Epizentrum von Rentalkid (Das Portal) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Einzig die Mutter allen Seins vermochte es, die Mannigfaltigkeit des Lebens in Adessa, dem sagenumwobenen und größten Kontinent Minevals, zu erschüttern. Der Ursprung war es, den die Bewohner der blühenden Ländereien würdigten. Die Natur war es, die sie vergötterten. Sie alle entstammten ihren mystischen Sphären, und war die Zeit erst reif, würden ihre Seelen wieder zu ihr zurückkehren – sich auf ewig mit ihr verbinden und Vollkommenheit erlangen. Die Geschichten eines einzelnen, scheidenden Lebens würden zur Geschichte eines Planeten. Erst wenn sich die Natur all jenes einverleibt hatte, was sie einst gebar, würde sich der Kreis schließen und Vollkommenheit einen neuen Zyklus einleiten. Eine neue Welt würde geboren. Eine Welt absoluter Unschuld. Eine Welt wie Mineval. 1 Kara wurde harsch aus ihren Träumen gerissen. Keuchend wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Die Dunkelelfe konnte in ihrem finsteren Gemach kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Nacht für Nacht zog die junge Frau schwere pechschwarze Vorhänge vor die Fenster. Sie brauchte die Dunkelheit, um in den Schlaf gleiten zu können; nach ihrem neuerlichen Albtraum fürchtete sie sich jedoch vor ihr. Wankend stieg sie aus ihrem Bett. Gewohnheit führte sie sicher durch den großen Raum hindurch. Sie zitterte wie Espenlaub; sehnte sich kindlich nach der warmen Erlösung einiger Sonnenstrahlen – wenngleich sie sich nicht sicher war, zu welcher Zeit ihre Träume sie so unliebsam aus dem Schlaf gerissen hatten. Als Kara den ersten Schal des mächtigen Vorhangs zurückzog, wusste das milde Orange, das durch das Glas zu ihr hindurch schien, sie zu erleichtern. Das Ambiente ließ die Dunkelelfe in ihrer ganzen Pracht erstrahlen. Licht und Schatten umspielten ihren schlanken Körper wie seidene Kleider – einzig für diesen Augenblick geschaffen. All der Angstschweiß verlor innerhalb eines Wimpernschlages seine beunruhigende Essenz und war nur mehr Teil des anmutenden Lichtspiels, welches die tiefblaue Haut der Dunkelelfe zum Schimmern brachte. Kara war eine hochaufgeschossene junge Frau, was für die Spezies, der sie angehörte, alles andere als unüblich war. Ihr pechschwarzes Haar trug sie einzig während der Nachtruhe derart ungezügelt und wild. Ihren Stand verriet in jenen frühen Stunden weder Uniform, noch Schmuck. Kara genoss den Anblick des auferstehenden Morgens in spärlicher Bekleidung. Sie öffnete die Fenster zur Stadt und atmete genüsslich den ersten, jungfräulichen Lufthauch ein, der seinen Weg in ihr Heim fand. Vergessen ließ sie dieser erfrischende Einzug der Realität jedoch nicht. Nie zuvor hatte sie auf vergleichbare Weise geträumt; nie so real, nie so grauenvoll. Doch beschloss Kara ihre Sorgen ruhen zu lassen. Sich den Kopf über Albträume zu zerbrechen, würde ihr nicht weiterhelfen – ganz im Gegenteil. Am Ende dieses Tages, dessen frühe Morgenstunde ihr so zärtlich die Angst genommen hatte, würde sie an ihre Träumereien sicher keinen Gedanken mehr verschwenden. Feuer und Eis würden die Stadt verschonen; ihre Bewohner auch weiterhin in friedlicher Harmonie miteinander leben; kein Krieg sie erschüttern. Kara sah zufrieden lächelnd auf die sich schier endlos erstreckende Stadt hinab. Nein, dieser Anblick teilte keine Ähnlichkeit mit den Bildern der Nacht. Letztlich erinnerten jene nächtlichen Phantasmen die Dunkelelfe nur mehr an die bösen Träume ihrer frühen Kindheit. Sie würde nicht so dumm sein und ausgerechnet jetzt damit anfangen, diesen Reliquien ihrer Jugend Bedeutung zu schenken. 2 Die ewige Stadt Ballymena erstrahlte im hellen Licht eines malerischen Morgens. In diesen Gefilden Adessas waren Tage, die so schön waren wie dieser, die Regel, nicht etwa die Ausnahme. Den Tausendschaften der friedlichen Elfen, die ihren Brüdern und Schwestern weiter im Süden äußerlich so wenig ähnelten, dankten ihre Blüte (und die allen Lebens) keiner Gottheit. Einzig der Natur selbst waren sie ergeben, dies jedoch in größter Ehrfurcht. Es gab in ganz Mineval keine Feinde, derer es sich zu erwehren galt, weshalb Kampf oder gar Krieg im Leben der Dunkelelfen so gut wie keine Rolle spielten. Kein Heer verteidigte die Tore Ballymenas, und obwohl das Königshaus eine Garnison an Leibwächtern besaß, deren Ausbildung weitestgehend militärischer Natur war, fühlte sich keiner der vermeintlichen Soldaten wie ein Krieger. Jeder wusste: würde der Tag kommen, an dem man tatsächlich in den Kampf ziehen musste, so wäre jedes Schwert, jeder Pfeil und jede Faust letzten Endes der Magie unterlegen. Kara war nicht wenigen ihrer Artgenossen im Reich durchaus ein Begriff. Als Ausbilderin und Ranghöchste der königlichen Leibgarde gehörte sie selbst zum Adel ihres Volkes. Sie lehrte die wenigen Auserwählten mit harter Hand jene Künste, von denen auch sie hoffte, sie niemals anwenden zu müssen; gleichzeitig bläute sie den jungen Frauen und Männern, die ihr unterstellt waren, mit nicht minderer Strenge den korrekten Umgang als Ordensträger ein. Ihr Drill war legendär, und doch war sie – vor allem bei dem überwiegenden männlichen Anteil ihrer Auszubildenden – sehr beliebt. Abseits von Übungen und Unterrichtsstunden war sie durchweg liebenswert und verständnisvoll. Allein das Lächeln der selbst erst neunundzwanzigjährigen Dunkelelfe, war es den meisten Jungspunden wert, Tag ein Tag aus Benimmregeln zu pauken oder durch den feuchtwarmen Morast der Grenzwälder zu kriechen. Unweit des gewaltigen Südtors der Hauptstadt stand ein rund zwanzig Mann starker, in enge Lederuniformen gepresster Zug Jünglinge, die darauf warteten, den Instruktionen ihrer favorisierten Ausbilderin folge zu leisten. So nahe der Stadtmauern versiegte das sonst so rege Treiben Ballymenas ein wenig. Nur vereinzelt sah man noch ausgebreitete Flügelpaare, die ein paar ihrer verirrt scheinenden Besitzer bis hoch über die Wipfel in Richtung Innenstadt trugen. Die wenigsten Elfen legten in ihrem Alltag längere Distanzen am Boden zurück. Diese Art Anstrengung war für angehende Leibwächter schon fast ein Privileg, auch wenn sie es wohl kaum als solches ansahen. Zwei besonders gesprächige und auch etwas ältere Jungen machten keinerlei Anstalten, abseits des Zuges ein kleines Schwätzchen zu halten und amüsierten sich im Flüsterton über die jüngeren Kadetten, zu denen sie dennoch ohne Zweifel gehörten – ihre Uniformen verrieten sie auf den ersten Blick. „He, da kommt sie“, tuschelte einer der beiden. „Wunderschönen guten Morgen, Lady Kara!“ Kara rang sich ein Lächeln ab; ihr war die Missstimmung jedoch deutlich anzumerken. „Drenthe und ich haben für Sie die Stellung gehalten!“ „Die Meute steht stramm und ist zu jeder Schandtat bereit, he he“, unterbrach der deutlich stämmigere der beiden seinen Kameraden. „Kann es sein, dass wir zu früh dran sind? Jorhys meinte, das wird es wohl sein, weil ...“ „Nur nicht so bescheiden“, stoppte Kara die Bemühungen ihrer Kadetten. „Ich bin heute etwas spät dran. Asche auf mein Haupt ...“ „Darf man erfahren, warum, schönste aller Ausbilderinnen?“ Jorhys raspelte ganz unverblümt Süßholz in der Nähe seiner Vorgesetzten. „Ich bin deine einzige Ausbilderin, Spaßvogel.“ „Was unsere Wertschätzung für Sie nur noch steigert.“ „Genau!“, stimmte Drenthe mit ein. „Rührend!“ Die beiden als Klassenkasper zu bezeichnen, wäre der Ernsthaftigkeit der Sache nicht ganz angemessen, würde den Nagel ansonsten aber auf den Kopf treffen. „Verzeiht mir, wenn ich heute nicht in Hochstimmung bin.“ „Soll das etwa heißen, die Göttin, die unsere Augen hier und jetzt mit ihrer erhabenen Präsenz beschenkt, ist noch gar nicht das Ende der Fahnenstange?“, fragte Jorhys übertrieben erstaunt und erntete für seinen durchaus kreativen Einschub einen eifersüchtigen Schubser seines Busenfreundes. „Tja, Drenthe, die Runde geht wohl an ihn. Es fehlen kaum mehr eine Million Schmeicheleien und Jo bekommt sein Rendezvous“, scherzte Kara. „Ich werde alles tun, Sie vor dieser Katastrophe zu bewahren, Lady Kara“, antwortete Drenthe und salutierte als hätte er soeben einen Befehl erhalten. Er schaffte es endgültig seiner Vorgesetzten die schlechte Laune auszutreiben und ihr ein ehrliches, herzhaftes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Alle Späße zwischen den beiden ältesten Kadetten und ihrer Ausbilderin brachten keinen der Jünglinge im Zug aus der Fassung. Man war den eher unorthodoxen Umgang des Trios längst gewohnt. Die meisten respektierten das; andere nahmen es lieber hin, als zu riskieren, sich unbeliebt zu machen. Tatsache war, dass die meisten jungen Rekruten Drenthe und Jorhys um ihre Freundschaft zu Kara beneideten. „Nun gut: genug geschwatzt, wir stehen unter Zeitdruck und es ist ja wohl klar, wer das auszubaden hat, nicht war, Soldaten?“ „Wir natürlich, Lady Kara!“, ertönte es in perfektem Einklang lautstark aus den Kehlen der beiden. „Das will ich wohl meinen! Also: zurück in die Formation!“ Ein „Jawohl“ später eilten Drenthe und Jorhys zurück zum Zug und reihten sich ein. Kara trat vor ihre Rekruten und besprach ihre Pläne für den heutigen Tag. Es lief auf keine besonderen Ereignisse hinaus. Die angehenden Leibwächter und Leibwächterinnen würden die meiste Zeit des Tages damit verbringen, in Unterrichten mit ihrer Schlaftrunkenheit zu ringen und zwischendurch die Straßen Ballymenas rauf und runter marschieren – Ein Tag wie jeder andere; genau richtig, um den Kopf endgültig von den Bildern der letzten Nacht zu befreien. Kara allerdings wusste es natürlich besser. 3 „Wir werden schon bald den Stadtteil Rubina durchqueren.“ Ein Raunen ging durch die marschierende Menge, die sich normalerweise nicht dazu hinreißen ließ, auch nur einen Laut von sich zu geben. Kara sah es ihnen dieses eine Mal nach. „Ich weiß, dass es die meisten von euch nur äußerst selten dorthin verschlägt, allerdings habe ich heute auch eine kleine Überraschung für euch auf Lager.“ Der gesamte Zug lauschte gebannt ihren Ausführungen, die über dem Takt des Marsches erklangen. „Unsere Reise führt uns heute zum Palast, wo ein ganz besonderer Gast unseren Zug in Empfang nehmen wird; macht mir also ja keine Schande!“ „Wer denn?“, wagte sich Drenthe zu fragen, der aufgrund seiner Körpergröße an vorderster Front marschierte. „Die Prinzessin! Und jetzt sei still, oder ich werde sie veranlassen, dich in ein Guri zu verwandeln!“ Kara bemerkte das Erstaunen ihrer Leute; dass ihnen am heutigen Tage eine solche Ehre zuteil werden würde, hatte keiner von ihnen erwartet. „Ich warne euch: Prinzessin Uriah ist schon jetzt eine sehr begabte Magierin und wir verstehen uns prächtig, ihr solltet mich also nicht reizen! Zu eurem eigenen Wohle.“ Kara war nicht wirklich so besorgt über das bevorstehende Treffen mit der Königstochter, wie sie vorgab. Uriah war zwar erst elf Jahre alt, dafür aber schon sehr erwachsen. Ihre Mutter, Königin Athlea, hütete das Mädchen wie ihren Augapfel. Dass ihr Kind sich schon bald allein einer ganzen Gruppe junger Soldaten präsentieren würde, war daher eine Premiere der ganz besonderen Art – dass es sich dabei ausschließlich um Anwärter der Leibgarde des Königshauses handelte, schon weit weniger verwunderlich. „Ortoroz?“ „Hier, Lady Kara!“, meldete sich einer der Rekruten aus den mittleren Reihen des Zuges. Urplötzlich war Kara wieder streng darauf bedacht, die militärische Etikette zu wahren. „Wessen Kommando unterstehen Sie in gleichzeitiger Anwesenheit eines vorgesetzten Offiziers und einem Mitglied der königlichen Familie?“ „Natürlich dem Befehle beider“, antwortete der bullige Soldat selbstsicher. „Wobei das königliche Blut stets Vorrang hat“, fügte er noch hinzu. „Was tun Sie also, wenn der Prinzessin, sagen wir, der Sinn nach einer Erfrischung steht?“ „Jorhys losschicken!“, entfuhr es Drenthe, der von seiner Angebeteten dafür einen Schlag auf den Hinterkopf erntete, ebenso wie ein breites Grinsen. „Also?“, drängte die Ausbilderin mit Nachdruck auf Antwort. „Ihr den Wunsch erfüllen“, folgerte Ortoroz nach anfänglichem Zögern. „Das war ja nicht so schwer.“ Kara fühlte dem Anwärter weiter auf den Zahn. „Was aber, wenn die junge Dame Sie auffordern würde, ihr Baylh'schen Wein zu servieren?“ „W-wie bitte?“ „Es interessiert mich brennend, wie Sie in einer solchen Situation handeln würden.“ Allgemeines Gelächter machte die Runde, wenn auch nur im leisesten Flüsterton. Natürlich hätte keiner der Rekruten dieses einseitige Verhör besser gemeistert als ihr Kamerad. Ortoroz war kein Freund solcher Spielchen und Kara wusste das, weswegen sie ihn unheimlich gern in diese Art von Situationen brachte. Die tiefgründigen Argumentationen, mit denen er sich dabei oft aus seiner Not zu retten versuchte, amüsierten die Dunkelelfe jedes Mal aufs Neue. „Ich würde es nicht tun, schätze ich ...“ „Und demnach einen direkten Befehl eines Mitglieds der königlichen Familie verweigern?“, hakte Kara schonungslos nach. Ortoroz holte tief Luft und antwortete zähneknirschend: „J-ja.“ „Darauf stehen drakonische Strafen, mein Lieber. Das wäre es dann wohl mit Ihrer Karriere gewesen – vielleicht würden Sie sogar ins Exil geschickt“, dramatisierte die junge Frau mit voller Absicht. „Das wäre doch ein Jammer, nicht?“ Eine impulsive Reaktion verkniff sich der stolze Elf, obschon ihm einige nette Worte auf der Zunge lagen. „Darf ich eine Frage stellen, Lady Kara?“, meldete sich einmal mehr Jorhys zu Wort. „Nur sehr ungern ...“ „Was würden Sie tun?“ „Mmh?“ Die Aufmerksamkeit ihres gesamten Zuges war ihr gewiss. „Was soll ich sagen? Das ist wohl die prekärste, wenngleich auch unrealistischste Situation, die man sich vorstellen kann. Weder kann ich den Befehl der Prinzessin missachten, noch einer Elfjährigen Wein anbieten. Beides wäre eine ziemlich Offenbarung. Da gäbe es auch kaum ein geringeres Übel. Wenn Sie also meine Meinung hören wollen: Ich hoffe inständig, dass Prinzessin Uriah nie auf eine solch perfide Idee kommen wird. Sollte es doch irgendwann geschehen, dann reichen Sie den Befehl am besten durch, bis Sie jemanden gefunden haben, der dumm genug ist, ihn auszuführen; derjenige hat sein wenig beneidenswertes Schicksal mit Sicherheit mehr verdient!“ 4 Rubina war – obwohl Domizil der königlichen Familie – nicht annähernd der größte Stadtteil Ballymenas; bar jeder Konkurrenz jedoch in Hinblick auf Schönheit und Wohlstand. Über allem thronten die Marmortürme des Schlosses – jeweils ein Koloss für jede Himmelsrichtung. In der Ferne stach die Kirchturmspitze der Kathedrale noch deutlich sichtbar über die Klippen des Berges Faro hervor. Unter ihren Füßen spürten die Dunkelelfen feinen Kies, mit dem die gesamte Hauptstraße bedeckt war. Das Zentrum des Marktplatzes, der sich vor den Toren zum Schlosspark hin erstreckte, wirkte wie die Erfüllung des Wunschtraums eines extravaganten Architekten. Der Stil war unverkennbar; er spiegelte sich in Form des gewaltigen Brunnens, dessen Attraktion ohne Zweifel die von Kaskaden kristallklaren Wasser umspielte Statue der Königin war, aber auch in weit weniger imposanten Bauwerken und Skulpturen wie den sieben Monolithen, die sich in gleich bleibendem Abstand bis zum Haupttor erstreckten und die heiligen Inschriften der ersten Hohepriesterinnen trugen, die für das Volk der Dunkelelfen oberste Gebote darstellten. Ein beeindruckender Anblick, der den meisten der Rekruten bisher verwehrt geblieben war. Sollten sie ihre Ausbildung erfolgreich absolvieren, würden sie sich sehr schnell daran gewöhnen, was spätestens nach diesem Erlebnis ein Ziel war, das sie für alle erlebten und kommenden Strapazen würde entschädigen können. „Der Palast öffnet pünktlich zur zwölften Stunde seine Pforten“, sprach Kara. „Eigens für euch, müsst ihr wissen. Betrachtet es als eine Art Feuertaufe für euren zukünftigen Werdegang.“ Es war nicht schwierig für die erfahrene Gardistin, die Besorgnis ihrer Leute an deren Körpersprache abzulesen. „Macht euch nur nicht zu viele Gedanken; vor der Prinzessin müsst ihr, entgegen der landläufigen Meinung, keine Angst haben.“ Nur den Bruchteil einer Sekunde später wurde dann auch Kara leicht nervös, als sie – völlig unverhofft – die kleine Gastgeberin aus dem Schatten einer Seitengasse heraus schreiten sah – nicht weniger als zwei Stunden vor dem verabredeten Zeitpunkt. Als das Mädchen Kara bemerkte, löste sie sich von den beiden stämmigen Leibwächtern, die an jenem Tage ihre Vorgesetzte vertraten. Mit einer simplen Geste signalisierte Kara den beiden, dass alles in Ordnung war, und sie ihren Schützling ruhig ziehen lassen konnten. Die Begrüßung Uriahs war herzhaft. Sie warf sich erleichtert um die Hüfte Karas, die fast doppelt so groß war wie das junge Mädchen. „Hallo mein Schatz.“ Kara kniete nieder, um der Prinzessin in die Augen schauen zu können, nicht etwa der Form wegen. „Du bist ja früh dran! War es zu Hause wieder so langweilig?“ „Ich war den ganzen Morgen in der Kathedrale gefangen“, berichtete Uriah. „Wir haben wieder Zauber geübt und Formeln gepaukt.“ „Klingt fast so, als würde dir das nicht gefallen.“ Kara musterte affektiv das lange, glatte Haar des Kindes, dessen Ansätze von Tag zu Tag heller wurden, auch wenn das tiefe, typische Schwarz noch überwog. „Es ist eben immer das Gleiche“, seufzte die Prinzessin. „Außerdem ist Sindrel viel besser als ich.“ „Ist sie das?“, fragte Kara überrascht nach. In ihrem Rücken konnte das „Duo Infernale“ erneut nicht widerstehen, die Situation zu analysieren. Dummerweise waren Jorhys und Drenthe die einzigen, die meinten, das fiele niemandem auf. „Lady Kara ist selbst schon fast ein Mitglied der königlichen Familie, siehst du?“, schwärmte Drenthe. „Es wird sich irgendwann noch auszahlen, so gut mit ihr befreundet zu sein, mein Freund!“ „Pst!“, pfiff Ortoroz die beiden zurecht, doch zu spät. „He!“, fauchte Kara ausgerechnet in Richtung des Schlichters und machte keinen Hehl daraus, dass sie gereizt war. „Kann mich nicht erinnern, dir die Erlaubnis erteilt zu haben, zu quatschen!“ Ortoroz Gesicht lief rot an. Vor Scham zum einen, vor Wut zum anderen. Die beiden wahren Störenfriede konnten sich dabei nur schwerlich hämisches Gelächter verkneifen. „Wenn Mama unbedingt eine Hohepriesterin als Tochter haben will, soll sie doch Sindrel adoptieren!“, brach es aus Uriah heraus, die dem Treiben der Kadetten keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie war nicht festlich gekleidet und doch hob sich ihr Antlitz deutlich von dem der anderen Dunkelelfen ab. Schmuck verzierte ihre spitzen Ohren und ihr erkennbar silbrig schimmerndes Haar. Auch eine glänzende Kette trug sie, die bei so manchen Rekruten für offene Münder sorgte. Das alles waren zweifellos Zeichen ihres hohen Standes; so auch die Stoffe, in die sie gehüllt war. Neid oder Missgunst empfand man dem Königshaus gegenüber jedoch keineswegs; viel zu stolz war das Volk auf seine Oberhäupter; viel zu gut situiert dafür, war selbst der unterprivilegierte Bürger. So märchenhaft es auch klingen mochte, in Ballymena gab es keine Missstände. Vieles verdankte man der Magie, noch mehr dem Königshaus. Die kleine Uriah war ein Sinnbild für den ewigen Frieden und zugleich der Dunkelelfen große Hoffnung auf viele weitere glorreiche Jahre. „Deine Mutter liebt dich über alles, das weißt du doch?“ „Das sagst du jetzt“, schluchzte die Prinzessin. „Wärst du heute dabei gewesen, hättest du eine andere Meinung!“ „Willst du es mir erzählen?“, fragte Kara mit sanfter Stimme und strich dem Mädchen liebevoll eine vereinzelte Träne von der Wange. „Unter vier Augen?“ Uriah nickte nur und versuchte, so gut sie konnte, weitere Tränen zurückzuhalten. Kara liebte das Mädchen wie eine kleine Schwester, vielleicht sogar wie ihre eigene Tochter. Sie würde ihr keinen Wunsch ausschlagen, ganz gleich ob sie das nun durfte oder nicht. Ihr frühzeitiges Erscheinen ließ der Ausbilderin einiges an Spielraum, und so wandte sich Lady Kara ein weiteres Mal an ihre Schüler. „Hergehört!“, rief Kara, als sie sich für den Moment von Uriah abgewendet hatte. „Bis zum Mittag ist es noch hin, und ich habe einen persönlichen Auftrag höchster Dringlichkeit zu erfüllen, es steht euch hiermit also frei, diese Zeit nach eigenem Ermessen zu nutzen.“ Kara hatte mit eindeutiger Resonanz gerechnet, erhielt aber nicht die geringste. „Benehmt euch! Verstanden?“ Nur Grummeln drang aus der Menge. „Ist irgendwas?“ „Dürfen wir uns in Rubina denn frei bewegen?“, meldete sich eine schüchterne Stimme. „Wenn ihr nicht gleich den Palast belagern wollt“, antwortete die Leibgardistin trocken. Die Unsicherheit ihrer Leute, die fast allesamt meinten, sie wären dem edlen Boden, auf dem sie standen, kaum würdig, amüsierte sie. „Ja, ihr dürft auch die Schenke besuchen. Und ja, man wird euch dort sogar bedienen.“ Endlich brach die Erleichterungen aus den Rekruten heraus, die sich sichtlich freuten, zur Abwechslung von der Leine gelassen zu werden. „Kann man glauben, dass die dich mal beschützen werden?“, scherzte Kara in Richtung der Prinzessin. „Ich kann selbst auf mich aufpassen!“, trotzte sie. „Tja ... dann brauchst du mich ja nicht mehr.“ „Nein nein nein!“, wiegelte das junge Ding ab und umklammerte fest den Arm ihrer besten Freundin. „Du sollst bleiben.“ Die beiden machten sich auf den Weg ins Stadtinnere, weg vom Palast, hin zu einem ruhigeren Ort, an dem sie allein sein konnten. Natürlich wurden sie von den beiden abgestellten Leibwächtern auf Schritt und Tritt verfolgt, doch hielten die zwei auf Anweisung Karas einen großzügigen Abstand. Das junge Mädchen an ihrer Seite beruhigte ihre Seele. Sie genoss die Zeit, die sie mit der Prinzessin verbringen konnte mindestens so sehr, wie Uriah es ihrerseits tat. Womöglich war es ihre Einsamkeit, die jene Momente so besonders machte; vielleicht war es Karas Sehnsucht nach einer eigenen Familie. Plötzlich blieb sie stehen, den Blick gen Himmel gerichtet. „Was hast du?“, fragte Uriah verdutzt. „Oh“, reagierte Kara abwesend, fing sich aber eilig wieder ein. „Nichts ... nur ein Déjà-vu.“ „Das kenne ich! Weißt du, es gibt Zaubersprüche, mit denen man so was herbeirufen kann“, prahlte das Mädchen. „Ehrlich? Kannst du mir so was beibringen?“ 5 Die Taverne war kaum gefüllt. Weder trieb es am frühen Vormittag viele Gäste in die Schenke, noch wagte sich das Gros der Rekruten in die edle Herberge hinein. Drenthe und Jorhys gehörten natürlich nicht zu den Hasenfüßen. „Du solltest das lieber bleiben lassen“, rief Ortoroz – dem in der Gegenwart der beiden Hünen untersetzt wirkenden Jorhys – ins Gewissen. „Hast wohl nicht gehört, was Kara gesagt hat?“, tönte der ganz selbstsicher. „Lady Kara meinte mit Sicherheit nicht, dass ihr euch betrinken sollt!“ „Ich rühr keinen Alkohol an“, versicherte Drenthe dem Moralapostel. „Ihr seid doch bloß feige!“, triezte Jorhys seine Artgenossen. „Als ob euch ein Glas Wein umhauen würde. Mich jedenfalls nicht.“ Mit einem Fingerzeig orderte der schlaksige Dunkelelf den eifrig arbeitenden Ober heran, den er in tieferen Gewölben der Taverne ausgemacht hatte. Standesgemäße Unsicherheiten waren dem zukünftigen Leibgardisten völlig fremd. Auch Drenthe scherte sich wenig um sein Verhalten. Angemessen war, was immer bei Lady Kara durchging. Ortoroz fühlte sich einmal mehr auf verlorenem Posten, die beiden im Zaum zu halten, zudem ihm seine bisherigen Versuche nichts als Ärger eingebracht hatten. „Ach, macht doch, was ihr wollt“, winkte Ortoroz schließlich ab. „Ihr verspielt irgendwann nochmal euren Kredit bei Kara. Sie legt größeren Wert auf Disziplin und Ordnung, als ihr denkt.“ „Lady Kara, wenn ich bitten darf!“, rief Drenthe ihm lachend nach, als er die Schenke wieder verließ. Als Älteste hätten sie es besser wissen müssen. Sie benahmen sich nicht wie Soldaten, dachte Ortoroz. Überhaupt war ihm der Drill in der Garde noch zu lasch. Verdenken, konnte er es Kara allerdings nicht. Das Königreich gedieh und wuchs von Tag zu Tag – ganz ohne kriegerische Konflikte. Allein Ortoroz selbst konnte die in ihm aufkeimenden Zweifel am ewigen Frieden nicht unterdrücken. Zu viel war geschehen in den letzten Jahrzehnten, und so viel hatte sich verändert. Der durchdringende Klang des Glockenspiels in der Kathedrale verriet die anbrechende Stunde und riss den jungen Heißsporn aus seinen Tagträumereien. Nicht mehr lange, dann würde diese unnütze Veranstaltung ihren Höhepunkt erreichen und, was ihn noch mehr erfreute, bald darauf ihr Ende finden. Es gab wichtigere Dinge, als mit der Prinzessin auf Besichtigung durch den Schlosspark zu wandeln. Wie wichtig, vermochte Ortoroz sich gar nicht vorzustellen. Er war nicht der erste, der den verwirrten alten Mann bemerkte, der in völliger Apathie über den Marktplatz stolzierte. Mehrmals verlor die geschundene Gestalt die Balance und rempelte einige der völlig perplexen Rekruten an, die sich nicht recht trauten, ihm zu helfen. Als der Fremde schließlich keuchend zu Boden ging und kurz darauf anfing, jämmerlich zu weinen, fasste Ortoroz sich ein Herz und half dem erschöpften Elf. „Was steht ihr da rum?“, wandte er sich an seine Kameraden. „Geht in die Taverne und besorgt etwas Wasser!“ Als hätte es ihnen ihre Anführerin höchstpersönlich befohlen, reagierten die jungen Rekruten auf der Stelle. „Warum?“ hauchte der Alte, den seine Kräfte mehr und mehr verließen. „Ruhig Blut! Wir helfen ihnen ja.“ „Wie könntet ihr?“ Der Edelmut seines Retters schien ihm kurzzeitig neue Kraft zu verleihen, sein Blick jedoch war hasserfüllt. „Wer kann mir noch helfen?“, schrie er und umklammerte mit großer Gewalt Ortoroz Kehle, den diese merkwürdige Tat völlig unvorbereitet traf. „W-was soll das?“ Seinem Schock konnte er kaum mehr Laut verleihen, da ihm der verrückte alte Mann die Luft stahl. „Wer war das? Wer ist Schuld daran?“, wandte dieser sich ein letztes Mal verzweifelt an Ortoroz, ohne seinen brutalen Griff zu lösen. Die Kraft des Alten war enorm. Er ließ dem tugendhaften Anwärter letztlich keine andere Wahl. Ortoroz Dolch, der an jenem Tag seine einzige Bewaffnung darstellte, glitt mit tödlicher Präzision in die Brust des abgemagerten alten Mannes. Seine Kameraden standen wie angewurzelt um den Flecken Erde herum, den mit jeder verstreichenden Sekunde mehr und mehr Blut tränkte. Das Blut eines der ihren, vergossen in Notwehr, nach einem geradezu absurden Schauspiel, das sich aus heiterem Himmel heraus ereignet hatte. Nie zuvor hatten die unschuldigen Augen der Frauen und Männer einen solchen Anblick ertragen müssen, und auch wenn die Anwärter der Leibgarde zu den wenigen gehörten, die für den Ernstfall ausgebildet wurden, so hatten sie doch niemals wirklich einen Gedanken an ein solches Szenario verschwendet. Niemand, außer Ortoroz, und ausgerechnet ihn hatte das Schicksal zum Mörder gemacht. Drenthe und Jorhys stürmten aus der Taverne. Das Scheppern des gefüllten Wassereimers, den Jorhys vor Schreck fallen ließ, verriet, dass sie helfen wollten. Doch kam für den alte Elf jede Hilfe zu spät. „Ortoroz!“, rief Drenthe vorwurfsvoll. „Was hast du getan?“ Er wusste keine Antwort darauf, obschon ihm klar war, dass er in Notwehr gehandelt hatte. Der Fremde hätte ihn erwürgt, hätte er sich nicht zur Wehr gesetzt. Doch alle Rechtfertigung half ihm nichts. Er fühlte sich verloren, verraten; bestraft für seine Zweifel am Edelmut des eigenen Volkes. 6 Zwar ließ Uriah ihr in der spärlich bemessenen Zeit kaum Raum zum atmen, doch war Kara mit den Gedanken einfach nicht im Hier und Jetzt. Sie fühlte sich wie gefangen in dem Traum, den sie – so hatte sie vor kurzem noch geglaubt – endlich hinter sich lassen konnte. Zu vieles an diesem Tag erinnerte sie jedoch an die seltsamen Ereignisse, die zweifellos ihrer Fantasie entsprungen waren. Es waren Kleinigkeiten, unbedeutende Details, die Karas Gedanken immerwährend auf die Reise schickten. Sie sprang von einem Déjà-vu in das nächste und wusste nicht recht mit der Situation umzugehen. Sie hatte sich mit Uriah im Schatten einer Eiche der geschwisterlich anmutenden Zweisamkeit hingegeben und lauschte nun ihren Geschichten. Sie wusste, dass der Kleinen das Halt gab und etwas so simples wie ein Lob aus ihrem Munde der Prinzessin wirklich Mut machen konnte. Mit jedem magischen Kunststück, das das Mädchen vollführte, entschwand Kara jedoch mehr und mehr der Realität. Es fiel dem Mädchen erst spät auf; sie war nicht wütend - traurig viel eher. „Was ist denn heute los mit dir?“ Kara antwortete nicht. In ihrem fortgeschrittenen Zustand der Trance nahm sie die sanfte Stimme der Königstochter zunächst nicht wahr. „Kara?“, hakte das Mädchen nach und stupste ihre große Schwester mit der Schulter an. „Huh?“ „Du benimmst dich so komisch, Kara.“ „Tu ich das?“, fragte sie völlig emotionslos, um einem Gespräch beizuwohnen, das sich ihr längst entzogen hatte. „Ja...“ Als Kara in der Ferne die Schemen eines ihr nur zu gut bekannten Rekruten ausmachte, schnellte sie geradezu nach oben. Alles passte ins Bild. Ein Rad griff ins andere. Sie wusste, was nun geschehen würde, denn sie hatte es ja bereits erlebt! Im Traum ... dieser merkwürdige Traum ... er war abrupt geendet, kurz bevor ... „Lady Kara!“, rief Drenthe heiser. Er war in Aufruhr versetzt, was sehr untypisch für den Elf war. Die Kunde, die er zu verbreiten hatte, wurde dem jedoch gerecht. Keuchend drang er bis zu seiner Vorgesetzten. Er war den gesamten Weg über gesprintet. „Lady Kara! Es ist Ortoroz, er ...“ „Ich weiß Bescheid“, unterbrach die Dunkelelfe ihren Schützling. „Aber ... wie könnten sie?“ „Ist jetzt nicht wichtig! Wichtig ist, dass du das Mädchen in Sicherheit bringst, verstanden?“ „Wovor denn?“, tappte der junge Kerl im Dunkeln. „Sie verstehen nicht, Ortoroz hat ...“ „Nein, du verstehst nicht!“ Kara fuhr ihren Schüler an, dass es ihm einen Schrecken einjagte. Nie zuvor hatte er sie so aufgebracht erlebt, und ihr Blick verriet, dass sie keineswegs zu Scherzen aufgelegt war. „Hör mir zu und tu verdammt noch mal, was ich dir sage!“, fauchte sie. „J-ja ...“ „Ich vertraue dir die Prinzessin an, verstehst du mich?“ „Ja.“ Drenthe spürte, dass mit seiner Ausbilderin etwas nicht stimmte. Er war sich dem Ernst der Lage um Ortoroz zwar bewusst, konnte die große Besorgnis Karas dazu jedoch in keinen Maßstab setzen. „Es war nicht ihre Schuld“, versuchte der Elf sie aufzumuntern, als wüsste er, was in ihr vorginge. Kara streckte ihre Arme aus um den Nacken des Mannes fest zu packen. „Drenthe: Bring die Prinzessin in Sicherheit, egal, was auch passiert!“ Erneut erwiderte Drenthe die Anweisung mit Zweifel in seinem Blick. „Hörst du mir zu?“ „N-natürlich!“ Nicht nur er tat das. Uriah hatte es nicht mehr an ihrem Platz gehalten, als sie die Vorgänge am Fuße des mit weißem Kies bedeckten Pfades beobachtete, der nach Rubina führte. „Was ist denn los, Kara?“ Überrascht wandte sich die Dunkelelfe zu dem kleinen Mädchen um und kniete sich zu ihr nieder. Sie versuchte, das aufgeregte Gemüt Uriahs zu beruhigen, nur konnte sie dabei die eigenen Gefühle kaum verbergen. Angst und Besorgnis standen Kara in das hübsche Gesicht geschrieben. Gänsehaut erfasste sie gar, als aus der Ferne ein markerschütternder Schrei zu dem Trio hindurch drang. Drenthe drehte sich instinktiv in Richtung Innenstadt, da er fest davon überzeugt war, ein solch grotesker Laut könne nur von den Männern und Frauen stammen, die vor kurzem Zeuge des Mordes geworden waren. Doch er täuschte sich. Kara hingegen wusste nur zu gut, woher der Schrei kam; mehr als einen flüchtigen Blick riskierte sie jedoch nicht, um die Aufregung, die sich mehr und mehr auch auf das Kind an ihrer Seite ausbreitete, nicht noch zu verstärken. „Uriah, ich möchte, dass du mit den Soldaten zur Kathedrale zurückkehrst, wo deine Mutter auf dich wartet, verstanden?“, erklärte Kara eindringlich. „Wieso denn? Ich will jetzt nicht zu Mama!“ „Du musst aber!“, entfuhr es ihr nun deutlich strenger. Uriah reagierte mit unverkennbarer Körpersprache. Eine erste Träne bahnte sich ihren Weg. „Alles wird gut, wenn du mir nur gehorchst, in Ordnung?“ Einen Moment zögerte die Prinzessin noch, gab dann aber schließlich nach. „J-ja“, sprach sie ängstlich. Eine Umarmung später übergab Kara die Kleine in die Obhut des Hünen Drenthe. Auch die Leibwächterin war den Tränen nahe, die Uriah nun nicht mehr zurückhalten konnte. Was das Kind dabei allerdings nicht mal zu ahnen wagte, war für Kara fast traurige Gewissheit: Sie würden sich womöglich nie wieder sehen. Wieso, wusste auch die von Vorahnungen heimgesuchte Kara nicht. Die stolze Soldatin fühlte sich nun in jeder Sekunde, die verstrich, an ihren Albtraum erinnert. Ob sie noch immer träumte, oder ihr des Nachts tatsächlich eine Vision zu teil geworden war, vermochte sie nicht zu beurteilen, doch würde sie alles daran setzen, zu verhindern, was in jenem Traum geschehen war und sich in diesem Augenblick in der Realität zu wiederholen drohte. 7 Zielstrebig zog es Kara in Richtung Devaria – dem dünn besiedelten Wald inmitten der Hauptstadt, in dessen Zentrum einst die Priesterinnen-Akademie erbaut worden war. Sie befand sich an der Quelle – dem Ort, an dem der natürliche Fluss der Magie am stärksten war, und es den Urahnen der Dunkelelfen einst gelungen war, sich ihrer zu bemächtigen. Kara selbst waren die Fähigkeiten der wenigen auserwählten Dunkelelfen, denen die Gabe zu teil war, die Allmacht der Natur willkürlich zu materialisieren, ein Rätsel. Die Hohepriesterinnen verließen Devaria so gut wie nie. Kara zweifelte, ob sie zu Lebzeiten je eine Magierin zu Gesicht bekommen hätte, hätte der König seiner Zeit nicht Athlea geehelicht, nachdem sie aus Panafiel zurückgekehrt war. Der Königin vertraute Kara zwar, doch das Misstrauen gegenüber Ihresgleichen überwog trotz allem. Sie spürte, dass sie dem Ursprung der mysteriösen Vorgänge immer näher kam. Erinnerte sie sich auch nicht daran, von Devaria oder der Akademie geträumt zu haben, glaubte sie dennoch, dass sie sich auf dem richtigen Wege befand. Mit jeder Minute, die verstrich, wurden die Auswirkungen der Katastrophe deutlicher: Selbst in den abgelegensten Teilen der Stadt begegneten Kara verwirrte Männer und Frauen, die schockiert berichteten, wie Freunde, Verwandte oder sogar die eigenen Kinder verrückt spielten. Viele der Dunkelelfen rannten vor dem Wahnsinn davon, der sich vom Stadtinneren wie eine Seuche auszubreiten schien. Erst einige wenige, dann immer mehr, bis schließlich die ganze Stadt in Aufruhr schien. Schreie mochten vor Minuten noch die Ausnahme gewesen sein, mittlerweile drangen sie aber aus allen Himmelsrichtungen zu Kara – auch aus der Luft. Sie musste mit ansehen, wie der zuvor blaue Himmel in abnormer Geschwindigkeit von einer trostlosen, finsteren Wolkendecke verdunkelt wurde. Kurz darauf begann der eigentliche Schrecken – die finale Phase des Albtraumszenarios. Nur wenige Schritte von ihr entfernt, schlug ein Elf mit rasender Geschwindigkeit auf den Asphalt. Die Kraft des Aufprall zerquetschte die der Erde zugewandte Hälfte seines Körpers und presste dünne Fontänen aus Blut quer über den vereinsamten Weg. Einige Tropfen der roten Flüssigkeit besprenkelten Karas Lederuniform. Sekunden vergingen, bis sie sich von dem entsetzlichen Anblick loseisen konnte. Der Mann war buchstäblich vom Himmel gefallen, und es dämmerte Kara, wieso. Die Flügel des Toten waren bis zur Unkenntlichkeit verkümmert; sein Schicksal hatte ihm im ungünstigsten Moment ereilt. Fortan glich Karas Weg zum Ursprung jener Vorgänge einem wahren Spießrutenlaufen Nach und nach stürzten ihre Artgenossen zu Boden; die meisten überlebten es nicht; andere hatten gar noch weniger Glück. Sie alle ahnten wohl bis zuletzt nicht, wie ihnen geschah. Diejenigen ihrer Artgenossen, die festen Boden unter den Füßen hatten, überlebten das Martyrium zwar, doch mussten sie dafür Qualen erleiden, auf die das behütete Leben in Ballymena sie nie vorbereitet hatte. Männer, Frauen und Kinder zerschellten auf den Straßen, den Mauern und den Häusern der Stadt, nachdem man sie ihrer größten Gabe beraubt hatte. Unweit von Kara brachen Dunkelelfen vor Schmerz zusammen, als sich deren stolze, schwarz-blaue Schwingen zu kümmerlichen Stümpfen zurückbildeten. Flehend wandten sich erwachsene Männer – mit Tränen der Verzweiflung in den Augen – an Kara, die bisher von alledem verschont geblieben war. Jünglinge standen weinend neben dem Elend, das einst ihre Eltern gewesen waren. Viele der Verfluchten gingen sogar aufeinander los, nachdem Schmerz und Angst sich in Wahnsinn verwandelten. „Bleib stehen!“, schrillte eine übergeschnappte Männerstimme, die dem Chaos entstammte. Kara wusste, dass sie gemeint war und realisierte ebenso schnell, was ihr bevorstehen würde, wenn sie noch länger in Reihen der Verfluchten umherwandern würde. Sie beschloss, den Rest des Weges im Laufschritt hinter sich zu bringen und jedem ihrer Artgenossen fortan aus dem Weg zu gehen. Helfen, könnte sie ihnen ja doch nicht. „Bleib endlich stehen!“, hieß es erneut, als Kara den abgelegenen Waldweg zur Akademie schon so dicht vor Augen hatte. „Ich habe keine Zeit. Es tut mir ...“ Ein dumpfer Schmerz, der erst durch ihren Kopf, dann durch ihren gesamten Körper schoss, streckte die Dunkelelfe nieder. Benommen sank sie zu Boden und tastete ihren pochenden Schädel nach einer Wunde ab. Während sie etwas später zitternd ihre blutverschmierte Hand betrachtete, nahm sie nur für den Bruchteil einer Sekunde wahr, wie der Angreifer, der sich zu ihrer Linken näherte, ein weiteres Mal ausholte. Gerade genug Zeit für die junge Soldatin, sich ihrer selbst zu erwehren. So sollten sich die vielen schweißtreibenden Stunden, in denen sie in den verschiedensten Kampfkünsten geschult worden war, sich schließlich doch noch auszahlen. Als der Säbel in das Fleisch des Elfs drang, und jener sich in den letzten Sekunden seines Lebens nur mehr um sein eigenes Schicksal kümmern konnte, rumorte es im Innern Karas wie noch nie zuvor. Der hämmernde Schmerz tat sein Übriges dazu. Die Leibwächterin übergab sich, während der Wahnsinnige leblos zu Boden sank. Kara wandte sich dem Mann, den sie getötet hatte, kein zweites Mal zu und entschied, ihre Waffe zurückzulassen, bevor sie schließlich die Route zur Akademie einschlug. Sie bemerkte nicht, wie der Himmel sich über dem Zentrum Devarias zu einem Vortex aus totaler Finsternis verformte, doch hätte sie auch dieses groteske Schauspiel kaum davon abhalten können, weiter ihren Weg zu beschreiten. Im Gegenteil: Sie hätte jeden letzten noch so kleinen Zweifel abgelegt, wohin der Weg sie führen müsste. 8 Niemand war gegen das Unheil, das sich unaufhaltsam über dem stolzen Reich Ballymena ausbreitete, gefeit; auch die führungslosen Rekruten nicht, die nun von ihren Ältesten an die Hand genommen werden mussten. Drenthe hatte bei seiner Wiederkehr mit der Prinzessin denselben apathischen Bulk aus hilflosen Mädchen und Jungen vorgefunden, den er zuvor so überstürzt verlassen hatte. Doch waren die Gründe für die Ratlosigkeit und Furcht der Gruppe längst andere gewesen. Angesichts der immer dramatischeren Geschehnisse verschwendete niemand mehr einen Gedanken an die Bluttat Ortoroz'. In der kurzen Zeit hatten selbst die ärgsten Zweifler erkannt, warum der Musterschüler zum äußersten Mittel hatte greifen müssen. Stunden waren seitdem vergangen. Die Gruppe arbeitete sich zielstrebig durch die Schatten der Fassaden der vielen Bauten aus Stein und Holz. Sie gingen den zahlreichen in Aufruhr versetzten Artgenossen aus den Weg. Aus der Distanz konnten sie beobachten, dass der Wahnsinn auch Rubina erfasst hatte. Es dauerte auch nicht lange, bis sie die ersten Gewalttaten mit eigenen Augen ansehen mussten. Die Betroffenen wussten ganz einfach nicht, wohin mit ihrem Schmerz, wussten nicht, wieso es sie traf und andere scheinbar verschont blieben. Jorhys fasste als erster den Mut, einen eindringlicheren Blick zu wagen. Im spärlichen Licht, das es noch vermochte, durch die dichte, trostlose Wolkendecke hin durchzubrechen, erspähte der schlanke Elf eine rüstige alte Dame in edlen Gewändern, die wie vom Blitz getroffen zusammen sackte und in einer krampfhaften Selbstumarmung ihre Qual herausschrie. Ihre Flügel begannen abzusterben! „Mein Gott! Seht ihr das?“, richtete er sich an seine Kameraden. „Was geschieht mit ihr?“, drang es aus der Menge. „Sie,“ Drenthe musste schlucken, „sie stirbt ...“ Er sprach es zwar aus, glaubte aber selbst nicht daran. Was er sah, war sogar noch schlimmer als der Tod. Drenthe wusste, dass die alte Frau die Tortur überleben würde; vor dem Moment der Erkenntnis, fürchtete er sich am meisten. „Was ist los?“, wimmerte das kleine Mädchen an der Seite des Riesen, dessen Angst auf sie übersprang. Instinktiv nahm sich Ortoroz des Mädchens an. Zunächst umfasste er fordernd ihre Hand, als er sich ihrer Aufmerksamkeit endlich sicher war, hob er die Prinzessin auf seine Arme. Sie presste sich dankbar an den Krieger und suchte nach Halt. Sie wusste seine Hilfe zu schätzen. „Wir müssen weiter!“, gab er die Richtung vor. Ortoroz war der einzige, der voll und ganz die Fassung bewahrte. „Lady Kara hat es befohlen. Denkt an die Prinzessin!“ „Ja ...“ stimmte Jorhys zaghaft mit ein. Die Gruppe marschierte wieder, bedacht darauf, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Sie kannten keine der armen Seele in diesem Stadtteil, die – teils vom Wahnsinn getrieben – aus ihren Häusern stürmten und die Straßen in hellen Aufruhr versetzten. Mit jeder Sekunde, die verstrich, strömten mehr und mehr Elfen ins Freie. Die meisten flehten nach Erklärung, wussten jedoch nicht, an wen sie sich in ihrer Verzweiflung wenden sollten. Einige trugen die leblosen Körper ihre sterbenden Kinder in den Armen, die dem lähmenden Schmerz des sich ausbreitenden Fluches ganz einfach nicht gewachsen waren. Dann begannen die ersten Dunkelelfen vom Himmel zu fallen. Ein Anblick, dem selbst Ortoroz nicht ohne Weiteres standhalten konnte – von seinen Kameraden ganz zu schweigen. Eine kleine Gruppe am hinteren Ende des Zuges splitterte von den anderen ab, als eine Frau dicht neben ihnen auf den harten Steinboden prallte. Bald darauf flüchteten einige kaum den Kinderschuhen entwachsene Jungspunde in die vielen Gassen zwischen den verwinkelten Bauten der Innenstadt. Drenthe bemerkte als erster, wie es die Truppe auseinander riss. „Wartet!“, rief er seinen Kameraden schrill zu. „Wir haben keine Zeit!“ Ortoroz hatte noch immer einzig seinen Auftrag im Kopf - seine Bestimmung „Wir können unsere Leute nicht zurücklassen! Was, wenn ihnen etwas zustößt?“ „Was, wenn ihr etwas zustößt?“ Der Krieger hielt seinen Kameraden die zitternde Prinzessin demonstrativ entgegen. Ortoroz hatte seinen Standpunkt klar gemacht, und es war schwer, mit ihm zu diskutieren. Seit der Schrecken sich in Ballymena auszubreiten begann, hatte der pflichtbewusste Einzelgänger mehr und mehr das Zepter in die Hand genommen. Nicht weil er es wollte, vielmehr lag es ihm im Blut. „Gut, dann“, versuchte Drenthe zum ersten Mal selbst Pläne zu schmieden, „geht ihr Voraus, ich bleibe mit den anderen hier und sammle unsere Leute wieder ein“, schlug er vor. „Auf keinen Fall!“, wandte sein bester Freund ein. „Bist du wahnsinnig? Hier draußen steht bald alles in Flammen, das übersteht ihr vielleicht nicht.“ Fasst ähnelte es einem makabren Scherz, als die ersten Tropfen kühlen Regenwassers aus den geisterhaften Wolken zu brechen begannen. Es dauerte nur Sekunden, bis es wie aus Eimern schüttete. „Scheint, als kenne die Natur zumindest noch Gnade.“ Drenthe hatte nur Zynismus für die Späße des Himmels übrig. „Ich bleibe, ihr geht!“, verkündete er fest entschlossen. „Fein!“, schrie Jorhys ihn an. „Wenn du den Helden spielen willst, tu es ruhig! Aber erwarte bloß nicht von mir, dass ich dich retten komme, wenn du in der Klemme steckst!“ „Bring das Mädchen zu ihrer Mutter, dann bist du der Held.“ Drenthe lächelte und klopfte seinem alten Kumpanen auf die Schulter. Es war vielleicht ein Abschied für die Ewigkeit. Sie beide wussten das. Einen Augenblick noch beobachtete der schlanke Elf, wie Drenthe und die wenigen noch verbliebenen Rekruten sich zurück ins Stadtzentrum begaben. Der Regen fiel mittlerweile in gewaltigen Schwallen auf die sterbende Stadt hinab. Im Gemisch aus Schweiß, Blut und Wasser verloren sich die Tränen im Gesicht des jungen Jorhys. Wann würde er endlich aus diesem Albtraum erwachen? 9 Kara schleppte sich teils zu Fuß, teils gequält am Boden kriechend bis zur Akademie. Niemand anders hatte sich in diese Gefilde vorgewagt. Sie war ganz allein. Rechts und Links von ihr konnte sie kaum an der ersten Reihe der gigantischen Pflanzen vorbeischauen, die zu solch später Stunde effektiv jedes noch übrig gebliebene Licht absorbierten und der Dunkelelfe so noch größere Mühen bereiteten. Auch die Brutstätte des Bösen, deren überwucherte Felswand sich Kara offenbarte, war in der Finsternis kaum zu erkennen. Zudem standen der jungen Frau noch immer Tränen in den Augen, die der Schmerz zu Tage gebracht hatte. Kurz nachdem sie Fuß in den Wald gesetzt hatte, war sie wie betäubt zusammengebrochen und erst viel später, ohne noch einschätzen zu können, wie viel Zeit wirklich vergangen war, wieder aufgewacht. Was sie jedoch bemerkt hatte, nachdem ihre verschwommene Wahrnehmung wieder deutlichere Konturen annahm, war, was mit ihr geschehen war. Zumindest die Qual es miterleben zu müssen, war ihr erspart geblieben. Dennoch keimten Zweifel im edlen Gemüt der Soldatin auf, ob es nun überhaupt noch Sinn machte, ihren Kampf fortzuführen. Ihre Glieder verweigerten ihr den Gehorsam, ihr Kopf schmerzte; sie war genauso verkrüppelt wie die Verrückten in der Stadt und den Flüchen genauso hilflos ausgeliefert. Erneut war es die Erinnerung an ihren Traum, ihre Vision, die sie neuen Mut finden ließ. Schließlich glaubte sie zu wissen, was ihrem Volk noch bevorstünde, und so lag es einzig und allein in ihrer Hand, etwas dagegen zu unternehmen. Der Gedanke an die kleine Uriah brachte sie fast um den Verstand, doch wäre sie in diesen Stunden an ihrer Seite zweifellos in noch größerer Gefahr gewesen. Die alt-ehrwürdigen Hallen der Akademie waren gänzlich verwaist. Kalte Schauer liefen Kara den Nacken entlang, als sie die abgestandene Luft des Saales einatmete. Nie zuvor hatte sie etwas ähnliches wahrgenommen. Es roch, als hätte sämtliches Leben sich aus Furcht aus dem Gebäude verzogen. Einfach alles hier wirkte feindselig. Ob es an den Vorkommnissen in ganz Ballymena lag, oder ob es in der Akademie stets so unwirklich und bedrückend war, vermochte die Soldatin nicht zu beurteilen. Kara schreckte auf, als sie ein dumpfes Geräusch aus den Kellergewölben vernahm. Sie war noch nie in diesem als heilig verehrten Gebäude gewesen – wusste also nicht, wohin sie gehen musste. Allerdings dauerte es nicht lange bis zu ihrer Erleuchtung. In die oberen Stockwerke führten im Osten und Westen der gewaltigen Eingangshalle zwei Steintreppen. Die gesamte Nordwand bestand bis in die oberste Etage aus Bücherregalen, die bis zum Rande mit diverser teils Jahrhunderte alter Literatur gefüllt waren. Am Boden lechzte die Dunkelheit in Form eines massiven Kamins. Kara erkannte schon von weitem den schlecht versteckten Zugang, dessen Griff den verblassten Teppichboden leicht wölbte. Eilig zog sie den Vorleger beiseite. Die aufgewirbelte Menge Staub nahm ihr glatt den Atem. In Kara reifte mehr und mehr die Erkenntnis, dass die Magierinnen ihren Studien hier oben schon seit geraumer Zeit keine Aufmerksamkeit mehr schenkten. Es war ihr Privileg, die Akademie zu betreten und sich der heiligen Schriften zu bedienen. Niemals durften sie mit den Unbegabten in der Stadt über ihre Forschungen reden; präsentierten sich nur anlässlich von Feierlichkeiten, Ehrungen oder Gedenktagen dem gemeinen Volk. Sie genossen das vollste Vertrauen der Bürger, die die Motive der Priesterinnen – allen voran Königin Athlea – nie hinterfragt hatten. Bis heute. Schritt für Schritt stieg sie die Stufen in den Keller hinab, der sich hinter der Falltür verbarg. Stimmen drangen durch die Gemäuer. Zunächst nur Flüstern, mit jedem Meter, den sie bewältigte, wurden sie jedoch lauter. Irgendwann hörte sie die Worte klar und deutlich. Eine Frauenstimme, die in fremden Dialekten immer wieder die selben Phrasen wiederholte, übertönte die wirren, schwächeren Worte einiger anderer Dunkelelfen. Kara schlich vorsichtig bis zum Ende des Korridors, der sie tief hinab in die heilige Erde geführt hatte. Flackerndes Kerzenlicht durchbrach die Dunkelheit am Fuße der Treppe. Vorsichtig schob sich die Dunkelelfe an der eiskalten Felswand entlang und wagte schließlich einen kurzen, behutsamen Blick in den Raum, dem die eindringliche Stimme entstammte. Noch bevor sie verarbeiten konnte, was sie dort sah, wurde Kara von der Hexe im Zentrum des okkulten Felsovals entdeckt. „Komm her zu mir!“, befahl die mysteriöse Stimme, und obwohl Kara sich sträubte, gehorchten ihre Glieder der Fremden. „Welch seltsame Fügung wohl ausgerechnet dich an diesen Ort führt?“, fragte die Magierin mit dem weißen Haar, das im warmen Licht des Raumes regelrecht erstrahlte. Ein verschlagenes Grinsen zog sich durch das schmale Gesicht der gertenschlanken Frau. Kara hatte sie noch nie zuvor gesehen. „Sag mir, wer du bist!“ „Kara“, ertönte es aus dem Munde einer anderen Dunkelelfe, die vor kurzem noch leblos neben den Leichen zahlreicher der Ihren gelegen hatte. Die Soldatin konnte es kaum glauben, als sie erkannte, dass es sich dabei um die Königin höchstpersönlich handelte. Sie wollte ihr antworten, konnte es aber nicht. „Kara“, hauchte sie ein weiteres Mal. „Du kennst die Verräterin?“, fragte die mächtige Hohepriesterin ihre Gefangene. „Ja.“ „Verstehe ...“ Die blaue Haut der Hexe war fast völlig ausgeblichen. Wie ein Geist stand sie im Zentrum des Kellergewölbes, umringt von Kerzen und okkulten Symbolen, einige von ihnen waren offensichtlich mit Blut geschrieben worden. „Deine Uniform verrät dich, genau wie deine Gedanken“, sagte sie triumphierend. „Ich bin Prana, mein Kind, auch wenn ich nicht erwarte, dass du mich kennst.“ „Bist du dafür verantwortlich?“ Kara quälte sich, diese Worte hervorzubringen. „Für das Chaos da draußen?“ „Chaos? Ja, das ist es“, säuselte Prana wehmütig in Richtung ihres neuen Opfers. „Doch die Verantwortung dafür lastet nicht schwerer auf meinen Schultern, als auf denen deiner geliebten Königin.“ „Was?“ „Hör nicht auf sie, Kara!“ Athlea war genauso gekleidet wie alle anderen Hohepriesterinnen; so wie die toten Frauen neben ihr und auch Prana. „Es ist allein ihr Werk!“ „Du warst schon immer eine Opportunistin, Athlea.“ Wutentbrannt wandte sich die Hexe der schwachen Blaublüterin zu. „Willst du dein Geheimnis mit in den Tod nehmen? Meinst du nicht, dass sie wissen sollte, wo ihre Reise enden wird?“ Kara konnte aus den kryptischen Aussagen der beiden mächtigen Elfen keine Antworten für sich erschließen. Sie war der Hexe Prana völlig ausgeliefert und fürchtete um ihr Leben, mehr aber noch um das der Königin. „Du bist die Verräterin, Prana!“ Athlea nahm alle ihr noch verbliebene Kraft zusammen und schaffte es zumindest sich aufzurichten. Die Schmerzen zwangen sie jedoch an der Wand nach Halt zu suchen, um die Balance zu wahren. Auch ihre Haut war blass. „Du hast uns alle betrogen! Niemals hätte ich in die Tat umgesetzt, was du ...“ „Letzten Endes war es das geringere Übel, eure Hoheit“, verhöhnte Prana die Königin. „Das nennst du das geringere Übel?“, schrie Athlea. „Du hast dein eigenes Volk dem Untergang geweiht!“ „Habe ich das?“, fragte Prana, während sie sich wieder der paralysierten Leibwächterin zuwandte. Mit einer simplen Handbewegung befreite sie Kara aus ihrer Hilflosigkeit. Sie wusste, dass die junge Dame nun keine Dummheiten mehr versuchen würde. „Als wir den Minari damals nach Panafiel gefolgt sind, wurde das Volk der Dunkelelfen, das dir so am Herzen liegt, endlich von seiner infantilen Naivität befreit.“ Sie schwieg für eine Sekunde. „Du kennst die Geschichte?“ „Ja ...“ Es schmerzte Kara auch nur ein Wort an das Monster zu richten, dass sie für die Qualen, die sie erleiden musste, verantwortlich machte. „Ich kenne sie.“ „Jedoch nur den Teil, den die Heimkehrer damals mit dem Pöbel teilen mochten“, wies Prana die Soldatin umgehend zurecht. „Unsere eigene Ignoranz verwehrte uns lange die Erkenntnis. Verliebt in die Natur, verliebt in uns selbst, versuchten wir nie, die Welt wirklich zu verstehen. Es war an den Fremden, unserem Volk die Pfade zur Erleuchtung zu eröffnen. Eine undenkbare Schande für die meisten.“ Prana schielte schelmisch zur Königin. „Sie wehrten sich gegen alles, das ihren antiken Lehren widersprach. Doch das Fundament, auf dem die ersten Hohepriesterinnen die ewige Stadt einst erbaut hatten, war eine einzige Lüge. Die Zeit für echte Pioniere war angebrochen. Meine Zeit; auch die deiner Königin ... zumindest glaubte ich das bis zuletzt.“ „Aber Ihr wart es doch, die uns die neuen Wege lehrtet“, unterbrach Kara die Rede der Hexe. „Dekaden sind vergangen, in denen die Dunkelelfen die Pforten der Stadt für die Außenseiter geöffnet hielten. Menschen, Minari, Waldelfen: Sie alle gehen ein und aus in Ballymena. Niemand zweifelt mehr an der Mannigfaltigkeit der Natur, niemand bezweifelt noch, dass fern der Küsten Adessas noch andere Wesen in Einklang mit ihr leben können. Wofür bestrafst du also dein eigenes Volk?“ „Dummes Kind!“, fauchte Prana. „Nichts weißt du; gar nichts!“ Wieder wandte sich die Hohepriesterin vorwurfsvoll an die Königin, deren Schwäche sie unlängst in die Knie gezwungen hatte. „Die Völker, die auf diesem Planeten wandern, sind keine Früchte Mutter Naturs mehr. Hass und Krieg haben die wahren Herrscher Minevals schon vor Jahrtausenden verzehrt“, erklärte sie. „Es war eine glückliche Fügung, die alten Schriften in unseren Besitz zu bringen, als die Minari auf der Suche nach Hilfe zu uns kamen; nur deswegen zog es sie damals nach Adessa. Und die Erkenntnisse, die wir gewinnen konnten, entsprangen auch nicht ihrem Geiste.“ „Hilfe!?“, hauchte Kara verwirrt. „Die Minari sind im Besitz einer Maschine, eines Portals. Niemand kann mit Sicherheit sagen wie lange schon. Vor vielen Jahren – Athlea war kaum älter, als du es jetzt bist – wandten sie sich bittend an die Dunkelelfen – allen voran an die Hohepriesterinnen –, die sich der Sphären der Magie bemächtigen konnten. Sie selbst waren nicht dazu imstande, dieses Portal zu öffnen.“ Die Hexe konnte ihr höhnisches Gelächter nicht zurückhalten. „Sie wussten nicht einmal, was es war.“ Mit einer schwungvollen Bewegung riss Prana ihren rechten Arm in die Höhe und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Königin. „Sie war es schließlich, die das Portal öffnete. Sie öffnete die Pforte zum Himmel und schon bald darauf begannen die Menschen herabzusteigen. Sie kamen aus der Fremde und zogen über das entweihte Land her. Sie wurden aus ihrem Leben gerissen, dazu verdammt, auf ewig in einer Welt zu weilen, die ihnen fremd war, in die sie nicht gehörten. Das war das Werk deiner geliebten Königin!“ „Lady Athlea?“ „Es stimmt, Kara“, antwortete die schwer verletzte Elfe. „Ich war jung damals. Nicht imstande mir auszumalen, welche Folgen meine Taten haben könnten. Die Minari empfingen uns in ihrer Heimat wie Göttinnen. Ich ... ich war fasziniert von ihnen; wollte ihnen helfen ... Wir alle wollten das.“ „Doch den Minari half es nicht“, führte Prana fort. „Ihr Königreich brach in zwei, nicht lange nach unserer Rückkehr. Es vergingen Jahre in denen sie verzweifelt versuchten, das Portal zu kontrollieren, doch vergebens. Mehr und mehr Menschen verirrten sich nach Mineval, ohne zu wissen, wie ihnen geschah. Es dauerte nicht lange, bis sich dem Königshaus der Minari eine Opposition entgegen stellte, deren Verlangen es war, das Teufelswerkzeug zu vernichten. Nur wird das niemals geschehen, nicht nach allem, was ich gesehen habe.“ „Und was habt Ihr gesehen?“ „Ich glaube, diese Frage sollte dir besser deine geliebte Königin beantworten, Kara. Sie schuf schließlich den Plan, dessen Auswirkungen du heute miterleben durftest. Es war ihre Einfall, und ein brillanter noch dazu. Doch verlor sie den Mut und kam ab vom Wege der Hohepriesterin. Sie wurde mehr und mehr Königin des verwunschenen Volkes ...“ Wütend sinnierte Prana weiter. „Als es den entscheidenden Schritt zu machen galt, verriet sie uns alle! Dann haben folgerichtig andere fortgeführt, was noch hier und heute ein Ende finden wird.“ Fast wirkte es, als wollte Prana sich zurückziehen, als sie in den vom erlöschenden Kerzenlicht geschaffenen Schatten trat. Sie wollte beobachten, wie sich die beiden Frauen unterhielten. Wie Athlea ihre Untaten eingestand „Lady Athlea ...“ Die Hexe ließ es zu, dass Kara sich zu ihrer verwundeten Königin begab und ihren schwachen Körper stützte. Wenn die Neugier in der Soldatin auch geweckt worden war, so brachte sie es nicht fertig, ihrer geliebten Königin in ihrem Zustand jene Fragen zu stellen, die in ihrer Seele brannten. „Kara.“ Athlea wandte sich mit leerem Blick und trauriger Melancholie in ihrer Stimme an die junge Frau. „Ist Uriah tot, Kara?“ Ihre Worte rührten die mutige Soldatin zu Tränen. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich. „Ich wusste, würde sie bei mir bleiben, wäre das ihr Ende, also überließ ich sie der Obhut der Leibgarde.“ „Ich verstehe nicht“, stammelte die Königin verwirrt. „Du wusstest es? Woher?“ „Ich träumte es“, sagte Kara. „Alles geschah genau so, wie in meinem Traum, bis ich dagegen anzukämpfen begann. Bin ich auf dem richtigen Pfad angelangt?“ „Kara ...“ Auch Athleas Augen füllten sich mit Tränen. Sie strich ihrer Vertrauten in einer Geste von Zuneigung, die sie selbst zuvor nie erahnt hatte, über die Wangen. „Ich bin glücklich, dass du in dieser Stunde an meiner Seite bist.“ Die beiden bemerkten, dass ihre Artgenossin wieder ins Licht trat. „Hast du das gehört, Prana? Sie hatte eine Vision deiner Greueltaten!“ „Dummes Geschwätz!“, erwehrte sich Prana der Fantasie ihrer Rivalin. „Eine Ahnung vielleicht, Instinkt womöglich, aber eine Vision? Du halluzinierst.“ „Nein, Prana.“ Nach all dem Schmerz, den Qualen und der Demütigung, brachte Athlea es tatsächlich fertig, zu lächeln. „Vor eurem Tod solltest du deiner kleinen Freundin noch erzählen, was die Nachwelt für sie bereit hält. Das schuldest du ihr, das schuldest du allen Dunkelelfen!“ Wieder wandte sich Kara ihrer Königin zu, ihr Blick verriet, dass sie sich nach einer Antwort verzehrte. Was um alles in der Welt war es, über das Prana sprach. Was konnte so schrecklich, so bedeutend, so unvorstellbar sein, dass es den Mord an so vielen Artgenossen rechtfertigen konnte? Doch Athlea richtete keines ihrer letzten Worte an Kara. „Es war eine Vision, Prana. Eine Fügung, deren Sinn es war, den Wahnsinn aufzuhalten, den du über Ballymena gebracht hast.“ „Oh, erspar mir diesen Unsinn ...“ „All deine Macht, so groß sie auch sein mag ...“, redete Athlea unbeirrt weiter. „Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, dich in die Verdammnis zu schicken!“, tönte Prana, während sie drohend ihre Hände in die Höhe riss. „... sie wird stets der meinen unterlegen sein!“ „Vielleicht wirst du ja wieder Königin?! Im ewigen Feuer!“ „Wenn du wirklich so mächtig bist, wird der Tag kommen, an dem es dir gelingt zu erwachen.“ Zeitgleich schossen die Lichtblitze aus den Fingerspitzen der Hohepriesterinnen. Ihre Kräfte waren ungleich verteilt und doch gelang es Athlea den meisten Attacken ihrer Widersacherin zu entgehen. Unbeabsichtigt lenkte sie eine gleißende Feuersbrunst auf die perplexe Kara ab, die sich der Gewalt dieses mächtigen Zaubers nicht erwehren konnte. Als Athlea sah, wie ihre Leibwächterin zu Boden ging, verzerrte sich ihr Blick zu einer wütenden Grimasse. Ein letztes Mal formten die beiden Hohepriesterinnen ihre Zauber – nur eine der Frauen traf ihr Ziel. Pranas Bewegungen wurden unkoordiniert. Ihre Augen schlossen und öffneten sich immer langsamer. Ihre Lider wurden schwerer und schon bald gelang es ihr nicht mehr, sich auf den Beinen zu halten. „Wie ... wie ... kannst du dieses Volk nur ... lieben? Du weißt, was sie sind, die ...“ Sie war nicht mehr dazu in der Lage ihren letzten Satz zu vollenden. Prana sackte in sich zusammen und bettete fortan neben ihren gemeuchelten Schülerinnen, deren Weg in das Nachleben sie allerdings noch nicht sofort folgen musste. Kara begriff nicht, was geschehen war; sie war zu benommen und zu schwer verletzt. Was sie jedoch wusste, war, dass sie noch immer am Leben, und die Quelle der Flüche versiegt war. Sie würde nicht sterben, bevor sie nicht in Erfahrung gebracht hatte, wie es um Uriah stand. Niemals! Vorsichtig richtete sich die geschundene Soldatin auf und schritt erneut an die leblose Gestalt im seidenen weißen Gewand heran, das von Blut durchtränkt und von Ruß geschwärzt war. Auch wenn Königin Athlea keinen Laut von sich gab, und ihre Augen geschlossen waren, hievte Kara sie auf ihre Arme und begann ihren mühsamen Aufstieg aus den Gewölben der Akademie hinauf in die verwüstete Stadt, die von den ersten schwachen Sonnenstrahlen, die es vermochten, die sich langsam auflösende Wolkendecke zu durchbrechen, in ein jungfräuliches Licht gelegt wurde. 10 Ortoroz hielt das kleine Mädchen fest umschlungen, während er an der Seite Jorhys den Steilpass hinauf zur Kathedrale erklomm. Viel zu oft musste er dabei miterleben, wie einige seiner Artgenossen den Freitod dem Kampf vorzogen und ihrem Leid mit dem Sprung in die Tiefe ein Ende setzten. Er konnte sich nur allzu bildhaft vorstellen, was mit ihnen geschah, wenn sie auf die scharfkantigen Klippen des Berges aufprallten, und versuchte krampfhaft, derlei Gedanken zu unterdrücken. Zumindest angegriffen wurden sie nicht. Wer weiß aber, was geschehen wäre, hätten die geschundenen Frauen und Männer das Mädchen in den Armen des Kriegers als ihre Prinzessin erkannt. Doch auch sie sollte vor den Flüchen der Hohepriesterinnen nicht gefeit sein, wenngleich sie selbst eine Magierin war. Ortoroz spürte, wie die Haut des Mädchens urplötzlich zu glühen begann. Uriah brach in Schweiß aus und verlor schließlich das Bewusstsein, als ihre Flügel abstarben. Entsetzt blieb der bullige Soldat stehen. Er war wie versteinert, als die kleinen Schwingen der Prinzessin in seinen Händen porös wurden und schließlich zu Staub zerfielen. Es blieb ihm nicht einmal mehr die Zeit, sich zu fragen, warum es ihn und den Heißsporn an seiner Seite bisher nicht getroffen hatte, als der überwältigende Schmerz ihnen den Verstand raubte. Ortoroz fand schließlich Halt in seiner Mission, die ihn in Form des unschuldigen Kindes in seinen Armen wie ein Anker bei Bewusstsein hielt. Es dauerte, bis die Tortur ihr Ende fand; doch als es erst vorbei war, spürte er keinen Schmerz mehr. Alles, was von den Flügeln des Kriegers noch übrig war, waren leblose Stümpfe, genau wie bei Jorhys und der Prinzessin. „Komm“, sagte er, „wir müssen weiter.“ „Nein!“ schrie Jorhys mit Tränen in den Augen. Er hockte gebückt im Morast und versuchte vergebens seinen Rücken nach seinen Flügeln abzutasten. Der Regen prasselte weiter in Strömen auf die Stadt herab. „Ich will nicht!“ „Reiß dich zusammen, du bist Soldat!“ „Sei still!“ Wutentbrannt sprang Jorhys auf; seine Augen loderten vor Hass. „Ich will sie zurück!“ „Jo---“ „Sie soll sie mir zurückgeben! Sie ist eine von denen, sie muss es können!“ „Sie ist noch ein Kind, Jorhys. Sieh doch!“ Ortoroz präsentierte den Rücken des Mädchens, das noch immer ohne Bewusstsein war. „Ihr geht es nicht anders als uns.“ „Nein, nein, nein ...“ Der junge Elf wusste keinen Rat mehr. Er raufte sich mit beiden Händen die glatten, schwarzen Haare, riss sogar einige Büschel davon aus. „Das ist doch alles nicht wahr!“ Dem Wahnsinn nahe marschierte der Rekrut auf und ab. Ortoroz wagte es nicht ihn zu ignorieren und die Reise fortzusetzen. „Sie muss es tun!“, rief der Elf triumphal. „Entweder das, oder ...“ „Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Sie ist die Prinzessin, du Narr!“ „Ist mir egal“, Er zückte seinen Krummsäbel, den er bald darauf drohend unter das Kinn seines Kameraden hielt. „Sie ist eine Hexe!“ „Tu das nicht!“, rief Ortoroz ihm ins Gewissen, doch sein Kamerad reagierte nicht. „Sei dir sicher: Ich werde das Leben des Mädchens mit meinem eigenen verteidigen. Koste es, was es wolle!“ Jorhys näherte sich Schritt für Schritt. „Zwing mich bitte nicht dazu!“ 11 Mit Anbruch des neuen Tages schienen die Wellen des Wahnsinns mehr und mehr abzuebben. Nach dem Tode Pranas war der Vortex über der Akademie in Devaria in sich zusammengebrochen; und dennoch: Von der einst blühenden Metropole Ballymena war kaum mehr ihr Schatten übrig. Teile der Stadt lagen in Trümmern. Brände loderten fast überall. Ganze Stadtviertel waren durch die Flüche der Hohepriesterinnen zu abstrakten Phantasmen transformiert worden. Häuser waren überwuchert von todbringender Fauna, während vor wenigen Stunden noch blühende Wälder im ewigen Eis erstarrten. Die wenigen umherwandernden Seelen, die die Katastrophe überstanden hatten, wussten, dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein würde. Sie alle aber ahnten nicht einmal, was wirklich geschehen war. Einzig Kara und Königin Athlea wussten es. Sie hatten das Übel an dessen Wurzel bekämpft und gesiegt. Athlea war zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen, und ihre Verletzungen zu schwer, um sich dauerhaft in der Realität des Seins zu halten. Ständig sandte der Schmerz sie in das Nichtsein der Ohnmacht aus, nur um sie Minuten später wieder erwachen zu lassen. Kara berührte all dies nicht mehr – sie marschierte nur unbeirrt weiter; vorbei an den sterbenden Mammutbäumen des verwunschenen Waldes, vorbei an den einstürzenden Mauern des Königreiches, vorbei an den brennenden Häusern Rubinas und den Überresten des einst in zeitloser Schönheit erstrahlenden Palastes. Überall säumte das Blut ihrer Artgenossen die Straßen. Das gesamte Ausmaß des Massakers erschloss sich erst, nachdem sich auch die allerletzten Rauchschwaden verzogen hatten. Kara ging einfach weiter. Schritt für Schritt. Es kostete sie alle Kraft, die sie in ihrem Zustand noch aufzubringen im Stande war. Blut floss aus ihren Wunden, tropfte auf die schlafende Königin. Ihr geschundenes Gesicht offenbarte nur noch zu einer Hälfte die Schönheit, mit der Kara so reich beschenkt worden war; die andere Hälfte war getränkt in das tiefrote Lebenselixier, das sich auf der feuchten Erde der Stadt mit dem ihrer Artgenossen vermischte. Am Rande eines Brunnens, der noch immer intakt war und Fontänen klaren Wassers in das rot gefärbte Becken schoss, achtete Kara wieder auf die Welt um sie herum. Nicht etwa die Überlebenden, die weinend und sprachlos vor ihr auf die Knie fielen, als sie ihre Königin in den Armen der jungen Frau erkannten, interessierten Kara – einzig der Anblick eines ihrer Rekruten vermochte es, ihr den Boden unter den Füßen zu rauben und sie in die Knie zu zwingen. Sie erkannte den Jungen, in dessen Brust ein tiefes Loch klaffte. Es war Drenthe. Sein Schwert steckte noch immer in der Scheide; er hatte es nie gewagt, sich seines Lebens zu erwehren. Er war anders gewesen – besser – als sie. Kara trauerte, doch sie gab noch nicht auf. Sie rang die Müdigkeit mit einem Brüllen zu Boden und zog weiter, die Königin immerwährend in ihren brennenden Armen. Niemand sprach zu ihr; niemand berührte sie oder versuchte gar, sie anzugreifen. Wem immer Kara auf ihrem letzten Kreuzzug begegnete: Alle waren wie versteinert. Sie warteten auf ihren Heilsbringer, denjenigen, der Ordnung in das Chaos bringen würde. Als sie ihre sterbende Königin sahen, raubte ihnen der Anblick jene letzte Hoffnung. Kara erreichte die Rubina-Kathedrale im Morgengrauen. Alles dort glich dem Bildnis, das sich ihr zuvor im Zentrum der Stadt offenbart hatte, bis auf jedes noch so kleine Detail. Was einst schön und anmutend gewesen war, verschleierte nun der trostlose Umhang des Todes. Beinahe so weit hatte es vor der Ausbilderin auch ihr Schüler Jorhys geschafft. Er lag mit dem Gesicht in einer Pfütze aus Schlamm und Blut. Der Speer, mit dem er gemeuchelt worden war, ragte wie ein Monument des Terrors aus seinem Rücken. Kara hatte keine Tränen mehr übrig, nur Wut. Die jungen Dunkelelfen, für die Kara die Verantwortung getragen hatte, waren gestorben, als sie versuchten ihre Befehle auszuführen und die Prinzessin in Sicherheit zu bringen. Es war ihr Wunsch gewesen, und sie erfüllten ihn mit Hingabe – selbst unter den unwirklichsten Umständen. Als Lehrerin und als Anführerin hatte sie auf ganzer Linie versagt. Innerlich betete Kara, zumindest als große Schwester bestanden zu haben. Als die Türen zur Kathedrale sich ohne ihr Zutun öffneten, erlangte sie schließlich Gewissheit. Die Erleuchtung kam in Form eines vertrauten Gesichts. „Lady Kara!“, entfuhr es Ortoroz lauthals. Sofort stützte er die Frau, die zusammenzubrechen drohte. „S-sie m-muss zu ihr“, säuselte die Elfe, deren letzte Kräfte mit jeder verstreichenden Sekunde schwanden. „Bitte sag mir, dass sie noch lebt...“ „Das tut sie.“ Ortoroz stützte Karas Körper und wies ihr mit dem Zeigefinger den Weg zum Altar. „Die Kathedrale wurde nicht angegriffen.“ Vor dem prunkvollem Altar im Zentrum des Gebäudes sah sie den gewölbten, violetten Umhang eines Priesters. Er bewegte sich stetig auf und ab. Uriah lebte; sie atmete. „Bring ihre Mutter zu ihr!“, verlangte Kara. „Schnell!“ Ortoroz befolgte den Befehl. Zaghaft nahm er sich der gertenschlanken Frau in den Armen Karas an und bemerkte sehr bald, dass das meiste Blut an den Kleidern der Königin nicht ihr eigenes war. „M-meine Tochter?“ Athlea erwachte, als der Dunkelelf sie in die Arme der Prinzessin legte. Auch Uriah war längst aus ihrer Ohnmacht erwacht. Es war ein magischer Moment, der alle Schmerzen und alles Leid für den Moment vergessen lies. Ortoroz schritt zügig aus dem Licht um die Blaublüter diesen vielleicht letzten gemeinsamen Moment unter sich sein zu lassen. Sein Blick streifte durch das Rund der gewaltigen Kathedrale und blieb schließlich an Kara haften, die sich mit letzter Kraft aufgerichtet hatte. Sie bewältigte nur einige Meter und ließ sich schließlich auf eine der hölzernen Sitzbänke fallen. Alarmiert eilte ihr einzig verbliebener Lehrling zu seiner Meisterin. „Ihr darf niemals etwas geschehen, hörst du?“ Kara sprach nicht mehr schleppend und fast ohne Anstrengung. „So lange Uriah lebt, gibt es Hoffnung für uns.“ „Ihr wird nichts geschehen, das schwöre ich bei meinem Leben!“ Kara lächelte. Es war ein grauenvoller Anblick. Solch unbestrittene Schönheit durch die Narben eines ungleichen Kampfes verunstaltet. Ortoroz einzige Wunde war sein blutendes Herz. „Ortoroz ... dich habe ich immer am meisten bewundert“, flüsterte sie liebevoll. „Gehe deinen Weg; versprich es mir!“ Bald darauf schloss sie ihre Augen. Karas Kräfte schwanden endgültig, als sie sich an ihren Traum erinnert fühlte. Wer oder was es auch gewesen sein mochte, das es ihr ermöglichte, die Katastrophe vorauszusehen – verhindern, konnte sie den Albtraum nicht. Doch die Realität unterschied sich von der Scheinwelt der vorangegangenen Nacht, denn Uriah war am Leben! „Vielleicht ...“ Karas Stimme war so schwach, dass ihre Worte kaum noch zu vernehmen waren. „... wache ich ja ein weiteres Mal auf und kann alles besser machen ...“ Als sie starb, spürte Ortoroz, dass der Schrecken ein Ende gefunden hatte. Er begann zu weinen. Dass es für eine schier endlos lange Zeit das letzte Mal gewesen sein sollte, ahnte er in diesem Augenblick noch nicht. Er hatte Lady Kara bewundert, sie verehrt, sie geliebt. Was seinem Volk nach jenem grauenhaften Meilenstein seiner Jahrtausende alten Geschichte bevorstand, wusste der Krieger Ortoroz ebensowenig vorauszusehen. Sicher war nur, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Niemals. Das einst prächtigste Königreich Minevals stand in Flammen, verflucht von den eigenen Schutzpatronen, verdammt bis in alle Ewigkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)