Unter Krähen von Ryoko-chan (Shihos Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 11: Gift ---------------- Beim Schreiben rast mein Herz manchmal derart stark, sodass ich zwischendurch aufhören muss. Das ist echt verrückt. Dabei gebe ich mir alle Mühe, die Szenen in meinem Kopf auf dem Papier umzusetzen. Meine Nase war glücklicherweise nicht gebrochen, nur einige Gefäße mussten aufgeplatzt sein. Jedoch bereitete die Beule an meiner Stirn noch einige Tage Kopfschmerzen. Sprach mich in der Schule jemand auf meine Verletzungen an, erwiderte ich mit einem verkrampften Lächeln, ich sei die Treppe heruntergestürzt. Nun dachte jeder, ich wäre einfach ein dummer Tollpatsch. Nach diesem Vorfall bekam ich Gin zwei Wochen nicht mehr zu Gesicht. Als ich am Morgen danach auf die Straße trat, stand ein Mann im schwarzen Anzug auf der anderen Seite. Obwohl Winter war, trug er eine Sonnenbrille. Ganz instinktiv wusste ich, dass es sich nur um ein Mitglied der Organisation handeln konnte. Er entdecke mich und auf mich zu. „Ich hab den Auftrag, dich abzuholen.“, sagte er ohne Begrüßung. Zunächst erwiderte ich nichts. Es war mir sogar ganz recht, dass ich mich nicht direkt mit Gin auseinander setzen musste. „Du bist doch Sherry, oder?“ Ich nickte und er schien aufzuatmen. Ich setzte mich auf den Rücksitz. Trotzdem beobachtete dieser Typ mich ganz ungeniert im Rückspiegel. Mir waren seine neugierigen Blicke unangenehm und ich war froh, als wir bei der Schule ankamen. „Nachher hole ich dich auch ab.“, sagte er unnötigerweise, obwohl ich mir dessen schon längst bewusst war. Ich fragte mich, wie lange Gin mir wohl aus dem Weg gehen würde. Oder war er etwa schon nicht mehr für mich zuständig? Hatte er die Schnauze voll von mir? Trotz des Vorfalls erschreckte mich dieser Gedanke. Gin war in meiner Umgebung der einzige Mensch, dem ich vertraute. Auch wenn es mir missfiel, ich fühlte mich von ihm abhängig. Trotz meiner Angst stellte ich keine Fragen. Und man ließ mich zwei Wochen in völliger Ungewissheit. Und dann, an einem Januarmittag, stand Gin an seinem Auto gelehnt. Fast hätte ich vor Erleichterung geweint. Mit pochenden Herzen stand ich vor ihm. Er sagte nichts. Er hob die Hand und strich mir vorsichtig über die Stirn. Fast glaubte ich, er würde sich entschuldigen. Aber diesen Gefallen tat er mir nicht. Wir stiegen ins Auto und fuhren los. Ich war so glücklich, so verdammt glücklich ihn wieder zu sehen. „Du hast mir gefehlt.“, sagte ich leise. Kurz bereute ich meine Worte, aus Angst vor seiner Reaktion. Ich wusste nicht, worauf ich mich gefasst machen sollte. Ganz überraschend hielt Gin an der Straßenseite und wandte sich zu mir herum. „Ich will dich nie wieder mit einem anderen Mann sehen, hast du verstanden?“ Nur nicken konnte ich, der Kloß in meinem Hals saß zu fest. Da zog er mich an sich und küsste mich mit einer Heftigkeit, wie ich sie nicht gewohnt war. Ich schloss die Augen. Ich war nicht mehr allein. „Es wird ein neues Projekt geben?“, fragte ich neugierig. An einem warmen Maiabend saß ich in Gins Wohnung, er hatte mich abgeholt. „Ich hab es selbst erst erfahren. Worum es sich handelt ist unbekannt. Der Boss erwähnte jedoch ausdrücklich, dass du an diesem Projekt teilhaben wirst.“ Ich strahlte übers ganze Gesicht. „Und wann geht’s los?“ Gin zuckte mit den Schultern. „Du wirst es noch früh genug erfahren.“ Ich musste mich noch weitere drei Wochen gedulden, bis Gin an einem Nachmittag ins Labor kam. Zwei dicke Ordner legte er auf dem Tisch ab. „Was ist das denn jetzt?“, fragte ich stirnrunzelnd. Er grinste. „Ich darf dir gratulieren. Du bist ab sofort Leiterin des neuen Projekts APTX 4869.“ Meine Augen wurden groß. „Wie… aber, warum ich? Ich meine…“ Er legte mir einen Finger an die Lippen und ich verstummte. „Das Nötigste werde ich dir jetzt berichten. Alles Andere findest du in diesen Akten.“ Ich nickte und nahm den Stift zur Hand. „Dieses Projekt besteht schon länger. Deine Eltern haben daran mitgewirkt.“ Mein Herz schien für einen Moment stehen zu bleiben. „Doch nach ihrem Tod wurde das Projekt aufgegeben. Jetzt soll es neu aufgenommen werden und man hält dich dafür geeignet, es fertig zu stellen. Also vermassel es nicht!“, fügte er hinzu. Worum handelte es sich bei APTX?“ Ich hielt es kaum aus vor Spannung, wollte am liebsten sofort mit der Arbeit beginnen. „Es ist ein Gift. Ziel sollte sein, dass es absolut nicht mehr im Körper nachzuweisen ist.“ Ich sah mit zusammengekniffenen Lippen zu Boden. So enttäuscht war ich selten gewesen! „Das ist unmöglich! So was funktioniert nicht, niemals!“ Gin seufzte und verdrehte die Augen. „Sherry! Der Boss hätte dich nicht dafür ausgewählt, wenn er nicht von deinen Kompetenzen überzeugt wäre!“ Heftig schüttelte ich den Kopf. „Ich weiß selbst, was ich kann und was nicht! Und ich kann keine Wunder vollbringen!“, erwiderte ich. „Du solltest dir gut überlegen, ob du dieses Projekt wirklich ablehnen willst. Es könnte dich in deiner Position als Wissenschaftlerin weit bringen. Sieh dir erst einmal die Akten an.“ Er war im Begriff zu gehen, als er inne hielt und ein Päckchen aus der Tasche zog. „Deine Schwester hat dir ein Paket geschickt.“ Ich nahm es und legte es zur Seite, wo ich das Paket erst mal vergaß. Die gesamte Nacht durchsah ich die Akten und diversen Disketten. Sie waren umfangreich und voller Informationen. Als der Morgen anbrach, verfluchte ich die Schule. Doch in den letzten Wochen vor den Prüfungen durfte ich nicht fehlen und so brach ich total übermüdet auf. In dieser ersten Nacht hatte ich bereits einen Narren an diesem Projekt gefressen. Dieses Apoptoxin4869 war unheimlich komplex, doch gerade deshalb reizte es mich so sehr. Ich beschloss, mich daran zu versuchen und die Arbeit meiner Eltern fortzuführen. Meine Entscheidung teilte ich Gin mit und mir wurde sofort ein Team von zehn Wissenschaftlerin zugeteilt. „Brauchst du mehr Leute, gib mir Bescheid. Ach ja… und sollten sie aufmucken, kannst du mich sofort anrufen. Sie mögen zwar älter und erfahrener sein, sind aber noch lange nicht so kompetent wie du!“ Ich nickte und sah mir ihre Daten auf der Diskette an. Jeder von diesen Personen hatte studiert und arbeitete bereits jahrelang in der Organisation. Das ausgerechnet ich die Leitung übernahm, machte mich stolz. Allerdings musste ich mich zunächst auf die Abschlussprüfungen konzentrieren und konnte die Forschungen noch nicht beginnen. Daher machte ich mir zunächst nur Notizen und schrieb das Wichtigste heraus. Dabei tauchte das vergessene Paket meiner Schwester wieder auf. Ich wunderte mich über die beiliegenden Disketten und las den Brief. Es musste sich um Urlaubsfotos handeln. Ich sah sie mir lange auf dem PC an. Meine Schwester wirkte so glücklich und unbeschwert. Im Gegensatz zu mir hatte sie einen recht großen Freundeskreis und ausreichend Freizeit. Das stimmte mich traurig, also verstaute ich die Disketten wieder. Ich würde sie umgehend an Akemi zurückschicken, denn ich wusste, ab sofort wurde ich noch stärker observiert und kontrolliert. Mein Abschluss verlief nicht besonders aufregend. Natürlich war ich eine der Besten aus meinem Jahrgang. Hier und da warf man mir bewundernde Blicke zu und gratulierte mir. Alle gingen davon aus, dass ich ab sofort auf eine berühmte Universität gehen würde. Niemand ahnte, wie die Wirklichkeit aussah. Nur meine Schwester schickte mir einen Brief, in welchem sie mir überschwänglich gratulierte. Auch schrieb Akemi, dass sie hoffte, mich bald noch mal zu Gesicht zu bekommen. Beim Lesen stiegen mir die Tränen in die Augen. Jetzt, wo die Forschungen zu APTX4869 begannen, würde mich die Organisation nicht einfach in den Urlaub fahren lassen. Von morgens bis abends arbeitete ich im Labor. Vieles hätten die anderen Wissenschaftler auch alleine geschafft, doch ich hatte die Verantwortung und es ließ mir keine Ruhe, dass während meiner Abwesenheit etwas passieren könnte. Dann bemerkte ich, dass eine der Disketten fehlte und verfiel in Panik. Ich durchsuchte das gesamte Labor, wurde aber nicht fündig. Bis mir in den Sinn kam, dass ich sie mit den Disketten meiner Schwester verschickt haben könnte. Ich hätte Akemi bitten können, sie mir zurück zu schicken. Doch würde die Organisation meine Post durchsuchen, gäbe es mit Sicherheit Ärger. Ich entschied mich dafür, die Daten einfach auf eine andere Diskette zu kopieren. Glücklicherweise bemerkte niemand etwas von meinem Missgeschick. Monatelang widmete ich mich einzig diesem Projekt. Von morgens bis spät abends blieb ich im Labor, manchmal auch über Nacht. Selbst während ich schlief, beschäftigten sich meine Gedanken ausschließlich mit dem geheimnisvollen Gift. Vollkommen auf die Forschungen fixiert, ignorierte ich die Signale meines Körpers. Schwarzer Kaffe wurde zu meiner Droge. Eines Nachts, alle anderen Wissenschaftler waren schon längst gegangen, schrak ich auf, als die Tür aufging. Ich war völlig in die Formeln vertieft gewesen und hielt in der anderen Hand die heiße Tasse. Ich zuckte derart zusammen, dass der Kaffe überschwappte und ich mir die Hand verbrühte. Fluchend ließ ich alles stehen und liegen, hastete zum Waschbecken. „Du bist noch immer hier, ich fasse es nicht!“ Gin stand gelassen am Schreibtisch und durchblätterte meine Notizen. „Und ich fasse es nicht, dass du mich derart erschrecken musst!“ Er hob mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen blicken musste. „Ich fahre dich sofort nach Hause!“ „Nein!“, protestierte ich. „Ich bin noch nicht fertig!“ „Du kommst gefälligst mit! Und dann will ich dich bis übermorgen nicht im Labor sehen! Eine übermüdete Wissenschaftlerin kann hier niemand gebrauchen! Du siehst doch selbst, wozu es führt!“ Gins laute Standpauke saß und ich gab auf. Ich gestand mir schließlich ein, dass ich dringend Schlaf nötig hatte. Mit meinen zitternden Händen wäre mir jedes Reagenzglas aus der Hand gefallen und weitere Verletzungen würden mich bei der Arbeit behindern. „Eigentlich bin ich gekommen, um dir mitzuteilen, dass die Forschungsarbeiten verlegt werden.“ Sofort hielt ich inne. „Und wohin?“ „Nach Japan. Wir werden schon nächste Woche den Flieger nehmen!“ Fassungslos starrte ich ihn an. Ich würde nach Japan zurückkehren. Ich wäre wieder in Akemis Nähe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)