“ Er nickte und sprach dann nicht mehr. Ich verspürte wenig Verlangen danach, mir den schönsten der Wagen auszusuchen, darum griff ich wahllos nach einem der Schlüssel die, ebenfalls aufgereiht, an in der Wand eingelassenen Haken hingen und drückte den Türöffner. Ein Piepen, begleitet vom Aufleuchten der Blinker am anderen Ende der Garage bestätigte meine Wahl. Der Wagen war schwarz, die Scheiben verdunkelt und seine Marke kostspieliger als ein Grundstück im Zentrum von Domino. Ehrfurcht lag in Wheelers Blick, als er sich auf dem Beifahrersitz niederließ, doch als ich einen Blick zur Seite warf, starrte er aus dem Fenster und hatte sich von mir abgewandt. Ich startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr los. Es war ungewohnt nach mehreren Jahren das erste Mal wieder selbst ein Auto zu steuern und auf den ersten Metern der Steigung hinauf zum Garagentor, welche sich automatisch öffnete, hätte ich den Wagen beinahe abgewürgt. Wheeler neben mir gluckste leise, und selbst ein warnender Blick ließ ihn nicht verstummen. Auch in dieser Hinsicht hatte er sich kaum verändert. „Wo wohnt deine Schwester?“, fragte ich beiläufig, während wir den Kiesweg zum Eisentor entlangfuhren und die weißen Steine unter den dunklen Rädern knirschten. „Am anderen Ende der Stadt. Zwei Blocks von dem alten Spielladen von Yugis Großvater entfernt.“ Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu. „Du weißt, dass der Laden bereits seit Jahren nicht mehr existiert?“ Er nickte. „Ja, ich habe es von Marik gehört. Nachdem Großvater Muto gestorben ist, hat Yugi den Laden geschlossen.“ Er lächelte wehmütig. „Dort habe ich meine ersten Duel Monsters Karten von Großvater Muto geschenkt bekommen.“ Ich zog es vor, zu schweigen, während er vergangenen Erinnerungen nachhing. Die Scheibenwischer arbeiteten in regelmäßigem Takt, die Straßen waren trotz des Wetters voll und eine halbe Stunde verstrich in Stille, bis ich schließlich vor dem verwahrloste Gebäude des ehemaligen Spielladens blinkte und anschließend rechts ran fuhr. „Von hier aus musst du den Weg beschreiben“, bemerkte ich knapp, doch Wheeler hörte mir überhaupt nicht zu. Sein Blick war wie hypnotisiert auf das heruntergekommene Gebäude gerichtet. „Wheeler.“ Ohne auf meine Worte zu reagieren, öffnete er die Tür und stieg aus. Ich richtete mich auf und blickte ihm im ersten Moment überrumpelt hinterher, bevor ich regierte. „Wheeler, was zum -?!“ Ich löste mit einer raschen Bewegung den Gurt und stieg ebenfalls aus. „Komm sofort wieder her, hast du verstanden?!“ Der Regen fiel in Strömen vom Himmel und es bedurfte nur weniger Sekunden und ich war beinahe bis auf die Haut durchnässt. Mein Mantel bot der Nässe keinen Widerstand und einen Schirm hatte ich nicht dabei. Doch Wheeler dachte nicht daran, zu reagieren. Ungeachtet der Tatsache, dass auch er zunehmend nasser wurde, führten ihn seine Schritte immer weiter an das Haus heran, bis er schließlich vor der einstigen Eingangstür stand. Dort, wo vor Jahren Glas gewesen und ein Schild mit der Aufschrift Geöffnet gehangen hatten, war klaffende Schwärze. Wo einmal die Schaufenster mit den Auslagen voller Spielwahren und Duel Monster Karten gewesen war, versperrte nasses Holz den Blick auf das Innere. Wheelers Blick wanderte an der Außenwand des Hauses entlang nach oben und schließlich wieder zurück. Er hob die Hand und umfasste den rissigen Türgriff. Ich schlug rasch die Wagentür hinter mir zu und machte einige schnelle Schritt auf ihn zu. „Wheeler, verdammt, komm wieder her. Wir sind nicht hier, um Besichtigungen zu machen!“ Er wollte mich nicht hören. Dieser einfältige Idiot war viel zu sehr gefangen in seinen Erinnerungen, um auf mich zu achten. Die Tür des Gebäudes öffnete sich mit einem Knarren, lauter als das stetige Prasseln des Regens. Wheeler ging hinein und ich sah mich gezwungen, ihm zu folgen. Dunkelheit umfing uns, als wir über die Türschwelle traten. Verbrauchte modrige Luft schlug mir entgegen und ich hob die Hand vor Mund und Nase, unterdrückte einen angewiderten Laut. Ich erhaschte einen Blick auf Wheeler, der in der Mitte des Raumes stand, den Blick gen Decke gerichtet. „Hier habe ich mich jeden Nachmittag nach der Schule mit Yugi getroffen.“ Seine Worte hallten von den Wänden wider und wirkten unnatürlich laut. „Hier hat mir Großvater Muto Duel Monsters beigebracht, hier haben Yugi und ich immer geübt.“ „Wheeler“, setzte ich an und machte einen Schritt auf ihn zu. „Als Serenity wieder sehen konnte, bin ich auch mit ihr hierhin gekommen. Sie hat es auch lernen wollen, nachdem ich ihr mit dem Preis vom Königreich der Duellanten die Operation bezahlen konnte.“ Ich verspürte den störenden Drang ihn zu schütteln, damit er aufhörte, in Erinnerungen zu ertrinken. „Ich hatte eigentlich immer vorgehabt, Yugi eines Tages zu helfen, diesen Laden weiter zu führen.“ Seine Worte wurden leiser und seine Haltung sank in sich zusammen. Er sah sich um, blickte von dem zerfallenen Ladentisch zu den gesplitterten Regalen an den Wänden, auf deren Brettern Staub und Schmutz lag. „Wenn ich nicht sechs Jahre weg gewesen wäre, vielleicht hätte ich Yugi nach Großvater Mutos Tod dazu ermutigen können, dies hier nicht aufzugeben.“ Dieser pathetische Dummkopf gab sich die Schuld für den Zustand dieses Gebäudes. Ich verzog missbilligend den Mund und packte Wheeler am Arm. Grob zerrte ich daran und zwang ihn, sich umzudrehen und mich anzusehen. „Sei still“, fuhr ich ihn an und begegnete dem erschütterten und zugleich verwirrten Blick aus seinen Augen mit Gleichgültigkeit. „Ja, wohlmöglich ist es deine Schuld, dass es hier jetzt so aussieht, aber daran kannst du nichts mehr ändern. Du hast selbst entschieden, sechs Jahre aus dem Leben von Muto zu verschwinden also kannst du auf keine Rücksichtnahme von ihm rechnen. Vergiss dein jämmerliches Selbstmitleid und jetzt komm gefälligst mit.“ Ich zog ihn hinter mir her, aus dem Gebäude, weg von den Erinnerungen und der Dunkelheit, die von Sekunde zu Sekunde erdrückender schien. Schließlich saßen wir wieder gemeinsam im Wagen. Ich griff nach dem Gurt und schnallte mich an, dann schaltete ich den Warnblinker aus. Wheeler neben mir schwieg beharrlich, doch ich konnte es momentan nicht dabei belassen. Die nasse Kleidung sorgte allmählich für zunehmende Kälte, darum stellte ich die Heizung an. „Wo genau wohnt deine Schwester?“ Meine Frage schien ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Bis eben war sein Blick abwesend auf das Gebäude neben uns gerichtet, aus welchem ich ihn noch vor wenigen Minuten gezerrt hatte, nun ruhte er auf mir. Er öffnete den Mund und begann zu erklären, wie ich zu fahren hatte. Ich hörte ihm stumm zu, nickte zwischendurch, dann fuhr ich los. Der Motor war warmgelaufen – auch ihn hatte ich nicht ausschalten können, bevor ich Wheeler in das Gebäude gefolgt war, wir konnten uns also glücklich schätzen, dass der Wagen in den Minuten, in denen wir nicht auf ihn geachtet hatten, nicht gestohlen worden war. Genau genommen konnte ich mich glücklich schätzen, dass er nicht gestohlen worden war. Wheeler konnte sich glücklich schätzen, dass ich ihn mitnahm. Doch das stand momentan nicht zur Debatte. Als ich in die Straße der gegebenen Adresse einbog nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Wheelers Haltung sich neben mit anspannte. Nun saß er so gerade, dass er mit dem Kopf beinahe die Decke berührte. Nachdem ich eine geeignete Parklücke gefunden und den Motor ausgeschaltet hatte, wandte ich mich Wheeler zu. Mit einem Arm stützte ich mich vom Lenkrad ab, während ich ihn eingehend betrachtete. Er sah schlecht aus. Unnatürlich blass schien er sogar noch heller als das weiße Leder der Sitze, welches – wie mir nun zum ersten Mal auffiel – geradezu beleidigend geschmacklos war. Sein Blick wanderte ruhelos über das Gebäude mit der Nummer zwölf. Was immer zwischen ihm und seiner Schwester vorgefallen war, es musste ernst genug sein, um bei Wheeler die Befürchtung entstehen zu lassen, nicht mehr willkommen zu sein. Nicht, dass es mich interessierte. Es fiel mir lediglich auf. „Ich warte hier. Du kannst gehen.“ Er nickte, zögerte und stieg aus. Er schlug die Tür härter als notwendig hinter sich zu und für kurze Zeit verspürte ich den Drang, ihm ins Gedächtnis zu rufen, wie teuer und gleichsam empfindlich dieses Fahrzeug war, bis ich mir bewusst wurde, dass ich vor zehn Jahren so gehandelt hätte. Ich blickte ihm nach, sah, wie er sich dem Gebäude nur langsam näherte, wenngleich der Regen auch weiterhin erbarmungslos auf ihn niederfiel und nicht an Intensität abnahm. Durch einen grauen Schleier konnte ich erkennen, wie er die Hand zum Klingeln hob und weitere Sekunden verstrichen, bevor sich die Tür öffnete und Wheeler in dem mehrstöckigen Gebäude verschwand. Lange blickte ich auf die geschlossene Eingangstür, als erwartete ich jeden Moment Wheeler, der zurückkehrte, doch nichts tat sich. Letztendlich schwand mein Interesse und ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss die angenehme Wärme, die das Innere des Wagens erfüllte. Sie konnte die klamme Kälte nicht vollends vertreiben, dennoch tat sie ungemein gut und machte mich schläfrig. Normalerweise benötigte ich nicht viel Schlaf, aber die letzte Nacht war unruhig gewesen, begleitet von Träumen, vermengt mit Ereignissen aus der Vergangenheit, die ich vergessen geglaubt hatte. Nun machten sich die Konsequenzen bemerkbar, erschwerte meine Augenlider gleichsam wie meinen Körper und ich spürte, wie ich tiefer in den Sitz sank, begleitet von dem Prasseln des Regens auf dem Wagendach. Als ich meine Augen öffnete, hatte ich zunächst das Gefühl, nur für wenige Sekunden abgedriftet zu sein, doch als ich das Radio anstellte, verkündete mir die Nachrichtensprecherin, dass es bereits halb zwei war. Ich richtete mich auf und streckte mich, so gut es im Inneren eines Wagens ging. Es hatte aufgehört zu regnen, doch ein Blick in den Himmel machte klar, dass dies nicht von langer Dauer sein würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder anfangen würde. Für wenige Momente wanderte mein Blick zu der Eingangstür, durch welche Wheeler vor nun etwa eineinhalb Stunden verschwunden war, dann lehnte ich mich wieder zurück und schloss die Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in einem Wagen eingeschlafen zu sein. Selbst im Flugzeug hatte ich es nur wenige Male geschafft – und in jedem dieser Ausnahmefälle war es nach einem achtundvierzig Stundentag gewesen. Und nun hatte ich es mehr als eine Stunde getan, in einem Wagen, geparkt vor dem Haus, in dem Wheelers kleine Schwester wohnte. Seit Wheeler wieder in mein Leben getreten war, bildeten sich auffallend viele Ungereimtheiten. Ich hatte mich bereits mehrere Male gegen meine Art verhalten. Ich ließ mich von seinem Verhalten beeinflussen. Ich schlief in einem Wagen. Beunruhigende Ungereimtheiten. Hinzu kam, dass mit Wheelers Auftauchen nicht nur alte Verhaltensmuster, sondern auch Erinnerungen freigelegt worden waren. Erinnerungen, die ich in den letzten Jahren erfolgreich aus meinem Bewusstsein verbannt hatte. Erinnerungen, die mehr Schmerzen mit sich brachten, als gut war. Erinnerungen, die Wheeler durch seine haarsträubenden Diagnosen provoziert und heraufbeschworen hatte. Erinnerungen, die ich nicht haben wollte. Ich schloss die Augen und massierte mir mit einer Hand die Schläfen, während ich versuchte die Bilder, die vor meinem inneren Auge wie bei einer Diashow erschienen, zurückzudrängen. Bilder, die weitere Erinnerungen mit sich brachten. ~ „Du ziehst aus?“ „Weißt du Seto, ich denke, ich bin mittlerweile alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.“ „Ich würde es mir an deiner Stelle gründlich überlegen, Mokuba.“ „Das habe ich. Sehr gründlich sogar ... Kommst du damit klar, Seto?“ „Natürlich. Du hast Recht, du bist alt genug. Wenn es deine Entscheidung ist, akzeptiere ich sie.“ ~ ~ „Und Sie haben ihm gesagt, dass Sie damit zurecht kommen, obwohl dem nicht so war?“ „Was hätte ich tun sollen? Er ist fünfundzwanzig, alt genug um für sich selbst entscheiden zu können.“ „Er hätte es sicherlich verstanden, wenn Sie mit ihm geredet hätten.“ „Warum soll ich ihm seine Zukunftspläne erschweren, nur weil ich mich unwohl fühle? Außerdem gibt es nicht einmal einen relevanten Grund, sich so zu fühlen. Ich sollte stolz sein, weil Mokuba endlich erwachsen ist.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie ihn erzogen wie einen Sohn. Bei Eltern gibt es einen Abnabelungsvorgang und besonders bei Vater und Sohn führt dies in vielen Fällen zu Komplikationen, weil der Vater nicht loslassen kann.“ „Ich bin nicht hier, um mir Ihre Theorien über meine angeblichen Komplexe anzuhören.“ „Doch, Herr Kaiba. Genau deshalb sind Sie hier. Und ich möchte Ihnen lediglich erklären, was derzeit in Ihnen vorgeht.“ „Was genau in mir vorgeht, weiß ich immer noch am besten.“ ~ ~ „Sie sollten etwas weniger arbeiten.“ „Ich werde weniger arbeiten, sobald Mokuba die Leitung unserer Zweigstelle in den Vereinigten Staaten übernommen hat.“ „Bis dahin sind es noch sechs Monate.“ „Dann werde ich noch sechs Monate so arbeiten.“ „Wenn Sie so weitermachen wie jetzt, werden Sie in sechs Monaten nicht mehr in der Lage sein, zu arbeiten.“ „Roland, Sie haben morgen Ihren letzten Tag, aber noch alle Urlaubstage. Warum nehmen Sie ihn sich nicht frei?“ „Weil ich Master Mokuba versprochen habe, mich bis zu meinem letzten Tag um Sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Ihre Gesundheit erhalten bleibt.“ „Um meine Gesundheit steht es bestens, fragen Sie meinen Hausarzt, er wird es Ihnen bestätigen.“ „Daum geht es mir nicht ausschließlich. Mit Gesundheit meinte Master Mokuba nicht nur Ihre körperliche Verfassung.“ „Es geht mir gut. Und solange Mokuba nichts von den Terminen bei meinem Therapeuten erfährt, wird es auch so bleiben.“ „Warum haben Sie sich die Liste der Bewerber für meine Stelle nicht angesehen, Master Kaiba?“ „Roland, ich habe sie mir angesehen und ich habe Ihnen bereits erklärt, dass ich keinen der Bewerber für geeignet hielt.“ „Sind Sie sich wirklich sicher?“ „Ich brauche niemanden, Roland.“ ~ ~ „... neuesten Informationen zufolge, die wir von den Sprechern der Kaiba Corporation erhalten haben, wird in den nächsten Monaten eine revolutionäre Software auf dem Weltmarkt erscheinen. Ihr Erfinder und Hersteller ist niemand geringeres als Seto Kaiba persönlich. In einem Gespräch mit einem unserer Reporter teilt uns Seto Kaibas Pressesprecher mit, dass die neue Software all ihren Vorgängern um Jahre voraus ist. Seto Kaiba scheint sich wieder einmal selbst übertroffen zu haben. Seriösen Quellen zufolge soll er an der Entwicklung ein Jahr gearbeitet haben. Das ist eine wahrlich vorbildliche Leistung, denn für einen viel beschäftigten Mann wie ihn ist ein Jahr viel Zeit ...“ ~ Ich schlug die Augen wieder auf. Es fühlte sich an, als hätte man mir einen Schwall kalten Wassers ins Gesicht geschüttelt. Die Wärme des Wagens schien vergangen, sie drang nicht mehr bis zu mir vor. Wie lange würde Wheeler noch brauchen? Wann kam er zurück? Und je länger ich mir dese Fragen stellte, desto deutlicher wurde die Erkenntnis, dass die Antworten nicht wichtig waren. Dass sie schlichtweg an Relevanz verloren hatten. Es spielte keine Rolle, wann er wiederkam. Denn ich hatte Zeit. So viel Zeit, dass bei dem alleinigen Gedanken daran ganz anders zu werden drohte. ‚Du wirkst mehr als nur erwachsen. Aber zu gleichen Teilen verbittert.’ Ich war verbittert, denn ich hatte in den vergangenen Jahren erkannt, dass es niemanden gab, der mich brauchte. Dass es niemanden gab, der auf mich wartete. Und dass es keinen Grund gab, sich zu beeilen. Denn ich hatte Zeit ... tbc Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)