Die Nebelhexe von Lianait (Formori-Chroniken I) ================================================================================ Kapitel 9: Kongregation der Seher --------------------------------- Clancy ließ Sybille nur äußerst ungern mit ihrem ungewöhnlichen Besuch alleine zurück, doch sie hatte ihm lächelnd versichert, dass für sie keinerlei Gefahr bestünde. Mit einem Knoten im Magen hatte er sich verabschiedet und war in sein Auto gestiegen. Jedoch konnte er es sich nicht verkneifen ihr hell erleuchtetes Haus im Rückspiegel solange zu beobachten, bis er um eine Kurve bog und das Haus außer Sicht geriet. Er bekam kaum mit, wie er um die Kurven des Feldweges bog und schließlich vor seinem Haus die Auffahr hinauffuhr. So in Gedanken versunken war er. Erst das Knirschen des Kieses unter seinen Autoreifen holte ihn aus seinem tranceartigen Zustand zurück. Langsam kroch die Müdigkeit in seine Knochen und während er den Zündschlüssel umdrehte um den Motor auszuschalten, gähnte er herzhaft. Er war auf einen der Stellplätze vor dem Haus gefahren und nicht in die Garage, wie sonst üblich. Heute hatte er dazu keine Lust. Als Clancy aus dem dunkelroten Ford Kombi stieg, schlug ihm die kühle Nachtluft entgegen und er sog sie gierig ein, wie ein Ertrinkender. Die Luft füllte seine Lungen und der Sauerstoff klärte seinen Kopf wenigstens etwas. Sein Blick wanderte über die Fassade des alten Hauses, das er und seine Tochter renoviert und wieder bewohnbar gemacht hatten. Kein Licht brannte und das Gebäude lag dunkel vor ihm, wie ein weiterer Abgrund. Seufzend schloss er seinen Wagen ab, auch wenn es eigentlich nicht nötig war, und stieg die wenigen Stufen zur Haustür hinauf, um diese mit einem Schlüssel aus seinem Schlüsselbund, den er noch immer in der Hand hielt, aufzuschließen. Der Hausflur lag dunkel vor ihm und er machte sich nicht die Mühe das Licht einzuschalten, sondern ging schnurstraks geradeaus ins Wohnzimmer. Durch die großen Panoramafenster wurde der Raum tagsüber normalerwiese mit hellem Sonnenlicht durchflutet, doch des Nachts fiel selten das Mondlicht ein. So auch an diesem Abend. Der Raum lag dunkel vor ihm und er konnte nur ein paar Schemen ausmachen bis auf das goldgrüne Augenpaar, das ihn von einem Sessel aus anleuchtete. Unwillkürlich musste Clancy grinsen. Den Namen Shadowstalker trägt er wirklich zu Recht. „Und? Was wollten sie?“, fragte sein langjähriger Freund ohne Umschweife. Clancy ließ sich seufzend auf einer der Couchen fallen, die seine Tochter so sehr mochte. „Vieles und auch nichts. Sie sind sich auf jeden Fall alle einig, dass sie uneinig sind. Sie alle haben Visionen, die unmöglich in Kraft treten können, aber die ja irgendeinen Auslöser haben müssen“, erklärte er und rieb sich die Augen. „Hör mal, ich mache mal gerade das Licht an, sonst werde ich noch depressiv“, warnte er und ohne eine Antwort abzuwarten ließ er die Energie durch sich fließen. Durch all die Jahre des Gebrauches war ihm die Nutzung von Elektrizität ins Blut übergegangen und er benötigte nicht mehr als einen kurzen Gedanken um die Schalter im Wohnzimmer und dem Flur zu betätigen. Ohne sich bewegt zu haben, hatte er das Licht dazu gebracht, nun hell in die Räume zu strömen und zumindest die sichtbaren Schatten zu vertreiben. Phobos machte ein brummendes Geräusch, jedenfalls soweit es seine Kehle zuließ, und kniff die Augen kurz zusammen. „Also viel Luft um blablabla?“, meinte er und Clancy quittierte dies mit einer Mischung aus Nicken und Schulterzucken. „Am besten erzählst du mir alles zusammen mit den beiden Frischlingen. Ich glaube, ich habe gerade Constantins Auto die Auffahrt hinauffahren gehört.“ „Sie sind noch nicht hier?“, fragte Clancy mit hochgezogenen Brauen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war halb fünf Uhr am Morgen. „Hast du nicht selber gesagt, dass dir die Uhrzeit egal ist?“, fragte der Kater und Clancy konnte das Grinsen darin förmlich hören ohne es sehen zu müssen. „Hör auf dich wie eine Glucke zu verhalten und sei ein Mann!“, forderte Phobos und Clancy warf ihm einen weniger freundlichen Blick zu. Doch er bekam keine Gelegenheit etwas entsprechendes zu erwidern, denn wie so oft lag Phobos auch dieses Mal mit seinem Gehör richtig und Clancy konnte das Geräusch eines Schlüssels im Haustürschloss ausmachen. Ein letztes Mal seufzte er leise und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. Aus dem Flur ließen sich Schritte ausmachen, ein ‚Klonk‘, das Clancy sagte, dass Layla ihren Schlüssel auf die Kommode gelegt hatte und ein Rufen seiner Tochter. „Wir sind wieder da!“ „Im Wohnzimmer“, antwortete Phobos, bevor Clancy Gelegenheit dazu bekam. Schritte ertönten und durch die angelehnte Wohnzimmertür trat Layla mit Constantin an ihrer Seite. Als Clancy seine Tochter betrachtete, kam er nicht umhin ein wenig wehmütig zu werden, denn Layla sah ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher. Sicher die rote Haare und die grünen Augen hatte sie von ihm, aber ihre Gesichtszüge schlugen nach Angelika. Er hatte sich so oft gewünscht, dass seine verstorbene Frau gewisse Ereignisse im Leben ihrer Tochter erlebt hatte. Ihre Einschulung, ihr erster Kinobesuch, ihre erste holprige Autofahrt illegal im Feld. Doch als Clancys Blick auf den hellen Verband an Laylas Arm und die mit wenigen Blutsprenkeln befleckte Bluse fiel, fügte er etwas zu der Liste hinzu, von dem er sich glücklich schätzte, dass Angelika es nicht miterlebt hatte. Ich wollte genau wie Angelika nie, dass unsere Tochter je in Kontakt mit Formori kommt oder in der Nutzung von Waffen ausgebildet wird. Doch wie die Dinge liegen, wird das leider unvermeidlich sein… Wenn ich sie selber unterrichte, kann ich wenigstens sicher sein, dass sie das Richtige lernt. In seinen Gedanken versunken, hatte er erst gar nicht gemerkt, dass er angesprochen wurde, doch Laylas irritierter Blick ließ darauf schließen, dass seine Aufmerksamkeit verlangt wurde. „Was?“, fragte er. „Ich habe gefragt, was du Constantin am Telefon nicht sagen konntest“, wiederholte sie. „Ach, ja. Sybille hat unerwarteten Besuch bekommen. Eine ganze Kongregation Seher“, erklärte er und die Augen seiner beiden neuen Schüler weiteten sich in Erstaunen. „Und das ist schlecht?“, wollte Constantin wissen, als er sich neben Layla auf die andere Couch Clancy gegenüber setzte. „Nicht direkt. Es war nur unerwartet“, antwortete Clancy. „Und warum hat meine Tante dann darauf bestanden, dass ich die Nacht hier bleibe?“ Seine Irritation war offensichtlich. „Weil ein Essence Hunter unter ihnen ist-“ „Was?“, unterbrach ihn Phobos. „Warum hast du nichts gesagt?“ „Weil ich nicht dazu gekommen bin?“, entgegnete Clancy und bei dem fragenden Anblick Laylas und Constantins fuhr er fort. „Ein Essence Hunter tut genau das, was der Name sagt: Er sucht Essenzen. Gelegentlich auf jede mögliche Art und Weise. Und der Hunter, der unter den Sehern ist, hat einen weniger schmeichelhaften Ruf. Ich denke, deine Tante wollte nicht, dass du auf sei triffst. Schon gar nicht unvorbereitet.“ „Wer?“, fragte Phobos und seine Augen verengten sich. „Gwen“, sagte Clancy nur und Phobos fluchte. „Und diese Gwen ist der evil Essence Hunter of Doom, oder wie?“, fragte Layla. „Ja und nein. Sie nutzt ihre Gabe des dritten Auges aktiv, um nach Essenzen zu suchen. Da sie anders als so viele andere Seher ihre Gabe so konkret und kontrolliert nutzen kann, macht sie das allein schon zu einer mächtigen Persönlichkeit. Die Tatsache, dass sie ein Vampir ist und einst eine der besten Schülerinnen des Weisen aus der Küche war, trägt sein übriges zu ihrem Ruf bei. Sie macht zwar genau, das, was andere Essence Hunter auch tun, aber sie gibt die Essenzen nicht an die Wächter ab, oder verkauft sie, wie die anderen. Keiner weiß wirklich, was sie mit den ganzen Essenzen tut, und so schnell wird man das wohl auch nicht herausfinden, denn sie arbeitet immer und ausschließlich alleine.“ „Der Weise aus der Küche?“, hakte Layla skeptisch nach. Constantin neben ihr sah auch nicht viel überzeugter aus, mit seiner hochgezogenen Augenbraue. Phobos gluckste. „Er ist einer von diesen weisen, alten Einsiedlern“, erklärte er grinsend. „Nur, dass er die Leute immer in der Küche empfängt.“ Da die beiden immer noch ein wenig irritiert dreinschauten, fuhr er ernster fort: „Er ist schon uralt und niemand weiß, wie alt wirklich, wann er geboren wurde, oder was er überhaupt ist. Er steht auf keiner Seite, bietet aber jedem seine Dienste an. Den Bewahrern ist er – warum auch immer – ein Dorn im Auge, aber das hindert die Leute trotzdem nicht daran ihn aufzusuchen und um Rat zu bitten. Wenn er ihn gewährt, führt er die Bittenden nun mal in seine Küche. Keiner weiß, warum er das macht, aber er tut es. Und Gwen war eine der wenigen Schülerinnen beziehungsweise Schüler, derer er sich über die Jahrhunderte angenommen hat. Man munkelt, der Grund, warum er keine weiteren Schüler nach Gwen angenommen hat, sei ein Streit mit ihr gewesen, nachdem sich ihre Wege trennten. Da das alles nur Gerüchte sind, weiß man auch nicht, ob die Ursache für den Streit ihre Verwandlung zum Vampir war. Denn sie war früher, genau wie ich, eine Halbfey.“ „Und diese Frau ist jetzt bei meiner Tante?“, fragte Constantin und Clancy konnte ihm den anschuldigenden Tonfall nicht verübeln. „Ja“, nickte Clancy und versuchte sich sein eigenes Unbehagen bei dem Gedanken daran nicht anmerken zu lassen. „Aber es besteht keinerlei Gefahr für deine Tante. Gwen interessiert sich nur für Essenzen und Sybille hat keine. Sie hat sie einzig und allein in ihrer Funktion als Seherin aufgesucht.“ „Und was will dieser Sehertrupp jetzt?“, schaltete sich Layla wieder ein. „Seher haben ihr eigenes kleines Netzwerk und heute haben sie unerwartet Sybille kontaktiert und um ein Treffen gebeten. Sybille hatte ein ungutes Gefühl und hat mich schließlich gebeten zu ihr zu kommen, falls es… unklärbare Uneinigkeiten geben sollte. Vor allem zwischen einigen anderen Sehern und Gwen. Dass sie da war zeugt eigentlich nur von der Nützlichkeit des Netzwerkes. Wie dem auch sei, zwei der Seher haben zufällig miteinander über ihre Visionen geredet und eine Ähnlichkeit zwischen ihnen festgestellt. Daraufhin wollten sie ihr Wissen mit weiteren Sehern vergleichen und eine Kettenreaktion brach los. Im Endeffekt hat sich eine Kongregation aus 16 Sehern bei Sybille eingefunden und eine scheinbar endlose Diskussion gestartet. Jeder von ihnen hat Unruhen in irgendeiner Form gesehen, jedoch waren die Auslöser und Ausgänge unterschiedlich, teilweise waren sie auch einfach nur absurd. Ein Seher hat zum Beispiel gesehen, wie jemand versucht hat die Göttin der Dunkelheit zu befreien, ein anderer hat einen Krieg zwischen Wächtern und Bewahrern gesehen und wieder ein anderer meinte herausgefunden zu haben, dass die Söldner mit der Nebelhexe zusammenarbeiten werden, was an sich schon nicht geht, weil die Nebelhexe seit fast 300 Jahren tot ist. Kurz und bündig gesagt, wissen sie nur, dass Unruhen auf die Welt zukommen werden und zwar bald. Sehr bald. Sie stellen sich nun die Frage, wo sie in dem Ganzen stehen. So wie es aussieht wollen sie jetzt ein Bündnis zur Selbsterhaltung gründen“, endete er schließlich. „Sonst nichts?“, wollte Phobos mit hochgezogenen Brauen wissen. „Nein“, antwortete Clancy kopfschüttelnd. „Sie haben anfangs ein paar nette Feindlichkeiten ausgetauscht und dann endlich begonnen zu diskutieren. Und bevor du sagst, dass Seher immer Unruhen vorhersehen, diesmal ist es anders. Es scheint etwas Ernsthaftes dran gewesen zu sein. Die Spannung im Raum war hoch und von der Nervosität ganz zu schweigen. Alle waren unruhig, selbst Gwen.“ „Woohoo“, entgegnete sein bester Freund trocken. „Du sagst es“, stimmte ihm Clancy ernst zu. „Das heißt, eine Sehergang belagert jetzt unser Haus?“, fragte Constantin. „Sieht wohl so aus“, bestätigte Clancy. „Das bringt mich allerdings auf einen weiteren Punkt: Wir werden früher mit dem Training beginnen, als ich anfangs geplant hatte. Wenn Gwen da ist, solltet ihr schnell eure Kräfte unter Kontrolle haben und die Essenzen an euch binden. Auch wenn sie dem Seherbündnis beitreten will, heißt das nicht, dass sie nicht ein reges Interesse an euch haben kann. Ihr seid schließlich keine Seher und damit Freiwild. Wenn ihr die Essenzen an euch gebunden habt, wird sie das Interesse an euch verlieren. Sie hat nur ein Prinzip und jeder weiß das: Keine gebundenen Essenzen stehlen. Wir werden noch kein wirklich körperliches Training machen können, aber mit dem mentalen können wir zumindest beginnen. Da es jetzt so spät ist, würde ich sagen, dass wir frühestens morgen Abend anfangen, wenn nicht übermorgen“, erklärte er du die beiden nickten ernst und nervös zugleich. „So, und jetzt seh‘ ich mir noch deinen Arm an, Layla und dann geht’s ins Bett“, meinte er und stand auf. Seine Tochter und Constantin taten es ihm gleich und folgten ihm schließlich in sein Badezimmer im Erdgeschoss, dass sie zuvor schon für medizinische Aktivitäten genutzt hatten. Ohne Umschweife setzte sich seine Tochter auf den Wannenrand und es tat Clancy in der Seele weh, zu sehen, wie routiniert sie den Verband abnahm. Der erwartungsvoll schlichte Blick, der nur zeigte, dass sie mit der Situation abgeschlossen hatte und sie als gegeben sah, machte es auch nicht besser. Liese seufzte er. Ich wollte nie, dass Layla in das alles hineingezogen wird… Jedoch tat er seine Gedanken nicht kund und setzte sich auf den Toilettendeckel, um ihren Arm zu untersuchen. Sie hielt vollkommen still und zuckte nicht einmal als er ihren Arm berührte. Der Schnitt war in der Mitte des Unterarms ein paar Zentimeter aufgegangen. Eine ungewöhnliche Stelle. Auf Clancys Frage hin, wie das passiert sei, erwiderte sie nur „Ein Missverständnis“ und sah ihm direkt in die Augen. Constantin wirkte auf Laylas Antwort hin etwas verärgert. Doch Clancy beließ es dabei und nahm sich vor, den Jungen bei einer anderen Gelegenheit danach zu fragen, da seine Tochter offensichtlich nicht darauf eingehen wollte. „Ich fürchte, ich muss das noch einmal nähen“, sagte er und sah Layla ernst an. Sie nickte nur und widersprach nicht. Zwei weitere Stiche in Clancys Brust. Einmal aus Freude und Stolz, dass eine Tochter so tapfer und praktikabel war und nicht jammerte, und einmal aus Traurigkeit, dass es soweit kommen musste. Er reinigte den Schnitt noch ein weiteres Mal und träufelte die Lösung, die Bláthín für ihn gebraut hatte, auf Laylas Arm. Ihre Augen verengten sich leicht, doch zeigte sie kein weiteres Zeichen von Unbehagen, das die brennende Lösung sicher in ihr hervorrufen musste. Die Nadel, die er aus dem Verbandskasten holte, desinfizierte er wie üblich mit Hitze, ohne mehr als einen Gedanken daran zu verschwenden. Die Tätigkeit hatte sich auf dem Schlachtfeld und danach rasch zur Routine entwickelt. Er zog einen Faden durch das Nadelöhr, und begann zu nähen. Layla sog beim ersten Stich noch scharf Luft ein und Clancy blickte besorgt auf, doch sie betrachtete ihren Arm mit dem selben nüchtern-gequälten Blick, den sie auch schon zuvor aufgesetzt hatte, und er setzte seine Arbeit fort. Nachdem er ihren Arm erneut verbunden hatte, verabschiedeten sich Layla und Constantin mit gegähnten „Gute Nacht“-Wünschen und begannen die Treppe hinaufzusteigen, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen. Im letzten Moment fiel Clancy noch etwas ein und er hielt Constantin zurück, um ihm die Tasche zu überreichen, die Sybille ihm für ihren Neffen mitgegeben hatte. Zuerst verwirrt, dann aber verstehend nahm er die Tasche entgegen und bedankte sich müde lächelnd. Clancy blickte ihnen noch ein paar Augenblicke nachdenklich hinterher, nachdem sie schon verschwunden waren, bis er schließlich auch die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete und eintrat. _________________________________________________________________________ So, hiernach kommt jetzt die Stelle, an der ich gewaltig hänge... Es kann also ein bisschen dauern, bis das nächste Kapitel kommt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)