Falling von Flordelis ================================================================================ Kapitel 6: Emotionen -------------------- Das leise Knistern des Feuers war das einzige Geräusch, das in der Höhle zu hören war. Naja und Lia saßen am Eingang und blickten prüfend in die Dunkelheit hinaus, um nach einem Zeichen von Reiben Ausschau zu halten. Bislang schien er sie allerdings nicht zu verfolgen oder er hatte die Spur noch nicht wieder aufgenommen. Toppy saß neben den beiden Bewusstlosen, die zuvor von ihm und Lia gerettet worden waren. Sein niedliches Gesicht machte es schwer zu sagen, aber er schien sie tatsächlich immer wieder besorgt anzusehen. Morte kauerte in der hintersten Ecke der Höhle, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Erinnerungen an ihren Bruder, die gemeinsame Kindheit, tanzten durch ihren Kopf, zu schnell, um sie festhalten zu können, aber langsam genug, um sie deutlich wahrzunehmen. Jede dieser Erinnerungen, so tröstlich sie zuvor gewesen waren, trieb den Schmerz nun noch tiefer. Natürlich verhielt sich dieser 'Black Lantern' nicht wie Reiben, aber er sah aus wie er und das genügte, um in Morte Skrupel entstehen zu lassen. Könnte sie wirklich jemanden töten, der aussah wie ihr Bruder – auch wenn sie wusste, dass das nur so war, da er seinen Körper gestohlen hatte? Die Antwort darauf lautete eindeutig „Nein“. Niemals könnte sie so jemanden töten, allerdings... Toppy riss sie aus ihren Gedanken. „Morte.“ Erschrocken zuckte sie zusammen und sah den Zwergbären fragend an. Er erwiderte ihren Blick mit seinem schwarzen Knopfauge, das Gesicht völlig ernst. „Woran denkst du gerade, kuma?“ Ohne zu antworten, senkte die den Kopf, doch das schien ihm vollauf zu genügen. „Dachte ich es mir doch. Du solltest nicht so darüber denken, kuma. Dieser Mann ist nicht mehr dein Bruder, er ist ein anderes Wesen.“ Sie sagte nichts darauf, sie wusste doch, dass er recht hatte. Ihr Kopf war sich bereits im Klaren darüber, doch ihr Herz verweigerte diese Erkenntnis. Es sagte ihr, dass dieser Mann, wenn er auch nicht Reiben war, er genau so aussah, genau so sprach und damit doch noch ihr Bruder war. Normalerweise war sie keine Person, die sonderlich viel auf ihre Empfindungen hörte, doch in einer solchen Situation konnte sie nicht anders, auch wenn es sie schmerzte. Toppy seufzte leise. „Zwecklos, hm?“ Morte wandte das Gesicht ab, konnte aber nach wie vor seinen Blick auf sich spüren. Sie beschloss, den Mund zu öffnen und die Fragen zu stellen, die sie schon eine Weile beschäftigten: „Toppy... warum wollen die 'Black Lantern' Herzen haben? Was bringt ihnen das?“ Doch genau wie Naja, schien der Zwergbär keine Antwort darauf zu besitzen. Ratlos hob er die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, wo diese Ringe herkommen, kuma. Aber sie scheinen aus keinem Material zu bestehen, das aus dieser Welt ist.“ „Wie der Destruct Code?“ Sie wusste heute noch nicht, aus welcher Substanz die schwarze Kugel gefertigt worden war. Bislang war es ihr egal gewesen, doch plötzlich erschien ihr die Frage danach vollkommen natürlich. „So ähnlich, kuma.“ „Warum sind Reiben und ich davon betroffen, was haben wir getan?“ Tatsächlich schien Toppy für einen Moment darüber nachzudenken, doch betrübt schüttelte er mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Die Ringe selbst scheinen nach Herzen zu suchen und dann den entsprechenden toten Gegenpart, kuma. Du scheinst wohl einfach das zu haben, was sie wollen.“ Vermutlich sollte Naja recht behalten, wenn er sagte, dass sie es wohl nie erfahren würden. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, die 'Black Lantern' zu besiegen und die ursprüngliche Person wieder zurückzubekommen?“ Auch wenn sie geglaubt hatte, mit Reiben endlich erfolgreich abgeschlossen zu haben, so sehnte sich ihr Herz immer noch nach ihrem kleinen Bruder. Inzwischen mehr als je zuvor. „Ich glaube nicht“, antwortete Toppy. „Offensichtlich müssen die Körper für einen 'Black Lantern' bereits tot sein. Die Personen an sich kommen nicht zurück.“ Mit dieser Antwort hatte sie bereits gerechnet, doch sie hatte sie einfach stellen müssen. Sie schwieg, es gab keine weiteren Fragen mehr. Ihr Blick blieb immer noch auf die Felswand geheftet. Sie konnte hören, wie Toppy wieder davonging und sich woanders niederließ. Für einen Moment verspürte sie den Impuls, in Tränen auszubrechen, doch dafür war noch keine Zeit, noch würde sie nicht weinend zusammenbrechen. Sie musste weiterhin tapfer sein. Stille zog in die Höhle ein. Irgendwann musste Morte eingeschlafen sein, denn als ein lautes Geräusch erklang, brauchte sie einen Moment, um sich wieder zu orientieren. Naja und Lia standen am Höhleneingang, beide hielten ihre Waffen in den Händen. Alarmiert stand Morte auf, wenngleich sie ein wenig wackelig auf den Beinen stand. Kyrie und der Junge lagen immer noch tief schlafend auf dem Boden, Toppy saß neben ihnen. Er sah zu Morte hinauf. „Er kommt.“ Sie griff nach ihrer Waffe und ging ebenfalls zum Höhleneingang. Naja warf ihr nur einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf den Rand des Waldes konzentrierte. Morte konnte dort nichts erkennen, aber die Augen der beiden Bestien waren wohl einfach schärfer als ihre. Doch selbst wenn sie nichts sehen konnte, spürte sie die Anspannung, die deutlich in der Luft lag. Es dauerte nicht lange – doch für Morte kam es wie Stunden vor, dass sie dort standen und auf die Bäume starrten – bis schließlich jemand aus dem Wald hervortrat. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, obwohl Reibens Gestalt nicht überraschend für sie kam. Bevor einer der anderen beiden sie abhalten konnte, lief sie ihm bereits entgegen. In einiger Entfernung zueinander blieben sie wieder stehen. Ein leichtes Lächeln zierte Reibens Gesicht, nur in seinen Augen war der Ärger über Toppys Überrumpelung zu erkennen. „Ah, Schwesterherz, da bist du ja...“ „Nenn mich nicht so!“, erwiderte sie schrill. „Du sollst mich nicht so nennen!“ Sein Lächeln wurde breiter. Wieder versuchte sie, ihr Herz zu ignorieren, sich immer wieder zu sagen, dass er nicht mehr ihr Bruder war. Seine Worte halfen ihr aber nicht sonderlich dabei. „Warum verleugnest du es?“, fragte er. „Wir teilen uns dasselbe Fleisch – wenn auch nicht mehr das Blut.“ Er lachte, als ob er gerade einen äußerst lustigen Scherz gemacht hätte. Morte dagegen fand es ganz und gar nicht amüsant. Sie warf einen raschen Blick über ihre Schulter, der ihr sagte, dass keiner der anderen näherkam. Lediglich Lias Revolver zielten auf Reiben, bereit, bei jeder falschen Bewegung abzudrücken – wenngleich Morte befürchtete, dass die Schützin extra warten würde, bis sie zerfetzt auf dem Boden lag. Hastig schüttelte sie den Gedanken ab und wandte sich wieder dem 'Black Lantern' zu, der inzwischen zu schmunzeln begonnen hatte. „Kein Vertrauen in deine Gefährten? Komm schon, du kannst es deinem großen Bruder sagen.“ Morte umklammerte den Griff ihrer Waffe so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Der Gedanke, dass dieser... wer auch immer er eigentlich war, sich für ihren Bruder ausgab, machte sie langsam, aber sicher krank. Je länger sie vor ihm stand, seiner Stimme lauschte, in der ein vollkommen neuer Ton lag und dieses selbstgefällige Lächeln betrachtete, das ihr absolut fremd war, desto mehr wuchs die Wut in ihrem Herzen. Diese Person wagte es, sich für ihren Bruder auszugeben und all diese schlimmen Dinge in seinem Namen zu tun, nur um sie, Morte zu quälen und ihr Herz zu ernten, was immer das auch bedeuten sollte. Niemals könnte sie so etwas verzeihen, niemals! „Endlich!“, rief Reiben plötzlich aus. Seine Stimme klang wie durch einen Nebel zu ihr. Sie konnte sehen, wie er mit erhobener Hand auf sie zustürzte, doch sie rührte sich nicht. Schüsse peitschten über die Ebene, die Kugeln fetzten Fleisch aus dem Körper des 'Black Lantern', der einen Augenblick zurücktorkelte, sich aber sofort wieder fing. Sein Ziel, Morte, ließ er dabei keinen Augenblick aus den Augen – bis er plötzlich stutzte und wieder innehielt. Seine Augen huschten nervös an ihr hinauf und herunter. „Ich war so nah dran!“, fluchte er. Morte wusste nicht, wie gut die Nerven eines durchschnittlichen 'Black Lantern' waren, aber zumindest seine waren offenbar nicht sonderlich reißfest. Was immer ihn gerade verwirrte, verlieh ihr eine gehörige Portion Mut, die sich zum Zorn und der eben erwachte Liebe gesellte. Erinnerungen an ihren Bruder brachen wieder über sie herein, doch diesmal sorgten sie nicht für Trauer, sondern dafür, dass sie sich wieder an ihre Zuneigung zu ihm erinnerte. All die Zeit, die sie miteinander geteilt hatten, all die Erinnerungen, ließen sie wieder an all die Gefühle denken, die dadurch entstanden waren. Die Liebe, die sie immer verbunden hatte, selbst jetzt noch in seinem Tod. Er war es nicht, der ihr gegenüberstand, es war jemand anderes und dieser jemand würde dafür bezahlen, ihr beinahe all diese Erinnerungen zerstört zu haben. Reiben schluckte schwer, als Morte ihre Waffe auf ihn richtete. Sie selbst glaubte, Farben darauf tanzen zu sehen: Grün, Violett und Rot, doch sie schob es auf die gerade aufgehende Sonne, die ihr einen Streich spielte. Morte lächelte leicht, das erste Lächeln seit der 'Black Lantern' erschienen war. Es kam ihr vor wie Monate, dabei war es gerade einmal ein Tag gewesen. „Du willst mich nicht wirklich angreifen, Schwester, oder? Er wagte einen letzten Versuch, doch der perlte an Morte ab wie Wasser. „Du wirst mich nicht länger beeinflussen! Es ist vorbei!“ Mit diesen Worten schnellte sie auf den ratlos dreinblickenden Reiben zu. Ein letztes Mal zuckten Erinnerungen an ihren Bruder durch ihren Kopf, dann steckte ihre Klinge schon zur Hälfte in seinem Körper. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Morte verharrte in der Stellung, in der sie getroffen hatte, Reiben sah auf die Waffe hinunter, die drei Beobachter hielten den Atem an. Als sie bereits befürchtete, dass nichts mehr geschehen würde, verzog Reiben plötzlich sein Gesicht zu einer furchterregenden Grimasse. Erneut glaubte sie, Lichter tanzen zu sehen, wenngleich sie es diesmal auf seinem Körper taten, statt auf ihrer Waffe. Er gab noch einmal einen schmerzerfüllten Laut von sich, dann war er plötzlich... fort. Anders konnte Morte es nicht beschreiben, als sein Körper in unzählige kleine Teile zerfetzt zu werden schien. Dabei sagte sie sich immer wieder, dass es nicht Reiben war, der gerade gestorben war, sondern jemand, der sich nur für ihn ausgegeben hatte. Jemand, der ganz anders als ihr geliebter Bruder gewesen war, der nun hoffentlich wieder in Frieden ruhen könnte. Dieser Gedanke erfüllte sie endlich wieder mit Ruhe und dem Wunsch nach einem weichen Bett. Eine plötzliche Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Bislang war es ihr nicht aufgefallen, aber der schwarze Ring, der bislang Reibens Hand geziert hatte, lag auf dem Boden und vibrierte heftig. Sie kniete sich hin, um ihn aufzuheben, doch mit einer heftigen Bewegung schoss er in die Luft davon. Schockiert sah sie ihm hinterher – als ein weiterer Schuss peitschte. Sie konnte sehen, wie der Ring in zahllose kleine Stücke zerfiel, die zu Boden regneten. Ein Blick zur Höhle und in Lias' befriedigtes Gesicht genügte, um ihr zu sagen, was geschehen war. Zufrieden mit sich selbst blies sie den Rauch weg, der aus dem Lauf ihrer Waffe kam, bevor sie diese wieder einsteckte. Morte lächelte wieder, als sie bemerkte, wie Kyrie gähnend aus der Höhle trat, als ob er vor der Ohnmacht nicht gerade in Lebensgefahr geschwebt wäre. Beruhigt wandte Morte den Blick in Richtung der aufgehenden Sonne und schloss die Augen. Es ist vorbei... und alles ist gut. Endlich... Sie holte noch einmal tief Luft, dann fuhr sie herum, um zurück zur Höhle zu gehen – und erst einmal Kyrie für seine eigenwillige Aktion zu schelten, bevor sie wieder nach Hause gehen und gemeinsam mit allen Anwesenden essen würden. So wie sie es jeden Tag taten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)