Die Nebelhexe von Lianait (Formori-Chroniken I) ================================================================================ Kapitel 20: Hungersnot und Tiefschlaf ------------------------------------- Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie, wie jemand einen Fluch wirkte. Ihre Mutter verwendete immer nur sehr kleine Bannkreise, um Medizin herzustellen, und schon gar keine Flüche. Allerdings war ihr Onkel auch um einiges mächtiger als ihre Mutter; zumindest klang es zwischen den Zeilen immer danach. Zwar hatte Hepzibahs Mutter wiederholt versucht sie für Runenkunde zu erwärmen, doch als sie Constantin neben sich stehen sah, wie er gebannt jedes Detail in sich aufsaugte, wünschte sie sich, sie hätte vielleicht doch ein bisschen besser aufgepasst, sodass der Fußboden für sie nicht nur nach undefinierbaren Schlängeln aussah. Nichtsdestotrotz beobachtete Hepzibah interessiert, wie Clancy gerade ihre Cousine und ihren Bruder anwies, sich an bestimmte Stellen des Bannkreises zu stellen. Selbst wenn man noch nie einen Fluch von Nahem gesehen hatte, wusste man instinktiv, dass im Wohnzimmer ihrer Großeltern etwas Außergewöhnliches bevorstand. Ihre Mutter stand stocksteif neben Hepzibah und Constantins Tante rang nervös mit den Händen, bis ihr Neffe eine ihrer Hände ergriff und sie ihm ein schwaches Lächeln schenkte. Zwar hatte ihre Großmutter vorhin noch mit Phobos gewitzelt, sie würde ihm einen wollenen Strampler nähen, doch hatte sich ihr Mund nun zu einer dünnen Linie verengt, während ihr Großvater einen noch düsteren Blick als sonst in die Runde warf. Alle wirkten so unglaublich ernst; selbst Liam. Nun doch etwas nervös richtete Hepzibah ihren Blick wieder auf das Geschehen am anderen Ende des Zimmers vor der großen Fensterfront. Früher war Layla nur ihre coole, wenn auch etwas seltsame, deutsche Cousine gewesen, die für jeden Scheiß zu haben war, doch als Hepzibah auf ihren angespannten Rücken starrte, wirkte sie so, als wäre sie um Jahre gealtert. Layla hatte sich – zu Hepzibahs Leidwesen – nicht sonderlich ausgiebig zu diesem ominösen Formoriangriff geäußert, doch Constantin hatte Hepzibah (nachdem sie ihn bestimmt eine Stunde lang belagert hatte) gegenüber erwähnt, dass einer der Formori Layla fast gefressen hätte, wenn Clancy ihn nicht enthauptet hätte. Mehr hatte er nicht sagen wollen und Hepzibah hatte ausnahmsweise nicht nachgefragt, als sie seinen düsteren Blick sah. Nachdem ihr Onkel die vier dunkelroten Kerzen im Bannkreis entzündet hatte, nickte er Layla und Liam zu, die die Rabenfedern in wilden und sich immer wieder verändernden Bahnen fliegen und das kochende Wasser gefrieren ließen, während Laylas Essenz in einem gleißend hellen Eisblau vor Phobos Pfoten leuchtete. Clancy sah unglaublich konzentriert aus, als er den Blick wieder hob und schließlich auch Phobos zunickte. Augenblicklich schienen sich schwarze, wabernde Schatten von dem Kater auszubreiten, während kleine helle Blitze über die Kohlezeichnungen zu zucken begannen. Während ihr Onkel anfing zusammenhanglose Dinge vor sich herzumurmeln, zuckte Hepzibah äußerst heftig zusammen, als auf einmal das Telefon klingelte, so gebannt war sie von dem Bild, das sich ihr bot. „Verflucht noch eins!“, schimpfte ihre Großmutter leise, aber dennoch ärgerlich, als sie sich in den Flur begab, um den Anruf entgegenzunehmen. In dem Bannkreis drehte sich eine kohlrabenschwarze Wolke rasend schnell um ihre eigene Achse, während immer wieder kleine Blitze in ihrem Inneren aufleuchteten und rasend schnell über den Kohlezirkel huschten. Erst waren die Blitze nur von einem herkömmlichen Blauweiß, doch je schneller sich die schwarze Wolke zu drehen schien, desto mehr Farben kamen hinzu: rot, gelb, grün, violett. Der Himmel hinter den Fenstern wurde immer dunkler und Blitze zuckten durch die schwarzen Sturmwolken. Clancy schien noch nicht einmal zu merken, wie hinter ihm mit einem Schlag die einfach verglasten Fenster aufrissen und eine heftige Windböe durch den Raum jagte, die Hepzibah frösteln ließ. Sein Gesicht wirkte ständig konzentrierter, wenn auch zunehmend angestrengter, und schwankte auch nicht, als ein Blitz in ihn einschlug. Allerdings weiteten sich seine Augen für einen Moment, als Hepzibah ein grässliches Schmatzen und Knacken aus dem Inneren der schwarzen Wolke vernehmen konnte, das ihr eisige Schauer den Rücken hinunterjagte. Hepzibah hatte das mulmige Gefühl, dass nichts in der Welt so klingen sollte, wenn es richtig war. Aber gut… es ist auch ein Fluch... Und sie hatte noch keinen Fluch live und in Farbe gesehen. Vielleicht musste das so klingen, versuchte sie sich einzureden, obwohl ihr Bauchgefühl ihr zuschreien wollte, dass etwas gewaltig schief gelaufen sein musste, zumal ihr auch noch der Geruch von Rauch in die Nase stieg. Das Bedürfnis ihrem Bauchgefühl zuzuhören, wurde schließlich dadurch verstärkt, dass Clancy in sich zusammensackte und keine drei Sekunden später auch Layla und Liam zu Boden sanken. Augenblicklich wollten sich Constantin und Hepzibah in Bewegung setzen, doch Lochan hielt sie zurück, obwohl Constantin ohnehin nicht weit ohne seine Krücken gekommen wäre. „Wartet!“, knurrte er mit einem ausgestreckten Arm. „A-Aber…!“, versuchte Hepzibah zu protestieren, doch ihr Großvater schüttelte den Kopf. „Ihr vergesst, dass Flüche widernatürlich sind“, erklärte Bláthín grimmig. „Nach allem, was wir wissen, ist diese Reaktion vollkommen normal. Hinterher rennt ihr in eine hochgradig magisch geladene Zone und wir können euch durch die Nachwirkungen vom Boden kratzen. Wartet noch eine halbe Minute.“ Ihre Mutter hatte immer diese unglaublich blumige Art, Dinge zu beschreiben. Dennoch blieben Hepzibah und Constantin, wo sie waren, nachdem sie einen besorgten Blick gewechselt hatten. Als sie wieder ans andere Zimmerende blickte, begannen sich die schwarzen Wolkenschwaden auf der einen Seite zu lichten, aber auf der anderen aber zu verdichten. Jedoch als Hepzibah ein Husten hören konnte, schöpfte sie Hoffnung, dass vielleicht doch alles nach Plan verlaufen war. „Uchaah… Alles in… chrm… Ordnung…“, krächzte Clancy zwischendurch immer wieder hustend und winkte ihnen vom Boden aus einarmig zu. Als sich auch Layla aufrichte und erst einmal herzhaft gähnte und auch Liam ein Grummeln von sich gab, breitete sich Erleichterung unter den Anwesenden aus. „Boah, hab ich einen Hunger“, hörte Hepzibah ihren älteren Bruder stöhnen. „Nie wieder Flüche in meinem Wohnzimmer“, sagte ihre Großmutter, als sie wieder ins Wohnzimmer kam und auf das Chaos vor sich blickte. Eigentlich schien sie finster schauen zu wollen, doch mit einem Mal zog sie verwundert ihre Augenbrauen in die Höhe. „Oh“, sagte sie nur. Als Hepzibah wieder von ihrer Oma zum Bannkreisende des Zimmers blickte, musste sie nicht nur feststellen, dass die restlichen schwarzen Schwaden verflogen waren, sondern auch, dass heute wohl der Tag der ersten Male war. Nicht nur, dass sie heute das erste Mal das Wirken eines Fluches hautnah miterlebt hatte, nein, heute sollte auch der Tag sein, an dem sie das erste Mal einen fremden Mann vollständig nackt sehen sollte. Ein breit grinsender Kerl mit langen schwarzen Haaren und einem Ziegenbärtchen stand splitterfasernackt mitten im Bannkreis. Obwohl sein Unterleib von Laylas Oberkörper verdeckt wurde, die sich mittlerweile errötend weggedreht hatte, hielt es ihre Mutter dennoch für angebracht, ihr eine Hand auf die Augen zu legen und so ihre Sicht einzuschränken. „Oh“, hörte sie nur noch einmal Morana sagen. „Sieht so aus, als müsste ich anfangen zu stricken.“ Das Erste, was Liam verspürte, als er wieder zur Besinnung kam, war eine unglaubliche Müdigkeit in den Knochen und ein verdammt großes Schwarzes Loch in seiner Magengegend. „Boah, hab ich einen Hunger“, teilte er stöhnend der Welt mit, just in dem Moment, als sein Magen zu knurren begann. Das Erste, was er allerdings sah, als er sich wieder aufrichtete, waren zwei wohlgeformte Pobacken. Leider die eines Mannes. Als er um die Beine des Mannes herum blickte, konnte er Laylas Rücken sehen, als sie sich umdrehte. Neben sich hörte er, wie Clancy sich hustend aufrichtete. Es war unschwer eins und eins zusammenzuzählen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass der äußerst unbekleidete Kerl vor ihm Phobos sein musste. Auch wenn es sich sicher nicht so angefühlt hatte, schien der Gegenfluch funktioniert zu haben. „Oh, sieht so aus, als müsste ich anfangen zu stricken“, sagte seine Großmutter nüchtern und Liam entfleuchte ein hüstelndes Kichern. Man konnte Morana nicht nachsagen, dass sie eine schlechte Verliererin bei Wetten war. Allerdings wusste er, dass Phobos bei diesem Kommentar einfach grinsen musste, auch wenn er sein Gesicht nicht sah. Alles andere wäre nicht Phobos. „Solange mir irgendjemand was zu essen besorgt, ist mir alles egal“, sagte er und versuchte aufzustehen. Er fühlte sich, als hätte er versucht Iron Man zu werden und das gleich drei Mal hintereinander am selben Tag, ohne vorher auch nur einen Tacken trainiert zu haben. „So schon deine blanke Rückansicht auch sein mag, Phobos“, raspelte er schließlich, als er sich neben Phobos stellte und ihm eine Hand auf die Schulter legte, wenn auch primär, um nicht umzufallen. „Wir sollten dir Klamotten besorgen, wenn wir wollen, dass Hepatitis jemals wieder das Tageslicht erblickt. Obwohl… vielleicht bleibst du besser doch nackt.“ „Liam!“, schalt ihn seine Mutter. Neben sich konnte er Phobos leise kichern hören und sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht. Phobos war ein erstaunlich gutaussehender Kerl, wie er feststellen musste. Lange schwarze Haare, ausgeprägte Gesichtszüge, immer noch seine grünen Katzenaugen, aber das Beste war bei weitem sein Ziegenbart. Männer mit Bart waren männlich und cool und hatte er schön männlich erwähnt? Nicht umsonst trug er selber einen. „Sybille?“, wandte sich Bláthín an Constantins Tante. „Kannst du meiner Tochter bitte die Augen zuhalten? Ich muss die vier erst einmal untersuchen.“ Sybille zögerte nur einen kurzen Moment und hielt Hepzibah die Augen zu, die zwar vor sich hin grummelte, es aber über sich ergehen ließ. Sie wusste, dass man sich dem Matriarchat in Form ihrer Mutter besser nicht widersetzte; und schon gar niemand gab dem Obermatriarchat Großmutter Morana Widerworte. Wie zu erwarten, ging die Untersuchung sehr schnell von statten, da Bláthín wusste, was sie tat, als sie ihnen die Hände an die Schläfen legte und ihnen kurz mit einer kleinen Lampe in die Augen leuchtete. „Hey, Ma“, meinte Liam schief grinsend, als seine Mutter vor ihm stand. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt. Allerdings war Bláthín im Heiler-Modus und sagte nichts. Auch wenn es durchaus der Fall sein könnte, dass sie sich vielleicht ein bisschen Sorgen machte. Bevor er noch etwas sagen konnte, fühlte er wie seine Mutter ihm ihre Hände an die Schläfen legte und so etwas von ihrer magischen Energie erkundend in seinen Körper schickte. Sie nahm ihre Hände wieder herunter und leuchtete auch ihm kurz in beide Augen, sodass er schließlich blinzelte. „Sie sind alle in Ordnung, nur sehr erschöpft“, schloss sie. „Und hungrig“, fügte Liam hinzu. „Meinetwegen auch das, aber ihr seid alle in Ordnung“, sagte sie und klang ein bisschen steif. Sie hatte sich also wirklich Sorgen gemacht. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen umarmte Liam seine Mutter. „Danke, Ma.“ Sie schniefte einmal kurz, aber klopfte ihm schließlich sanft auf den Rücken. „Allerdings hat Liam Recht, Phobos“, ergriff Morana schließlich das Wort. „Wir sollten dir wirklich ein paar Klamotten besorgen.“ „Tss“, machte Phobos daraufhin. „Über zweieinhalb Jahrhunderte bin ich unbekleidet rumgelaufen und auf einmal stört es die Leute. Die Welt ist auch nicht mehr, was sie einmal war.“ Er schüttelte den Kopf, aber folgte Morana aus dem Zimmer, jedoch nicht, ohne in die eine oder andere Richtung kurz zu torkeln. „Ich denke, ich mache euch erst einmal was zu essen“, meinte Lochan grummelnd. „Wenn ihr ohne Nährstoffe einschlaft, schlaft ihr eine ganze Woche. „Suhpah Idee, Oppa“, gähnte Layla, die immer noch auf dem Boden saß. Lochan war überraschend schnell, denn Liam hatte nur kurz die Augen geschlossen und schon kam er wieder mit einem Tablett Sandwiches wieder ins Wohnzimmer, dicht gefolgt von Sybille, die ebenfalls zwei Tabletts trug. Bei näherer Betrachtung war es auch möglich, dass er einfach nur eingeschlafen war, denn er hatte keine Ahnung, wie er in den Sessel gekommen war, auf dem er saß. Die Vermutung erhärtete sich, als er sah, wie Constantin und Hepzibah versuchten Layla zu wecken, die sich wie eine Katze auf dem Boden zusammengerollt hatte und schlief. Ein lautes Schnarchen neben ihm ließ Liam erneut aufschrecken. Verwirrt blickte er sich um und sah seinen Onkel alle viere von sich gestreckt mit offenem Mund auf einem anderen Sessel schlafen. Als er sich erneut umschaute, kam ihm der Verdacht, dass er schon wieder eingeschlafen sein musste, weil auch Layla nicht mehr auf dem Boden lag, sondern auf einem der Sofas saß und schlafend an Constantins Schulter lehne, während er und Hepzibah versuchten sie erneut aufzuwecken. „Patrick ist besser als du in ‚Street Fighter‘!“, sagte Constantin. Layla war sofort hellwach. Oder zumindest wach. „Niemals!“ Sie blinzelte ein paar Mal und rieb sich die Augen. „Ich bin wach… ich bin wach…“ „Esst erst einmal was“, ertönte Lochans Stimme. „Danach könnt ihr so viel schlafen wie ihr wollt.“ Bei der Erwähnung von Essen war Liam wirklich wach. Wenn es etwas gab, das Liam wirklich liebte, dann war es Essen. Er würde auch jeden heiraten, solange er nur kochen konnte. „Oah, Opa, ich liebe dich“, meinte er und richtete sich auf. „Willst –“ „Nein, will ich nicht“, unterbrach sein Großvater wahrscheinlich schon zum tausendsten Mal einen seiner Heiratsanträge, den Liam ohnehin jedem stellte, der ihm mindestens ein Brot schmierte. Dabei konnte Lochan wirklich gut kochen, wenn er wollte. Eine Schande. „Bláthín, weck deinen Bruder“, wies Lochan seine Tochter an. Liams Mutter stupste Clancy an. Als er nicht reagierte, wiederholte sie es etwas kräftiger, bis er endlich aufwachte. Während Layla und Clancy eher träge an ihrem ersten Sandwich hingen, hatte Liam schon voller Inbrunst drei verschlungen, als Morana und der endlich bekleidete Phobos sich zu ihnen gesellten. „Warum bist du so verdammt wach?“, grummelte Layla Phobos verschlafen an. „Halbfey, anderer Metabolismus“, meinte Bláthín nur. Natürlich grinste Phobos. „Allerdings habe ich wirklich Hunger!“ Freudestrahlend griff er nach einem Sandwich und man konnte ihm ansehen, dass er sich nicht nur über das Essen freute. Liam hätte sich noch nicht einmal im wachen Zustand vorstellen können, wie es sich anfühlen musste, nach Jahrhunderten endlich wieder im eigenen Körper zu stecken, geschweige denn in diesem übermüdeten und halb verhungerten Nach-Fluch-Stadium. Er fragte sich ernsthaft, warum Leute überhaupt andere Leute verfluchten; es war furchtbar anstrengend. Nichtsdestotrotz aßen sie Sandwiches in einem mittelstark verwüsteten Wohnzimmer, alle mit nur zwei Armen und Beinen und ohne Pelz oder Schwanz. Die Welt war wieder gut. Auch wenn seine Aufmerksamkeit immer mal wieder schwand, wenn er nicht aß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)