Grandia II: Der Pfad zur Seele von Ghaldak (Eine Tragödie in 5 Akten) ================================================================================ Prolog: Himmel ohne Geigen -------------------------- Am letzten Tag, im letzten Moment vor dem Weltuntergang, werden die Dämme brechen. Im letzten Licht werden die zerstreuten Teile des Leibes Valmar einander finden und miteinander verschmelzen, dann wird der dunkle Gott auferstehen und mit der Welt verschmelzen. Sieben Tage wird dann das Leid der letzten Menschen dauern, in denen sich die Sonne verdunkeln und Panik die Herzen der Menschen erfassen wird. Die Angst wird sie in Monster verwandeln und nur wenige werden den letzten Moment erleben, wenn die Welt unter der Last zerbricht und ins Nichts zerfällt. Dann hat das Dunkle gesiegt. Seit der großen Schlacht zu Beginn der Zeit, in der der böse Gott Valmar von dem guten Gott Granas zerrissen wurde, bewahrten Männer und Frauen der Kirche diese Geschichte. Weil an jenem Tage das Böse nur zerstückelt und hinter Siegeln verbannt, aber nicht besiegt werden konnte, konnte man sich niemals sicher sein. So pflegten ihre Vertreter wie die Inquisitorin Selene die Erinnerung und sorgten dafür, dass der schlesische Kontinent für den letzten Kampf bereit war. Als der Tag aber näher rückte, sollten sie die Zeichen nicht erkennen können. So blieb Schlesien im Tiefschlaf. Der erste Krieger, der zu den Waffen griff, war Mareg, ein Bestienmensch von der Insel Arachna. Die Spur der Verwüstung, ausgebrochen aus dem ersten Siegel, kreuzte seinen Weg und er stellte ihm nach. Über Jahre hinaus sollte er es jagen und Leichen pflasterten seinen Weg. Doch auch ihn nahm man nicht wahr. So begann der lange Weg zum letzten Tag ganz unbemerkt in der westschlesischen Provinz, als ein garländischer Söldner auf ein blondes Kirchenmädchen traf. Sein Name war Ryudo und dies ist seine Geschichte. Kapitel 1: 1. Akt: Ein einfacher Job (1) ---------------------------------------- Schlesien, das ist ein Dreckloch. An manchen Tagen fühle ich mich hier gefangen. An manchen Tagen hasse ich mein Leben, das ich hier führen muss. Ich hasse die Leute, die mir verächtliche und verängstigte Blicke zuwerfen, wenn sie mich treffen, und die mich lieber gehen als kommen sehen, zumindest solange sie mich nicht brauchen. Sie denken sich: „Was muss das für eine Ratte sein, wenn er ein Schwert zum Leben braucht?“ Und im nächsten Moment brauchen sie es. Und dann lächeln sie. Die ganze Geschichte begann an einem dieser Tage. Meine Reise hatte mich in den Nordosten Schlesiens nahe von Karbowitz verschlagen, als ein älterer Mann mit seiner Tochter zu mir kam. Seine Geschichte war herzzerreißend, aber von einer Art, wie ich sie kannte. Eine Bande Echsenmenschen hatte sein Landgut überfallen und mitgenommen, was nur genug funkelte. Leider war darunter ein kostbares Schwert, ein Familienerbstück über Generationen, und genau das wollte er wiederhaben. Es war sehr kostbar und für ihn außerdem ein Träger von Erinnerungen. Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Ich kannte diese Geschichten. Vielmehr ruhten meine Augen auf seiner Tochter. Mich faszinierten ihre schönen, dunkelblonden Haare, ihre blauen Augen, ihr Lächeln, als sie meinen Blick bemerkte, schüchtern und doch froh. Sie war doch eine schöne Blume, dachte ich, während ich mit ihrem Vater über den Preis verhandelte, und ich erinnerte mich, wie lange es keine Frau mehr in meinem Leben gab. Ach, es fehlte mir, es fehlten mir überhaupt Menschen, die nett zu mir waren und in mir mehr sahen als eine Klinge zum Wegwerfen. Das Mädchen schien nett zu sein. Vielleicht würde ich ja nach der Arbeit die Chance bekommen, mit ihr zu reden. Ich hatte danach noch keine Pläne und mit einem Beutel voll Gold hatte ich es nicht eilig. Noch vor dem Gold stand das Eisen. Ich brauchte knapp zwei Tage, um das Lager der Echsen zu finden. Dann überlegte ich mir einen Plan. Es waren zu viele, als dass ich sie alleine besiegen könnte, also musste ich einen anderen Weg nehmen. Ich entschied mich dazu, hineinzuschleichen, den Häuptling zu suchen und diesem das Schwert abzunehmen, welches er entweder als Waffe oder als Trophäe führen würde. Dann würde ich den Hang abwärts klettern, um möglichst schnell möglichst weit von der Horde wegzukommen. So lautete der Plan. Nur der letzte Teil ging schief. Die Wachen waren schneller und der Hang schwieriger. Mein Seil ging verloren, ich wurde von geworfenen Steinen getroffen und stürzte. Als ich schließlich wieder bei Mann und Tochter stand, da schmerzten meine Beine noch bei jedem Schritt und ich hatte eine hässliche Wunde auf der Stirn, doch damit kam ich eigentlich glücklich davon. Es war nichts gebrochen. Trotzdem hatte ich verloren, ich sah es an den Augen des Mädchens. Ich hatte sie verloren. Vor wenigen Tagen noch waren sie neugierig und sympathisch, nun wichen sie mir aus in einer Mischung aus Abscheu und Angst. Ich wusste, was vorgefallen sein musste. Ihr Vater musste ihre Blicke bemerkt haben – oder hatte sie sich durch eine Bemerkung verraten – und hatte ihr den Kopf gewaschen. Meinesgleichen wäre doch meinesgleichen und wenn sie schon nach Männern blicke, dann doch wenigstens nach ehrlichen und treuen, nach solchen, die für ihren Lebensunterhalt nicht herumziehen und töten mussten. Ich hätte laut aufschreien können, als ich es verstand. Es war immer das gleiche Lied. Ich hatte das Mädchen verloren. Ich war wütend. Was brauchte ich Freund oder Frau in diesem Drecksloch, dachte ich mir, es war doch beides nichts wert. Es ist doch beides… ach, ich wollte irgendetwas kleinschlagen oder mich scheußlich betrinken, doch stattdessen tat ich, was ich zu oft tat an diesen Tagen: Ich stürzte mich in neue Arbeit. Und ohne dass ich es merkte, setzte ich die Mühlen in Gang. Und so begann meine Geschichte. Genauer gesagt begann sie in Karbowitz mit einem an einen Baum geknoteten Zettel. Auf ihm stand zu lesen: „Die Kirche des Granas sucht einen Geronshund für eine Reisebegleitung auf kurze Strecke. Lohn nach Vereinbahrung, bei Interesse dient Priester Carrius als Ansprechpartner.“ Natürlich brauchten sie dafür deutlich mehr Worte. Ich seufzte, während ich mich nach Skye umblickte, um dessen Meinung zu hören. Skye, das ist ein großer, sprechender Adler mit einem Horn auf der Stirn, ist mein Partner, seit ich in diesem Gewerbe bin. Man könnte sagen, er ist der einzige Freund, den ich habe, und ich habe seinen Rat zu schätzen gelernt. Besonders in kniffligen Situationen wie dieser hier. Und knifflig war sie. Skye wusste ebenso gut wie ich, dass die Kirche des Granas die beherrschende Macht in Schlesien war. Ihr Glaube war ebenso verbreitet wie ihre Priester, in jedem Dorf zu finden. Sie nutzten nur selten freie Kräfte und vertrauten lieber auf ihre eigenen Institutionen wie die Kardinalsritter, was für mich ein Grund zur Sorge war. Ich hatte die Befürchtung, sie wollten mich verheizen. Skye hingegen lachte, als er davon hörte. Wir wären hier in der tiefsten Provinz, sagte er, und St. Heim ist weit. Vielleicht möchte der Priester nicht warten. Was spräche also dagegen, wenn wir uns die Sache wenigstens einmal anhören würden? Seufzend gab ich mich geschlagen. Ich erinnerte mich an das blonde Mädchen, dessen Namen ich nie erfuhr, und seufzte. Als Ablenkung wäre es doch ideal, immerhin ginge es ja um Kirche und nicht um Mädchen. Eine einfache, unpersönliche Sache ohne Aussicht auf Enttäuschungen. Glücklich war ich aber trotzdem nicht. Die Kirche des Granas gehörte ganz klar zu den Dingen, die in Schlesien zum Himmel stanken. Es war eine sinnlose Religion über einen Gott, der viel forderte und nichts gab und dessen Lehren von einer so einschläfernden Banalität waren, dass ich nicht verstehen konnte, wie die Menschen ernsthaft daran glauben konnten. Natürlich sahen sie das ganz anders und jeder Schlesier, egal ob Bauer oder Priester, war schnell bereit, einen mit einer Predigt zu beglücken, wenn man sich nur zu große Skepsis anmerken ließ. Nun wünschte diese Kirche meine Dienste. Ich hoffte, sie würden mich keine Prozession beschützen lassen wollen. Aber allein schon der Gedanke ließ mich grinsen. Ein Geronshund inmitten feiner Leute. Wie verkrampft sie wegsehen würden. In der schlesischen Gesellschaft bedeuten Geronshunde wie ich nicht viel. Es sind herumziehende Monsterjäger und freie Kräfte, die der gehobene Bürger mit einem Säckchen Gold für sich nutzbar machen kann, um sie in die monsterverseuchte Wildnis jenseits der Stadtmauern zu schicken. Dabei ist das Schwert ihr Arbeitsgerät, die Gefahr ist Begleiter und die Straße ihre Heimat, sind sie doch immer auf der Suche nach Gold und Arbeit. Mein Name ist Ryudo und ich kann von mir behaupten, einer der besten Geronshunde Schlesiens zu sein. Ich war schon immer bereit, auch die Missionen zu übernehmen, die wirklich gefährlich sind, und bin dabei wirklich erfolgreich. Man könnte denken, dass ich einen guten Ruf habe, doch leider besitzen in unserer Zunft nur die schlechten Beispiele Namen. Zuverlässige und tapfere Streiter wie ich werden nicht danach gefragt. Wir gehören zu keiner Gemeinschaft und niemand weint um uns. Schlesien ist doch ein Drecksloch und die Kirche von Granas ebenso. Trotzdem hatte ich bereits entschieden, mir die Sache anzuhören. Skye hatte einfach Recht, es würde mir nicht schaden, sie anzuhören, stattdessen würde es mir entweder Gold oder eine bessere Einsicht bringen, was in Schlesien alles schief lief. So machte ich mich auf den Weg, der zumindest einen Vorteil hatte: Kirchen in Schlesien sind nicht zu übersehen. Zumindest dieser Teil würde einfach sein. Und tatsächlich: Dieser Teil war einfach. Karbowitz bildete dabei keine Ausnahme. Eine große Pforte erwartete mich, Skye ließ ich bei der Statue des Kirchplatzes zurück. Verhandlungen waren einfach nicht seine Sache und ich musste grinsen, als ich daran dachte, dass er die Statue weißen würde, während ich im Inneren der Kirche ihr Geld abnahm. Die Pforte ließ sich öffnen und ich trat ein. Eine große Halle lag vor mir. Ich blickte nicht nach links oder rechts, um mich nicht blenden zu lassen, sondern ging stur voran. Meine Stiefel hallten durch das Schiff, als mir auffiel, dass ein Mädchen sang. Ich ließ mich davon nicht stören, doch entging es mir nicht. Ich kannte das Lied nicht, kannte nicht einmal die Sprache, in der sie es sang, doch es war schön. Sie hatte Talent, soweit ich es beurteilen konnte. Von mir aus konnte sie gerne weiter singen, dachte ich, bemerkte aber, wie das Schlagen meiner Stiefel auf von Teppich gedämpften Holzdielen immer mehr von ihrem Lied zerriss. Schließlich endete das Lied. Das blonde Mädchen in weißem Stoff wandte sich um und erkannte, wie nah ich ihr gekommen war. Ich lächelte und sie erschrak, völlig aus der Fassung. Ich lehnte mich an die vorderste Bank. Schön war sie doch, dachte ich und lächelte, saubere, weiße Gewänder, eine gepflegte Frisur, zarte Haut, süße sechzehn Jahre vielleicht, schüchterne, ängstliche braune Augen… ich musste grinsen, als ich sah, wie sie mein Schwert anstarrte und meine schmutzigen Stiefel. „Hey“, sagte ich, um die Spannung zu lösen. „Ich wollte dich nicht unterbrechen. Du kannst ruhig weiter singen.“ Ich lächelte, doch es kam nicht an. „Was wollen Sie?“, fragte sie mit einer Mischung aus Angst und Abscheu. „Dies ist das Heim Granas. Wissen Sie, dass Sie ein Gast sind?“ – „Natürlich“, sagte ich grinsend, „deshalb bin ich hier.“ Ich sah mich demonstrativ um. „Schön ist es hier.“ Sie folgte meinen Blicken nicht. Keine Reaktion. „Tut mir leid wegen den Flecken auf dem Teppich“, fügte ich hinzu. „Aber ihr habt keinen Fußabtret…“ – „Doch“, fiel sie mir ins Wort und ich gab mich gleich geschlagen. „Dann habt ihr einen“, gab ich zu und setzte mich auf die Bank. Ich seufzte. Dieses Mädchen war schön und sicherlich auch nett, aber gerade gefiel sie sich etwas zu sehr in ihrer Rolle als Eisprinzessin. „Wenn du jetzt den Teppich saubermachen musst, dann tut es mir doppelt leid. Oder machst du das nicht? Ich muss zugeben, ich kenne mich mit der Kirche des Granas nicht gut aus.“ Ich hatte auf eine Reaktion gehofft, doch diesen Gefallen tat sie mir nicht. „Der Teppich ist nicht wichtig.“, sagte sie knapp. Sie ließ mich nicht aus den Augen, als sie fragte: „Warum sind Sie hier?“ Ich lächelte und bedachte sie mit meiner entwaffnendste Geste. „Im Moment warte ich“, sagte ich. „Ich bin hier, um den Priester zu sprechen, Carrius sein Name. Allerdings scheint er nicht hier zu sein und du scheinst auch nicht zu wissen, wo er ist, also warte ich.“ – „Vater Carrius ist auf Visite im Dorf“, sagte sie. „Würden Sie gegen Abend wiederkommen? Ich werde ihm ausrichten, dass er Sie erwarten möchte.“ Ich musste fast lachen, als sie es sagte. Sie wollte mich also rauswerfen. Doch das entsprach nicht ganz meinen Plänen. Zum einen sagte mir meine Erfahrung, dass es ungünstig für mich wäre, diesen Ort aufzugeben, wo ich ihn beherrschte, zum anderen aber war ich auch neugierig, was passieren würde, wenn ich mich nicht fügte. „Ich bin mir nicht sicher“, begann ich, „ob die Sache nicht dringend ist, wegen der mich Priester Carrius herbestellte, und scheinbar weißt du es auch nicht. Es ist das Beste, wenn ich hier warte. Ich nehme an, er kann jeden Moment wieder hier sein.“ Ich lächelte und legte die Hände in den Schoß. Das Mädchen stand da, starr wie die Statue auf dem Kirchplatz, und grübelte fieberhaft nach einem Weg. Schließlich sagte sie: „Wenn ihre Zeit dazu nicht zu kostbar ist“, doch ihr Tonfall zeigte, dass sie von ihrer Niederlage wusste. Sie blieb stehen wie ein Lamm im Regen, wich nicht vom Altar und ließ mich nicht aus den Augen. Ich verkniff mir, laut loszulachen, als ich sie so sah. Was dachte sie von mir? Wenn ich die Kirche plündern wollte, dann wäre sie bereits tot, und wenn ich hier Arbeit finden wollte, dann würde ich sie nicht zerstören. Es war nobel von ihr, mir weiter Gesellschaft zu leisten, doch diese Art des Soldat-Spielens war kein Triumph für sie. Ich hielt das Schweigen eine Zeitlang aufrecht, lange genug, um sie fühlen zu lassen, dass sie sich lächerlich machte, dann lächelte ich sie an. „Setze dich doch zu mir“, sagte ich. „Da hast du es bequemer.“ Sie setzte schon zu einem Kopfschütteln an, doch dann gab sie sich geschlagen. Sie kam zu mir und setzte sich, doch wählte sie die andere Bank. Genug Sicherheitsabstand für ein Lamm vor der Bestie. Zu süß. „Ich bin Ryudo“, sagte ich. „Wenn du mir verzeihst, dass ich dir den Tag versaut habe, dann lass uns etwas essen gehen.“ Verdutzt starrte sie mich an, doch sie kam nicht mehr dazu, zu antworten, da mit einem Mal geräuschvoll die Pforte aufschwang. Ein Mann mit einer Robe trat ein und erkannte uns. „Herr Geronshund“, sagte es, „Ich bin erfreut, dass sie den Weg in unsere Kirche gefunden haben. Elena haben Sie ja bereits kennen gelernt.“ Kapitel 2: Ein einfacher Job (2) -------------------------------- Die Reaktion des Mädchens bestand aus ungläubigen Stammeln und Starren. Ziellos wechselten ihre Blicke zwischen dem Priester und mir. „Aber…“, begann sie, ehe er ihr das Wort abschnitt. „Es ist nötig.“ Sie senkte den Blick und gehorchte. „Ja, Vater“ Ein braves Mädchen. Dann wandte sich der Priester wieder mir zu. Ein entschuldigendes Lächeln. „Verzeihen Sie mir bitte, ich wurde aufgehalten.“ Dann kam er gleich zur Sache. „Heute Nacht“, sagte er, „findet im Carmina-Turm eine Zeremonie statt. Elena hier wird dabei eine große Rolle spielen. Wenn Sie sie bis dorthin begleiten könnten und zurückbringen, dann wäre es schon alles.“ Er lächelte viel zu gütig. „Es tut mir leid. Ich bin kein Kindermädchen.“ Es war nicht mein letztes Wort, aber ich kannte die Gegend. Man brauchte schon eine Menge Pech, um dort in Probleme zu geraten und das hieß, dass er dem Mädchen entweder nicht vertraute oder es gab noch einen Haken, von dem ich nichts wusste. Ich ging von Letzterem aus und hoffte, er würde mich gleich einweihen. Er hatte mir ja schon indirekt gestanden, in Zeitnot zu sein. „Ich möchte Sie bitten“, sagte er, „Elena ist kein Kind. Sie wird Ihnen keine Probleme machen.“ Zu viele Blicke zielten mit einem Mal auf das schweigende Mädchen. Sie versank noch etwas tiefer in der Bank. Ich hingegen konnte eines ausschließen und tastete mich langsam vor. „Was wartet denn im Carmina-Turm auf sie?“ – „Eine Gruppe von Chorsängerinnen eilte voraus, um die Zeremonie vorzubereiten. Der Turm ist sicher, wenn Sie das meinen.“ Er lächelte entschuldigend, als er anfügte. „Ich möchte Sie jedoch bitten, ihn nicht zu betreten. Das wäre mir wichtig.“ Langsam nahm das Ganze seltsame Züge an. Ich traute dem Braten nicht und fragte ganz direkt: „Der Weg zum Turm ist weder hart noch gefährlich. Was bringt Sie dazu, einen erfahrenen Geronshund zu bezahlen, statt ihr einfach zwei Dorfjungen mit Stöcken zur Seite zu stellen? Bitte sagen Sie mir, was Sie fürchten, Vater, dann kann ich Sie besser von dieser Furcht befreien.“ Ich klang so freundlich wie ich konnte, während ich ihn nicht aus den Augen ließ. Es gab eigentlich nur drei Möglichkeiten: Entweder spielte er ein doppeltes Spiel oder irgendwas lag auf der Lauer oder er war einfach nur dumm. An Letzteres glaubte ich nicht. „Die Zeremonie ist wichtig“, sagte er, „Sehr wichtig und Elenas Rolle ist es ebenfalls. Bringen Sie dorthin und sorgen Sie dafür, dass nichts in der Nacht den Turm stürmt. Dann haben Sie sich den Lohn eines erfahrenen Geronshunds wirklich verdient.“ Das beantwortete keine Fragen und doch wusste ich, dass ich entscheiden musste. Eine innere Stimme schrie zur Vorsicht, aber mein Blick wanderte zu dem blonden Mädchen. Was auch immer passieren mochte, ohne mich war sie in weit größerer Gefahr als mit mir. „Einfacher Tagessatz bei Ruhe, doppelter bei Katastrophen. Dann bin ich dabei.“ Der Priester war erleichtert, von Elena kam keine Reaktion. Ich sagte ihr, sie solle sich bereitmachen. Und schon bald brachen wir auf. Der erste Teil der Reise durch das Umland von Karbowitz war ein Spaziergang, erst als wir in den Witter Wald kamen, wurde es dunkler. Elena, das Mädchen aus der Kirche, folgte mir schweigend. Ich konnte erkennen, dass sie selten herauskam. Sie ächzte und schnaufte und konnte meinem Schritt kaum folgen, bis wir schließlich eine Pause machten. Wir waren kaum zwei Stunden unterwegs. „Geht es?“, fragte ich sie und sie nickte. „Was ist das eigentlich für eine Zeremonie, die ihr da abhaltet?“ – „Darf ich Ihnen nicht sagen.“, antwortete sie harsch, erschrak dann aber selbst und versuchte, sich zu entspannen. „Naja, eigentlich… Der Turm ist ein heiliger Ort und damit das so bleibt, braucht es Zeremonien wie diese.“ Ich lächelte, um sie nicht wieder scheu zu machen. „Also deshalb darf ich ihn nicht betreten?“ – „Genau. Nur Kirchenangehörige dürfen hinein. Die meisten aus dem Dorf wissen nicht einmal, dass es ihn gibt.“ – „Also deshalb auch keine Dorfjungen mit Stöcken“, lachte ich. „Die könnten zuviel tratschen.“ Sie stimmte mit ein, wenn auch zurückhaltend. „Du bist Elena, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir die Sache hier so handhaben, dass wir beide zufrieden sind?“ Ich hob die Hand und sie schlug zögerlich ein. „Elena, genau. Sie sind Herr Ryud… ach, das weiß ich ja schon.“ – „Ryudo reicht. Ich mag es nicht förmlich.“ Damit war alles gesagt. Wir gingen weiter und unterhielten uns noch ein wenig. Sie lebte schon immer in diesem Dorf, im Turm warteten ihre Freundinnen und natürlich war sie ganz aufgeregt, wenn sie daran dachte, dass sie das Ritual zu leiten hatte. Doch sie hatte gebetet und gelernt und hoffte nun, gut vorbereitet zu sein. Allein, das vertrieb ihre Nervosität nicht. Irgendwann war alles gesagt und wir gingen schweigend. Der Wald wurde dunkler, Augen schienen im Gebüsch zu lauern und ich war wachsam. Leicht konnte etwas passieren. Dazu war ich ja da. Doch für den Moment sollte nichts geschehen. „Herr Ryudo?“, begann das Mädchen auf einmal, nur um sich dann zu erinnern, „Ryudo, warum haben Sie das in der Kirche eigentlich gefragt?“ Ich wusste nicht, was sie meinte. „Was denn?“ Sie war sich nicht sicher, als sie sprach: „Das mit dem Essengehen. Wie kommen Sie dazu?“ Ich lächelte. „Möchtest du denn?“ – „Ich gehöre doch zur Kirche. Und Sie kennen mich doch gar nicht. Warum wollen Sie dann also…?“ Zu süß. „Tue es und finde es heraus.“, gab ich ihr zurück. In diesem Augenblick machte ich mir noch keine Gedanken, was ich von ihr halten sollte. Der Turm, die Nacht, ein Weg zurück. Dann war hoffentlich alles gut. So ging die Reise ruhig fort und es dauerte nicht mehr allzu lange, bis schließlich die Spitze des Turms über den Wipfeln erschien. Und schließlich wurden Umrisse deutlich, schwarzes Gestein und das Reden junger Mädchen. Wir waren am Ziel. Elena war sehr still gewesen, doch mit jedem Schritt, der sie dem Ziel näher brachte, schien sie wieder etwas Kraft zu gewinnen. Mit ihren letzten Schritten bedankte sie sich bei mir für die gute Geleitung, während ich ihr viel Erfolg bei der Zeremonie wünschte. Wir schüttelten die Hände und versprachen, gut auf uns aufzupassen. Währenddessen beobachteten uns ihre Freundinnen und kicherten. Es war ihnen wohl zu lang. Schwere Tore fielen ins Schloss. Mit einem Mal wurde es still. Ich war wieder allein. Ich seufzte und setzte mich auf einen Felsen, während Skye über mich kreiste und mich daran erinnerte, dass noch nichts vorbei war. Ich sollte ein Feuer entzünden, solange ich noch Licht hatte, denn in dieser Nacht würde ich Licht brauchen. Nun galt es, die Tore vor dem zu schützen, was auch immer kommen mochte. Die Aussicht klang nicht rosig. „Was denkst du gerade?“, begann Skye, als ich schließlich vor meinem brennenden Feuer saß und den Turm betrachtete. Es war Nacht geworden und seltsam still. „Ich frage mich“, sagte ich, „ob ich sie wohl singen hören werde. So viele Chormädchen auf einem Haufen und es ist so still.“ Mein Blick blieb beim Turm. Er weckte mein Interesse. „Was denkst du, wie alt er ist?“ Dicke, schwarze Mauern im tiefsten Wald, eine beachtliche Höhe, er musste aus einer Zeit sein, als es hier noch Menschen gab, die ihn errichten konnten. Aber er war auch noch nicht eingestürzt und Ruine geworden. Es war seltsam. „Vielleicht aus dem großen Krieg oder kurz danach“, bestätigte Skye meine Vermutung. „Siehe dir das Relief über der Pforte an. Es zeigt etwas Großes.“ – „Was? Meine Augen sind zu schlecht.“ – „Ich sehe es, aber ich kann es nicht deuten. Irgendwas Großes.“ Ich setzte mich zurück auf den Stein am Feuer und seufzte. Warten war wirklich nicht meine Stärke, doch andererseits war ich auch froh, dass alles so ruhig war. Wie gerne hätte ich irgendwas Essbares im Feuer gehabt, dachte ich und merkte, dass ich hungrig war, doch auch darauf musste ich in dieser Nacht verzichten. Wenn etwas kam, könnte es schnell kommen. Ich musste bereit sein. „Was hältst du eigentlich von ihr?“, fragte mich Skye ganz plötzlich. Ich musste lachen. „Von Elena? Scheint ganz nett zu sein.“ Diese Antwort befriedigte ihn nicht. „Wie nett?“ – „Hätte nichts dagegen, sie näher kennenzulernen. Vielleicht können wir ja bald unseren Erfolg feiern.“ Ich betrachtete mein Schwert auf meinem Schoß, die Klinge nahm das Flackern des Feuers auf. „Ich möchte aber bald weiterziehen. Weiß noch nicht, wohin, aber ich glaube nicht, dass ich hier Rost ansetzen möchte.“ Skye betrachtete mich ruhig, wie er es häufiger tat. „Du könntest aussteigen“, sagte er. „Das Geld hast du inzwischen. Warum suchst du dich nicht einen Ort, an dem es dir gefällt und nimmst dir ein schönes Mädchen?“ Ich dachte einen Moment nach, dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, das wäre nichts für mich.“ Ich musste in Bewegung bleiben. Ich wollte das Schwert in meiner Hand nicht loslassen. Vermutlich fürchtete ich mich davor, was dann passieren könnte. „Deine Entscheidung“, sagte Skye und schien mit nichts anderem gerechnet zu haben. Er wurde wieder still. Mein Schwert lag schwer auf meinem Schoß und ich genoss die Wärme. Ganz Unrecht hatte er nicht und ein großer Nachteil der Arbeit als Geronshund war, dass man täglich sein Leben riskierte. Diese Nacht hingegen war so friedlich und still, es erschien mir ganz ungewöhnlich. Vor welchen Monstern auch immer der Priester Angst hatte, sie schienen nicht zu erscheinen. Und auch die Sterne waren klar. Ich blickte hinauf zum Himmel und bemerkte mit einem Mal, dass sich der Mond rot färbte, als würde Blut aus einer Wunde seine Haut bedecken. Er wurde röter und röter. Es war kein gutes Zeichen, das wusste ich und doch störte es den friedlichen Abend nicht. An einem Ort auf der Welt, wurde mir bewusst, musste dieses Zeichen für irgendjemanden Übles bedeuten. Möglicherweise war ich es. Ich wusste es nicht. Mein Blick senkte sich und ich betrachtete das massive Tor. Aus der Dunkelheit dahinter war immer noch keine Musik zu hören. Schluckte der Ort jedes Geräusch oder wurden sie etwa gestört? Das Schwert in meiner Hand. Fast wollte ich nachsehen gehen. Mit einem Mal zerriss ein Schrei die Stille. Die Stimme eines Mädchens voller Schmerz und Panik drang aus dem Turm. Sofort war ich bereit. Die Monster, die der Priester erwartet hatte, waren eingetroffen, doch hatte er sich am Ort geirrt. Sie waren längst im Turm. Und ich musste nun schnell sein. Auf einmal war meine Ruhe dahin und verwandelte sich in Panik. Ich riss die Tür auf und wurde fast erschlagen von der Woge aus Finsternis, die mir entgegenschlug. Der Priester musste gelogen haben. Dies war kein heiliger Ort, es war ein finsterer und die Alpträume waren aus dem Keller gekrochen. Angst und Wut ergriffen mich und ich ergab mich ihnen, mit dem Schwert in der Hand stürmte ich in den Turm, um noch irgendwas zu erreichen, auch wenn es eigentlich zu spät war. Zitternd und schreiend fand ich mich wieder, als ich mich vor dem Turm im Gras wälzte. Blut und stinkender Schleim verdreckte mich, Wunden schmerzten, mein Herz pochte wie verrückt. Auch wenn ich mein Schwert nicht mehr halten konnte, ließ ich es herumsausen und schrie in die Leere: „Du bist nicht hier. Du kannst nicht hier sein. Geh und stirb. Verschwinde von mir.“ Skye war bei mir, irgendwo in der Nacht. Er sagte mir, ich solle mich beruhigen, doch auch ihn schrie ich an. Ich schrie und fuchtelte, bis mein Schwert meiner Hand entglitt und zu Boden fiel. Da erst ließ mich der Rausch langsam frei und da erst erkannte ich, dass ich nicht alleine war. Ein Körper in weißem Samt lag vor mir im Dreck, Blut klebte ihr blondes Haar an ihr Gesicht. Ich konnte es nicht fassen. Elena hatte es zumindest herausgeschafft. Panik wich schlagartig Verzweiflung. Mit einem Male klammerte ich mich an sie und konnte meine Tränen nicht zurückhalten. „Du lebst noch“, flüsterte ich ihr zu wie ein Verschwörer. „Du lebst noch. Ich konnte dich retten. Ich konnte dich retten.“ Ich umklammerte sie, ich küsste sie, immer und immer wieder auf Stirn und Wangen, ich wollte sie nicht mehr loslassen. All der Schrecken war doch nicht umsonst. Ich hatte doch gesiegt. In der Ferne hörte ich Skye zu mir sprechen. Ich konzentrierte mich auf seine Stimme, ließ ihn näher und näher kommen und entwand mich auch diesem Wahn. Langsam wurde ich mir bewusst, wo ich war und so nahm ich Abstand von Elena und fühlte lieber, ob sie verletzt war. Sie hatte Glück. Nichts außer dem, was ich nicht heilen konnte. Langsam trat auch sie zurück ins Licht. Mit einem Mal stöhnte sie, öffnete die Augen. „Geh weg“, waren ihre ersten Worte, „Lass mich in Ruhe. Lass mich.“ Sie sah mich nicht an. Was auch immer sie bedrängte, war ihr aus dem Turm gefolgt. Doch sie wand es langsam ab. Bald bewegten sich ihre Augen. Dann schien sie den Nachthimmel wahrzunehmen, die klaren Sterne und einen Mond, der so unschuldig wirkte wie noch nie in dieser Nacht. „Au!“, stöhnte sie und hielt sich den Kopf. Langsam kam sie zu sich. „Ryudo“ Ein Flehen nach Antworten. Doch ich hatte keine. „Was ist passiert?“, fragte ich stattdessen. Sie schüttelte den Kopf, neuer Schmerz. „Ich weiß es nicht.“ Dann, nach einer Weile: „Wie geht es den anderen?“ Ich erinnerte mich an flüchtige Bilder. „Gar nicht mehr.“ Sie starrte mich nur an. „Oh“, sagte sie. „Nicht gut“ – „Nicht gut“, echote ich. „Wirklich nicht.“ – „Und wie geht es dir?“ Ich war ganz überrascht, dass sie es fragte. „Ich lebe.“ – „Gut“, sagte sie und schloss die Augen. Sie schlief sofort ein. Ich blieb zurück. Noch einmal fühlte ich, doch sie war wirklich nicht verletzt. Wie gerne hätte ich es gleichgetan und mich zu ihr gelegt, doch das durfte ich nicht. Ich war hier zu ihrem Schutz. Nun schlief sie wie ein Engel und ich fand, ich sollte darüber wachen. Skye war bei mir und ich ließ ihn nicht in Frieden. „Würdest du über mich wachen?“ Er ignorierte die Frage. „Bist du wieder bei dir?“ – „Bin ich. Aber ich werde morgen einiges brauchen, um…“ Ich sprach nicht zu Ende. Irgendwas hatte mich gepackt und aufgewühlt. Es sprach eine Stelle an, die wehtat, und irgendwie wollte ich, dass es vorbei ging. Aber ich wusste nicht wie. „Vergiss es“, riet ich Skye. „Vergiss den heutigen Abend. Am Besten hat er nie stattgefunden.“ Ich packte mein Schwert und wischte es im Gras ab, immer und immer wieder, bis vieles von Blut und Fleisch von der Klinge verschwunden war. Mit der Kleidung ging es nicht so leicht. Ich hätte fluchen können. Es störte mich. Neben mir schlief ein Engel. Doch um ihn würde ich mich erst morgen sorgen. Kapitel 3: Die Flügel Valmars (1) --------------------------------- In dieser Nacht war ich ein schlechter Wächter. Als langsam das Adrenalin ausklang, bemerkte ich, wie ausgelaugt ich mit einem Mal war. Ich schlief ein, noch ehe ich die Gefahr erkannte. In dieser Nacht träumte ich. Ich saß wieder am Feuer, als ich ein scharrendes Geräusch hörte, irgendwo aus der Ferne, und als ich nachsah, bemerkte ich eine Frau. Sie schien im Boden gefangen zu sein und ich sah, wie sie sich herausgrub. Immer weiter kam sie frei, sie hatte es fast geschafft. Ich gab ihr meine Hand, um sie hochzuziehen. Sie ergriff sie und war frei. Dies war ein Traum. Deutlich wurde ich mir dessen bewusst, als sie vor mir stand. Langes, rotes Haar war im fahlen Licht zu sehen, ein einladender Körper und smaragdgrüne Augen. Sie war schmutzig und erschöpft von der Graberei und ich fragte sie nicht, was passiert war. Stattdessen fragte ich: „Das ist ein Traum, oder?“ Sie nickte. „Das ist ein Traum.“ So standen wir da. Niemand von uns wusste, wie es weitergehen sollte. Ich spürte den Wind, roch den westschlesischen Wald und bemerkte jetzt erst ihre Flügel, ledern und riesig wie jene von Fledermäusen. Sie zitterte unter meinem Blick. „Schön sind sie“, sagte ich. „Darf ich sie berühren?“ Sie zog sie zusammen und umschloss uns damit, schirmte uns ab gegen die Außenwelt. Ihr Blick ruhte auf mir, als ich langsam über ihre Schwingen strich, die dünn und kalt waren, fast wie Leder. Ich sah sie an, um etwas zu sagen, doch sie zitterte am ganzen Körper, konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Ich wandte mich von ihren Flügeln ab und ergriff ihre Hand, zitternd und kühl. „Dir ist kalt“, sagte ich, ohne sie loszulassen. „Wenn ich nur eine Jacke hätte.“ Sie flüsterte: „Macht nichts. Es ist ein Traum.“ Richtig, dachte ich, es ist nur ein Traum. So verflogen meine Hemmungen. Sie war so schmutzig, bedeckt mit Laub, Dreck und Erde, da begann ich, sie zu säubern. Meine Finger durchzogen ihre Haare, streiften über ihre Wangen, befreiten ihre Arme und Schultern. Ich tat es langsam und gründlich und sie ließ es geschehen. Sie zuckte nicht zurück und wehrte sich nicht. Ich fragte sie nicht, ob sie es genoss. Ich war bei ihren Brüsten angekommen, wo mit Spitze und Korsett ihr Stoff begann. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich hierhin vordringen sollte, doch es war ein Traum und meine Hand war schneller. Ich ließ mich nicht abhalten, befreite auch ihre Brüste von Erde und Laub, ging dann aber weiter und klopfte Stoff und Taille ab. Noch immer zuckte sie nicht und ihr Blick schien glasig zu werden. Da beendete ich meine Katzenwäsche und zog sie an mich, umarmte sie, fühlte ihr kaltes Fleisch unter dünnem Stoff und wärmte sie. Was störten mich schon Flügel. Lange blieben wir so stehen, bis sie endlich auftaute. Langsam kam Leben in sie, ihr Körper kam in Bewegung und sie seufzte, als sie sich an mich schmiegte. Ich sah, wie sie lächelte und mich zufrieden anblickte. Es war ein schöner Traum. Irgendwann löste sie sich von mir. Sie strahlte, als sie mich ansah. „Danke“, sagte sie. „Wofür?“ – „Für diesen Traum“, sie musste kichern, bekam sich in den Griff. „Wie heißt du?“ – „Ryudo“, antwortete ich knapp. „Wir sehen uns wieder, Ryudo“ Sie verbeugte sich, sehr grazil. „Dann wird es kein Traum sein.“ Dann war sie schon verschwunden. Die Welt wurde dunkel und ich war verwirrt. Sterne über mir. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich bei Elena lag, auf offenem Feld. Es war kalt geworden und langsam dämmerte es. Skye war nicht zu sehen. Ich rappelte mich auf. Ein schlechter Wächter war ich. Wenn nun die versprochenen Monster erschienen wären, wäre es das für uns gewesen. Ich hatte Glück, dass alles so ruhig geblieben war. Ein nächstes Mal sollte es aber so einen Fehler nicht mehr geben. Ich musste mich schelten, um nicht daran zu denken, was passiert war. Schweigend ging die Reise weiter. Erst nach Sonnenaufgang erwachte Elena, doch sie stellte keine Fragen. Sie knabberte still an den Ereignissen der letzten Nacht und ich ließ ihr ihren Frieden und hoffte, dass sie der Sache gewachsen sein würde. Aber ihre Reise war auch bald vorbei und sie würde in der Kirche von Karbowitz Möglichkeit zum Beichten und Trauern finden oder was immer ihr half. Sie lernte gerade auf die harte Schule, was es hieß, zu überleben. Doch auch mein Kopf war nicht frei. Ich musste immerzu an den Traum denken. Was hatte er zu heißen? Er war zu gezielt, zu deutlich, um gegenstandslos zu sein. Diese Frau war mir noch nie begegnet, aber mein Gefühl sagte mir, dass ich ihre letzten Worte ernst nehmen sollte. Eines Tages konnte sie mir über den Weg laufen. Schon bald hatten wir das Dorf erreicht und wenig später saß ich in der Kirche und wartete. Carrius hatte mich gebeten, noch zu bleiben, während er sich um Elena sorgte, und ich ahnte auch, warum. Dinge waren geschehen. Nun musste die Kirche reagieren. „Und, wie geht es ihr?“, fragte ich ihn, als ein abgekämpfter Priester schließlich erschien und sich zu mir setzte. Er wirkte ratlos. „Sie kann sich an nichts mehr erinnern, sagt sie. Seit Beginn der Zeremonie.“ Ich nickte. „Verwundert nicht. Wenn man bedenkt...“ Ich sprach den Satz nicht zu Ende. „ Sie hat viele Freundinnen verloren und zu viele Menschen sterben gesehen. Nur leider ist das nicht nur für sie eine schwere Zeit.“, er seufzte, „Ich wüsste wirklich gerne, was dort geschehen ist. Wissen Sie mehr?“ Nein, leider nicht. „Als ich hereinkam, war alles bereits am Boden.“ Er hatte mit nichts anderem gerechnet. „Wozu diente das Ritual eigentlich?“, fragte ich schließlich, um die Stille nicht gewinnen zu lassen, und Carrius zögerte, offensichtlich unentschlossen, wie viel er mir erzählen durfte. Schließlich gab er sich einen Ruck „In dem Turm befindet sich ein heiliges Siegel, welches großes Dunkel von dieser Welt fernhält. Das Siegel muss alle Jahre neu gesegnet werden, um seine Macht nicht zu verlieren. Dazu diente die Zeremonie.“ Schmerz lag in seinen Worten und ich konnte es verstehen. „Was für ein Dunkel?“, fragte ich. „Ich weiß es nicht. Man sagt, es stamme noch aus dem großen Krieg.“ Ich nickte. Es ging um jenen Kampf zwischen Gut und Böse zu Anbeginn der Welt, an den die Kirche glaubte. „Ich muss befürchten, dass das Siegel zerbrochen wurde. Und das ist der Grund, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.“ Er schluckte. „Bitte, würden Sie sich in meinem Auftrag nach St. Heim begeben? Berichten Sie dort den Herren der Kirche, was vorgefallen ist, und fragen Sie um Rat. Sie werden Dinge wissen, die ich nicht wissen kann. Und…“ Er stockte. „Nehmen Sie bitte Elena mit. Ich wüsste sie gerne in guten Händen.“ Carrius gebrochene Augen blickten mich an. Mit jedem Wort schien der Geistliche kleiner zu werden, verständlich, wenn man verstand, worum er mich bat. Nur den letzten Punkt konnte ich ihm nicht ersparen. „Sie denken, sie könnte infiziert sein?“ – „Ja. Sie ist die Überlebende.“ So wiederholte sich an jenem Tag die gleiche Prozedur wie am gestrigen. Wieder drängte ich auf einen schnellen Aufbruch und wieder ließ ich Elena nur wenig Zeit, sich auf ihre Reise vorzubereiten. Diesmal wollte ich es so. Wir mussten uns beeilen, wenn wir vor der Nacht noch etwas erreichen wollten, und ich wollte sie auch nicht Kinderzimmer und leeren Häusern überlassen. So kam es dann, dass wir schon bald aufbrachen. Diesmal sollten wir für eine längere Zeit zusammen reisen. Dem ersten Tag folgte schon bald die erste Nacht. Wie ein Geist war Elena mir nachgetrottet, hatte wenig gesprochen und noch weniger verlangt. Für mich bedeutete es aber nur eine größere Belastung, da ich nicht nur auf Weg und Gesträuch, sondern auch auf sie ein Auge haben musste. So ging auch dieser Tag wie im Flug vorbei und schon bald war Abend geworden und ich fand mich am Feuer sitzend und in die Glut starrend. Ich spürte, dass Skye über mir kreiste, noch bevor ich ihn sah oder hörte. Das waren die Momente, in denen er normalerweise aufkreuzte. So auch diesmal. „Du siehst müde aus“, begann er. „Der Tag war lang. Kannst du nicht schlafen? Oder willst du nicht?“ – „Ich will nicht“, begann ich. „Du weißt ja, der tapfere Ritter bewacht den Schlaf der Prinzessin – und diesmal richtig.“ Ich lachte, doch er stimmte nicht ein. „Und außerdem möchte ich noch etwas Zeit für mich haben. Du verstehst?“ – „Dir geht alles zu schnell. Das verstehe ich sehr gut.“ – „Zu schnell. Ja, das trifft es. Es ist der dritte Auftrag innerhalb zweier Tage. Den letzten habe ich noch nicht aus den Knochen und schon bin ich wieder gebunden, wer weiß für wie lange.“ Ich seufzte. „So ist wohl das Leben.“ Ich blickte ins Feuer. Skyes Blick suchte wohl eher das Zelt, hinter dessen Wänden ein blondes Mädchen schlafen sollte. „Was hältst du von ihr?“ – „Von Elena?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Habe mir noch keine Gedanken gemacht.“ Die Antwort stellte ihn nicht zufrieden, also fügte ich hinzu: „Sie muss eine Menge durchmachen. Sie hat Freunde verloren. Wenn ich bedenke, wie ich damals…“ Erinnerungen kamen hoch, Bilder von Körpern im Fels. Schnell vertreiben: „Nein, Themawechsel“, hörte ich mich sagen. „Mir gefällt aber auch der ganze Auftrag nicht. Wer weiß, ob sie mich in St. Heim auch bezahlen? Ich möchte ungern den Weg nach Karbowitz nur deshalb zurückgehen.“ Die Glut pulsierte wie ein Herz. Ich betrachtete sie und spielte mit den Fingern an meinem Schwertknauf. Skye landete irgendwo und setzte zum Todesstoß an. „Du glaubst also nicht, dass sie heimkehren wird.“ Das war keine Frage. Ich sprang auf. „Das habe ich nicht…“. Gesagt, wollte ich noch sagen, aber er hatte Recht. Ich hatte es gesagt. „Nein“, gab ich zu. Ich dachte an den Turm, an mein Gefühl. „Wenn sie infiziert ist, dann wird sie sterben. Hoffentlich.“ – „Sonst müsstest du sie töten?“ Die Frage blieb im Raum. Ich dachte darüber nach und musste lachen. „Ist ein verdammter Auftrag“, sagte ich. „Carrius selbst wusste es. Er weiß, dass sie verloren ist und möchte sie nicht selbst umbringen. Jetzt bin ich sein Mörder.“ Dahin war meine Ruhe. Ich griff einen Stein vom Boden und schleuderte ihn in die Finsternis. „Ich hasse es, Skye. Verdammt, ich hasse es.“ Der Vogel blieb ruhig. „Möchtest du sie töten?“, fragte er mich schließlich. Was für eine Frage. „Nein“, schrie ich fast. „Ich habe sie gerettet.“ – „Dann tue es nicht.“ Er ließ mir eine Pause, ehe er anfügte. „Ziehe mit ihr nach St. Heim. Dort kann man ihr helfen.“ Ich blickte in die Dunkelheit, wo ich Skye vermutete, doch nur Schemen ließen sich erkennen. Was sollte ich sagen? Ich setzte mich wieder auf meinen Stein. Zurück zur Glut. „Ich bezweifle, dass sie so lange durchhält.“ Etwas begann wieder in mir zu toben. „Sie kann“, begann Skye. „Sie kann. Sie ist von der Kirche, erinnerst du dich? Sie wird sich bestimmt nicht mit einem Teufel einlassen.“ Ich nickte, hilflos zugegebenermaßen. „Sie wird es schaffen.“, wiederholte ich. „Wir müssen nur schnell sein.“ Ich spürte mein Schwert. Ich würde das Beste für sie geben. „Braver Ritter“, meinte Skye zu mir. „Nun geh zu deiner Prinzessin und schlaf dich aus. Übermüdet nutzt du niemandem. Am wenigsten ihr.“ Ich konnte nichts sagen. Skye hatte Recht. So suchte ich im Zelt meinen Platz. Ich bin nie gerne ein Mörder gewesen. Als ich Elena sah, hoffte ich, dass ich es auch nicht sein musste. Kapitel 4: Die Flügel Valmars (2) --------------------------------- Von der Nacht, von dem Berg, verschlug es mich in eine garländische Sauna. Elena war bei mir und sie war nackt, wie Granas sie einst schuf. Es war wie im Traum und erst da wurde mir klar, dass ich tatsächlich träumte. Elena lag auf dem Bauch auf einem weißen Stein, fast eine Art Altar. Ihre Augen waren geschlossen und dafür sah ich umso mehr. Ich wollte mich ihr nähern, sie erreichen, da tauchte plötzlich das Mädchen mit den Flügeln auf. Und sie sah mich an. „Sie hat schon einen Freund“, sagte sie. „Und du bist nicht ihr Typ.“ Ich blieb stehen, blickte sie nur erstaunt an, unfähig, etwas zu sagen. „Ihre Religiosität steht zwischen euch. Ihre Eltern stehen zwischen euch. Sie mag Männer, die etwas älter sind.“ - „Hallo?“, rief ich und bemerkte, dass mich das Flügelmädchen gar nicht ansah. Sie hatte sich über Elena gebeugt und begann langsam, ihren Rücken zu massieren. Währenddessen sprach sie weiter. „Ihr seid zu unterschiedlich. Deine Vergangenheit steht zwischen euch. Deine Gewalttätigkeit steht zwischen euch. Dein ungepflegtes Aussehen steht zwischen euch. Sie mag keine Männer, die ihre Gefühle nicht zeigen.“ - „Was?“, warf ich gegen den Schwall, doch das Flügelmädchen redete weiter. „Sie liebt dich nicht. Du gefällst ihr nicht. Sie findet dich nicht attraktiv. Du bist zu selbstsüchtig. Sie ist zu selbstsüchtig. Sie fürchtet sich, ihr Leben an einen Mann zu verlieren.“ Ich hatte mich ergeben. Ich ließ sie reden. „Du bedrohst sie zu sehr. Sie sucht eine starke Hand. Du bist nicht ehrlich zu ihr. Sie braucht erst einmal Zeit für sich. Du willst nur ihren Körper. Sie verachtet deinen Geist. Du bist schlecht. Sie ist schlecht. Du bist… sie ist… Nein.“ Das Flügelmädchen drehte sich zu mir um. Sie sah mir direkt in die Augen. Wütend. „Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.“ Ich stolperte zurück unter ihrem Blick. Ihre Stimme war längst zu einem einzigen Klumpen verschmolzen, sie redete ohne Sinn. Alles wurde so unwirklich, alles verschwamm. Und plötzlich zerriss eine Stimme das Gewirr und hallte durch meinen Kopf. „Ryudo. Du bist der, den ich suchte.“ Und es war nicht Elena. Es war schon viel zu spät, als ich erwachte. Das Zelt war leer und als ich nach draußen kam, saß dort Elena bei abgebranntem Feuer auf meinem Stein und starrte in die Asche wie ich noch vor wenigen Stunden in die Glut. Das Gewirr ihrer Haare erinnerte kaum noch an ihre gepflegte Frisur des gestrigen Tages und sie umklammerte eine Tasse, als sei sie ihr einziger Halt in einer rauen Welt. „Ryudo“, sagte sie. So ziemlich ihre ersten Worte zu mir seit unserem Aufbruch. „Kaffee?“ – „Ja, bitte, aber wo hast du hier…“ – „Kirchengeheimnis.“ Ich sah ihr zu, wie sie aus ihrer Tasche eine zweite Tasse holte und sie aus einer Apparatur mit Kaffee füllte. Sie tat es, als würde ihre ganze Welt daraus bestehen, und da erkannte ich, dass sie in der letzten Nacht kaum geschlafen haben musste. „Da, bitte.“ – „Danke.“ Ich nahm die Tasse entgegen und setzte mich zu ihr. Schweigen. Was sollte ich sagen, ich würde sie nicht fragen, ob sie gut geschlafen hatte. „Seit wann bist du denn schon wach?“, fragte ich stattdessen. „Lange. Ich konnte nicht schlafen. Zu viele Monster in den Büschen. Doch sie sprechen nicht mit mir.“ Ich wusste nicht, was sie meinte. „Verwundert mich nicht. Menschenfleisch liegt ihnen vor dem Mittag schwer im Magen.“ Ich lachte, doch sie fiel nicht mit sein. Schlechter Witz. „Muss ich sterben?“, fragte sie stattdessen. Sie traf mich unvorbereitet. „Vielleicht“, antwortete ich ehrlich. „Ich weiß einfach zu wenig…“ – „Ja.“ Sie brachte mich aus dem Fluss. Ich sah sie an, um zu erfahren, was sie meinte, doch ihre Welt bestand nur noch aus ihr und ihrer Tasse. „Entschuldige“, sagte ich, um die Spannung zu lockern. Da erst blickte sie mich an. „Ich brauche keinen Mörder, Herr Ryudo. Vater Carrius braucht auch keinen. Vergessen Sie das nicht.“ Langsam verstand ich. Sie musste Skye und mich belauscht haben. Hatte sie das etwa die Nacht nicht schlafen lassen? Für den Moment wusste ich nicht mehr zu sagen und beschloss, es wie Elena zu halten. Ich trank und starrte auf meine Tasse. Diesmal war es an ihr. „Tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Ich habe kaum geschlafen. Schmeckt dir der Kaffee.“ Ich nickte. „Danke, dass du dir Sorgen machst, aber sie sind unbegründet. Ich bin nicht infiziert. Du musst mich nicht töten. Bitte, lass die Waffe stecken.“ Ihr Blick war klar, aber ihre Stimme klang schwach. „Du hättest schlafen sollen.“, sagte ich ihr. „Möchtest du noch schlafen?“ Sie nickte und verschwand mit taumelnden Schritten im Zelt. Ich seufzte. Es hätte alles leichter sein können. Wir waren schon hinter meinem Zeitplan, als wir Liligau erreichten. Die Dämmerung verwandelte die kleine Siedlung bereits in einen Klump aus Schatten und wir mussten hoffen, noch einen Unterschlupf zu bekommen. Ich hatte vieles hinter mir, als ich Elena eine gute Nacht wünschte, die Tür hinter mir schloss und endlich die Welt draußen ließ. Es war ein langer Tag. Endlich Ruhe. Als ich mich auf das Bett senkte, wusste ich, dass ich am Besten schon den morgigen Tag planen sollte. Wir mussten uns mit frischem Proviant eindecken und herausfinden, welcher Weg und welche Route für uns am Besten waren. Das war aber auch das Schöne an unserem Ziel. Zu viele Wege führten nach St. Heim. Irgendeinen würden wir schon finden. Und mit dieser guten Gewissheit sank ich immer tiefer zusammen. Schlaf, wie verlockend das doch war, wenn man ein warmes Bett hatte und nicht immer die Augen offen halten musste. Ich war wirklich erschöpft. Meine Augen waren schon fast zugefallen, als ich merkte, dass ich nicht allein war. Etwas bewegte sich im Zimmer und ich spürte, wie die Matratze neben mir einsank. Ein neuer Geruch schlug mir entgegen, doch er war vertraut. Ich rechnete damit, dass es Elena war und murmelte ein paar Worte. Erst als eine Hand durch meine Haare fuhr, sah ich herüber und war mit einem Mal hellwach. Eine Frau mit roten Haaren saß neben mir, das Mädchen aus meinem Traum. Ich zuckte zurück. „Mein Schöner“, begann sie zu sprechen, „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur sehen, dass es dich wirklich gibt und du kein Traum bist.“ Ich sah sie an und erkannte, wie nah sie war. „Ich bin echt“, sagte ich und lächelte. „Bist du es auch?“ Sie antwortete nicht, sondern zog mit ihren Fingern langsam an meinem Gesicht herab, ließ mich ihren Druck und ihre Wärme spüren. „Dann war es also…“, überlegte ich gebannt, „… gar kein Traum?“ Sie schwieg, als überlegte sie selbst, dann verschwand auch ihre Hand aus meinem Gesicht. Sie saß neben mir und blickte ins Leere, genauso wie ich. „Wie heißt du denn?“, fragte ich schließlich, um die Stille zu beenden. „Millenia“, antwortete sie. „Und was bist du?“ – „Millenia.“ Ich war ratlos. „Millenia also“, begann ich, um Zeit zu gewinnen. „Ich bin…“ – „…Ryudo, ich weiß.“ Sie lächelte verlegen, ehe wieder Stille einkehrte. „Warum bist du hier?“, fragte ich sie schließlich ganz direkt und sie überlegte lange, ehe sie mit dem Kopf schüttelte. „Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?“ Ihre Frage überraschte mich. Mehr als ein „Was?“ brachte ich nicht heraus. „Ich bin ganz allein in der Stadt“, sagte sie, „und du warst so lieb zu mir.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nickte ich nur. Sie sank herab aufs Bett, ich hingegen stand auf und sah zu, wie sie sich auf meiner Matratze breitmachte. Um mehr als Schlaf schien es ihr nicht zu gehen und auch ich war zu erschöpft, um irgendwas herauszufordern, also blieb mir nur das Grübeln über große Frage: Sollte ich mich zu ihr legen oder sollte ich erneut auf eine bequeme Rast verzichten? Schließlich entschied ich mich für Letzteres, machte es mir auf dem Boden bequem und schloss die Augen. Alle Fragen zu meinem seltsamen Gast hatten Zeit bis morgen. Als die Sonne mich weckte, lag ich in meinem Bett. Millenia, die Frau mit den roten Haaren, war wieder verschwunden und ich überlegte: War sie wirklich nur ein Traum? Und auch wenn alles darauf hinauszulaufen schien, schüttelte ich im Stillen den Kopf. Nein, es gab sie. Ich war sicher, sie war hier. Ich blieb in meinem Bett liegen und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Selbst wenn das Flügelmädchen nur ein Traum war, so war sie mir nun zum dritten Mal erschienen. Sie hatte einen Namen – Millenia – und scheinbar auch… mehr. Fledermausflügel wiesen nun einmal nicht auf eine eindruckslose Vita hin. Ich sank zurück und schloss die Augen. Vielleicht würde sie ja wiederkommen, wenn ich noch einmal einschlief, doch es gelang mir nicht. Ich lag wach und dachte nach, während es jenseits der Fenster immer heller wurde. Schließlich ging ich die Sache anders an und durchsuchte mein Kopfkissen nach roten, langen Haaren. Das hätte mir einen Beweis geliefert, dass ich nicht träumte, allein, ich fand nichts. Zeit verging und plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Elena. Es war schon spät und wir hätten schon lange aufbrechen müssen. Schnell sprang ich auf, packte meine Sachen und hoffte, sie zu finden, doch sie war bereits fort. Sie war verschwunden. So stand ich völlig allein am Eingang und hastete durch das Dorf. Sie war nicht mehr bei der Herberge, um auf mich zu warten, sie war nicht beim Waffenhändler, sie war nicht auf dem Markt, sie war hoffentlich alleine nicht aufgebrochen. Keuchend blieb ich stehen und schnappte nach Luft. Da erst kam mir der Gedanke, in der Kirche nach ihr zu suchen. Wieder einmal war diese leicht zu finden, einfach das höchste Gebäude im Ort, doch als ich mich ihr näherte, stellte ich fest, dass sie zu diesen Stunden auch das meistbesuchteste sein musste. Schon als ich den Vorplatz erreichte, hörte ich Stimmen aus dem Inneren, und als ich sie betrat, fand ich mich mitten in einem Gottesdienst wieder. Die Tür knarrte, die halbe Gemeinde drehte sich zu mir um, ich senkte nur den Blick und tappte durch die Menge. Irgendwo hier in diesem Gewühl einer überfüllten Kirche musste ich Elena doch finden. Ich hatte ein gutes Gefühl. Ich musste mich schelten, als mir aufging, dass ich den dritten Fehler des heutigen Tages begangen hatte. Selbst wenn ich Elena hier fand, ich würde sie als gläubige Granas-Anhängerin sicherlich nicht einfach abholen können und auch für eine Diskussion war dies ganz der falsche Ort. Wenn ich sie fand, musste ich warten und den Priester, der gerade redete, seine Sache durchziehen lassen. Was immer er auch erzählte, ich hörte ihm nicht zu. Ich fand Elena schließlich inmitten fremder Menschen, doch eine Bank hinter mir war noch frei. Ohne dass sie mich bemerkte, setzte ich mich hinter sie und betrachtete sie. Sie war das einzig Interessante in diesem Raum. Wenn man sie auch so ansah, dann konnte man gar nicht glauben, dass sie gestern noch bis tief in die Nacht durch Wald und Gestrüpp marschiert war, so pfleglich hatte sie sich wieder hergerichtet. Ihr Haar war sauber, ihre Frisur saß perfekt, ihre Kleidung war ein Traum aus weiß und blau und ihre Augen waren geschlossen. Schlief sie etwa? Mein Gefühl sagte nein, auch wenn man ihr mit einem tieferen Blick die Erschöpfung durchaus ansah. Da bewegten sich ihre Lippen und ohne den Priester oder das Liligauer Volk weiter zu beachten, sprach sie vor sich her. Sie betete zu Granas und ich spitzte die Ohren. Die Nähe erlaubte mir, zu verstehen, was sie sprach. „Granas, mein Herr“, begann sie, „Ich fühle mich in dem Dunkel gefangen und sehne mich nach deinem Licht. Bitte gehe zu meinen Freundinnen, die du zu dir geholt hast, und höre von ihnen, dass ich es wert bin. In dieser dunklen Stunde möchte ich, dass du weißt, dass mein Herz rein ist. Ich sehe dich und sah nie jemand anderen, ich befolgte die Wünsche deiner Untergebenen. Du blickst sicher gerade zu mir herab und weißt, dass ich nie etwas Böses tat. Trotzdem erkannte ich letzte Nacht, dass dunkle Wesen ihr Spiel mit mir treiben und mich in meinen Träumen heimsuchen und mit mir sprechen. Auch wenn ich nicht wanke, so brauche ich doch dich, mein Granas. Bitte nimm diese Valmarsbrut von mir, bitte vertreibe sie aus mir. Sei mein Verbündeter in diesem Kampf. Bitte hilf mir.“ Sie brach ab und öffnete die Augen. Niemand in der Kirche hatte mitbekommen, was ich gehört hatte. Schließlich, noch ehe sie sich wieder auf die Predigt einließ, flüsterte sie noch einige Worte: „Siehst du, ich konnte es doch. Gleich wird es dir übel ergehen. Dann bist du erledigt, Millenia.“ Kapitel 5: 2. Akt: Das Lager im Wald ------------------------------------ Der Tag verlief ohne Probleme. Wir wandten uns östlich, zogen an den brennenden Ebenen vorbei und zogen hinein in den Lumirwald. Es war ein langes, hartes Stück und auf jedem Meter mussten wir fürchten, das Ziel von wilden Bestien mit Zähnen und Klauen zu werden, die diese wilde Ebene zwischen den Städten beherrschten. Hinzu kam die Tatsache, dass Elena eine solche Belastung nicht gewohnt war. Sie versuchte zwar, nicht zu lamentieren, doch es fiel ihr schwer. Zwischen Bergen und Sträuchern befand sie sich ganz eindeutig nicht in ihrem Element. Schließlich fanden wir, als es zu dunkel zum Weiterreisen wurde, einen Platz, an dem wir ein Zelt aufschlagen konnten. Noch einen Tagesmarsch, so kalkulierte ich, dann würden wir Mirmau erreicht haben. Elena zog sich um. Während ich es mir angewöhnt hatte, fast überall und in fast jedem Zustand schlafen zu können, konnte sie auf ihre Federbetten einfach nicht verzichten und als wir gemeinsam im Zelt lagen – diesmal wagte sie nicht, zu protestieren – hielt sie mich mit ihren Versuchen, bequem zur Ruhe zu kommen, recht effektiv vom Schlafen ab. Ich verfluchte sie dafür, denn für mich stand nicht weniger auf dem Spiel, bis es uns schließlich gelang, Ruhe zu finden. Ich erwachte mitten in der Nacht, ohne es zu verstehen. Elena lag halb auf mir, ihr Kopf ruhte schwer auf meinem Brustkorb und ihre Haare kitzelten mich an meinem Hals. Mein erster Impuls war es, sie schnell wegstoßen zu wollen, doch dann, noch schläfrig, kam ich langsam zur Ruhe. Ich lag einfach nur da in einem warmen und stickigen Zelt und bemerkte zum ersten Mal, wie anziehend Elena doch im Mondlicht wirkte. Ohne ihre Robe und ihre perfekt sitzende Frisur gewann sie etwas, was ich nicht beschreiben konnte. Ich hätte sie gerne geküsst. Der Gedanke kam mir ganz plötzlich. Ja, sie war schön und jetzt, wo kein störrischer Geist meine Blicke störte, auf ihre Art bezaubernd. Wie sie wohl unter ihrer Templerrobe aussah? Ich nutzte meine Phantasie und sah vor meinem geistigen Auge bleiches, zartes Fleisch, wunderschöne Beine und darüber… Ich erstarrte, als sie stöhnte. Ihr Kopf bewegte sie hin und her, so als wollte sie einer Situation entfliehen, ihre Atmung wurde unregelmäßig und dann, ganz plötzlich, stammelte sie meinen Namen. „Ryudo“. Ich musste grinsen, während ich den Kopf sinken ließ, um doch noch vielleicht etwas Ruhe zu bekommen. ‚Was ist los, kleiner Engel?’, dachte ich mir, ‚Willst du es auch? Es wäre schön, nicht wahr?’ Doch erst einmal brauchten wir beide Ruhe. Ich sollte sie schlafen lassen und selbst die Augen schließen, ohne mich von dem Kopf auf meiner Brust stören zu lassen. Vielleicht könnte ich ja von ihr träumen. Falsch gedacht, in dieser Nacht blieb mir keine Zeit dazu. Wenige Stunden später schreckte ich auf, panisch, und ich wusste, dass etwas passiert. Über mir die Sterne, kein Zelt, um mich herum keine friedlich schlafende Elena. Stattdessen loderten die Flammen und der Rauch war... Das Zelt brannte. Meine Reaktionen waren automatisch. Keine Zeit zum Denken. Gepäck? Elena? Aufwachen, mitkommen. Zerren. Und dann raus. Draußen dann mitten rein in das Chaos. Lange bevor ich mich fragte, was passiert war, schlugen meine Instinkte Alarm. Ich stieß Elena weg von mir und warf mich zur Seite. Und dies allein bewahrte mich davor, von einer riesigen Lanze aufgespießt zu werden. Irgendwas Riesiges, im Dunkeln kaum wahrnehmbar, stürmte da auf mich zu und sein Schrei ging durch Mark und Bein. Ich war jedoch ein Geronshund und nicht so leicht einzuschüchtern. Statt zusammenzubrechen, griff ich schon zum Schwert, noch ehe meinem Verstand überhaupt die Idee kommen konnte, und suchte einen sicheren Stand. Wenn ein Monster uns erwischt hatte, so standen nur meine Waffe und meine Kunst zwischen Leben und Tod. Sie würden sich auch gleich bewähren müssen, denn die Gestalt kam nun auf mich zugestürmt, die riesige Lanze in den Händen. Nur Zeit für eine Reaktion. Ich konnte den Schlag abwehren, doch die Wucht riss mir fast die Waffe aus den Händen. Mein Gegner war stark. Mächtig, verdammt. Was für ein Biest ging hier auf mich los? Und was sollte ich tun? Schlag auf Schlag donnerte auf mich ein und ich hatte Mühe, nicht zu verenden. Wenn sich nicht bald etwas tat, dann würde ich… Wie ein Engel erhob sich Elenas hell gewandete Gestalt. Sie verstand, dass sie nicht mehr im Bett lag und auch nicht träumte, und arbeitete nun daran, auch Kampf und Feuer aufzunehmen, doch ihre Instinkte betrogen sie. Sie bemerkte nicht, wie sich die Bestie zu ihr umwandte und knurrte. Offen im Mondlicht erstarrt, unbewaffnet und verwirrt, gab sie ein leichtes Ziel ab. Das Monster hatte es erkannt. Ich schrie: „Elena, nicht“, doch sie hörte mich nicht. Das Monster stürmte auf sie zu, selbst ohne seine schwere Lanze eine Macht wie eine Nashornherde und mir blieb keine Wahl, ich rannte hinterher. Elena blickte langsam in meine Richtung, vollkommen erstarrt und ich hoffte nur, sie könnte irgendwie noch diese Nacht überleben, alles andere wäre mir egal. Ich hätte mein Gefühl wegwischen sollen, dann hätte ich erkannt, dass das Monster mit einem Mal stehen geblieben war und sich umwandte. Seine Klinge wirbelte zurück, direkt auf mich zu, der nicht damit rechnete und seinen Schutz vernachlässigte. Ich kam erst zurück, als es platschte und mich der heftige Schlag von den Füßen riss. Ich schrie noch etwas, dann wurde es sehr schnell schwarz. Ich wusste nicht, wie lange ich weg gewesen war. Als ich verstand, dass ich erwacht war, lag ich in einem Bett und glaubte mich für eine Sekunde lang in einer anderen Welt. Erst langsam kamen die Bilder zurück, von Zelt, Bestie und Elena, und ich hatte das Gefühl, ich müsste brechen. Ich fühlte mich krank. Ich konnte meinen Körper gar nicht richtig spüren, als ich mir mein Hemd hochschob, um nach den Spuren einer Verletzung zu suchen, und ich war ganz überrascht, nichts zu finden. Keine Wunde, keine Schramme, nicht einmal einen blauen Fleck… ich seufzte und schloss die Augen wieder. Ich musste noch nicht alles verstehen. Mir fielen die Augen zu. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich auf die Idee kam, mich umzusehen. Es kostete mich Kraft, mich in meinem Bett aufzurichten, doch spürte ich keine Schmerzen. Um mich herum erstreckte sich ein reich eingerichteter, jedoch unpersönlicher Raum, wohl ein Gästezimmer. Mein Gefühl sprach von nicht wirklich viel Geld im Spiel, aber auch nicht wenig. Erst dann erkannte ich Elena, die auf einem Sessel zusammengesunken saß und offensichtlich schlief. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Keine sichtbaren Verbände und Verstümmelungen. Noch einmal aufatmen. Was immer auch geschehen war, sie musste mich gerettet haben – und geheilt, fiel mir gleich darauf ein. Ich sah sie an. Ich musste ihr wirklich dankbar sein. Trotzdem verlangte das Rätsel eine Lösung und ich wurde langsam ungeduldig, weshalb ich beschloss, sie zu wecken. „Elena“, rief ich, dann noch einmal lauter: „Elena“. Sie zuckte zusammen und grunzte. Ach, die kleine Elena. Friedlich schlafend hatte sie gewirkt wie ein Engel. Nun verrieten sie ihre Augen, die zeigten, dass auch für sie nicht alles leicht gewesen war. "Ryudo", sagte sie und ihre Stimme klang brüchig. "Wie fühlst du dich? Geht es dir gut?" Eine schwierige Frage, ich antwortete ehrlich: "Ich weiß es nicht. Fühlt sich alles taub an. Aber was ist geschehen? Und wo bin ich hier?" - "Wir sind in der Kirche von Liligau. Der Pastor war so nett, uns..." Sie ließ den Satz fallen, als ihr klar wurde, dass sie alles gesagt hatte. Sie sah mich nicht an, was mich vermuten ließ, dass da noch etwas fehlte. Ich wollte es wissen. „Danke, Elena“, sagte ich einfach, „für alles, was du für mich getan hast, was es auch…“ Ihre Augen wirkten tot genug für mindestens zwei Ableben, als sie sich zu mir umkehrte und mich abschnitt: „Ich habe nichts getan.“ – „Aber war es nicht deine Heilmagie?“, setzte ich an, bis mir klar wurde, dass ihre Antwort etwas anderes enthielt als höfliche Zurückhaltung. „Genug, Ryudo.“, sagte sie, während sie sich in den Sessel zurücklehnte und sichtbar die Augen schloss. Gespräch beendet. Ich drehte mich im Bett um und ließ ihr ihren Willen. Meine Kraftreserven waren ohnehin erschöpft, weswegen ich nichts gegen die Aussicht einwenden konnte, noch etwas Ruhe zu finden. Ich wurde mir erst klar, wie unangenehm Elena die Stille zwischen uns wurde, als sie hinzufügte: „Es tut mir leid.“ Kapitel 6: Liligau ------------------ Wir gingen heraus und während wir gingen, erzählte Elena ihre Geschichte. Es war ein Kampf, sie ganz zu erfahren, da ich merkte, dass sie sich schämte. Ich jedoch wollte es wissen. Es war ein Schock für sie gewesen, mich fallen zu sehen. Dann aber hatte das Monster in ihre Richtung gefaucht und sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie rannte ins Dunkel, stürzte fast einen Abgrund herab und versteckte sich dann in einem Gebüsch, wo sie zitternd ausharrte und jedes Waldgeräusch für einen herannahenden Feind hielt. Schließlich stand sie auf, kehrte zum Zelt zurück und fand mich blutend auf dem Boden liegend, das Monster verschwunden. "Und dann habe ich versucht, dich zu heilen, aber es wollte nicht... wollte nicht. Meine Magie, meine Macht, sie war wie verschwunden. Ich stand da und verzweifelte und versuchte es immer wieder." Sie war den Tränen nahe. Es grenzte schier an ein Wunder, dass der Rauch des Feuers eine vorbeiziehende Gruppe Kardinalsritter anlockte, die sich dann meiner annahmen und sich um meine Wunden kümmern konnten, ehe es zu spät war. So gesehen hatte ich ein irrsinniges Glück. Elena hingegen litt Höllenqualen, wenn sie nur zurückdachte. Den Rest des Weges verbrachte ich damit, sie zu trösten. "Ich lebe doch.“, sagte ich ihr, „Also nimm es dir nicht so zu Herzen. War Skye da und suchte Hilfe? Kam Millenia hervor, um zu kämpfen? Es ist alles nicht deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld." Sie erwiderte nichts darauf. Schweigend gingen wir nebeneinander her, dann sahen wir sie. Meine Aufmerksamkeit galt auf einmal ganz der Bestie. Die bullige Gestalt lehnte vor uns an einer Mauer, die Lanze lässig im Arm haltend. Ich sah, dass es sie noch nicht gereinigt hatte, sie war immer noch blutverklebt - mit meinem Blut, wie mir klar wurde. Meine Gedärme ballten sich zusammen und ich trat schützend vor Elena. Wir erstarrten. Sie stand vor uns, mitten in Liligau. Nun bemerkte und betrachtete sie uns. Die Bestie grunzte. "Aaaaah", sagte sie. "Am Leben." Dann stockte sie, während wir uns beide mit unseren Blicken zersiebten. "Bin Mareg. Bin auf der Jagd. Nicht nach dir." Sie wollte sich abwenden, als ich vorstürmte. Plötzliche Wut übermannte mich. "Was soll das?“, schrie ich, „Warum hast du uns angegriffen? Warum wolltest du mich töten? Das Mädchen! Mich!" Mein hasserfüllter Blick beeindruckte ihn nicht im Geringsten. Er blickte auf mich herab, bis ich innehielt und er sagte: "Man erlegt Melfice nicht mit Wattebäuschchen." Mehr gab es für ihn nicht zu erklären, sodass er sich von uns abwandte, während ich in mich zusammenbrach. Melfice. Tausend Eindrücke überfluteten mich, während Elena langsam aus ihrer Starre erwachte. Der Name löste so viel bei mir aus, was sie verwirrte und sie erreichte mich wieder, als sie sprach: "Er hat sich nicht einmal entschuldigt" Sie blickte ihm nach, ehe sie anschloss: „Ein gruseliger Mann“. Wenig später brachen wir wieder auf. Nachdem meine Wunden so gut verwachsen waren, gab es keinen Grund mehr, in Liligau zu bleiben, weswegen unser nächstes Reiseziel Mirmau hieß. Der Weg dorthin verlief ohne große Probleme, nur hieß das leider nicht, dass ich mir keine Sorgen um Elena machen brauchte. Jede Nacht suchten sie Alpträume heim und hinderten sie, zu schlafen. Sie verlor mit jedem Tag mehr Kraft, wurde mürrischer und schweigsamer und zugleich immer anhänglicher. Man konnte leicht sehen, dass sie bereits viel zu lange auf dem Zahnfleisch kroch. Ich tröstete sie damit, dass wir es bald geschafft haben würden, begannen doch hinter Mirmau doch schon die Berge, an deren Spitze die Kathedrale von St. Heim majestätisch über das Umland thronen sollte. Dort mussten wir hinauf und, das wurde mir bald klar, dann würde sie wieder aus meinem Leben verschwinden. Meine kleine Elena. Hoffentlich ging es ihr dann besser. Als wir Mirmau erreichten, wurden wir durch die Aussicht auf Sauberkeit und gutes Essen so euphorisch, dass wir uns umgehend in die Herberge stürzten. Bald schon saßen wir vor dampfenden Tellern, während wir redeten. „Uns steht schon bald ein Aufstieg bevor.“, erzählte ich ihr, „Wenn wir morgen in aller Frühe aufbrechen, dann können wir morgen gegen Nachmittag oder Abend bei der Kathedrale sein.“ – „Gut“, antwortete sie schwach, weswegen ich anfügte. „Warst du schon einmal in den Bergen?“ – „Ja, in den Inor-Bergen. Damals…“ Sie schien nicht viel dazu sagen zu wollen und als ich an ihre Freundinnen dachte, erkannte ich, dass Heimaterinnerungen wohl nicht die beste Wahl waren. Ich wechselte das Thema. „Wie geht es dir denn? Mit Millenia, meine ich.“, fragte ich sie stattdessen und sie lächelte schwach. „Es ist, als würde sie mich immerzu beobachten. Sie spricht mit mir… besonders dann, wenn ich ihr zuhören muss. Ich habe seltsame Träume, Alpträume jede Nacht. Sie schickt mir Bilder… Bilder…“ Sie blickte mich an und schien bei meinem Anblick den Faden zu verlieren. „Das Schlimmste ist aber, dass sie auch da ist, wenn sie nichts sagt. Das ist fast noch schlimmer. Dann habe ich das Gefühl, jederzeit könnte sie wieder irgendwas tun… oder aber sie ist zufrieden, was ich mache und…“ Sie stockte. „Was sagt sie denn?“, fragte ich sie, doch sie zuckte nur mit den Schultern. „Ich höre ihr nicht zu.“ – „Warum nicht?“ – „Sie ist Valmar. Da muss jedes Wort falsch sein.“ Ihr Blick sagte mir, dass Skye recht gehabt hatte. Seltsamerweise entlockte mir dieser Gedanke ein Lächeln. „Ach, Elena.“ Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du bist tapfer. Morgen musst du noch durchstehen, dann hast du es geschafft. Und nun komm, lass uns schlafen gehen. Es wird noch einmal anstrengend werden.“ Sie nickte, doch wollte sie sich nicht bewegen. Ich stockte. „Alles in Ordnung?“, fragte ich sie. Sie blickte mich an, ehe sie nickte. „Ja, es ist nur…“ Sie suchte die richtigen Worte. „Ryudo, wenn wir in St. Heim sind… wenn ich wieder ich selbst bin… würdest du dann ein Eis mit mir essen gehen?“ Kapitel 7: Das verseuchte Mädchen --------------------------------- „Das willst du nicht!“, schnitt sich eine Stimme durch den schmerzenden Raum jenseits der Helligkeit, die mich mit einem Mal geblendet hatte. Ich war ganz verdutzt, hatte ich mich doch gerade durch meine Erinnerung gewühlt, ob es in St. Heim ein Eishaus gab. Nun war Elena verschwunden und vor mir stand ein Traum in Rot. „Ich meine“, fügte Millenia verlegen an, „es wäre doch Zeitverschwendung mit einer Kirchendienerin, nicht wahr?“ Sie kicherte über ihren eigenen Witz, während ich noch einen Moment brauchte. „Millenia.“ – „Ja.“ – „Du bist hier.“ – „Ja.“ – „Und Elena?“ – „Wollte eh ins Bett.“ Sichtbar zufrieden breitete sie die Arme aus und atmete tief die Mirmauer Gasthofluft ein. „Ich brauche auch manchmal etwas Auslauf“, sagte sie dann, „Und etwas Zeit für mich. Meinst du nicht auch?“ Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun könnte. „Wozu bin ich schön, wenn niemand mich sehen kann? Och, Ryudo, hast du nicht Lust, etwas mit mir zu unternehmen?“ Mir ging alles zu schnell. „Millenia, ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und einen weiteren vor mir. Vielleicht ein andermal.“ So leicht gab sie aber nicht nach. „Nicht einmal, um etwas Gutes zu tun? Ich wüsste da schon…“ Ich seufzte und entschied, besser mitzuspielen. „Also gut, Millenia, was gibt es?“ Wenig später, so seltsam es klingt, reisten wir auf einem fliegenden Wal durch den Geist eines besessenen kleinen Mädchens. Es war ein seltsames Gefühl, jene Welt im Nebel zu erleben, ich hatte meine Zeit gebraucht, um zu verstehen. Nun erwachte Elena, es erging ihr nicht anders. Sie blickte sich um und verstand überhaupt nichts. "Wo sind wir?", murmelte sie, "Bin ich wach oder ist dies ein Traum?" Ich muss gestehen, das Letzte wusste ich nicht genau. Also erzählte ich das Wenige, was mir auf dem Weg zugefallen war: "Das Mädchen heißt Aura und dies ist ihre Welt. Sie fiel ins Koma, als Valmar Besitz von ihr nehmen wollte. Millenia hat uns hier hergebracht." Elena erstarrte. Allein dieser Name ließ sie spürbar taumeln und ihr Blick, mit dem sie mich durchbohrte, war unendlich kalt. Ich plapperte los, noch ehe sie etwas sagen konnte: "Sie tauchte plötzlich auf, als du ins Bett gehen wolltest. Sie meinte, es gäbe eine dunkle Präsenz an Ort, ob ich nicht in die Schlacht ziehen und Gutes tun würde. Sie meinte, du hättest ihr ja nicht zugehört." – „Aha.“ - "Wir sind dann durch Mirmau gezogen und schließlich auf eine Frau gestoßen, die meinte, ihre Tochter... und Millenia eröffnete ein Portal und so sind wir hier. Sonst ist nichts..." Noch einmal sagte sie es: „Aha“ Ich hatte nichts mehr zu plappern, also kehrte Stille ein. Elena blickte auf den Wal, suchte den Horizont hinter den Wolken nach Anhaltspunkten ab und schien ihre Schlüsse zu ziehen. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und ihre Stimme klang so ernst: "Weißt du, Ryudo, Millenia ist für mich keine angenehme Person. Sie ist Valmar, der Inbegriff alles Bösen, sie will meinen Körper fressen und setzt alles daran, mich fertigzumachen. Ich hatte es dir erzählt. Kannst du mich verstehen?“ Ich nickte, weil das alles auf einmal Sinn ergab. „Ich kann sie nicht als Person sehen“, fuhr sie fort, „und wenn du es tust, dann muss ich dir sagen, dass es mich erschreckt. Sie ist schön, ich weiß, aber ich sage dir, es steckt nichts Gutes dahinter. Es wäre schön, wenn du das einsehen würdest, ehe…“ Sie schüttelte den Kopf und fügte dann weitaus weicher an. „Bitte.“ Was sollte ich denn sagen? „Natürlich“, sagte ich, „Und keine Angst, mehr war da nicht.“ Sie lächelte und lehnte sich an mich und flüsterte mir nur ein Wort ins Ohr. „Danke.“ Dann blieb sie so liegen und es schien sie nicht zu stören. Währenddessen glitt der Wal langsam durch das Nichts, durch diese seltsame, unwirkliche Welt. Nebel umschlang uns und vereinzelt konnte man Säulen sehen, die aus dem Dunkeln kamen und ins Dunkle führten. Irgendwo hinter den Nebeln sollte es ein Stück Valmars geben, das in diesem Geist wucherte. Sah Elenas Geist genauso aus, fragte ich mich, und würde auch hier drin irgendeine Art Millenia auf uns warten? Ich musste damit rechnen. Wir nahmen hier einen Umweg in Kauf, doch mit Elena auf einem Wal zu sitzen und ins Wunderland zu schweben, ich könnte mir wirklich Schlimmeres vorstellen. Ich lehnte mich zurück und begann, ein Lied zu summen. Es hallte durch das Nichts. Wenn ich später an dieses Gefühl dachte, jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Der gemeinsame Traum mit Elena, so schön er auch war, währte nur kurz, dann kreuzten die Klingen und wir bezahlten unseren Preis. Wir standen am Bett des kleinen Mädchens, Elena über das Kind gebeugt und jeden Zauber versuchend, den sie kannte, ich hingegen abseits. Wir hatten den Splitter Valmars aus der Seele vertrieben. Und nun mussten wir zusehen, wie es starb. Wir waren aus allen Wolken gefallen, als wir zurückkehrten, immer noch Schleim des Spinnenmonsters an unseren Waffen, und dann erkennen mussten, dass es kein Sieg war. Das Mädchen lag vor uns, doch statt zu erwachen und sich bei uns für die Rettung aus diesem Alptraum zu bedanken, schien sie ganz unverändert. Ich versuchte, sie zu wecken, erst sanft, dann rüttelnd, ehe ich erkannte, dass ihr Atem nicht mehr lief und ihr Körper langsam erkaltete. Zwei Augenblicke später hatte Elena mich weggestoßen, zauberte, betete und sprach, doch immer mehr wich das Mana den Tränen, als sie zusehends verzweifelte. Die Diagnose war einfach aufzustellen, die Seele war verschwunden, das Fleisch zum Sterben verdammt. Die Traumwelt mit dem Wal, die wir eben noch durchschritten, war zu Staub zerfallen und ganz und gar verloren. Ein junges Mädchen war gestorben. Wir hatten es sterben gesehen und ihm sogar den Tod gebracht. Auch mit diesem Gedanken war ich schneller als Elena und ich schickte sie ins Bett, ehe sie Schuldgefühle entwickeln konnte. Ich hatte schon oft erleben müssen, wie Leute um mich herum starben, doch um Elena machte ich mir langsam ernste Sorgen. Gerade jetzt hätte sie einen Freund gebraucht, mit dem sie reden konnte. Als ich das verstand, folgte ich ihr auf ihr Zimmer und ließ junges totes Fleisch zurück. Liebe, kleine Elena. Dort stand sie am Fenster, blickte in die Nacht und ließ sich vom Licht des Mondes beleuchten. Es erschien mir fast zynisch, dass in dieser Nacht Valmars Mond den Himmel beherrschte und heute die Welt zu bestimmen schien. Unweigerlich fühlte ich mich an eine andere Schicksalsnacht erinnert, damals vor dem Carmina-Turm. Wie lange war es her? Elena stand da. Ich würde sie nicht fragen. Ich wusste, sie nahm mich war. Demonstrativ wandte sie sich von mir ab. Ich ließ nicht ab, sondern ging auf sie zu und sprach: „Elena, komm her. Bitte sprich mit mir.“ Zeit verging, in der ich nicht wagte, sie zu berühren und ich wollte mich schon wiederholen, als sie einen Satz flüsterte, der mein Herz erkalten ließ: "Ryudo. Bitte töte mich." Ich war nicht überrascht. Schuldgefühle waren bei der Situation wirklich verständlich. "Geh ins Bett." - "Nein, bitte". Sie weinte wie ein kleines Kind. "Du hast es doch gesehen, was mit dem Mädchen geschah. Ich bin verloren, egal ob Millenia mich frisst oder mit sich in die Hölle reißt, für mich gibt es kein Licht mehr. Ach, ich habe..." - "Elena." Meine Stimme musste hart klingen, um sie in ihrer Tränenwolke zu erreichen. "Erkennst du Millenias Plan? Sie will dich doch am Boden sehen. Sie bringt ein Kind vor deinen Augen um und hofft, dich damit von St. Heim fernzuhalten. Willst du sie wirklich gewinnen lassen?" – „Ist doch egal, wer gewinnt“, schluchzte sie, „Ich will nicht sterben. Bitte, Ryudo, kannst du mich nicht töten, damit alles vorbei ist?“ - „Nein. Nein, verdammt. Ich werde dich wieder ganz machen, mit dir ein Eis essen und dann entscheiden, ob ich dich danach küssen werde. Ich werde aber keinesfalls einfach so aufgeben und du wirst es auch nicht tun. Verdammt, Kind, leb. Der Rest fällt uns noch ein.“ – „Du hast es leicht“, schluchzte sie, doch heute Nacht wollte ihr ihre Träume nicht mehr erfüllen. „Geh ins Bett.“ – „Aber Ryudo…“ – „Geh ins Bett. Gute Nacht, Elena.“ Ich schritt aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Elenas Schluchzen war immer noch zu hören, doch in diesem Moment hielt es mich nicht mehr zurück. Sie war erledigt und ich war es auch. Ich würde nett zu ihr sein, indem ich sie morgen nicht mehr auf die Ereignisse ansprach. Ein Morgen würde es geben. Dessen war ich mir mehr als sicher. Kapitel 8: Am Zenit in St. Heim ------------------------------- Der nächste Morgen kam und die Welt hatte sich nicht sehr verändert. Elena hatte, wie ihre Augen verrieten, doch irgendwie Schlaf finden können und ich leistete meinen Teil zu ihrer Gesundung, indem ich weder Aura noch die Ereignisse in ihrem Zimmer erwähnte. Stattdessen galt es für uns nun, voranzublicken. Aura war tot und das Böse mächtig, aber da uns das keine neuen Ideen brachte, machten wir einfach weiter wie bisher. Ich bildete mir schon ein, irgendwo jenseits der Wolken die Türme der Kathedrale von St. Heim zu sehen, doch dies sollte ein Wunschtraum bleiben. Der Tag war diesig und der Weg noch weit. In einem Laden füllte ich unsere Vorräte auf, nur um sicherzugehen, und als ich den Laden verließ, war Elena von einer Gruppe Ritter in schimmernden Eisen umgeben. Ich wollte gleich umdrehen und die Gestalten erst einmal aus der Ferne betrachten, doch sie winkte mir zu und rief nach mir. Da blieb mir keine andere Wahl. Schweren Herzens trat ich ihnen entgegen und hoffte, dass es keinen zu großen Ärger bedeutete. Elena wirkte unbesorgt, was mich wunderte, bis mir langsam aufging, dass dieser Trupp zu ihrer Mannschaft gehören musste. Ihre Schildwappen beinhalteten das Engelsrad Granas, doch noch etwas mehr. Waren das die berühmten Kardinalsritter? Ich hatte noch nie welche aus der Nähe gesehen, doch der Blick, mit denen sie mich empfingen, ließ zumindest die Gerüchte über ihre Arroganz zutreffend erscheinen. Sie machten sich nicht die Mühe, mich zu grüßen oder sonst wie auf mein Eintreffen zu reagieren. „Das ist Ryudo“, sagte Elena und versuchte, beide Gruppen zu verbinden. „Ryudo, darf ich dir die tapferen Streiter vorstellen, die dich retteten?“ Ich wollte im Boden versinken. „Danke, ihr Herren“, murmelte ich, doch sie reagierten weder auf meine Worte noch auf meine Hand. Ich wollte mir schon Elena greifen und mit ihr möglichst schnell verschwinden, als eine Stimme die Situation zerschnitt: „Wir taten es doch gerne, ja sehr gerne.“ Wie auf Kommando drehten sich acht Köpfe in eine Richtung und blickten zu einer schwarzhaarigen Frau in weißem Gewand, die bis gerade mit einer Bürgerin gesprochen hatte. „Inquisitorin Selene“, flüsterte Elena mir zu, als sie zu uns herüberkam. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lösen. Diese Frau, die da gerade auf mich zukam, war wirklich ein Anblick für die Götter. Ihr schwarzes Haar fiel wie schwarze Seide, ihre Frisur saß perfekt, ihr weißes Gewand strahlte im Licht, ohne den kleinsten Fleck zu offenbaren, und ihr goldener Schmuck verlieh ihr den passenden Glanz. Ihre Hände waren feucht und zart, ihr Händedruck dagegen fest und bestimmt. Ich war mir sicher, die Inquisitorin wusste, was sie wollte. „Du bist also Ryudo“, begann sie und betrachtete mich von Kopf bis Fuß, während ich nicht wagte, etwas zu erwidern. „Ich dachte eigentlich, du wärest größer. Wie geht es dir?“ Was sollte ich sagen. „Ähhm, gut.“ – „Das freut mich. Das freut mich wirklich.“ Sie lächelte, dass mir ein Schauer den Rücken runter lief. „Wie ich sehe, stehst du auch kurz vor dem Aufbruch. Wohin geht es denn weiter?“ – „St. Heim“, sagte ich, ohne noch ein weiteres Wort über unsere Mission verlieren zu wollen. „Sehr schön, ein treffendes Ziel.“ Sie nickte. „Wir sind auch auf dem Weg zurück. Allerdings habe ich gerade von dem mysteriösen Tod eines kleinen Mädchens erfahren, dem ich noch gerne nachgehen möchte. Würdet ihr hier warten wollen, bis wir uns der Sache angenommen haben?“ Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Elena erbleichte und stammelte. „Nein, ähhm… danke, aber wir möchten nicht mehr Zeit verlieren.“ – „Nicht?“ Ihr Blick durchwühlte mich noch einmal und schien auf eine Antwort zu warten, die ich ihr nicht gab. „Schade. Es hätte mich gefreut, etwas Gesellschaft zu haben, aber ich sehe auch, dass ihr die Strecke auch ohne meinen Schutz bewältigen könnt.“ Sie schüttelte meine Hand. „Reise mit Granas, Ryudo. Ich hoffe, wir sehen uns in St. Heim wieder.“ Erst als Elena wieder bei mir stand, wurde mir klar, dass die Truppe verschwunden war. Unwillig drängte sie zum Aufbruch und verbreitete eine schlechte Laune, die ich mir gar nicht erklären konnte. Erst auf dem Weg verstand ich: Selene musste für sie ein großes Idol sein, doch sie hatte sie gar nicht beachtet. Vor der Kathedrale zu warten war das Schlimmste. Das Gebäude war gigantisch, ein Koloss ewig hoch aufgetürmter Stein, der bis zu den Wolken reichte, und ich stand hier, darunter, klein. Irgendwo dort drin, im Herz der Kirche des Granas, trieb es Elena herum, hastig auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich die unerwünschte Seele Millenias aus ihrem Leib zu schneiden und sicher waren es für sie endlose Momente der Frustration, des Hoffens, Irrens und Wartens. Es schmerzte mich fast, dass ich nicht bei ihr war. Ich stand hier, ein kleiner Mensch vor hohen Türmen, und wartete darauf, dass dieser Stein mein Mädchen wieder ausspucken würde. Ich war so allein. Ein Stein fand den Weg zu meinem Blick, dann zu meinen Händen. Ich hob ihn auf, ließ ihn durch meine Finger und Hände gleiten, spürte seine Glätte und sein Gewicht, eheich ihn davon warf. Ich beobachtete Blätter, die der Wind am Rande der Türme entlang nach oben zog und sie dann wieder fallen ließ, ich sah sie wieder stürzen und verlor sie aus dem Blick. Ich zählte Stufen und Menschen auf ihrem Weg irgendwohin. Ich fragte mich, wo Skye war und versuchte auf tausend anderen Wegen, möglichst nicht an Elena zu denken. St. Heim. Ein letzter Name auf der Liste unserer Reiseziele. Er bedeutete Abschied von Millenia, von jener fremden Frau, die ich nie wirklich kennen lernen konnte. Sie war heiß, das konnte man nicht anders sagen, doch sie war ein fremder Acker. Ich hatte mich entschieden. Ich zählte Reihen von Steinen, ehe ich sie nicht mehr auseinander halten konnte, und fragte mich, wie viele Glocken wohl in den einzelnen Türmen hingen. Ich beobachtete die Wachen, die mich mit scharfen Blicken vom Eingang abhielten und versuchte, mir die einzelnen Elemente ihrer Kleidung bewusst zu machen. Warten war schlimm. Vögel hoben sich durch die Lüfte, Tauben waren wenige darunter, dazu lag die Kathedrale zu weit weg von der Stadt. Ich konnte einen Adler kreisen sehen, der weit über fernen Wäldern nach Beute suchte, oder war es ein Falke? Zwitscherte es wirklich in der Ferne? Verstreute weiße Wolken zogen über den Himmel. Ich beobachtete, wie sie vorbeizogen und wurde mir bewusst, dass es kälter wurde. Der Abend brach heran. Ameisen und kleine Käfer wuselten zu meinen Füßen. Unkraut spross zwischen den Fugen der Steine. Mein Schwertknauf ruhte schwer in den Händen, die Finger umspielten bekanntes Holz und Metall. Gesang drang aus dem Inneren, leise zu hörende Predigten, gelegentlich zogen auch Menschen an mir vorbei, nur abwertende Blicke auf mich werfend. Drang ein Geruch von Weihrauch aus dem Inneren oder irrte ich mich? Langsam wurde es kalt. Die Straßen leerten sich. Immer mehr Menschen verließen die Kathedrale und ich fragte mich, ob es im fernen Ort unter den Augen der Priester auch Schankstuben gäbe. Der Gedanke, jetzt im Warmen eines Wirtshauses bei einem Bier oder einer warmen Mahlzeit zu sitzen, war verlockend. Ich überlegte, ob ich den Kopf auf meinen Rucksack betten sollte. Wachen wechselten, dieselben bösen Blicke werfend, und als ich schon kurz davor stand, das Warten auf morgen zu verschieben, trat ein blondes Chormädchen durch die Portale. Ich hatte gewartet, doch sie war am Ende. Alles, jede Zelle ihres Körpers und jede Sekunde ihres gesenkten Blicks verrieten sie, ihr Gang war taumelnd und unsicher. Ich wollte aufspringen, doch ich merkte, dass sie Ruhe brauchte, also wartete ich ab, bis sie sich neben mich auf die Treppe setzte. "Sie können mir nicht helfen", sagte sie dann. "Weder Liturgie noch Zauberei kann sie vertreiben. Die ganze Macht der Kirche reicht nicht aus. Und sie wissen auch nicht weiter.“ – „Verdammt.“ – „Millenias Mord war mehr als nur ein Trick. Jeder kraftvolle Versuch hätte mich getötet. Ich habe sie lange diskutieren hören, ob das notwendig wäre, doch schließlich haben sie sich entschieden…“ Ihre Stimme setzte aus, bis sie Kraft zusammengekratzt hatte, die sie eigentlich nicht mehr besaß „… mich gehen zu lassen.“ Das war wichtig, aber ich konnte ihr nicht folgen. „Wohin gehen?“ – „Wohin ich will, nur weg, aus ihren Augen.“ Sie schüttelte sich, als würde sie gleich zu weinen anfangen, doch dann explodierte sie. „Verdammt, Ryudo, begreifst du es nicht? Ich bin aus der Kirche ausgeschlossen, meine Seele wurde als unrettbar abgetan. Du widerliches Schwein, hättest du mich nur letzte Nacht getötet, ich wäre als Chormädchen gegangen, doch jetzt…“ Sie schlug in meine Richtung, ehe sie zusammenbrach. „… habe ich nichts mehr.“ „Du hast mich.“ Ich wollte sie trösten, doch sie schüttelte meinen Arm ab. „Mach dich nicht lächerlich“, sagte sie, „und gehe dich lieber auszahlen lassen. Vorher kannst du mich ja noch beenden.“ – „Nein, verdammt, nein. Du hast mir noch ein Eis versprochen, und darauf bestehe ich.“ Sie lachte, verletzt und zynisch. „Und bis dahin? Möchtest du mich wieder ins Bett schicken?“ Ich sah sie an und grinste breit: „Nein, wir feiern deine neu gewonnene Freiheit und werden uns richtig besaufen.“ Sie wagte keine Widerworte. Der Abend wurde lang und besonders meine Idee, auf jeden Toten einzeln zu trinken, bescherte mir und besonders Elena am nächsten Tag einen dicken Kopf und trugen nicht zu unserer Gesprächigkeit bei, als wir in einem Eishaus in St. Heim-Stadt die nächsten Schritte überlegten. „Ich glaube, es ist nicht schlimm, dass wir hier wegmüssen“, überlegte ich, "Wenn wir hier keine Hilfe finden, dann wird es wohl in ganz Schlesien keine für uns geben. Nichts hier kann stark sein, ohne das es der Kathedrale auffällt und von ihr übernommen wird. Und außerdem, wenn jemand hier Valmar vernichten könnte, hätte man wohl kaum diese Siegel gebaut.“ Ich blickte in Elenas Richtung und sie nickte, ohne aber recht überzeugt zu sein. „Aber Schlesien ist ja nicht die Welt. Es gibt auch im Osten Land, in dem man von mächtiger, wilderer Magie spricht. Ich kann mir vorstellen, dass sie besser wirkt als simple Liturgie.“ Ich wusste nicht, ob Elena mir zuhörte, lag doch momentan ihre Aufmerksamkeit bei ihrem Eisbecher, in dem sie lustlos herumstocherte. „Lass uns auf die Reise gehen“, sagte ich, „ans Ende der Welt, zu Gott oder zu etwas ganz Verrücktem.“ Ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen. Es war so eine reizvolle Idee. Elena schien ich damit nur zu nerven. „Ryudo“, begann sie. „Was denkst du, wie meine Chancen stehen?“ – „Wenn Millenia nicht plötzlich aus dir rauswuchert… eins zu fünf? Eins zu zehn?“ – „Nur mit Granas Hilfe und der hat mich, wie du weißt, verlassen.“ Ich seufzte. Mit ihrer resignierenden Art ging sie mir langsam auf die Nerven. „Vielleicht stehen wir gerade nicht gut da“, musste ich zugeben, „doch noch lebst du. Du bist gesund und noch klar bei Verstand und das solltest du als Geschenk sehen. Siehe es als Chance. Wir werden schon einen Weg finden, auch wenn du ihn nicht siehst.“ Mein Blick ruhte auf ihn und ich hoffte, sie würde lächeln und „Los geht’s“ rufen, doch stattdessen wandte sie sich einfach wieder ihrem Eisbecher zu und gab mir eine Antwort: „Deine Entscheidung“. Kapitel 9: 3. Akt: Eine Reise ans Ende der Welt ----------------------------------------------- Wir blieben den Tag noch in St. Heim, ohne dass etwas geschah. Ich hatte überlegt, dass so ein Ruhetag sicher nicht verkehrt wäre. Elena waren in letzter Zeit zu viele Dinge um die Ohren geflogen, da brauchte sie eine Pause und ich musste den weiteren Weg vorbereiten. Wenn wir über das Meer ziehen wollten, so brauchten wir einen Hafen, und da es nicht nur die Küste entlanggehen sollte, kamen wir um Kyrnberg nicht herum. Damit stand uns eine Reise in Schlesiens tiefsten Osten bevor, in ein eigenes Königreich, in dem, wie ich erfuhr, Granas auf Abstand gehalten wurde, aber wenn ich es mir näher überlegte, war das gar nicht so schlecht. Dann müsste Elena wenigstens keine Fanatiker fürchten. Ich begab mich gerade auf die Suche nach Karten und Wegbeschreibungen, die mir mehr über einen aussichtsreich erscheinenden Pilgerpfad über die Raulberge erzählten, als ich plötzlich spürte, dass ich beobachtet wurde. Ich hatte noch keine Idee, wie ich reagieren sollte, als Millenia plötzlich vor mir stand. „Hi“, sagte sie und ich hob schwach die Hand. „Hi“ Sie ließ mich nicht aus den Augen, ebenso wenig wie ich den Blick von ihr abwenden konnte, als sie durch das Herbergszimmer strich, mit einem Wisch meine Dokumente beiseite fegte und sich vor mich auf den Tisch setzte. „Hast du Zeit zum Reden?“, fragte sie mich. Ich blickte zu ihr auf. „Du hast mich hintergangen.“ – „Du mich doch auch.“ Ich schüttelte den Kopf und sprang auf. „Du hast Elena sehr wehgetan“, schrie ich, „Und mich reingelegt. Wie konntest du nur…?“ Sie schrie zurück. „Ich musste es. Was wäre denn passiert, wenn ich es nicht getan hätte? Die Priester hätten uns alle umgebracht. Ich weg, sie weg. Wärst du dann zufrieden?“ – „Darum geht es doch nicht.“ – „Doch.“ Sie erwiderte nichts, sondern kam zur Ruhe. Mit ihrem Arm drückte sie mich zurück auf den Stuhl. „Setz dich, Ryudo, sieh doch, ich will auch leben. Diesmal musste ich dafür töten. Bist du mir wirklich böse?“ Ich starrte sie nur an, meine Kehle war wie versteinert. „Was hättest du denn getan? Hättest du nicht auch das Mädchen geopfert, um uns zu retten?“ Schwach schüttelte ich den Kopf. „Ich hätte einen anderen Weg gesucht.“ – „Und wenn es den nicht gab? Elena hört mir nicht zu, du hast keinen Grund, mir zu glauben... was hätte ich denn machen sollen?“ Ich war sprachlos und dachte alles durch, aber mir wollte nichts einfallen. Ich schüttelte nur den Kopf. „Also ist es vergeben?“ Ich konnte nichts sagen. „Es ist vergeben“, nahm sie mir die Antwort ab. „Ich danke dir.“ Wir verharrten so, als keinem von uns etwas zu sagen einfiel. Schließlich kam doch heraus, was sie auf dem Herzen trug. „Du wolltest mich töten, Ryudo, und du willst es immer noch. Auch wenn es mich schmerzt, kann ich verstehen, dass du ein Menschenmädchen einer wie mir vorziehst. Aber vielleicht…“ Sie senkte sich immer weiter herab, bis sie schließlich ganz auf meinem Tisch lag. Ich blickte direkt auf ihr Korsett, auf ihre Beine und auf ihre Brüste, die bei jedem Atemzug bebten. Angebot verstanden. Nie bereute ich es mehr, mich entschieden zu haben. „Ich finde einen Weg“, stammelte ich, „Einen Weg, der euch beide am Leben hält.“ Am nächsten Tag brachen wir in aller Frühe auf. Der Pilgerpfad war leicht zu finden und noch leichter zu begehen, seine Nutzung ersparte uns eine anstrengende Kletterei über die Raulberge. Dann folgten Stunden durch flaches Land, ehe wir auf einen Fluss stießen und uns ein Boot mitnahm. Das gab uns endlich die Gelegenheit, einmal die Beine hochzulegen und zu rasten. Stunden vergingen auf diese Art. Es war Elena, die Kyrnberg als erstes entdecke. Ihr Blick war so unbewegt, so starr in die Ferne gerichtet, und ich wusste, ich hatte sie zu lange allein gelassen. „Elena“, begann ich, „denkst du noch manchmal an sie?“ Sie drehte sich nicht um, doch sie nickte. „Ich vermisse sie. Ich vermisse Tessa. Ich vermisse die anderen. Vor einem Leben dachte ich, wir würden uns niemals trennen, und vor einer Weile dachte ich noch, ich würde sie nach dem Tod wieder sehen. Siehst du den Kirchturm? Ich habe ihn gesehen und mir gedacht, wie lange ich nicht mehr für sie gebetet habe. Ryudo, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“ – „Du bist Elena, jemandes Tochter und jemandes Freundin. Was Granas angeht, so kann ich dir nicht viel sagen, aber ich glaube, dass er dich immer noch mag.“ Sie blickte mich verwundert an. „Obwohl ich die Tochter des Bösen in mir trage?“ – „Du wolltest sie doch nicht haben. Du bist in dieser Lage, weil dich eine Menge Menschen hintergangen haben und eine Menge Dinge schief gelaufen sind.“ Sie schwieg und ich ließ ihr die Zeit zum Nachdenken. „Ich habe früher oft gehört, dass Granas Pläne undurchschaubar sind. Wenn es nach Carrius geht und den anderen, so besteht an meiner Schuld kein Zweifel. Aber wenn ich nun darüber nachdenke…“ Wir blickten beide auf den bemerkenswert bescheidenen Kirchturm Kyrnbergs. Schließlich fragte ich sie: „Glaubst du eigentlich immer noch an Granas?“ – „Mit jeder Faser meines Herzens.“ – „Dann brauchst du sie doch nicht. Dann brauchst du doch nicht einmal eine Kirche. Wir suchen lieber ihn direkt und dann kannst du ganz alleine mit ihm reden.“ Sie sah mich an, als habe ich einen schlechten Scherz gerissen. „Wenn wir ihn finden“, lachte ich entschuldigend, „warum nicht?“ Die Stadt kam immer näher. Immer weitere Boote bevölkerten den Strom und die Häuser wurden so zahlreich, dass man sie nicht mehr zählen konnte. „Elena“, sagte ich, „möchtest du singen?“ Sie wandte sich mir nicht zu. „Ich weiß nicht. Ich habe zuletzt an dem Tag gesungen, an dem wir uns kennen lernten.“ – „Dann frage dich, ob du jetzt singen möchtest.“ Sie schwieg, ehe sie begann und auf ihre Art Kyrnberg und die Ferne begrüßte. Sie klang wie ein Engel, auch wenn ich kein Wort verstand. In Kyrnberg selbst gab es für mich nur Leerlauf. Elena verschwand, als ihr die Idee kam, in der königlichen Bibliothek vielleicht auf einen Hinweis zu finden – so sie Einlass bekäme, und ich blieb zurück. Schlösser waren einfach nichts für mich, Bücher auch nicht. So blieb uns nichts anderes übrig, als erst einmal getrennte Wege zu gehen. Sollte sie in Bücher wälzen, ich würde erkunden, wie man weiterreisen konnte. Darin war wohl ich besser als sie. Trotzdem kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich hatte auf dem Boot so viel Zeit gehabt. Vielleicht hätte ich sie ja fragen können, ob sie noch einmal mit mir ausgeht. In einer Stadt im Mittelpunkt der Handelsströme hätte es wohl sicher auch Eis gegeben oder Schuhe oder wonach ihr sonst der Sinn stand. Hier gab es sicher viele Möglichkeiten, zumindest kurzfristig glücklich zu werden, die uns bald schon fehlen würden. Ich hatte sie jedoch nicht gefragt. Im Augenblick war es wichtiger, dass sie ihr Ziel und die Hoffnung nicht aus den Augen verlor. Um alles weitere konnten wir uns auch im Ödland kümmern. Stunden verstrichen. Ich saß auf einer Parkbank, ließ die Beine schaukeln und wartete, was wohl noch passieren würde. Langsam musste ich geistig Abschied von Schlesien nehmen, was mir aber nicht schwer fiel, ich hatte dieses Land eh nie gemocht. Die Frage lautete nur, wohin wir uns wenden sollten. Hier hoffte ich, dass Elena mir ein Ziel liefern konnte. Dafür war sie immerhin aufgebrochen. „Hast du Lust mit mir ein Eis zu essen?“ Ich fuhr herum und erschrak. Mit so vielem hatte ich gerechnet, nur nicht mit einer Frau in Rot mit einer Angewohnheit, plötzlich irgendwo aufzutauchen. „Millenia?“, stammelte ich, „Wo kommst du denn auf einmal her?“ – „Elena ist über ihren Büchern eingeschlafen und ich dachte mir, ich nutze die Gelegenheit. Vielleicht willst du ja schon mal kosten.“ Ihrem Lachen nach hatte sie es darauf angelegt, mich zu verwirren, und ich war ganz perplex, als sie sich zu mir auf die Bank setzte und demonstrativ die Beine übereinander schlug. „Du magst mich doch, oder?“ Was sollte ich groß antworten. „Ja“, sagte ich, was nicht gelogen war. „Ich mag dich nämlich auch“, sagte sie und versenkte ihren Kopf in der Beuge meiner Schulter. „Lass uns so viel Zeit miteinander verbringen, wie noch geht.“ – „He, warte mal“, protestierte ich und schob sie auf Abstand, ehe mir etwas auffiel. „Wie noch geht?“ – „Ja“ – „Hmm…“ Etwas lag in ihrem Blick, was ich eben erst bemerkte. Hinter ihrer Fröhlichkeit verbarg sie etwas. Millenia hatte Angst. „Wir werden uns noch oft sehen“, sagte ich, um sie zu beruhigen. „Ich finde einen Weg.“ – „Du Idiot“, schrie sie auf und ich bemerkte, dass sie den Tränen nahe war. „Es geht mir doch nicht um mich. Es geht mir… um dich.“ Ich verstand nicht, noch ich nahm sie in die Arme, damit sie weinen konnte, ehe ich sie flüstern hörte: „Du bist so schön. Weißt du, wie lange ich nach jemandem wie dir geträumt habe? All die Jahrhunderte hinter dem Siegel, all die Zeit davor, in denen Menschen schreiend vor mir davonliefen. Darf ich weinen, Ryudo? Darf ich um dich weinen?“ – „Heyheyhey“, sagte ich, „Ich habe nicht die Absicht, zu sterben.“ Sie richtete sich auf und sah mich mit verweinten Augen an. „Ich weiß.“ – „Und ich bin ein Geronshund, stark und zäh. Ich werde auf mich aufpassen. Versprochen.“ – „Ich weiß.“ Mir lief ein Schauer über den Rücken. Sie meinte es ernst. Wusste sie etwa mehr als ich? Ein furchtbarer Gedanke. Die Distanz zwischen uns blieb. Schließlich spürte sie, dass sie gehen musste. „Ryudo? Würdest du mir einen Gefallen tun?“, fragte sie mich zum Abschied. „Bitte, frage den Bestienmann, ob er mit euch reisen wird. Er hängt nun schon seit Mirmau an euren Fersen.“ – „Du meinst Mareg?“ Sie nickte. „Aber er…“ – „… ist stark und kann kämpfen. Du kennst sein Ziel. Du kannst ihn gebrauchen.“ Ich spürte es wie einen Schlag in die Magengegend, als ich verstand, worauf ihre Bitte hinauslief. Schwach versprach ich es ihr:. „Ja, das kann ich machen. Wenn es dich beruhigt.“ Es entlockte ihr ein Lächeln. Millenia verschwand und ich blickte ihr nach. Trotzdem konnte ich nicht sagen, ob sie ging oder flog. Kapitel 10: Der Weg zum Bruder ------------------------------ So begab ich mich auf die Suche nach Mareg. Ich hatte noch lange überlegt, ob ich es wirklich tun sollte, waren doch meine Erinnerungen an den Bestienmann nicht die besten. Er hatte mich niedergestochen und zum Sterben zurückgelassen. Er hatte Elena mit ihrer Angst allein gelassen. Nichts davon rührte in ihm ein Bedauern. Kurzum, er war kein Wesen, das man gerne um sich haben möchte, doch war er auch nicht mein Feind. Der Bestienmann jagte Melfice. Wenn Millenia der Meinung war, dass mein Bruder irgendwo ganz nah auf mich wartete, so war ihr Rat Gold wert, denn gegen ihn würde ich untergehen, daran zweifelte ich nicht. Melfice war eine offene, schmerzende Wunde für mich, die nicht verheilen wollte. Es schmerzte mich schon, jetzt an ihn erinnert zu werden, und ich spürte, dass ich zitterte. Doch halt. Ich zwang mich zur Distanz. Noch war nicht sicher, dass ich diesen Kampf aufnehmen musste. Vielleicht war das ja auch nur einer von Millenias Plänen, die sich für uns einen Anstandswauwau wünschte, doch wie hätte sie dann von Melfice wissen können? Was wusste sie? Hatte sie Elena etwa beim Stöbern über die Schultern gesehen und mehr verstanden als sie? Ich durfte die Entscheidung nicht Elena überlassen. Ich musste jetzt entscheiden. Mein Bruder war dort draußen und wartete auf mich. Entweder würde ich mich ihm stellen, dann müsste ich jetzt die Schritte unternehmen, oder ich würde versuchen müssen, vor ihm wegzulaufen. Ich war aufgesprungen. Die Idee bewegte mich, sie machte mich zornig und aufgeregt zugleich. Melfice war eine Bestie. Er hatte mein Heimatland verwüstet und war davongelaufen, ehe ich ihn stellen konnte. Ich war ihm nach Schlesien gefolgt, um ihn zur Strecke zu bringen. Ja, es war Zeit vergangen, und ja, ich hatte ihn aus den Augen verloren, aber was bedeutete das? Millenia fühlte ihn nah und sah eine Chance, ihn zu besiegen. Mit ihr und Mareg im Rücken würde ich stark sein. Ich konnte ihn besiegen. Ich kam in Bewegung. Ich wurde verfolgt, hatte Millenia mir gesagt, also musste er sich in meiner Nähe aufhalten. Als riesiger Bestienmann musste er in Kyrnberg auffallen, also sollte es nicht schwer sein, einen Jäger zu jagen. Es war schwerer, als ich dachte. Als ich Mareg schließlich sah, lud ich ihn auf ein Bier ein, schon konnten wir reden. Ich beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich werde gegen Melfice ziehen“, sagte ich ihm, kaum dass wir uns begrüßt hatten, „bist du bereit, mich zu unterstützen?“ Die Bestie sah mich lange an und schnaufte zu mir herab. „Melfice“, murmelte sie, „Melfice“ und wirkte so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht wahrnahm, wie sie mich mit ihren großen Händen an der Kehle packte. „Was weißt du, Mensch?“, knurrte sie und ließ mich erst ein paar Mal japsen, ehe sie den Druck verringerte. „Du bist dumm wie Dreck“, warf ich ihm ins Gesicht, woraufhin er mich durch die halbe Schenke schleuderte. Der Aufprall war schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Ich kam auf die Beine, während er noch auf mich zustapfte. „Wo ist er?“ Ich hatte inzwischen mein Schwert in der Hand. „Soll ich dich abstechen?“ Ein langes Fauchen folgte. „Grarr, du nervst.“ Ich blickte ihn scharf an. „Ich kann dich brauchen, aber nicht so. Wenn wir Melfice jagen, dann nur mit dir zu meinen Füßen. Ich befehle, du folgst. Verstanden?“ Der Koloss erbebte und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er lachte. „Du willst ganz schön viel für so ein kleines Männlein.“ Meine Stimme wurde ruhiger. „Nein, im Gegenteil, du kommst billig davon. Ich biete dir nicht nur die Kampfkraft, die du brauchst, um ihn zu besiegen…“ - heftigeres Beben - „… sondern auch all die Dinge, die ein Mensch im Gegensatz zu einer Fellbestie vollbringen kann. Ich kann uns eine Reise mit dem Schiff organisieren und ich kann Menschen nach Spuren und Informationen befragen, ohne gleich einen Gardetrupp befürchten zu müssen. Dort draußen bei Nacht und Nebel mochtest du überlegen sein, diese Taverne hier aber verlassen wir gemeinsam oder ich allein.“ Die Bestie sah mich an und kam langsam zur Ruhe. Ich ließ ihr die Zeit, die Vorteile hinter meinem Angebot zu erkennen und dann, als der Groschen gefallen zu sein schien, trat ich auf sie zu: „Ich bin Ryudo, Melfices Bruder. Ich habe mir geschworen, ihn zu vernichten. Sei mir dabei zu Diensten.“ Die Bestie stand vor einer Entscheidung. Ich würde nicht, auch in Anbetracht Elenas, auf die Führungsrolle verzichten. Wenn sie mit mir zusammenarbeiten wollte, so hatte sie keine Wahl. Schließlich gab sie auf. „Ich jage den Dämonenmann seit über fünf Jahren. Für das, was er meinem Stamm und mir angetan hat, soll er vernichtet werde. Ich habe mein Leben nur noch diesem Ziel geweiht und wer auch immer mir in den Weg tritt, den werde ich nicht schonen.“ Die Drohung war nicht zu überhören. Ich hatte nicht mit weniger gerechnet, da Mareg wusste, dass er verloren hatte. Nun lag er in meinen Händen und konnte nur hoffen, dass ich auch aufrichtig war. „Ich werde uns ein Schiff zur Insel Garland besorgen“, sagte ich, als das erledigt war. „Dort wird sich Melfice aufhalten. Wir werden an Land gehen und ihn finden, wenn er uns nicht zuerst aufspürt. So lautet der Plan.“ Ich hielt ihm die Hand hin und er zögerte. Eine Insel also, das musste er erst verdauen. „Du hast meine Axt“, knurrte er schließlich, als er einschlug, und ich wusste, ich hatte Millenias Bitte erfüllt. Es dämmerte schon, während ich noch auf Elena wartete. Ich hatte Stunden auf der Bank verbracht und mich gefragt, wie ich sie von meinen neuen Plänen überzeugen konnte, wobei ich hoffte, dass Millenia irgendwie einen Beitrag dazu leistete. Dann hatte ich es nicht mehr ausgehalten und begann, durch das nächtliche Kyrnberg zu streifen, denn gerade jetzt schien diese Stadt, die niemals schlief, ihr zweites Gesicht aufzusetzen. Lärm drang aus Schenken, auf dem Basar herrschte noch immer ein reges Treiben, Lichter spiegelten sich im Wasser der Kanäle und über alldem hing schwer Valmars Mond, mit blutrotem Siegel in jedem Wasser zu erkennen. Zusammengefasst zeigte die Stadt gerade die ganze Schönheit und ganze Hässlichkeit Schlesiens. Ich wünschte nur, Elena wäre bei mir, um sie mit mir zu teilen. Langsam erst wurde mir klar, worauf all die Entscheidungen hinausliefern. Mein jahrelanger Aufenthalt in Schlesien neigte sich seinem Ende entgegen. Ich hatte das Land zwar nie geliebt, doch ich fand mich doch von der Aussicht überrascht, dass mein Leben hier und die erlebten Jahre so schnell enden konnte. Wie musste es da dann Elena ergehen? Es würde mich wundern, wenn sie schon einmal von hier fort gekommen wäre. Ich musste sie langsam suchen. Auch wenn ich annehmen konnte, dass die Bibliotheksarbeit ihre Zeit erforderte, so würde sie sicher schon lange müde und erschöpft zurückgekehrt sein. Um so überraschter war ich, als ich sie auf offener Straße traf. „Hallo, Ryudo.“, begrüßte sie mich, „Es ist spät, es tut mir leid. Ich habe der königlichen Abendmesse beigewohnt. Ich hätte vielleicht Bescheid geben sollen…“ – „Nein, es ist in Ordnung. Möchtest du noch ein wenig mit mir die Gegend erkunden? Dann kannst du mir erzählen, wie es war.“ „Ich habe gesungen“, begann sie. „Es war irgendwie ungewohnt, nach all der Zeit. Aber es war schön. Weißt du, Ryudo, wie man die Bewohner Kyrnbergs nennt? Das Volk der Dunklen. Ich bin in den Schriften darauf gestoßen. Sie heißen so, weil sie im großen Krieg auf der Seite Valmars fochten, auch wenn sie ihm schon lange abgeschworen haben. Ich finde es irgendwie interessant.“ Sie wirkte glücklich, bis eine Erinnerung ihre Freude trübte: „Ich konnte aber nichts rausfinden. Es tut mir leid, ich fürchte, ich habe…“. Ihre Beschämung war fast schon süß. Sie konnte nicht wissen, dass sie damit eines der besten Ergebnisse für mich darstellte. Nun musste ich mir keinen Grund ausdenken, warum ich ein anderes Ziel bestimmte. „Es ist in Ordnung.“, weihte ich sie mit meiner tröstenden Stimme in meine Pläne ein, „Wir verlassen Kyrnberg morgen früh. Ich habe für uns ein Schiff gefunden, was uns nach Garland bringen wird. Es ist die Insel… es ist der Ort, von dem ich stamme.“ Das überraschte sie. „Wie, du kommst nicht von hier?“, fragte ich sie, worauf ich den Kopf schüttelte. „Nein.“ – „Ich dachte…“ „Jedenfalls…“, kehrte ich zum Wesentlichen zurück, „suche ich meinen Bruder. Melfice. Wobei man ihn nicht wirklich als meinen Bruder bezeichnen kann. Er ist… Er war in deiner Situation. Und er wehrte sich nicht.“ Dunkle Bilder zogen durch meine Gedanken. Ich sah Melfice, der mit Valmar verschmolz und musste mit ansehen, wie er seine Menschlichkeit verlor und einfach durchdrehte. Es folgten Berge von Blut… und Elena, die mich aus meinen Erinnerungen holte. „Und weiter?“ Ich brauchte einen Augenblick, um sie zu verstehen. „Wie ‚Und weiter’?“ – „Was ist, wenn du ihn gefunden hast? Wie hilft mir das weiter?“ Das war eine gute Frage und ich sah, wie enttäuscht sie war, als ich zu lange nachdachte. „Zum einen…“, begann ich, „… sind wir ihn dann los. Wir müssten nicht fürchten, dass er plötzlich in unserem Rücken auftaucht.“ – „Ist er das denn je?“ – „Nein, aber… nun… zum anderen…“ Ich schluckte und holte tief Luft. „Für mich ist Garland ein Alptraum und ich kann mir vorstellen, dass es ihm genauso geht. Er hat eine Menge Gräber hinterlassen und besitzt sicher auf der Insel keine Freunde mehr. Wenn er nun dahin zurückkehrt, dann doch deshalb, weil er etwas sucht. Und das, was er sucht, könnte für uns von Interesse sein.“ „Das ist alles?“ Elena machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Ich nickte. „Das ist Blödsinn. Ich sollte lieber zu den Büchern zurückkehren.“ – „Nein, es ist… kein Blödsinn. Vertraue mir. Ich weiß es.“ Sie blickte mich so durchdringend an, dass ich mich fragte, ob sie gleich zu lachen oder zu weinen anfangen würde. Schließlich wandte sie sich von mir ab. „Du entscheidest eh“, gab sie mir nach, „Gute Nacht.“ Ich wagte es nicht, sie aufzuhalten, als sie ging. Dabei hatte ich ihr noch gar nicht von Mareg erzählt. Die nächsten Tage waren sehr schweigsam. An Bord des Schiffes, welches uns nach Osten trug, hatte keiner der Passagiere Interesse an der Gesellschaft eines Geronshundes, während sich Mareg nicht von mir stören ließ und Elena sich in der Kabine ihrer Seekrankheit hingab und für eine Märtyrerin sehr geräuschvoll litt. Seit jenem Abschiedsabend in Kyrnberg hatten wir nicht mehr ernsthaft miteinander gesprochen, doch ich spürte, dass sie immer noch sauer war. Ich ließ sie gewähren. Ich verbrachte die Tage damit, Möwen zu zählen, in der Sonne zu liegen und mein Schwert zu polieren, bis ich befürchten musste, der Stahl könnte brüchig werden. Melfice verbannte ich so gut es ging aus meinen Gedanken, merkte ich doch, dass schon die Nennung seines Namens mich aufwühlte und dass es hier an Bord keinen Raum für mich gab. Ich hatte auf dem Festland alles erledigt, was ich erledigen konnte. Jetzt war es das Beste, wenn ich auf meine Vorbereitungen vertraute und die Insel einfach auf mich zukommen ließ. Es gelang mir auch erstaunlich gut. Wir waren fast am Ziel einer zweiwöchigen Reise, als Elena endlich wieder an Deck trat und sich zu mir setzte. „Ich muss mich bei dir entschuldigen.“, sagte sie fast beiläufig, „Was ich gesagt habe, war hart zu dir. Mir ist klar geworden, dass ich auch nicht wollen würde, wenn Millenia frei herumläuft und es auf mich abgesehen haben könnte. Ich war nur so überrascht.“ Sie suchte auf den Planken nach einer bequemen Sitzhaltung, dann erzählte sie weiter. „Letzte Nacht habe ich von Tessa und den anderen geträumt und mir dann gedacht, wie es wohl für mich wäre, zurück nach Karbowitz zu kommen. Ich würde die ganzen Plätze in den Familien spüren und hätte immer die Angst, nicht erklären zu können, warum ich bislang auch keinen Erfolg hatte. Warum konnte ich Valmar nicht besiegen? Ich hätte keine Antworten. Ich meine… ich kann verstehen, wie es dir geht. Und ich wollte dir das sagen, damit du es nicht noch schwerer hast.“ Hatte sie das wirklich gesagt? Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hatte schon viel zu lange mit niemandem mehr reden können. „Ich weiß noch gar nicht, was ich tun soll“, sagte ich, „wenn Melfice mich wirklich findet. Mir graut davor, wenn er sich verändert hat und mir helfen will, während ich zum Krieg gegen ihn rüstete. Aber mir gefällt auch der Gedanke nicht, er könnte sich überhaupt nicht verändert haben. Ich kann dir nicht sagen, wie es enden wird.“ Sie blickte mich an, ehe sie mir eine Hand auf die Schulter legte. „Warum versuchst du dann nicht, die Begegnung zu vermeiden?“, fragte sie mich, „Ich meine, wenn der Kampf nicht notwendig ist…“ Ich wollte ihr schon widersprechen, als mir aufging, dass ihre Worte erstaunlich sinnvoll klangen. Melfice war mir in all den Jahren nicht weggelaufen und würde es wohl auch in Zukunft nicht tun. Indem ich mich ihm jetzt stellte, gefährdete ich eigentlich nur unsere Reise und gewann nichts. Eine Aussicht auf Gewinn gab es nicht. „Es tut mir leid“, sagte ich kleinlaut, „Du hast recht. Du hast wirklich recht. Ich denke, wir sollten wirklich den Kampf meiden. Seltsam, wie schnell doch aus einer Möglichkeit ein Kriegszug werden kann.“ – „Es ist schon in Ordnung“, sagte sie und ich antwortete ihr: „Nein… wobei, doch.“ Sie dachte da schon einen Schritt weiter. „Was hast du eigentlich mit Mareg vor?“ - „Das, was ich schon immer vorhatte. Ich werde ihn mitnehmen, solange wir in Garland unterwegs sind. Danach werden wir sehen. Wenn Melfice auf der Insel ist, können wir ihn ja dalassen.“ Ja, das könnten wir. Es wäre treulos, aber bei Bedenken der Umstände wohl die beste Wahl. Elena hatte mich überzeugt. Der Kampf konnte vermieden werden. Ich sah in die Ferne. Hinter den Wolken glaubte ich schon, die Umrisse von Garland-Stadt erkennen zu können. „Findest du es nicht auch seltsam“, begann ich lachend, „wie oft wir uns in letzter Zeit auf Wasser aufhielten?“ Sie deutete auf ihren Magen und sagte nichts, weswegen ich für sie antwortete. „Nein, das gehört wohl zum Reisen dazu.“ Kapitel 11: Die Insel Garland (1) --------------------------------- Der Blick aus der Ferne ließ mich erahnen, was mir mit schwindender Entfernung immer klarer wurde: Garland selbst hatte sich kaum verändert. Ein schweigsamer Ort aus Sandstein und Spinnweben, über dem der ewige Rauch der Kamine hing. Es war kalt geworden, kälter als in Schlesien, und es kam mir ein bisschen so vor, als würde es bald regnen. Doch das Wetter blieb. Ich konnte es fühlen. Garland, Stadt und Insel, beide waren zu einem Museum geworden, zu einer Kulisse vergangener Tage. Je näher ich kam, desto sicherer war es, dass es eine Geisterstadt war, auch wenn der Rauch noch von Menschen sprach. Dies war ein Ort, der mehr Gräber kannte als Gesichter. Fünf Jahre hatten eine Wunde gerissen, die nicht verheilen konnte, und nun betrat ich mit Elena und Mareg die mir einst so bekannte Erde. Ich erzählte eine Geschichte. „Garland ist die Stadt einer Totemfigur. Sie wurde von Rittern gebaut, die diesem Totem ihr Leben anvertrauten und von ihr auf Kraft und Weisheit hofften. Sie beherrschten diese Stadt und bauten einen Schrein in den Bergen. Nichts auf dieser Insel funktionierte ohne sie. Sie nannten sich nach ihrem sagenhaften Begründer ‚Orden von Garila’. Als Melfice durchdrehte, nahmen sie ihr Schwert in die Hand und beschützten die Insel. Sie mussten dafür büßen.“ Ich seufzte. Mit diesen Worten waren so viele Gesichter verbinden. „Dieser Ort hier ist weitab der Kirche von Granas. Hier kennt man seine Missionare, doch im Totem erblickte man seinen näheren Gott. Elena, sei bitte vorsichtig.“ Ich hielt an und sah mich um. Häuser links und rechts und sicher auch Augen hinter den Fenstern. „Ich hoffe, in der Figur und im Ort eine Heilung für Elena zu finden. Melfice ist hier und jagt sicher den gleichen Schatz, der Rest der Insel ist nämlich wertlos. Unser Ziel muss es sein, das Totem zu finden und Melfice zu überleben, gleich in welcher Weise.“ Ich seufzte. War ich wirklich bereit? „Dazu möchte ich, dass wir uns trennen. Elena, der Orden hat hier im Ort eine Bibliothek… oder hatte sie zumindest einmal. Bitte versuche, dort Zugang zu finden, und wenn du dazu kommst, könntest du auch mit ein paar Leuten hier sprechen? Mit dir werden sie sicherlich eher sprechen wollen als mit uns.“ Elena nickte und vergrub sich in ihrer Robe. Ihr war kalt und diese Granas ferne Geisterstadt war ihr sicher unheimlich. „Mach dir bitte keine Sorgen“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Hier bist du ohne uns sicherer als mit.“ Dann wandte ich mich Mareg zu. „Mareg und ich werden uns die hiesige Schenke ansehen. Wenn Melfice im Ort ist, dann soll er uns finden. Vielleicht helfen uns einige Bürger.“ Ich musste lachen, ehe ich mich Mareg zuwandte. In seinem Gesicht spiegelten sich andere Gefühle wieder. Er war kampfbereit. Für ihn ging es endlich los. „Elena, finde uns in der Taverne. Wenn wir nicht dort sind, gehe zum Schiff. Halte dich von der Herberge fern oder von meinem einstigen Haus. Ich fürchte, da wärst du nicht sicher.“ Erinnerungen folgten, die ich so lange vergessen hatte, und der Gedanke, bei mir zu Hause vorbeizuschauen, kam mir in den Sinn. Doch was würde da auf mich warten? Doch nur Staub und Bilder, die ich nicht sehen wollte. „Nun denn“, sagte ich, „viel Erfolg.“ So ging es los. Wir hatten Garland betreten. Ich wusste noch nicht, ob wir es auch wieder verlassen würden. Die Zeit im Land war grausam. Wenig später saß ich in der Schänke, doch der Bierkrug, an dem ich mich festhielt, wollte mir nicht helfen. Es war doch wirklich alles… Die Rückkehr in die Heimat. Um mich herum Gesichter, die ich kannte und die mir nun böse Blicke zuwarfen. Niemand redete mit uns, niemand war bereit, uns zu helfen. Alle wollten sie nur, dass ich möglichst schnell wieder weg wäre, wenn nicht Schlimmeres. Nur Mareg war bei mir. Mein Fels in der Brandung. Ich konnte Millenia sehr gut verstehen, dass sie ihn mir zur Seite stellte. Hier auf Garland war ich nicht ich selbst. Ich musste schon gegen den Ort ankämpfen, gegen das, was er für mich bedeutete. Hier auch noch Melfice sehen zu müssen, das wäre wohl zuviel für mich. Er hätte wohl leichtes Spiel. Elena fand uns hier und rettete uns. „Da bist du“, begrüßte sie mich, „und eifrig am Arbeiten, wie ich sehe.“ Ich hatte sie nicht hereinkommen sehen, doch nun, da sie da war, wirkte sie wie ein frisches Lüftchen in diesem verstaubten Ort. „Was soll ich denn machen?“, fragte ich sie leidend, „Melfice kam nicht vorbei. Die Leute hier wissen nichts von ihm. Dafür kennen sie mich noch.“ Sie hatte kein Mitleid mit mir. „Kennen sie auch noch das Totem?“ – „Ja… doch…“ Ohne auf mich zu achten, entwendete sie mir meinen Krug und nahm einen Schluck. „Ich war beim Orden.“, erzählte sie dann. „und habe mit dem Hochmeister gesprochen. Ein sehr netter alter Mann. Er tat mir leid.“ Sie seufzte. „Eine traurige Geschichte. Er erzählte mir, dass alle ihre Ritter einen nutzlosen Tod starben. Achtundvierzig Mann mit ihrem ganzen Wissen. Damit war der Orden am Ende, wenn man von ein paar alten Männern absah. Er hatte bei der Verteidigung Garlands versagt. Das gab ihm den Rest.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er führte mich durch die große Ordenshalle. Früher, sagte er, habe der Orden genug Nachwuchs gefunden, doch seit der Katastrophe wäre nichts mehr, wie es war. Am Totem wurde gezweifelt, neue Kämpfer fanden sich nicht. Der Rest des Ordens lebt nur noch in Erinnerungen an bessere Zeiten. Aaaaber…“, sie beendete ihren tristen Vortrag und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, „…ich habe mit dem Hochmeister über den Herrn Granas gesprochen. Ich denke, es gibt noch Hoffnung für diese Insel.“ ‚Und damit hast du wie unserer Mission gedient?’, wollte ich sie fragen, doch ich verkniff es mir. „Ich gratuliere“, sagte ich stattdessen. Sie erzählte auch schon weiter: „Das Totem hat die Gestalt eines Adlers. Woher es stammt, das wissen sie selbst nicht. Es wurde in einem Schrein in den Bergen aufbewahrt, doch als die Streiter fort waren, eroberten Monster die Wege zurück und der Schrein verfiel. Sie wissen selbst nicht, ob das Totem noch dort oben weilt.“ „Damit haben wir ein Ziel“, sagte ich mehr zu mir selbst. „Wenn wir morgen in aller Frühe aufbrechen…“ Bilder von dem Berg erschienen vor meinem geistigen Auge. Es würde nicht einfach werden. „… und hoffen wir, dass diesmal alles bald vorbei ist.“ Kapitel 12: Die Insel Garland (2) --------------------------------- In dieser Nacht träumte ich vom Kampf. Ganz plötzlich stand ich Melfice gegenüber, ich war allein und klammerte mich an mein Schwert. Um uns herum ließ der Sturm Regentropfen auf uns niederprasseln, doch keiner von uns hatte Zeit, sich ins Trockene zu wünschen. Melfice lachte. Er lachte über mich und er lachte über die Welt. Er lachte, als Blitze ihn umspielten. Vor seinen Füßen lag eine nackte Frau in einer Lache ihres eigenen Blutes. Millenia, nein. Panik, Trauer und Wut, alles auf einmal, erfassten mich und ich schrie gegen Sturm und Monster an: „Melfice, dafür wirst du bezahlen.“ Dieser aber war glücklich, seine ganze Existenz ausgelegt auf diesen Moment. Sein Schwert blitzte. Ich stürmte gegen ihn an. „Was willst du tun?“, fragte er mich, „mit Nerven so zerbrechlich wie dein Stahl?“. Seine Worte trafen. Mein Schwert zersprang in tausend Teile. Ich hatte verloren und das Entsetzen über das, was nun kommen sollte, überfiel mich. Das Gefühl begleitete mich, als ich aufwachte. Ich lag im Bett und fürchtete den Tag, ich war mir fast gewiss, dass irgendwas schrecklich schief gehen würde. Hatte mich der Traum auf den letzten Punkt gebracht? Mein Schwert war meine Schwachstelle. Ich brauchte noch ein zweites. Das geschah schneller, als ich es dachte. Es war noch früh, doch der Schmied war gut zu mir, als ich ihm sagte, es ginge gegen Melfice. Er überließ mir ein Katana, Mikages bestes Werk, das Meisterstück des besten Schmiedes von der Insel der Schwertkämpfer. So konnte ich es mir nicht verkneifen, siegesbewusst zu lächeln, als ich zu der Herberge zurückwanderte. Was hatte Melfice doch gesagt? ‚Nerven so schwach wie dein Stahl’. Jetzt war meine Klinge alles andere als das. Vor der Herberge wartete Mareg und zerstörte mir einem Schlag meine Zuversicht. „Elena ist verschwunden.“ Ich fühlte mich schrecklich, als ich das Nahe liegende aussprach: „Melfice muss sie verschleppt haben.“ Zwar durchsuchten wir noch hastig die Gassen, doch uns beiden war klar, wohin uns unsere Schritte führen mussten. Es ging hinauf. Hoch oben über der Stadt würde Melfice auf uns warten. Stunden vergingen, dann zerrissen Schreie die Stille der Berge: „Melfice? Melfiiiiiiice? Wo bist du?“ – „Arr. Ich rieche ihn. Er ist ganz nah.“ – „Melfice, komm raus. Ich warne dich, wenn du Elena auch nur ein Haar…“ – „Melfice. Zeige dich und bezahle für das, was du meinem Volk angetan hast.“ – „Melfice!“ – „Melfice!“ – „Elenaaaaaaaa?“ Unsere Waffen waren gezogen. Wir waren bereit, wütend und entschlossen. Wir standen auf dem Felsen und blickten uns um. Hier sollte es enden, alles oder nicht. Melfice spielte mit. „Willkommen, Ryudo. Lange nicht gesehen.“, rief er von einem Felsen in unserem Rücken herunter. Mareg reichte allein der Anblick, er schnaufte und wäre wohl losgestürmt, wenn ich ihn nicht schnell zurückgehalten hätte. „Warte, er hat Elena.“ „Ryudo, bitte.“, Melfice gab sich alle Mühe, freundlich und zivilisiert zu wirken, was ihm trotz seines Horns fast gelang. Lediglich seine Haltung verriet ihn. „Lege deine Waffe weg. Es besteht kein Grund für einen Streit. Elena hier ist mein Gast.“ – „Gut, wenn ihr nichts geschehen wird…“, schrie Mareg, riss seine Lanze hoch und stürmte los. „Mareg, zurück.“, schrie ich, während Elena mit Panik in den Augen hinter Melfice Zuflucht suchte. Alles, aber auch alles drohte, aus den Fugen zu reißen. Dann gab Mareg nach. Er hatte mir geschworen, meinen Befehlen zu gehorchen, und dieses Wort band ihn… noch. Ich wusste, ich konnte nicht mehr allzu lange darauf bauen. Es war Elena, die die Situation auflöste. Als sie spürte, dass sie nicht mehr in Gefahr war, fasste sie neuen Mut und trat vor Melfice. „Ryudo! Mareg!“, schrie sie, „Nehmt endlich die Waffen runter und hört ihm zu. Herrgottnochmal.“ Melfice gab sich alle Mühe, zivilisiert zu wirken. Er legte Elena die Hand auf die Schulter, worauf ich vor Wut kochte und sie einen Schritt zurücktrat, „Bitte, die Herren. Ich bin nicht hier, weil ich Blut vergießen möchte. Ihr seht doch, ich bin unbewaffnet.“ Er breitete die Arme aus und erkannte nicht, wie Mareg anfing, zu lachen. „Umso einfacher.“, knurrte er und wollte wieder zur Klinge greifen, doch inzwischen war ich vorbereitet. Meine Klinge ging dem Bestienmann an die Kehle. „Noch einen Schritt“, fauchte ich und stand kurz davor, ihn ganz abzustechen. Verbündeter? Gemeinsamer Gegner? Lachhaft. Ich hasste diese Bestie, weil sie nur Ärger machte, und das konnte ich gerade jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Mit einer eisigen Ruhe sprach ich aus. „Lassen wir ihn reden, Mareg. Danach können wir ihn immer noch schlachten.“ Mit einem besorgten Blick verfolgte Melfice die Szene. „Danke“, sagte er mit einem Ton, der ihn mit seinem Leben spielen ließ, „Ich wusste, ich kann mich auf deine Vernunft verlassen.“ – „Vertrau ihm, er ist wirklich nett.“, fiel Elena mit ein. „Ich habe ihn in Garland getroffen und er…“ – „So ist das also“, schrie ich dazwischen, „Du bist nicht entführt worden. Du hast mich verkauft.“ – „Bitte“, ihre Stimme klang so beschwörend, dass auch sie mit dem Leben spielte, „dein Bruder hat eine Idee, wie er uns helfen könnte. Er kann mich von Millenia befreien.“ Ich starrte die beiden an. Dieser miese, dreckige Schuft war zu weit gegangen. Er hatte Elena mit Zaubertricks verführt und sie hatte mich ohne zu zögern im Stich gelassen. Nein, das hier sollte heute nicht mit Worten enden. Ich wollte Blut. Ich wollte Blut wie nie zuvor in meinem Leben. Melfice missverstand meinen Blick als Bitte, weiterzureden: „Es ist eigentlich ganz simpel. Hier auf der Insel, hinter dem Schrein, gibt es ein Siegel aus alten Zeiten. Als ich es damals verließ, ließ ich es intakt. Nun wäre es keine schwere Sache, Millenia wieder dort hineinzubannen und dann zu vernichten. Deiner Freundin Elena würde dabei nichts geschehen.“ – „Und du? Bist du unter die Priester gegangen oder warum so selbstlos?“ Ich explodierte. Diesen Quatsch konnte ich mir einfach nicht mehr anhören und wenn Melfice meinte, ich würde ihm dafür zu Füßen liegen, dann hatte er nicht begriffen, wer hier den Retter brauchte. Wenigstens schrie er endlich. „Natürlich gewinne ich, du Vollidiot. Wann immer ein Stück Valmars fällt, werden alle anderen mächtiger. Hör zu, ich könnte…“ Jetzt war es an Elena, ihm die Hand auf die Schulter zu legen und ihn zur Ruhe zu mahnen. Sie erreichte ihn: „Höre zu, Ryudo. Ich hätte sie auch einfach töten können, aber ich möchte es nicht. Bitte, glaube mir.“ – „Kein Wort, Valmar, kein Wort.“ Ich war fast dankbar, dass Mareg mir das Heft des Handelns aus der Hand riss. Noch bevor ich mich versah, zog er mir mein Schwert vom Gürtel. „Unbewaffnet?“, rief er, während Mikages Bestes durch die Luft segelte, „Dann nimm das und kämpfe.“ Es war eine Erleichterung, ihn losstürmen zu sehen. Melfice ignorierte das Schwert und griff zu seinem eigenen – ich lachte über seine Verlogenheit –, während sich Elena zu ihm umwandte und darauf hoffte, dass er ihr die Welt erklärte. Da traf mich der Schlag, als ich sah, wie es enden würde. Im Wald damals hatte ich mir vorgewagt, um das Mädchen zu retten, und nun konnte Mareg hoffen, dass Melfice den gleichen Fehler beging. Das tat er nicht. Er würde sie sterben lassen. Ich stand da wie angewurzelt. Elena schrie, als sie von Maregs Lanze erfasst und durch die reine Wucht von den Beinen gerissen wurde. Ihr Körper rutschte einen Abhang herab und blieb im Sand liegen. „Mareg!“, schrie ich. Jetzt war es endgültig zuviel. Ich wusste noch nicht, was ich tun würde, als der Bestienmann ganz unerwartet innehielt. Er blickte zu mir rüber und die Angst in seinen Augen zeigte mir, dass er wusste, zu weit gegangen zu sein, auch wenn er nicht verstand, warum. Ich wiederum kannte keine Gnade und zeigte auf die Schlucht; wie eine Puppe ohne eigenen Willen gehorchte er und trabte davon. Ich sah, wie er sprang. Melfice war währenddessen zu Elena gestürzt. Nun saß er vor ihr in dem Matsch aus Dreck und Blut, fühlte ihren Puls und streichelte ihr Haar. Ich hörte, dass er ihr tröstliche Worte zuflüsterte. Was auch immer zwischen uns war, für den Moment hatte es zu pausieren. Ich steckte mein Schwert in der Scheide und ließ mich neben ihnen in den Dreck sinken. „Wie geht es ihr?“, fragte ich. Melfice klang ernsthaft niedergeschlagen, als er mir antwortete: „Beschissen. Sie ist bewusstlos und hat schon eine Menge Blut verloren. Wenn nicht ein Wunder passiert…“ Er brach ab und verzog sein Gesicht zu seiner grimmigen Grimasse. „Nein, ich bin mir ganz sicher, dass sie überlebt.“ Ich verstand nicht, was er meinte. „Hast du etwa Heilmagie gelernt?“, fragte ich deswegen. „Nein, aber sie trägt einen Dämon im Blut. Er weiß, sie wird nicht sterben wollen.“ – „Du meinst Millenia?“ – „Ja, genau diese.“ Ich schwieg, bis ich plötzlich schwer Melfices Hand auf meiner Schulter spürte. „Wir haben ganz schön Glück, dass ihr Plan nicht aufging, nicht wahr?“ Was meinte er nur? „Weißt du, eigentlich wollte ich nur mit dir Frieden schließen. Schon komisch, was ich mir dabei gedacht habe. War wohl ziemlich dumm.“ – „Im Ernst?“ Ich starrte ihn nur ungläubig an. „Ja. Du musst wissen, ich wollte nie dein Feind sein. Bei all den Leichen und Trümmern, über die ich ging – und die ich vielleicht nicht so bereue, wie ich es sollte – , dir schaden wollte ich eigentlich nicht. Du bist für mich einfach…“ Ich musste lachen, als ich sah, dass der gefürchtete Melfice mit den Tränen kämpfte. „Dein Bruder?“, schlug ich ihm vor. „Nein!“ Wie vom Blitz getroffen sprang Melfice auf, was der bewusstlosen Elena eine harte Landung bescherte. „Ich hatte gehofft, endlich auch in diesem Punkt Klarheit zu schaffen. Ich will nicht mehr dein Bruder sein.“ Jetzt sprang auch ich auf und schrie ihn an: „Aber du bist es. Schämst du dich etwa für mich?“ Er keifte genauso laut zurück: „Ich bin nicht das Problem.“ Ich zog mein Schwert. Was immer er wollte, er würde dafür bluten müssen. „Du verstehst mich nicht, Ryudo. Du hattest niemals einen Bruder. Das Horn Valmars bist du.“ – „Lachhaft. Meine Stirn ist frei.“ – „Ja, weil du mich verdrängt hast.“ Flehend ging er auf mich zu. „Du hast mich benutzt und wolltest mich dann nicht glauben, doch jetzt lass uns alles ändern. Werde wieder eins mit mir.“ „Werde eins mit meinem Schwert“, schrie ich und stieß zu. Er schrie auf und – ja – es fühlte sich gut an. „Das hast du von deinen Lügen.“ Dann folgte der nächste Stich. „Hättest nie gedacht, dass dein kleiner Bruder dich überwindet, was?“ Ich lachte, als ich wieder und wieder zuschlug. Als wäre er zu schön, um in ein blutendes Bündel verwandelt zu werden, wollte er nicht einfach sterben und ich geriet immer weiter in Rage. Ich bemerkte gar nicht, wie mich jeder Schlag verletzte und weiter auseinander riss, bis die Welt um mich zerbrach. Aus dem Nichts erschien Skye, doch ich wollte nicht, dass er mich erreichte. Ich wollte mich in die sanfte Dunkelheit zurückziehen, die sich um mich ausbreitete. Kapitel 13: 4. Akt: Das retardierende Moment -------------------------------------------- Als für Elena die Welt weiterging, sah sie sich durch einen dichten Nebel wandeln. Es war ein warmer Ort, ein leichter Ort. Nichts mehr war von den Schmerzen übrig, nichts mehr von der Angst, die sie fast zerrissen hatte, nein, sie war frei und unbeschwert und – wie sie sich erst bewusst wurde, als sie ihre Füße auf dem warmen, weichen Boden spürte - nackt. War dies hier etwa…? Konnte das etwas anderes heißen, als…? Ja, sie musste am Ziel sein. Wahrhaft gerettet. Vergnügt sprang sie umher und bemerkte lange nicht die Stimme, die sie rief. „Elena? Elena.“, tönte es von hinter den Nebeln und mit einem Male war sie sich dessen bewusst. „Lord Granas? Wo bist du, mein Lord?“ Sie blieb stehen und begann, zu winken. War es denn wirklich…? „Meep, leider falsch.“, klang es da schon deutlich ungehaltener und leider auch bekannter. Ihr Arm sank herab. „Millenia“, verstand sie, dann wusste sie nichts zu sagen. Der Nebel blieb. Es wurde kälter… oder kam es ihr nur so vor? So fragte sie: „Millenia, wo bin ich?“ - „Du liegst auf einem Berg auf Garland und verblutest. Oder willst du hören, wo sich dein kleiner, dummer Geist gerade hinsehnt?“ Elena seufzte. „Klar, dass du niemals Granas Paradies erreichen wirst. Klar, dass du es nicht verstehen kannst. Aber kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen? Ich finde es wunderschön hier, nur etwas kühl…“ – „Dann zieh’ dir doch was an, oder aber du tust etwas dagegen, dass dein Körper, der immer noch auf dem Berg auf Garland liegt, noch mehr Blut verliert und noch weiter auskühlt.“ – „Ach ja?“, Elena wurde langsam wütend, „Das ist doch nur ein billiger Trick. Dann schaue ich weg und du reißt dir dann sicher einfach meinen Körper unter den Nagel… oder noch schlimmer, Granas Paradies.“ – „Mädchen!“, Die Geduld der Stimme kam langsam zu ihrem Ende. „Ja, ich könnte aus deinem auf dem Berg auf Garland verblutenden Körper meinen auf dem Berg von Garland verblutenden Körper machen, spielend sogar. Aber dann sage mir mal, was ich dadurch gewonnen hätte.“ – „Du würdest viel gewinnen“, schrie Elena zurück ins Nichts. „Du bist so mächtig. Du wirst damit doch ganz schnell fertig.“ Die Stimme wusste nichts darauf zu sagen, es herrschte Ruhe für einige Sekunden. Dann konnte sie Elena wieder hören, beherrscht freundlicher. „Elena, was weißt du über Valmars Macht?“ Endlich eine sinnvolle Frage. „Das sie böse ist und nichts Gutes tut und niemandem Glück bringt.“ – „Und was bedeutet das?“ – „Das sie böse ist und nichts Gutes tut und niemandem Glück bringt.“ – „Und was bedeutet das…“, brachte Millenia mit Blick auf ihren schwindenden Geduldsfaden raus, „… im Hinblick auf einen auf einen auf einem Berg auf Garland verblutenden Körper?“ Elena dachte nach. Und auf einmal… „Was?“ - „Braves Kind.“ – „Aber das heißt dann ja… Das heißt ja, ich sterbe.“ Elena war auf einmal ganz aufgebracht. Blind stürzte sie voran, weiter in den Nebel. „Ryudo? Melfice? Wo seid ihr? Rettet mich!“ Lange sah sich die Stimme es nicht an. „Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass es kein ‚Hier’ gibt? Du wirst auch nicht erwachen. Kannst du dich blind heilen?“ – „Ich weiß nicht, wie.“, klang Elena panisch, „Ich kann doch nichts sehen. Und mein Körper hier ist nicht verletzt.“ – „Ruhig, Mädchen, bitte“ Die Stimme bemühte sich, versöhnlich zu klingen. „Versuche bitte, deinen Körper hier zu heilen, als hätte er eine tiefe Wunde an der Seite. Versuche das bitte. Und wenn dir die Kraft fehlt, dann zapfe meine Kraft an. Du magst sie nicht mögen, aber es ist Energie, trotz allem.“ – „Aber das… Okay, ich versuche es.“ Elena konzentrierte sich. Sie konzentrierte sich auf das Gebet, auf die Musik, spürte die Macht und doch... Sie hielt plötzlich inne. „Es funktioniert nicht.“, sagte sie. „Weil du zu weit weg bist? Oder weil du Angst hast?“ – „Ein bisschen von beidem“, musste Elena zugeben. „Dann müssen wir etwas anderes versuchen. Elena, bereite eine Heilung vor. Ehe du sie aber wirkst, versuchen wir, aufzuwachen. Denkst du, das bekommst du hin?“ Elena nickte, doch Millenia war noch nicht fertig. „Hier mag es dir angenehm erscheinen, weil du keinen Schmerz spürst. Doch er wird zurückkommen, sobald du aufwachst. Eine Welle an Schmerz. Kannst du sie aushalten? Wenigstens kurz?“ Elena wollte nicken, dann erst verstand sie… „Ich muss.“, gab sie knapp wieder. „Gut“. Millenia wirkte zufrieden. „Dann mache dich bereit. Und gib mir ein Zeichen. Dann bringe ich dich zurück ins Licht.“ Zwischen Elena und dem Gedanken an die beiden Männer, die doch gar nicht so weit von ihr entfernt im Staub waren, verging einige Zeit. Zu lange verbrachte sie damit, zu merken, dass sie trotz allem überlebt hatte. Sie spürte ihren Körper, verschnaufte und dachte gar nicht daran, etwa Millenias Stimme wahrzunehmen, die ihr flüsterte: ‚Das Horn ist vernichtet, doch wo ist Ryudo? Bitte, finde Ryudo.’ Auch Mareg, der zu zäh zum Sterben war, blieb ihr ganz verborgen. Stattdessen suchten ihre Augen rastlos nach dem Mann mit dem Horn. „Sieh’ dir mal den Kerl an“, hörte sie da Mareg in der Ferne lachen, „Melfice, die Bestie, hatte keinerlei Rückgrad im Leib. Was für ein Dämon.“ Melfice? Der starke Mann mit den schönen Augen? Konnte er wirklich…? Schon sprang sie auf. Zwei Männer am Boden, Mareg vor ihnen kniend. „Was ist mit ihnen?“, fragte sie, als sie zu ihnen hinstürmte. „Leben sie noch?“ Sie hörte Millenia etwas sagen, aber sie hörte nicht zu. Melfice lag vor ihr, sein schönes Gesicht, sein langes Haar, seine Reife… sie hatte ihn zwar nur kurz gekannt, aber er hatte ihr helfen wollen, also schmerzte sie, zu sehen, dass er sie wieder verlassen hatte. Sie blickte an ihm herunter und erkannte dann, was Mareg so freute. Tatsächlich, hinter den Wunden lag weder Fleisch noch Blut, sondern nur nasse Erde, die langsam auszutrocknen schien. Melfice, das spürte sie, würde schon bald zusammensinken wie eine Sandburg in der Sonne. „Iiiiieh“, quietschte sie und sprang auf. Sie kam sich richtig betrogen vor. Dann kam ihr ein Gedanke und sie musste lachen. ‚Bist du auch so?’, schickte sie Millenia entgegen, während sie noch den unverletzten, aber genauso reglos danebenliegenden Ryudo registrierte. Irgendwas war ihm widerfahren. Nach einigen Tritten hatte Mareg den Erdhaufen seinem Schicksal überlassen und sich zu Elena begeben. Er schuldete ihr, das wusste er, eine Erklärung, also begann er gleich damit: „Der große Krieger Ryudo hat den Dämonenmeister erschlagen. Heil dem Ryudo. Heil.“ Das half ihr aber doch alles nichts. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie setzte sich auf den Boden und fragte sich, wo sich dieses ominöse Siegel befinden musste, von dem Melfice gesprochen hatte. Ob sie es alleine bedienen konnte? Nur am Rande nahm sie wahr, dass Millenia zu ihr sprach und Maregs Erklärung eine eigene anführte: ‚Ryudo hat erkannt, dass er selbst das Horn Valmars trägt. Er hat es sich gezogen. Ryudo war Melfice. Er ist nur…’ Das klang interessant, also klinkte sich Elena ein. „Das ist doch Unsinn. Wie kann ein Mensch zwei Körper haben?“ – ‚Das hatte er nicht. Ryudo wies die zweite Seele von sich und das Horn schuf ihr aus Wasser und Erde ein eigenes Gefäß.’ Sie verstand kein Wort, aber es ging um hohe und finstere Magie, da musste sie nicht mehr wissen. Plötzlich fiel ihr etwas auf und sie fragte schnell: „Millenia, Moment. Wenn Ryudo das Horn zerstört hat, warum lebt er dann noch? Müsste seine Seele nicht ebenso vernichtet sein wie die von Aura?“ Die Stimme brauchte einige Zeit, um zu überlegen. ‚Er hatte Melfice weit genug von sich gewiesen. Er kann überleben. Wichtig ist, wie weit beide miteinander verbunden sind.’ Treffer. Elena lachte: „Dann kann ich dich ja auch einfach loswerden. Mareg, würdest du vielleicht…“ – „… und dich wieder in einen verblutenden, ohnmächtigen Körper verwandeln? Wer soll dich denn diesmal retten?“ – „Ach, Mist“ Elena trat einen Stein und sah, wie er die Klippe herunterrollte. „Aber ich werde den Gedanken beibehalten. Ich sage dir, ich bekomme dich schon aus mir raus.“ Elena setzte sich auf die Erde. Ihrem Körper ging es inzwischen wieder richtig gut, mit ihrer Heilung hatte sie sich selbst übertroffen. Wenn es hier doch nicht so kalt wäre… Nach einer Weile kam Mareg zu ihr. „Es wird bald dunkel werden“, erklärte er, „Wir müssen fort von hier. Was machen wir mit Ryudo?“ Sie sah herüber und dann zurück. „Was können wir machen? Bist du denn stark genug, ihn in die Stadt mitzunehmen?“ Der Bestienmann schnaubte. „Ich bin. Das wäre das Mindeste.“ Elena war viel zu sehr mit dem Aufbruch beschäftigt, um Millenias Stimme zu überhören. ‚Möchtest du ihn nicht retten?’ ‚Ich kann dich in Ryudos Geist führen’, hatte Millenia gesagt. ‚Ich kann dir das Tor öffnen in seinen Geist, aber ich kann dich nicht begleiten.’ All das schien sie noch einmal in ihrem Innersten zu hören, als sie durch Ryudos Nicht-Ort wanderte. Um sie herum wurde es heiß und dämmrig und ein angenehmer Dampf erfüllte den Raum. Ihre Füße wurden gewärmt vom feuchten Holz des Bodens und ihr wurde klar, dass sie nackt war. Nur mit einem Handtuch konnte sie sich bedecken. Sie wickelte sich darin ein. Der Raum war endlos und bot ihr keine Richtung. Sie rief, um irgendwas zu tun, hatte aber das Gefühl, nicht durch den Dampf durchzukommen. Sie musste in einer Sauna sein, ging es ihr auf, in einer riesigen garländischen Sauna. Sie war in Ryudos Gedanken und sie fühlte sich unwohl. Sie wollte ihm nicht so wie sie war gegenübertreten. Erst Millenia brach das Schweigen, doch Elena überschrie sie. Sie wollte sie nicht hören. So rief sie noch einmal seinen Namen. Der Weg führte ins Endlose. Warum war sie eigentlich hier, fragte sie sich und dachte dann: Dann wird mir Ryudo aber eine Menge schuldig sein. Sie wollte fluchen und sie erkannte: Sie war allein, weitab von allem außer von Millenias Botschaften, und es gefiel ihr gar nicht. Nur was sollte sie tun? Ergab es einen Sinn, endlos in eine Richtung zu gehen in einem Ort ohne Raum oder sollte sie sich lieber hinsetzen und warten, dass man sie fand? Doch wenn sie sich hinsetzte, könnte sie dann nicht einem Mann, der aus dem Nebel kam, plötzlich viel zu tiefe Einblicke gewähren? Sie schluckte, wenn sie daran dachte. Das wollte sie… nicht. Also musste sie voran. „Ryudo? Melfice? Seid ihr hier?“ War es so, als würde plötzlich ein Schatten flackern? Ein Blick nach links und rechts, nein, nichts. Doch ihr Kopf wanderte nach oben und da sah sie ihn. Weit hinter den Wolken zog ein Adler seine Kreise und blickte sie dabei an. Erstaunlich klar konnte auch sie ihn erkennen, ihn und sein kleines Horn. Sie schluckte und klammerte sich am Handtuch fest. Was sollte sie nur tun? „Hab keine Angst“, sagte er mit einer sanften und klaren Stimme. „Ich tue dir nichts. Elena. Ich habe dich so oft gesehen und du kennst mich nicht. Lass mich dir ein Führer sein.“ Dann kam Bewegung in seine Kreise. Er wollte nicht direkt zu ihr, sondern ließ sich Zeit. „Wer bist du?“, schrie sie in die Wolken. „Ich bin Skye. Ich bin Ryudos Freund in Not und ich bin sein Beistand. Wir haben viel über dich gesprochen.“ Der Vogel flog und Elena folgte ihm mit ihrem Blick. Auch wenn sie es alles noch nicht verstand, so fühlte es sich doch stimmig an. Dann erkannte sie ihn. „Du bist die Totemfigur, richtig? Ich habe Bilder von dir in Büchern gesehen.“ – „Ich bin auch das“, antwortete er und ihr kamen immer neue Gedanken. „Ryudo hielt dich für real, nicht wahr? Er hat manchmal gesprochen, so als gäbe es noch jemanden in seiner Nähe. Ich habe immer gedacht, er redet mit den Monstern.“ – „Wahrheiten und Wirklichkeiten sind nicht immer eins“, sagte Skye und beließ es dabei. „Ich bin dir dankbar, dass du gekommen bist. Ich hoffe, du kannst ihn noch erreichen. Ich kann es nicht mehr.“ Mit diesen Worten flog er heran und landete auf Elenas nackter Schulter. Sie musste lachen, als sie seine Klauen spürte, die doch keine Kratzer in ihrem Fleisch hinterließen. Er war so leicht. „Aber wohin?“, fragte sie, als sich nichts änderte. „Ich wollte wissen, wie du dich anfühlst, Elena. Ich bringe dich zu ihm, indem ich dich verlasse. Mein Horn erinnert ihn an Melfice.“ Damit erhob er sich und verschwand. Elena durchwanderte den Nebel. Langsam zeichnete sich eine Silhouette ab. Sie hatte ein Ziel gefunden. Nur musste sie hoffen, dass es auch Ryudo war. Irgendwo zwischen Nacht und Welt wollte er eine Statue bauen. Er wollte so verzweifelt behalten, was er verloren hatte, dass er den Boden aufriss, bis die Welt zu Ende war und tiefe Abgründe entstanden, und so setzte er sich auf die Klippe an der Grenze von Sein und Nichtsein und lamentierte. So war es, als Elena ihn fand. Das Erste, was sie hörte, war seine Stimme. „Er hat schon einen Freund“, schallte es, „und du bist nicht sein Typ. Die Religion steht zwischen euch und dich braucht er nicht in seinem Leben. Er liebt dich nicht und du liebst ihn auch nicht. Er ist noch nicht für eine Beziehung bereit.“ Elena wusste nicht, ob sie damit gemeint war, doch ging sie einfach voran. Er saß da, ließ die Füße über den Abgrund baumeln und blickte sie nicht an. Er sprach weiter, immer weiter, doch sie hörte ihm nicht zu, sondern merkte nur, wie oft das Wort ‚Nein’ in seinem Sermon vorkam. Ryudo war nicht mehr Herr seiner selbst und Elena wusste nicht, was sie tun sollte. Sie fühlte sich unwohl. Statt von ihm begafft zu werden, wie sie es befürchtet hatte, nahm er sie gar nicht wahr. ‚Millenia, hilf mir.’, schrie sie in ihr Innerstes und hoffte auf die Stimme. Sie wartete eine Weile. „Du kannst seine sexuellen Wünsche nicht befriedigen. Du hast nichts zu bieten. Du kannst nur eine Last sein. Du bist nur du.“ – ‚Halte bitte aus, Elena’, hörte sie Millenia flüstern. ‚Versuche, mit ihm zu reden oder rufe Skye.’ – ‚Aber was soll ich denn erzählen? Von Granas wollte er doch nie etwas hören.’ – ‚Du musst ihm nichts erzählen. Höre ihm einfach zu, halte es durch und blicke ihm in die Augen. Niemand verfällt in einen Sermon, wenn er nicht reden will.’ So stand Elena da. Das erste Wort war kläglich. „Ryudo, bist du wach?“ Der zweite Versuch war gewagter. „Ryudo, da vorne ist ein Monster.“ Dann kam ihr eine ganz andere Idee. „Ich glaube, er verzeiht dir.“ Damit war das Eis gebrochen. „Nein“, sagte er. „Er kann mir nicht verzeihen. Er ist tot. Ich habe ihn getötet.“ Seine Stimme war schwach, doch sich langsam findend. Langsam schien er auch zu begreifen, dass er nicht alleine war. „Elena, ich wollte ihm eine Statue bauen“, sagte er hilflos. „Ich wollte ihn greifen und wieder finden und doch brach die Welt um mich zusammen. Ich weiß, ich habe ihn verloren.“ Er verstummte und Elena stammelte irgendwas. Was sollte sie sagen? Sie verstand ihn nicht. Sie atmete auf, als das im Moment nicht notwendig zu sein schien. „Ich habe ihn gehasst. Zumindest glaubte ich das für eine lange Zeit. Ich dachte, ich müsste ihn hassen für all das, was er mir angetan hat und was ich wegen ihm tun musste. Jetzt sehe ich, wie viel Halt er doch meiner Welt gab. Er hat mich erschaffen, weißt du?“ – „Aber Valmars Kräfte erschaffen nichts.“, wandte Elena ein. In ihrem Innersten protestierte Millenia gegen diesen ungeschickten Zug, doch Ryudo lächelte nur. „Ach nein? Ich erinnere mich noch gut an meine Jugend auf Garland, in diesem kalten Land im Griff des Ordens. Ich fühlte mich so klein, so eingeengt, dass ich kaum atmen konnte. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wäre, wenn er nicht gekommen wäre. Ohne ihn hätte ich nie Mut und Gelegenheit gefunden, aufzustehen und von dort wegzukommen. Ich weiß nicht, was dann gewesen wäre.“ – „Aber das hat viele Menschen getötet, Ryudo. Den ganzen Orden. Ich habe die Spuren gesehen, die ganze Insel…“ – „Ja, hat es. Aber er tat es aus Liebe. Elena, ich habe mit ihm gesprochen. Er bedauert es nicht und ich mache ihm keinen Vorwurf. Diese Menschen wählten ihr Schicksal selbst.“ Er verstummte und machte seine Pause, ein erstes Zeichen, dass er über seine Worte nachdachte. „Es ist die Regel des Kampfes. Wenn jemand mit einer Waffe auf dich zukommt und dich töten will, dann schonst du ihn nicht. Sie wollten Melfice töten. Er hatte keine Wahl.“ Elena schauderte. Sie wollte nicht vom Töten sprechen, zu leicht konnte sie das nächste Opfer sein. Sie rückte auf ihrem Handtuch hin und her. „Weißt du, wie ich Geronshund wurde? Ich zog von Garland Melfice hinterher, nur mit einem Schwert in der Hand. Ich war wütend und voller Hass und wollte ihn vernichten. Ich sollte ihn nicht erreichen. Als mein Geld zur Neige ging, musste ich irgendwie neues verdienen. So erinnerte ich mich an mein Schwert und wurde zum herumziehenden Söldner. Nur so konnte ich ihm folgen.“ Er schwieg eine Weile und blickte in den Abgrund. Seine Stimme wurde schwächer. „Die ersten Monster, die ich schlachtete, fielen mir schwer. Man kann nicht einfach so lebende Wesen töten. Dann aber erinnerte ich mich an Melfice und wusste, ich musste es tun. Seltsam, dass bei allem, was ich tat, ich stets der Überzeugung war, ich müsste es tun. Ich brauchte es einfach für den Kampf gegen eine noch größere Bestie. Seltsam, wie rein doch mein Gewissen war.“ Er schluckte, dann drehte er sich um. „Elena, wenn Melfice nur ein Teil vom mir war, dann habe ich sie getötet. Dann habe ich den Orden ausgelöscht.“ Er musste lachen. „Und trotzdem bist du hier.“ Elena sprang auf. Was sollte sie sagen? Nur mit einem Handtuch bekleidet unterhielt sie sich mit einem Mörder übers Töten. Er musste ihr Zögern spüren. „Draußen sitzt Mareg und wartet auf dich. Wenn du willst, dann wird er meinen Platz einnehmen. Ich bin sicher, dem Schlächter von Melfice wird er gerne und getreu seinen letzten Wunsch erfüllen. Wenn du gehen möchtest, dann geh.“ Sie wollte sich abwenden, doch ihre Beine waren wie versteinert. Neben ihr wartete der Abgrund und unter ihr Ryudos Blick. „Ich möchte doch nur wieder heil sein.“, wimmerte sie. „Dafür brauchst du mich.“, sagte er ruhig. „Dafür brauchst du einen Mörder. Du brauchst jemanden, der deine Probleme löst.“ - „Nein, das stimmt nicht. Es gibt nur ein Ding, das dafür entfernt werden muss, und das ist kaum als Person zu bezeichnen. Du machst dir etwas vor. Melfice habe ich gebraucht.“ Das verletzte ihn, doch ihr war es genug. „Ich sollte besser gehen.“, sagte sie fest und bemerkte, dass Ryudo seinen Blick wieder in den Abgrund richtete. Viel zu schnell schritt sie davon. Er war doch ein Verrückter. Musste sie eben doch zu Mareg greifen, der war wenigstens ehrlich. In ihrem Zorn überrumpelte sie die Stimme und kaum hatte sie begriffen, hatte sie deren Worte schon ausgesprochen. „Ryudo“, sagte sie laut und wandte sich um. „Millenia lässt dich etwas wissen. Sie sagt, wenn du zurückkommst, dann wird sie dafür sorgen, dass du dich so lebendig fühlst wie noch nie in deinem Leben.“ Ryudo blickte sie an, während Elena langsam dämmerte, was sie eben gesagt hatte. Dann verblasste die Klippe und Ryudo trat zurück ins Licht. Kapitel 14: Das bürgerliche Trauerspiel (1) ------------------------------------------- Meer. Wellen. Im Dunkel der Nacht, die mich umschloss, waren sie kaum noch zu erkennen, doch sie rauschten und immer wieder schlugen sie gegen die Planken, ein schönes, regelmäßiges Geräusch. Ich meinte sogar, den Einschlag zu spüren, zu merken, wie das Schiff schwankte und vermutlich bildete ich es mir nicht ein. Wir waren wieder unterwegs, doch statt uns von dem Rückschlag entmutigen zu lassen und nach Schlesien zurückzukehren, um dann in Kyrnberg oder irgendwo im Niemalsland zu verkriechen, segelten wir weiter nach Osten. Elena hatte mir erzählt, Mareg wolle uns in seine Heimat führen, dem sagenhaften Kontinent Waracha, auf dem noch Wunder geschehen würden, und da wir keine bessere Idee hatten, gingen wir dieser Spur nach, auch wenn sie etwas dünn klang. Ich hatte seit den Ereignissen auf Garland nicht mehr mit ihm gesprochen. Die Zeit, die seit den Kämpfen auf dem Berg verstrichen war, war wie im Flug vergangen. Mit Melfices Tod ging mir etwas verloren, dass ich nicht klar einordnen konnte, doch ich spürte sein Verschwinden, und obgleich ich nicht verletzt war, verbrachte ich die Tage im Bett, schlief fiel, hing meinen Gedanken nach und starrte auf die Wände. Elena kam mich manchmal besuchen, brachte mir Suppe oder selbstgebackene Kekse mit, doch dann musste sie immer schnell wieder weiter, sodass ein Gespräch nicht zustande kam. Sie war wegen irgendwas Kirchlichem sehr eingespannt. Schließlich, nach drei Wochen, verstand ich, dass etwas geschehen musste. Elena berichtete mir, dass Mareg langsam müde wurde, nicht zu mir vorgelassen zu werden, und nun bald in die Heimat aufbrach. Seine Jagd sei beendet und er könne jetzt ins Leben zurückkehren, und ich weiß nicht warum, aber dieser Satz löste etwas in mir aus. Ich fragte sie, ob wir ihn begleiten wollten, denn ich wollte weg von hier, und sie nickte nach kurzer Überlegung. Garland sei zwar schön, doch sie sei immer noch nicht errettet und das hätte nun wirklich Vorrang, außerdem sei ihr kalt. Wir nahmen Abschied. Die Einwohner Garlands versammelten sich am Hafen, um Elena zu danken, und der Hochmeister drückte ihr unter Jubel der Masse einen bunten Blumenstrauß in die Hand. Sie habe das Böse von der Insel vertrieben, sprach er, und ihnen in Granas eine neue Hoffnung beschert. Mareg und ich standen währenddessen daneben und hofften, dass nicht auch noch eine Kapelle spielen würde, denn dann würden wir nie von hier fortkommen. Immerhin ließ man uns in Ruhe. So kam ich an Bord eines Schiffes und statt auf Wände starrte ich auf Wellen herab. Es war nicht gut, dass mir der Anblick so vertraut war, denn so hing ich nur in den Erinnerungen an die letzte Fahrt und grübelte, was denn falsch gelaufen war. Wobei, eigentlich müsste mich dieser Gedanke doch erschrecken. Ich hatte doch Melfice besiegt, ohne dass jemand groß zu Schaden kam, das war doch ein Sieg. Nur leider, das wurde mir bewusst, fühlte es sich ganz und gar nicht wie einer an. Ich zählte die Tage nicht, deshalb wusste ich nicht, wann Mareg schließlich an Deck erschien, um nach mir zu sehen. „Ryudo“, rief er. „Die Stimme des Schiffes sagt mir, es sei Zeit, dich zu sehen.“ Dann setzte er sich zu mir. Ich blickte zu ihm herüber und dann zurück auf den Wellen. „Schön“, sagte ich. „Sie sagt, du brauchtest Gesellschaft.“ – „Nichts dagegen.“ Ich seufzte. Mit meiner Ruhe war es vorbei. „Wie geht es denn Elena?“, fragte ich. Der Bestienmann schüttelte den Kopf. „Sie versperrte sich in ihrem Raum und leidet unter dem Schiff. Ich habe sie seit der Insel nicht mehr gesehen.“ Das überraschte mich: „Dann hat sie dich nicht zu mir geschickt?“ – „Nein.“ Wir schwiegen lange, dann erkannte ich meine Chance. „Weißt du, was geschehen ist?“ Er dachte nach, ehe er antwortete: „Ich hörte nur die Erklärungen. Das Mädchen sagte mir, du seiest eins mit Melfice gewesen und als du ihn tötetest, hättest du zugleich ein Teil von dir selbst zerstört. Deshalb brachest du zusammen.“ Ich ließ mir die Worte durch den Kopf gehen. Sie klangen seltsam, fühlten sich aber nicht falsch an. „Was passierte dann?“ – „Das Mädchen tat irgendwas, um in dein Herz zu gelangen, und dann wachtest du auf. Ich trug dich den Berg hinab, weil du so schwach warst.“ – „Dann hat Elena mich gerettet?“ Der Bestienmann nickte und ich stand auf: „Dann muss ich mich bei ihr bedanken.“ Unter Deck stank es nach See und Mensch. Elena wirkte bleich und krank, als sie mir die Tür öffnete und ich war nicht geschickt genug, meine Verblüffung zu überspielen. „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, dann hätte ich mich zurechtgemacht“, sagte sie ohne Begrüßung, als sie mich in die Kabine ließ. „Regnet es oben?“ – „Nein, es ist…“ Ich beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich habe von Mareg gehört, dass du mich gerettet hast, Dafür wollte ich dir danken.“ Damit überrumpelte ich sie. „Was?“ – „Ich meine, oben auf dem Berg. Du hast dich in meinen Geist gewagt und das finde ich sehr mutig. Danke dafür.“ – „Keine Ursache. Du wirst dich ja revanchieren. Augenblick…“ Mit einem Mal wurde Elena ganz rot. „Nein, das meinte ich jetzt nicht.“ Ich musste lachen, ließ meinen Blick durch die Kabine streifen und setzte mich von ihrem aufmerksamen Blick begleitet zu ihr aufs Bett. „Seltsam, dass du Melfice sein sollst.“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir, „Ich kann es immer noch nicht glauben.“ – „Er führte ja auch seit fünf Jahren ein Eigenleben. Schon komisch, zu was er sich in dieser Zeit entwickelte. Ich kam nicht einmal auf die Idee, er könnte dich nicht verschleppt haben.“ – „Nein“, sagte sie und versank in der Erinnerung. „Er hat mich ganz freundlich angesprochen.“ Mir ging es nicht anders: „Vor fünf Jahren hätte er dich wohl noch einfach getötet… Nein… Kein gutes Thema.“ Wir saßen nebeneinander und schwiegen uns an. Keiner von uns befand sich in diesem Augenblick mit seinen Gedanken auf dem Boot. „Weißt du“, sprach schließlich Elena ins Nichts, „Ich habe seine Leiche gesehen. Er war ein Sack voll Schlamm und Sand.“ Sie machte eine Pause und ich sah, dass sie erschauderte. „Kein Mensch, nur ein von Valmar zusammengehaltenes Unding. Ein Priester dir jetzt sagen, dass er in deinem Herzen weiterlebt, in diesem Fall könnte es sogar möglich sein.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Ich habe mir in den Wochen einzureden versucht, dass er ein Monster war und dass er vernichtet gehörte, aber ich konnte es nicht. Ich habe um ihn geweint. Ryudo, was du getan hast, war furchtbar.“ Ich hielt ihrem Blick stand. „Ich weiß.“ Ich konnte es sehen. Sie hatte sich verändert. „Versprich mir, dass du mir nicht auch so was antust.“ Im Dorf Nainan, Maregs Heimat, wurde gefeiert. Den genauen Anlass kannte ich nicht, aber es war auch nicht wichtig. Vielleicht feierten sie den Sieg über Melfice, vielleicht Maregs Heimkehr, vielleicht feierten sie die Welt und das Leben, das sich von all der Kälte und Hass erholte. Vielleicht feierten sie auch nur einfach so, ein belustigtes Dorf Krüge schwenkender Fleischkolosse mit seltsamen Traditionen, viele Muskeln und bestiengleiche Gesichter, und doch waren sie freundlich und beschwipst. Zwischen all dem saß ich mit Elena, auch wir essend, trinkend und über angenehme Themen redend. „Wie ging es eigentlich mit Garland weiter“, fragte ich sie, „Konntest du die Insel zu Granas bringen?“ – „Hast du das nicht am Hafen gesehen?“, sagte sie breit grinsend, „Nach der Vernichtung Melfices war eigentlich schon das meiste erledigt. Diesen Stachel zu ziehen hat sie tief beeindruckt, sie baten mich sogar, eine Dankprozession abzuhalten. Ich denke, so farbenfroh war die Stadt noch nie. Alle Straßen mit Blumen bedeckt und ich voran. Ich war wirklich aufgeregt.“ – „Dann hast du sie gehalten?“ Sie nickte. „Meine erste. Eigentlich hätte ich ja gar nicht gedurft, aber das…“ Sie musste kichern. „Ich denke, es wird mir niemand vorwerfen. Ach.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein. „Und der Ordensmeister und der Rest des Ordens kamen danach zu mir und meinten, es hätte sie bewegt. Ich hatte von Millenia und von Melfice gesprochen, von den Prüfungen durch das Dunkle und wie schnell man abgleiten und was das für ein Unglück mit sich bringen kann. Darauf habe ich ihnen ein paar Dinge über Granas erzählt. Ich hoffe, sie werden sie weitergeben und sie schienen auch ganz erpicht darauf, es zu tun. Das ist nämlich das Schöne. Predigen kann man auch dann noch, wenn man das Schwert schon nicht mehr halten kann.“ Das beeindruckte mich. Sie lachte. „Fühlst du dich in deiner Heimat inzwischen wohler?“, fragte sie mich. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht“, gab ich offen zurück. „Es ist für mich kein Ort, wo ich gerne sein möchte. Trotz allem oder vielleicht auch wegen allem.“ – „Jetzt sind wir ja auch hier“, sagte sie und prostete mir zu. „Was ist eigentlich mit Mareg?“, fragte ich sie, während sie trank. „Bleibt er hier?“ – „Ich habe mit ihm gesprochen. Ja, er hat es vor. Seine Reise ist vorbei und ich denke, wir zwei stehen das auch zusammen durch. Was meinst du?“ Ihr Grinsen war bereits vom Wein verzerrt. „Da hast du Recht. Ich denke, wir schaffen es allein. Wir sind schon so weit gekommen.“ – „Aber das Beste ist, er hat eine neue Spur für uns. Mareg erzählte etwas von einem Schwert des Granas, das vom Himmel fiel, gar nicht weit von hier. Klingt nach einem Ziel?“ – „Klingt nach einem Ziel.“ Wir stießen an und lachten. „Wie wäre es eigentlich“, fragte ich, „wenn du etwas singst? Ich bin sicher, sie würden dich noch mehr lieben.“ – „Oh nein, es ist ganz und gar der falsche Zeitpunkt für Kirchenlieder. Und wie du weißt…“ Sie sprach langsam und genoss jedes Wort, während sie ihren Blick keine Sekunde von mir nahm. „… bin ich auch nicht mehr im Geschäft.“ Mein Puls begann zu rasen. Das hatte sie wirklich gesagt und wie zum Beweis beugte sie sich vor und blieb erstaunlich lang in meiner Nähe, ehe sie mir zuflüsterte: „Dort drüben gibt es eine Quelle. Ich fühle mich ganz schmutzig.“ Dann lachte sie, nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas und war verschwunden. Ich stand auf. Das Fest um uns herum wogte, als sei nichts passiert. Ich wollte mich daranmachen, Elena zu folgen, als mir bewusst wurde, dass Mareg mich aus der Ferne anstarrte. Dann grinste er und zeigte mir seinen Daumen. Gute Jagd. Kapitel 15: Und Skye störte... ------------------------------ Ich traf nicht das Wild, nach dem ich ausgezogen war, doch ein Wild traf ich. Im Schein von Valmars Mond auf einem Felsen stehend blickte Millenia auf mich herab und ließ ihren gelben Seidenrock im Wind wehen. Ich starrte sie an. „Du hier?“ – „Ich… konnte nicht.“ Mir ging auf, dass sie mit den Tränen kämpfte, als sie zu mir herunter sprang und ohne Mühen bei mir landete. „Ich dachte, ich musste es tun, weil ich dir wehgetan habe, aber das geht nicht. Bitte lass mich bei dir entschuldigen.“ – „Was?“ – „Wir können auch reden.“ Ich konnte nicht anders, als das weinende Bündel in meinen Arm zu nehmen und ihr ein paar tröstende Worte zu sprechen. „Ich habe nicht gewusst, dass er ein Teil von dir war. Ich vertraute dir, dass er dein Bruder war, und als ich es dann merkte…“ – „Du hättest mich sonst nicht auf seine Spur gebracht?“ – „Ja.“ „Millenia, du hast doch schon Elena geholfen, mich zu retten. Und…“ – „… ich stehe vor dir, in all meiner Schönheit. Elena ist doch dumm und ich bin doch hier.“ Ich sah, dass ihr wieder die Tränen kamen, auch wenn sie dagegen ankämpfte. „Ich muss mich eben frisch machen“, sagte sie, „Und ich mache uns ein Feuer.“ Dann rannte sie von mir davon. Erst da bemerkte ich, wie sehr mein Herz schlug. Mein Blut schien zu kochen bei ihrem Anblick, als sie mit jedem Schritt mehr von ihrer Selbstsicherheit zurückzugewinnen schien. Ich dachte gar nicht daran, ihr nicht nachzugehen. Am Rande der Quelle, am Sand bei den Steinen, saßen wir. In der Ferne brannten noch die Feuer des Festes und auch Stimmen waren zu hören. Doch was interessierte es mich? Ich hatte nur Augen für sie. Ich küsste sie und hielt sie fest und ließ sie nicht einmal zündeln. Wegen kalten Füßen? Wirklich nicht. Was interessierten mich ihre Stiefel, was ihre verzierten Strümpfe, ich wollte doch höher, viel höher hinaus, und während meine Finger dabei waren, hinter ihrem Rücken ihr Korsett aufzuknoten, hatte ich das Gefühl, dass sich Skye erhob. Er flog über die Quelle, musste uns beachten und schwieg. Ich konnte seine Flügelschläge hören, trotz des Rauschens der Quelle und des fernen Festes. Blöder Vogel, dachte ich mir, verdammter, blöder Vogel. Meine Finger wurden flinker, immer flinker, während Millenia, das warme Bündel aus Fleisch und Haar so nah, keuchte und ihre Finger in meiner Garderobe versenkt hatte. Sie fühlte meine Muskeln, meinen Bauch, und auch das nahm Skye alles wahr, während er über uns kreiste. Ich verfluchte ihn und als das Korsett in meinen Händen ruhte, warf ich es ihm mit aller Wucht hinterher. Natürlich konnte ich nicht treffen, aber es stellte ihn erst einmal ruhig. Millenia musste es luftiger werden. Unter dem Leder fand sich weißer Stoff, der durchgeschwitzt an ihrem Körper klebte. Er verdeckte zwar, verriet aber alles über ihre großen, vollen Brüste, denen meine Hände nicht widerstehen konnten. Weißer, schweißnasser Stoff, wie nannte man das überhaupt. Es war mir egal, er störte nur. Über uns zog Skye seine Runden. Schnell flog er und er schrie, wie es Vögel tun. Er jagte keine Beute. Das war heute mein Verdienst. Millenia brannte danach, meine Beute zu sein. Ihre Finger hatten sich in meiner Hose vergraben und zauderten keinen Augenblick. Ich spürte, wie ich pulsierte, meine ganze Welt lag in ihren Händen und lag nur ihr zu Füßen. Ich keuchte und schnaufte und kannte kein Zurück. Was war schon weißer Stoff? Runter damit, weg, ich will sie voll und ganz. Beiläufig nahm ich wahr, dass auch ich schon nackt war. Skye über uns flatterte und raschelte und beobachtete uns, wie wir nackt beieinander saßen. Ich merkte, wie er noch einmal schrie, als meine Finger zu ihrem entscheidenden Punkt wanderten und fühlten, wie sie war. Sie keuchte bei jeder Berührung und ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie genauso gierig war. Sie war genauso verzweifelt. Sie wollte nicht mehr warten. Kein Feuer leuchtete, als ich ihre Beine teilte und sie an mich heranzog. Skye saß auf einem Ast im Gesträuch und dachte an ein Kirchenlied, dass er einmal vor einer langen Zeit gehört hatte, doch er wagte nicht, zu singen. Er sah Millenia vor mir im Gras liegend so frei sonst nur in meinen Träumen. Sie erschütterte bei jedem Moment, in dem ich sie ein bisschen mehr mein machte. Sie sah mich an und ich sah sie, sah ihre schlanke Taille und ihre großen Brüste, ich sah sie wie noch nie in meinem Leben und ich wünschte mir in diesem Moment, sie würde zwischen all dem Gekeuche meinen Namen flüstern, wie ich ihren flüstern wollte und nicht Skyes, der zwischen Neugier und Scham nicht wusste, was er machen sollte. Heißes Fleisch, verehrtes Fleisch, mein, mein, mein. Es raschelte in den Bäumen, als Skye verschwand. Als ich mit Millenia im Gras lag und es mir nichts ausmachte, dass sie so verschwitzt war wie ich, merkte ich erst, wie kalt es geworden war ohne Feuer. Ich kuschelte mich an sie, um uns zu wärmen, während ich mit einer Hand noch einmal ihren Körper erkundete, Hüften und Schenkel, diesmal ohne Verlangen, aber mit Zärtlichkeit. Sie lag bei mir, sichtlich müde und verschmust, blickte mich an und sagte kein Wort. Ich wollte auch nichts sprechen. Kapitel 16: Das bürgerliche Trauerspiel (2) ------------------------------------------- Am nächsten Morgen war ich allein. Die Vögel zwitscherten, das Wasser der Quelle rauschte und das Dorf in der Ferne war auch noch nicht erwacht. Nicht nur ich hatte gestern gefeiert. Da ich keinen Drang verspürte, schnell wieder aufzubrechen, ging ich erst einmal in der Quelle baden, und während ich das tat, merkte ich, dass mir etwas bevorstand. Es musste ein Gespräch mit Elena geben. Ich wusste nicht, was sie wusste, und doch konnte es für mich nicht gut sein. Ich musste mich entscheiden. Als ich endlich aus der Quelle trat, herrschte im Dorf schon deutlich mehr Leben, und auch Elena war schon auf. Sie unterhielt sich angeregt mit einem Reisenden, was mir nicht ungewöhnlich erschien, bis mir auffiel, dass es ein Mensch war. Wir hatten im Dorf keine anderen als uns gesehen. „Guten Morgen, Ryudo. Wie geht… ähhm, möchtest du einen Kaffee?“ Elena gab sich fröhlich, aber ihre Augen verrieten, dass es ein Gestern gab. Ich spielte das Spiel einfach mit. „Nicht jetzt, danke“ Ihr merkwürdiger Gesprächspartner war im Augenblick wichtiger. Ein sonnengebräunter Mann war er, dunkle, kurze Haare, wachsamer Blick. Er war kräftig und meine Haltung verriet, dass er bewaffnet sein musste. Ein zäher Bursche. „Guten Morgen“, sagte ich zu ihm, „Ich bin Ryudo und du…?“ – „Ein Gesandter“ Er blickte zu Elena. „Schicken Sie ihn bitte fort.“ Vier Augen durchbohrten das Mädchen mit ihren Blicken, dessen erste Reaktion daraus bestand, sich hinter ihrer Kaffeetasse verstecken zu wollen. „Nun“, sagte sie dann vorsichtig, „Ryudo ist mein Begleiter und geniest mein Vertrauen. Sie dürfen offen reden.“ Der Bote schluckte. Er hatte verloren und wusste nun nicht, wie er fortfahren sollte. Einen endlosen Moment ließ er sich Zeit. Dann kam er direkt auf den Punkt. „Hochinquisitorin Selene ist auf dem Weg hierher.“ Elena und ich tauschten Blicke. „Bitte?“, fragte ich, während ich mich erinnerte: Das war doch die Priesterin, die mich von Maregs Verletzungen geheilt hatte. Was wollte sie nun? „Die Hochinquisitorin weiß, dass Sie nach dem Heiligen Schwert suchen und in Anbetracht der ernsten Lage hat die Kirche beschlossen, kein Risiko einzugehen. Selene ist mit einem Kommando der Kardinalsritter auf dem Weg nach Waracha und wünscht, Sie beim Schwertturm zu treffen. Ich bin hier, um Ihnen das mitzuteilen, Fräulein Elena. Ich bin Ihnen schon nach Garland gefolgt, habe Sie jedoch knapp verpasst.“ – ‚Braves Hundchen’, wollte ich schon sagen, doch ich verkniff es mir. Das war zuviel auf einmal. Ich wollte nicht, dass Selene erschien, nicht nur wegen Millenia würde sie alles schwieriger machen. Das war meine Reise. Elena hing eigenen Gedanken nach. „Und was ist…“, begann sie zögerlich, „und was ist mit mir?“ Der Bote lächelte. „Fräulein Elena“, sagte er, „Die Kirche hat Sie nicht aufgegeben. Inquisitorin Selene weiß, was Sie für sie tun.“ Dabei legte er ihr die Hand auf die Schulter, worunter Elena erneut zusammenzuckte und verlegen lächelte. „Wir wollten bald aufbrechen.“, sagte ich, ehe er ihr noch mehr Angst einjagte, doch ihn schien es nicht zu stören. „Nur zu“, sagte er, „Ich werde hier zurückbleiben. Diese Leute wissen nun, dass ich zu Ihnen gehöre und vielleicht kann ich den Schock mindern, den sie verspüren könnten, wenn eine Einheit der Kardinalsritter ihr Land betritt.“ Sein Lächeln gewann eine widerliche Färbung, als er anfügte: „Ich möchte nicht, dass diese Leute einen Genozid fürchten.“ Das war eine Drohung und ein Blick sagte mir, dass dies auch Elena nicht entgangen war. Sie fühlte sich ebenso unwohl wie ich. Ich verfluchte, dass wir uns nicht beraten konnten, ohne dass er es mitbekam. Da wir vom Heiligen Schwert und vom Aufbrechen gesprochen hatten, blieb uns keine Wahl. Unsere Tage im Dorf waren gezählt. Ich wollte seufzen, doch die Schwäche erlaubte ich mir nicht. Stattdessen wandte ich mich an Elena. „Wir sollten die Zeit nutzen, ehe es zu dunkel wird. Bitte verabschiede dich von Mareg und seinem Volk und frage ihn auch, ob er weiß, wo wir suchen müssen. Frage ihn nach diesem Schwertturm. Ich werde derweil dafür sorgen, dass wir alles haben, was wir für die nächsten Tage brauchen.“ Dann erst wandte ich mich an den Gesandten. „Haben Sie vielen Dank für diesen Bericht. Ich werde Sie lobend bei Fräulein Selene erwähnen.“ Der Bote wirkte auf einmal viel entspannter und reichte mir die Hand. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Herr Ryudo. Ihre Reise steht unter einem guten Stern. Das spüre ich.“ Wie gerne hätte ich mir erlaubt, zu seufzen. So ging unsere Reise weiter. Wie immer zogen wir nach Osten, dem Ende der Welt entgegen, und das Gelände wurde immer ungastlicher. Wir kämpften uns durch immer dichter werdendes Gestrüpp und ein Gewirr an Gewürm und anderen Tierchen, bis wir ganz unerwartet ins Freie traten. Unmittelbar hinter dem Urwald begann ein Land des Sandes. Ich spürte, dass Elena nichts anderes durch den Kopf ging als mir. Vor dem Rand der Scheibe sollte eine Zone ohne Leben liegen. Ich ließ uns die Zeit, den Schock zu verdauen und setzte mich in den Sand, worauf sich Elena zu mir gesellte. „Schön ist’s hier.“, sagte ich. Sie stimmte zu. „Beeindruckend.“ Wir aßen eine Kleinigkeit, während wir redeten. „Das heilige Schwert“, erzählte sie mir, „wird laut Maregs Volk im Turm der purpurroten Wolken aufbewahrt. Es wird sich dabei sicher um den Schwertturm handeln, zu dem Selene mit ihren Truppen unterwegs ist. Er befindet sich mitten in einer Zone aus Sand.“ – „Wäre gut“, lachte ich, „denn dann könnten wir ihn einfach erspähen. Weißt du, ob er tatsächlich die Wolken färbt oder sagt der Name nur, dass er im Osten liegt?“ Ihr fragendes Gesicht verriet die Antwort. „Wir finden ihn“, sagte ich siegessicher. „Wir sind schon so weit.“ Mit einem Mal sah ich Skye. Er schwebte knapp über der Erde und blickte mich strafend an. „Und wie geht es dann weiter?“, fragte er mich. Ich schluckte. Mein Blick floh zu Elena, die mich aber nicht verstand, was gerade passierte. Was sollte ich nur tun? Vor ihr mit meinem Geistesbegleiter zu sprechen wäre peinlich. Sie schien mein Dilemma erraten zu haben. „Skye, nicht wahr?“, fragte sie und erkannte an meinem verlegenen Lächeln, das sie recht hatte. „Er möchte wissen, wie es weitergeht, wenn wir den Turm gefunden haben.“ Sie beugte sich vor. Diese Frage interessierte sie natürlich auch. Es war nur dumm, dass ich keine Antwort für die beiden hatte. „Wir müssen uns ansehen, was wir dort finden. Ist es ein einfaches Schwert, dann…“ Ich schüttelte den Kopf, doch ich konnte nicht entkommen. „Ich werde auf keinen Fall auf Verdacht auf Elena einstechen und hoffen, dass es etwas bewirkt. Wir brauchen einen Gelehrten, der es uns dann erklärt.“ Das hielt sie nicht auf. „Selene?“ – „Ja, vielleicht, auch wenn ich ihr nicht traue.“ – „Das solltest du aber.“ Ich stand auf. „Hört zu, es macht doch keinen Sinn, über Beute zu diskutieren, die wir noch nicht erlangt haben. Wenn wir jetzt von Möglichkeiten träumen, dann werden wir hinterher nur enttäuscht sein.“ Das klang vernünftig und rettete mich, doch Skye ließ sich nicht so einfach täuschen. „Ist dir bewusst“, fragte er mich, „dass sie immer mächtiger wird? Mit jedem Teil Valmars, das von der Erde verschwindet, steigt ihre Kraft. Es wird immer unwahrscheinlicher, sie zu entfernen und es wird immer schwerer, sie überhaupt zu besiegen. Du hast ihr Aura und Melfice zum Geschenk gemacht. Noch ein Teil, dann kannst du ihr nichts mehr anhaben, und noch zwei oder drei, dann wird sie Valmar werden und die Erde verschlingen, und glaube mir: Valmar liebt dich nicht.“ Die letzten Worte hatte er geschrieen und nun sah er mich von Elenas Schulter aus grimmig an. „Das wusste ich nicht“, stammelte ich. Elena bemerkte nicht, wie er sich an sie anschmiegte und seine Flügel durch ihre Haare fuhren ließ. „Sie ist so schön“, flüsterte er mir zu. „Zartes Fleisch. Jungfräuliches Fleisch. Du hättest sie haben können und kannst sie noch haben. Nur bitte mach jetzt keinen weiteren Fehler mehr.“ Elena wurde sich bewusst, dass ich in ihre Richtung starrte und zuckte zusammen. „Über was sprecht ihr?“ Ich lächelte. „Über Möglichkeiten, dich zu retten.“ – „Gut. Dann macht weiter.“ Skye fauchte mich an wegen dieser Lüge. „Ryudo, weißt du überhaupt, wer ich bin? Ich bin das Totem vom Garland und entschied mich schon, dich zu beschützen, als Valmar nicht einmal ein Name für dich war. Ich habe dir mein Schicksal anvertraut, ich war dein Freund und Zuhörer, wenn es dir schlecht ging, und tue Dinge für dich, die du nicht einmal siehst und verstehst. Können wir es nicht diesmal andersrum halten? Tue etwas für mich, werde Millenia los, sobald du kannst und rette die Welt. So gewinnt jeder.“ Ich seufzte. Was ich ihm sagen wollte, konnte ich nicht vor Elena aussprechen, also dachte ich es bloß und hoffte, er könnte es auch so verstehen. ‚Millenia verliert. Siehst du es nicht, sie ist mehr als nur ein Monster und mehr als nur ein Körper. Sie ist ein Mensch geworden, ein weicher, verletzlicher Mensch, und… ich will sie nicht töten, das ist alles. Ich will nicht wieder wie bei Melfice sein.’ Ob Skye mich hörte und es ihm missfiel oder ob er mein Schweigen als Antwort nahm, nun verschwand er. „Denke noch einmal darüber nach“, gab er mir auf den Weg mit, dann wurde er zum Punkt am Himmel. Diskussion beendet. Sein Abgang machte mich wütend, ich konnte es nicht erklären. Ich konnte es nur gut verbergen, als Elena mich prüfend ansah. „Er ist weg“, sagte ich ihr. „Und?“ – „Gibt kein Und. Wir müssen zum Turm.“ Kapitel 17: Der purpurrote Schwertturm (1) ------------------------------------------ Das Ende rückte immer näher. Mit jedem Schritt, den ich vorwärts, wusste ich, was auf mich zukam. Der Turm kam mit jedem Schritt näher und die Zeit, die mir noch blieb, um noch eine rettende Idee zu finden, schmolz dahin wie Eis in der Wüste. Für mich hieß das: Ich musste wissen, was ich im Fall der Fälle tun sollte. Ich hatte eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Millenia opfern oder mich im Zweifelsfall gegen Elena und Selene stellen. Beides kam für mich nicht infrage und so hatte ich noch keine Antwort, als der Turm erschien Horizont erschien. Wieder einmal veränderte sich das Land und während kilometerweit kein Grashalm leben konnte, erstreckte sie vor uns nun eine wunderschöne Waldlandschaft, in die uns der Gesang der Vögel begrüßte. „Granas Paradies“, stöhnte Elena auf, während ich lächelte. „Wir befinden uns noch auf Erden, doch es ist trotzdem wunderschön.“ Ich hatte eine Idee. „Wollen wir uns diesen Ort nicht etwas genauer ansehen?“ – „Nein, er läuft uns nicht davon. Ich möchte die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Es war für mich überraschend, wie schnell Selene uns fand. Noch jenseits ihrer Lager wartete sie ganz allein auf uns und lächelte, als sie uns sah. „Ryudo, Elena, es ist schön, dass ihr es geschafft habt.“ Die Inquisitorin hatte sich seit Mirmau nicht verändert. Auch inmitten des Grüns zeigte ihre Kleidung keinen einzigen Makel und wenn ihr Lächeln nicht echt war, dann war es zumindest gut gelogen. „Ihr hattet einen langen Weg seit Mirmau. Darf ich fragen, wie es euch geht?“ Wir wechselten einige Blicke. „Uns geht es gut“, sagte ich und wollte ihr keine genauere Antwort geben. Sicher, seit Schlesien war viel passiert, doch was sollte sie es kümmern? „Und was macht deine Fracht, Elena? Kannst du sie tragen?“ Elena lächelte schüchtern. „Sie spricht zu mir, aber ich höre ihr nicht zu. Sie erscheint nur selten.“ Selene nickte und nahm es auf. Ich wusste, sie zog ihre Schlüsse. Dann setzte sie sich in Bewegung, schlenderte mit uns durch den Wald und erzählte: „Ich habe von deinem Fall in St. Heim gehört“, sagte sie. „Doch ich kam zu spät, um euch beizustehen. Ich kann die Entscheidung verstehen, die die Kardinäle trafen, aber ich kann sie nicht teilen. Jetzt bin ich hier.“ Sie räusperte sich. „Ich hörte von eurem Sieg über Melfice und möchte euch beglückwünschen. Ich hörte auch von eurer Suche nach dem Schwert. Diesmal möchte ich euch gerne unterstützen.“ Schemen ihres Lagers zeichneten sich am Horizont ab. „Die Anzeichen mehren sich, dass wir in einer Endzeit leben. Der letzte Tag und die Wiederkehr Valmars stehen uns bevor. Die Kirche meint, in dieser Zeit sollten wir unsere Herzen stärken und unsere Mauern befestigen, ich hingegen denke, wir sollten den Feind bekämpfen, wo er sich zeigt und wo wir eine Möglichkeit dazu haben. Wenn es irgendwo eine Waffe gegen Valmar gibt, dann müssen wir sie finden und ergreifen, auch wenn wir dafür bis ans Ende der Welt reisen müssen. Wir haben den gleichen Weg hinter uns.“ Ich rollte mit den Augen und verkniff mir einen Kommentar. Unser Weg hatte sich von ihrem doch erheblich unterschieden. „Wie viele Männer begleiten Ihre Kampfgruppe?“, wechselte ich das Thema, „Fünfzig?“ – „Knappe sechzig. Hauptsächlich Kardinalsritter, dazu ein paar Freischaffende, Forscher, Ärzte und Priester. Waracha ist uns unbekannt, deshalb wollte ich lieber zu vorsichtig sein.“ – „Ja, das stimmt“, sagte ich. „Und Kompliment für Ihren Boten. Er traf uns in einem Dorf und überbrachte seine Nachricht.“ Sie lächelte entschuldigend, als ihr mein zynischer Unterton bewusst wurde. „Verzeihen Sie bitte meinen Männern. Zu viele von ihnen verlassen zu selten Exerzierplatz oder Kloster. Da fehlt es dem einen oder anderen von ihnen an Takt.“ Ich seufzte. „Wäre schön, wenn ihm nicht mehr fehlt als nur Takt.“ Sie ging nicht darauf ein, doch verrieten sie ihre Augen. „Ich bin nicht dienstlich hier.“, sagte sie verschwörerisch, „Ich bin hier, um euch zu helfen. Ich habe es schon einmal getan, Ryudo, bitte lasst es mich wieder tun.“ Ich brauchte eine Weile, ehe ich erkannte, dass sie den Kampf gegen Mareg meinte. Als ich wieder zu Selene aufsah, trug sie wieder ihre Maske. „Ich möchte euch in mein Lager führen. Da könnt ihr euch ausruhen und danach können wir über die nächsten Schritte beraten. Ich habe ein paar Ideen, wie ich euch bei eurem Weg in den Turm unterstützen kann.“ Sie lächelte. Ich nickte und hörte ihr zu. Elena trottete uns hinterher. Wir alle wussten, dass bald ein Vorhang fallen würde. Das Lager erwies sich als eine kleine Ansammlung von Zelten, Feuern und wuselnder Menschen in Kirchentracht und Rüstung. Die Zahl Sechzig glaubte ich Selene für den Augenblick, war es doch ohnehin ohne Belang. Es waren zu viele für uns. Damit war eingetreten, was ich befürchtete. Selene hatte uns in der Hand. Sie bestimmte, was geschehen sollte, auch wenn sie sich noch so freundlich gab. Mit ihren Worten ließ sie uns nicht los. „Wisst ihr“, erzählte sie weiter, „Es war eine Menge Arbeit, diesen Trupp zusammenzustellen. Es hat mich einiges an Geld gekostet, viel Zeit und auch viele Gefallen. Was denkst du denn, Ryudo? Wie lautet deine Meinung als Profi dazu?“ – „Ich würde sagen“, begann ich und sah mich um, „es ist eine kampfstarke Truppe. Keine Kirchenwachen und Stadtgardisten dabei. Ich frage mich nur, wie die einzelnen Teile aufeinander eingespielt sind. Das wäre meine größte Sorge.“ – „Meine wäre es auch“, gab Selene mir recht, „und ich arbeite daran. Aber lasst mich euch bitte noch ein Geschenk machen. Ich habe jemanden für euch, der euch eine Hilfe sein kann.“ Mit diesen Worten ging sie auf eines der Zelte zu und ließ Elena und mich ihr folgen. „Wisst ihr“, sagte sie, „wenn diese Geschichte vorbei ist, dann werde ich entweder einen Platz auf dem Scheiterhaufen oder im Heiligenkalender erhalten, abhängig von dem Ausgang. Das liegt damit auch in euren Händen liegt. Der Schatz, den ich euch übergeben möchte, stammt aus dem Kloster Domus Caeli an den Osthängen von St. Heim. Es war mühevoll, ihn zu bekommen, aber…“ „Entschuldigen Sie“, endlich meldete sich einmal Elena zu Wort, der es nicht gefallen konnte, von der Inquisitorin weitestgehend unbeachtet zu bleiben, „aber was meinen Sie mit mühevoll?“ – „Nun ja“, sagte Selene. „Ich habe den Orden der Ketzerei beschuldigt, die Mönche verhaften lassen und mich des Klosters und seiner Schätze bemächtigt. Mal sehen, wie lange die Kirche braucht, um das zu erkennen… aber wie ich schon sagte, Scheiterhaufen oder Kalender.“ Wenn die Aussicht auf Ersteres sie beunruhigte, konnte sie es erstaunlich gut verbergen. „Doch genug davon. Darf ich euch Tiodora vorstellen? Oder bitte, nennt sie Tio.“ Das Zelt war so dunkel, dass ich einige Zeit brauchte, die regungslose Frau in der Mitte zu erkennen. Auf den ersten Blick erinnerte sie mich an eine Puppe, die hier vergessen wurde, eine zarte Schönheit mit glänzendem schwarzen Haar und gelbroten Gewändern, aber auch mit einer unnatürlich blassen, fast bläulichen Haut. Ihre Augen waren geschlossen und es fehlte jede Reaktion auf unser Erscheinen. „Tiodora hier“, begann Selene zu reden und schloss die Figur in ihre Gesten mit ein, „ist ein künstlicher Mensch. Sie wurde von Granas geschaffen, um im großen Kampf für ihn zu kämpfen und verbrachte die letzten Jahrhunderte als Wächterin eines Heiligtums in den Höhlen unter St. Heim. Sie ist genau das, was ihr jetzt braucht, sie ist stark, absolut loyal und – das ist das Wichtigste – vollkommen unberührbar für die Relikte Valmars. Mit ihr werdet ihr den Turm betreten und mit ihr werdet ihr bis zum Ende der Welt rechnen können.“ Die Puppe blieb weiterhin regungslos. „Na, gefällt sie euch?“ – „Das ist… viel.“, begann ich, als ich den Wert dieses Geschenkes überschlug. „Sie rechnen mit großem Ärger?“ – „Ich gehe lieber auf Nummer Sicher. Ein Teil Valmars ist mir zu nah.“ Diese Antwort gefiel Elena, während sie mir nicht schmecken konnte. „Wie geht es weiter?“, fragte ich sie stattdessen. Auch darauf hatte sie eine Antwort: „Natürlich werdet ihr den Turm betreten. Wir haben ihn zwar gesichert, doch wollte ich bislang keinen Fuß hereinsetzen. Meinen Männern vertraue ich offen gesagt nicht genug dafür.“ Das klang erstaunlich logisch, aber auch viel zu leicht. Ich blieb misstrauisch. „Sofort?“ – „Nein, wir haben keine Eile und ihr habt einiges hinter euch. Ruht euch aus, macht euch frisch, lernt Tio besser kennen, was ihr möchtet. Das ist eure Reise, deine und Elenas, und ich möchte mich darauf beschränken, euch den Rücken freizuhalten.“ Das klang so unwirklich, das ich den Haken gleich ziehen wollte. „Werdet ihr auch das Tor bewachen, während wir darin sind?“ – „Natürlich, euch sollen ja keine Monster in den Rücken fallen.“ Ich schüttelte den Kopf. Wir waren Selene ausgeliefert, auch wenn sie das so gut wie möglich zu verbergen suchte, und sie merkte, dass es Zeit für sie war, zu gehen. „Tio, bitte übe mit Ryudo, aber verletzt euch nicht. Darum geht es nicht.“ Dann war sie verschwunden, während die Puppe zu Leben erwachte. Nahezu sofort kehrte das Leben in das dunkle Zelt zurück. Tio öffnete ihre Augen – ihre Pupillen schienen wie aus Bronze gegossen –, blickte zu mir auf und ließ mich sehen, wie sie tellergroße Stahlringe aus ihrem Gewand hervorzauberte. Damit musste ich kämpfen, was mich überraschte, denn von solch einer Waffe hatte ich noch nie gehört. Ich fragte mich noch, ob sie sie wohl warf oder schlug, als sie schon auf mich zustürmte. Unsere Klingen kreuzten sich. Während des Kampfes fand ich heraus, was mich schon verwunderte, seit ich das Zelt betreten hatte. Sie atmete nicht. Ihr Körper zitterte nicht. Auch während des Kampfes war kein Schnauben zu hören. All diese kleinen Details, die einen Menschen ausmachten, fehlten bei ihr, doch steckte so viel Kunst in ihrer Künstlichkeit, dass es mich beeindruckte. Sie hatte keine großen Probleme, mich zu besiegen, denn ich war zwar stärker als sie, doch sie war schnell und nahezu unmenschlich präzise. Jeder Angriff traf genau das beste Ziel. Nach fünf Klingen nahe meiner Kehle hatten wir genug. Der Ausgang war eindeutig, war mir doch kein einziger Sieg gelungen, und ich war ausgelaugt und von schmerzenden Blessuren erschöpft. Auch wenn sie ganz unscheinbar und ungefährlich wirkte, wusste ich, dass ich mich in ihrer Nähe sicher fühlen konnte, solange ich tat, was Selene wollte. Waffen waren nur die eine Seite des Kennenlernens, also suchte ich das Gespräch: „Du kämpft beeindruckend.“, sagte ich zu Tio, „Es ist das erste Mal, dass ich diesen Stil sehe oder deine Waffen.“ Ihre Antwort lautete ganz einfach: „Das stimmt.“ Ich weiß nicht, was für eine Stimme ich erwartet hatte. Sie klang natürlich und sie sprach auch leiser, als ich vermutete. Ich versuchte es weiter. „Was sind das eigentlich für Waffen?“ Nach dem Kampf war sie wieder in ihre Ausgangslage zurückgefallen, sie stand da und blickte mich unentwegt an. „Ich nenne sie Balar“, sagte sie. „Ich nutze sie als Waffen gegen Valmar. Valmar zeigt sich meist als Fleisch, also schneiden sie.“ Ich betrachtete die Stahlringe mit ihren geschliffenen Außenseiten und verstand. Mit diesen Klingen würde sie an jeder Metallrüstung kläglich versagen, sollte sie nicht durch Zufall weiche Stellen erwischen. Bei ihrer Präzision würde ich allerdings im Zweifelsfall auch nicht gegen sie wetten. Ich wechselte das Thema und wandte mich einem anderen Punkt zu: „Selene erzählte mir, sie hätte dich aus einem Kloster mitgenommen. Warum bist du ihr gefolgt, obwohl sie deine Herren verhaftete?“ Wenn ich damit zu weit ging, ließ sie es sich nicht anmerken. „Es war ein Instinkt.“, erklärte sie mir. „Danach entscheiden wir. Valmar kennt viele Formen und kann noch mehr imitieren. Jede Wahrheit kann falsch sein.“ – „Das klingt… seltsam. Ich glaube nicht, dass irgendeine Armee heute ein solches System tragen könnte.“ – „Automata liegen häufiger richtig als falsch. Es sorgt für erwartbare Werte.“ Ihre Offenheit und Unberührtheit erschreckte mich. Ich wollte einen Seitenblick zu Elena werfen, doch sie schien gegangen zu sein. ‚Kluges Mädchen’, dachte ich und wandte mich wieder Tio zu. „Vertraust du mir eigentlich?“ Direktheit schien sie nicht zu stören. „Du bist nicht Valmar, du kämpfst zu schwach. Folglich kämpfen wir gemeinsam gegen ihn.“ Das war ein Finger in zu viele offene Wunden, doch ich schaffte es, mir nichts anmerken zu lassen. „Hatten wir uns eigentlich vorgestellt? Meine Begleiterin ist Elena, ein Mitglied der Granaskirche, und ich bin Ryudo, ihr Leibwächter.“ – „Tiodora. Tio.“ Sie musste ihren Rufnamen gut genug kennen. „Was bevorzugst du eigentlich? Wie soll ich dich nennen?“ – „Tio. Ist kürzer.“ Eine menschliche Frau hätte wohl gelächelt, doch von ihr kam keine Reaktion. „Dann willkommen im Team, Tio“, sagte ich, um dann das Thema zu wechseln. „Weißt du eigentlich etwas über den Turm, in den wir gehen werden, und über das heilige Schwert?“ – „Nein. Wir wissen nicht alles. Beides kreuzte nicht meinen Weg.“ – „Aber du kennst andere Türme?“, kam mir plötzlich ein Gedanke. „Waren es Türme Valmars? Weißt du, was uns erwarten kann?“ Sie musste überlegen. Das sah ich an einem Zittern in ihren bronzenen Augen. „Ich erinnere mich nicht.“ Täuschte ich mich oder schwang in ihrer Stimme eine Spur Hilflosigkeit mit? Ich wollte mehr wissen. „Passiert dir das häufiger?“ – „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht häufig.“ Das klang seltsam, genau wie die ganze Fragerunde. Tiodora stand immer noch unbewegt da und wartete auf meine nächsten Worte, doch ich entschied, dass es genug war. „Brauchst du noch eine Vorbereitung für den Sturm?“, fragte ich sie. „Ich würde mich gerne ausruhen und noch einen Happen essen. Möchtest du mitkommen?“ – „Ich brauche nichts und ich möchte.“, sagte sie, „Ich möchte Elena kennen lernen.“ Meine Alarmglocken schrillten auf, als ich abwägen musste. Die Nähe zu Elena könnte Millenia in Gefahr bringen, doch es war auch ein Risiko, den Turm mit einer Gruppe zu betreten, die sich nicht kannte und einander nicht vertraute. Vielleicht war sie ja auch einfach nur neugierig auf das Mädchen, das einfach gegangen war. Ich hätte sie fragen können und hätte wohl eine Antwort erhalten. Ich tat es nicht. Kapitel 18: Der purpurrote Schwertturm (2) ------------------------------------------ Selten einmal hatte ich in meinem Leben so wenig eine Wahl gehabt als in dem Moment, in dem wir den Schwertturm betraten. Es fühlte sich an, als würden wir in ein offenes Messer laufen und hätten keine Wahl. Erinnerungen an den letzten Turm waren in mir viel zu lebendig. Diesmal sollte sich doch alles zum Besseren wenden. Du Luft war kalt und staubig, als wir die Gänge betraten und Selenes Wachen hinter uns zurückließen. Nun gab es nur noch Tio, die schweigsame Elena und mich. Ich zog zur Sicherheit mein Schwert. Dunkle Gänge lachten uns entgegen, Fackeln brachten Licht. Gehauene Wände aus dunklem Stein ließen sich erkennen und auch der Boden war noch intakt. Nur der Sand, der an einigen Stellen eingedrungen war, verriet das gigantische Alter dieses Bauwerks. Es schien seit Ewigkeiten verlassen. Es war still. Tio bewegte sich fast ohne Laut und auch Elena schien der Wunsch erfasst zu haben, möglichst unsichtbar zu sein. So blieben meine Schritte, meine brennende Fackel und manchmal auch etwas anderes. Ich hörte etwas brummen, doch keiner meiner Kameraden wollte es bestätigen. Es war erdrückend. Ganz plötzlich brach Tio die Stille. „Angriff“, rief sie und kam sofort in Bewegung, während ich mich zur Seite warf, um nur so haarscharf einer Feuerkugel zu entgehen. Das Brummen war schrecklich laut geworden, doch ich konnte seine Richtung nicht bestimmen. Was sollte ich tun? Ich war allein. Tio hatte sich in die Schatten geworfen und von Elena war nichts zu erwarten, also blieb alles an mir hängen. Ich stürmte voran, hin zu dem Feind, und plötzlich war ich ganz nah. Es war ein riesiges Viech in rotem Pelz und seine Hörner waren länger als mein Schwert. Ich erkannte auch das Brummen. Es war sein schnaufendes Atmen. Viel Zeit blieb mir nicht. Feuer verfehlte mich nur knapp, als plötzlich Tio an meiner Seite erschien. Da griff sie an, ihre Reife gezogen stürmte sie auf das Biest zu – ich konnte ihr gar nicht so schnell mit meinen Blicken folgen – und sprang, während sie mit ihren Klingen um sich wirbelte und hoffte, die Kehle des Monsters zu erreichen. Es gelang ihr nicht. Trotzdem schlug sie hässliche Wunden, die das Vieh erst einmal verdauen musste. Ich nutzte die Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen, ehe mir eine Idee kam. Ich musste dasselbe versuchen wie Tio. Ich war bereit und Tio gab mir ohne ein Wort die nötige Ablenkung. Sie warf schnell eine ihrer Scheiben, die wie ein Diskus die Luft zerschnitt und die rechte Pranke der Bestie traf. Der Schrei war markerschütternd, denn die Waffe glitt einfach durch und riss Blut und Fleisch in einem Bogen mit sich. Wut, Schmerz und Angst mischten sich in der Bestie und Tio hatte erreicht, was sie wollte. Sie nahm mich gar nicht mehr wahr. Ich war am Ziel. Mein Körper prallte gegen vermoderten Pelz und ich riss meine Klinge nach oben. Ich traf und drückte immer höher, ignorierte den Gestank und das dunkle, heiße Blut, das auf mich herabregnete, sondern umklammerte mein Schwert und hoffte, nicht meinen letzten Fehler begangen zu haben. Ich hatte Glück. Das Monster brach zusammen und schlug auf den Boden auf. Ich hatte sein Hirn durchbohrt. Ich keuchte, als ich mich endlich davon löste, suchte Tios Blick und lächelte. Wir hatten es geschafft. Der Wächter war überwunden und der Weg zum Schwert lag frei. Der Preis war unser. Hinter einer Vitrine funkelte uns eine mattschwarze Klinge an und alles, was wir zu tun hatten, war ein Glas zu brechen. Ich wechselte Blicke mit Tio, als plötzlich Elena wieder hinter uns erschien und erstarrte. Das war das Ziel unserer Reise. Tio löste sich als erster aus dem Bann. Langsam näherte sie sich der Beute. Sie setzte an, die Scheibe zu zerschlagen, als eine unglaubliche Panik mich erfasste und mich aufschreien ließ. Ich wollte zu ihr vorstürmen und sie wegreißen, doch mein Körper gehorchte nicht mehr meinem Willen. Ich war hilflos. Als Tio die Klinge berührte, wurde sie von einer Kraft durchgerüttelt, bis von einem schrecklich qualvollen Krachen begleitet durch den Raum geschleudert wurde. Ihre Arme waren zerborsten und wurden durch dunkles, waberndes Fleisch ersetzt, welches Klauen bildete. Ihre bronzenen Augen beschlugen und färbten sich giftgrün. Zutiefst verwirrt und hilflos starrte sie mich damit an. Ich hatte es verstanden. Das Schwert war eine Falle gewesen und ein Teil Valmars hatte gerade ein neues Nest gefunden. Tios Stimme klang fremd, als sie sagte: „Bleib zurück. Elena ist Valmar. Ich will nur sie.“ Endlich gehorchte mir mein Körper wieder, doch nun musste ich handeln, ohne zu überlegen. Wie in Trance ergriff ich mein Schwert und sprang dazwischen. Metall traf gehärtetes, dunkles Fleisch und warf Tio wieder von meinem Mädchen weg. Elena musste in Sicherheit bleiben. „Was soll das, Tio?“, schrie ich, „Warum kämpfst du nicht dagegen an? Das hier ist doch dein großer Feind. Du kannst ihn doch besiegen.“ Ihre Augen riefen um Hilfe, als sie sich erneut in den Kampf stürzte. So schnell wie sie mir vertraut hatte, war sie nun bereit, mich zu töten. Etwas Warmes floss meine Stirn herab und ich wusste nicht, ob es Blut oder Schweiß war. Hatte sie mich schon getroffen? Tio ließ mir keine Pause. Ihr Körper huschte um mich herum und ihre Schritte waren so elegant und präzise, wie ich sie im Zelt schon erlebt hatte, während ihre Angriffe erschreckend unbeholfen wirkten. Sie hatte nie gelernt, mit Valmars Klauen zu kämpfen, und nur das hielt mich am Leben. Ich hatte eine Chance. „Elena, renn“, schrie ich, weil mir nichts anderes einfiel und ich eine Sorge weniger haben wollte. Mein Gegner war stark, er war gut genug, seine Klingen kamen mir zu nah und trafen mich. Und ich? Wollte ich sie eigentlich töten? Ja, verdammt, beantwortete ich mir meine Frage, sie war kurz davor, mich auszuknipsen, da konnte ich keine Rücksicht nehmen. Mit einem Schrei trat ich ihr in den Bauch und ließ sie nach hinten taumeln. Auch ihre Verteidigung funktionierte mit neuen Waffen nicht mehr. Dann ließ ich meine Klinge schwingen. Ich traf sie und ließ ihren Körper splittern, doch hinter mürbem Porzellan kam nur frisches dunkles Fleisch zum Vorschein, also schlug ich wieder und wieder drauf auf den wehrlosen Feind. Ich musste sie besiegen. Tio ging zu Boden. Ihre Frisur war längst hinüber, ihr Gesicht hatte Sprünge und als sie mich anblickte, nahm ich einen bronzenen Schimmer in ihren Augen wahr. Bildete ich mir ein, dass sie etwas flüsterte? Für sie war zu spät. Mit voller Wucht prallte mein Schwert auf ihren Kopf, das Bersten von Ton hallte durch den Raum und ich sah, dass es aus war. Ihre schwarzen Arme waren verschwunden und zurück blieb eine zerbrochene Puppe, die auf dem Boden lag und immer noch zu mir aufzublicken schien. Das war zuviel. Ich sank auf die Knie, ergriff ihren Leib und ich weinte. Die Tränen flossen, während mich ihr geschundener Kopf immer noch anzusehen schien. Sie lächelte nicht und sie litt nicht. Es floss kein Tropfen Blut. Trotzdem hatte ich sie getötet. Ich hatte es nicht gewollt, aber ich konnte es nicht verhindern, doch nun war die Frau Tiodora nichts anderes mehr als ein geschundenes Häufchen Ton. Was konnte ich anderes tun? Ich konnte nicht mehr, ich ließ mich über sie sinken und brach zusammen. In meinem Kopf nagte eine Stimme immerzu und sagte mir: „Eines Tages wird es Millenia sein.“ Irgendwann wurde es dunkel um mich, denn neben der Erschöpfung gaben mir meine Wunden den Rest. Ich war kein strahlender Sieger gewesen. Plötzlich fand ich mich im Gras liegend wieder. Die Sterne funkelnden, während das Land nach Heimat roch, und ich hoffte, dass ich nun eben aus einem Alptraum erwacht war. Dann trat Millenia in mein Blickfeld trat. Sie wirkte traurig. Ich lächelte sie an, als ich sie sah. „Was ist los? Bin ich tot?“ Kurz dachte ich, sie würde sie sich zu mir setzen, doch sie blieb und thronte weiter über mir. „Nein“, sagte sie und versuchte, sorglos zu lächeln. Dann gab sie es auf. „Doch“. „Dann war Tio also zuviel für mich? Ich hätte doch mehr trainieren sollen.“ Mein Versuch, unbesorgt zu wirken, misslang mir gründlich. Millenia schüttelte nur den Kopf: „Das ist es nicht. Es ist nur… Valmar ist wieder eins. Die Klauen ermöglichten die Vollendung. Ich trage nun seine ganze Macht in ihr und werde bald in die Erde fahren. Das Land wird es nicht verhindern können.“ Das klang mir alles zu hoch, aber ich sah ihre Sorge. „Du meinst“, fragte ich, „das Ende der Welt ist nahe?“ Jetzt setzte sie sich zu mir ins Gras. „Ja, genau das.“ – „Dann hatte Skye also Recht.“ – „Hatte er. Ich war nur weiter, als er dachte.“ Wir saßen beisammen, bis sie schließlich erzählte: „Die Augen von Valmar in Mirmau, das Horn von Melfice und die Klauen von Tio. Die Zunge ließ ich von Mareg in Liligau erlegen, die Flügel besitze ich selbst. Der Körper schafft den Geist und der Geist den Körper. Das konnte Skye nicht wissen.“ – „Und nun?“ – „Die Energien vereinen sich in mir und werden mich auflösen. Dann wird die neue Kraft die Erde verwandeln. Bald wird es kein Leben mehr geben. Die nächsten Tage werden ein Alptraum sein.“ Das war mir zuviel auf einmal, um es jetzt völlig zu begreifen: „Bin ich deshalb hier?“ – „Du bist in mir“, sagte sie und lächelte schüchtern. „In meinem Verstand. Ich wollte dich bei mir haben, jetzt…“ Es donnerte und die Erde bebte, während Blitze die Nacht durchzuckte. Sie sprach nicht weiter. „Westschlesien, ein schöner Ort“, sagte ich, als ich das Land um mich herum erkannte, „Hier trafen wir uns zum ersten Mal, nicht wahr?“ Sie nickte. „Ja, hier hast du mich geformt aus Traum und Wunsch. Ich muss sagen, mir gefällt dein Werk.“ – „Ich habe was?“ – „Nachdem ich im Carmina-Turm aus dem Siegel gebrochen wurde, hast du in dieser Nacht geträumt. Erinnerst du dich?“ Es war seltsam, doch ich tat es. „Ich habe dich aus dem Boden ausgegraben und vom Schmutz befreit, nicht wahr?“ Sie nickte. „Ich brauchte eine Form und Elenas Geist war so trostlos. Sie brauchte mich nicht, hatte mich nicht gerufen und wollte nur meine Vernichtung. Darauf kann man kein Leben gründen. Dann fand ich dich daneben schlafend und deine Träume von Liebe und Schönheit…“ Sie legte den Arm um meine Schulter und kuschelte sich an mich. „Daraus wurde dann ein Leben.“ Ihre Bewegungen ließen etwas klirren und ich erkannte, was es war. Mein Schwert. Ich hatte es bei mir. Millenia folgte meinem Blick, doch als ich sie anblickte, wich sie mir aus. „Mir gefällt es hier.“, wiederholte ich noch einmal. Stille lag zwischen uns, bis sie sie durchbrach. „Ich weiß nicht, warum es so endet. Eins führte zum anderen, als plötzlich…“ Sie brach ab, als die Tränen kamen, und fügte dann hinzu: „Ich habe dich benutzt. Vergib mir. Bitte vergib mir.“ Es störte mich nicht. Valmars Teile fanden zusammen, hatte sie gesagt? Es passierte auch mit den Menschen. Ich hatte mich in sie verliebt, ich hatte mit ihr geschlafen, ich hatte mich für sie entschieden. Ich musste ihr nichts verzeihen. Es war keine Magie. „Mach dir nichts draus“, sagte ich. „Elena hat mich benutzt, Skye ebenfalls, ebenso Selene. Ich bin es gewohnt, benutzt zu werden, als Geronshund sowieso. Ich möchte dir nur sagen, was du auch getan hast, es war eine schöne Zeit. Es ist schade, wenn sie nun endet.“ Sie lachte mit Tränen in den Augen. „Du bist so dumm“, sagte sie. „So unendlich dumm.“ Ich nahm sie in die Arme und hielt sie fest, als die Erde erneut erbebte. Die Teile finden zusammen, dachte ich und musste lachen, als ich ihren Busen gegen meine Brust drücken spürte. Wie gerne würde ich noch einmal… Da erkannte ich es. Es gab einen dritten Weg. Sie hatte ihn mir gewiesen, jetzt musste ich ihn ergreifen. „Skye“, sagte ich leise. „Ich brauche dich. Zum letzten Mal, mein Freund.“ Dann schloss ich die Augen und dachte, was zu tun war. Skye erschien. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn über uns schweben. Er blickte mich an, das majestätische Wesen, dann löste er sich auf zu einem Pfeil blauen Lichts, das in Millenia einfuhr. Irgendwas tief in mir begann schrecklich zu schmerzen. Ich fühlte mich, als würde ich von einem Moment auf den nächsten lebendig gekocht oder als würde eine Unzahl von kleinen Händen gleichzeitig an meinem ganzen Körper ziehen. Ich glaubte, zusammenbrechen zu müssen, doch dann war alles vorbei. Die Erde rumpelte nicht mehr. Ihr ging es alles zu schnell. Sie starrte mich an, während ich keuchte und selbst gegen die Tränen kämpfte. Selten hatte ich ihr etwas erklären müssen:. „Die Teile finden nicht zusammen. Ich bin Melfice, das Horn Valmars. Solange ich lebe, wird dieser Teil der Kraft nicht dein sein.“ Sie starrte mich an, als ob ich nun ganz verrückt geworden sei, doch die Welt schien mir zuzustimmen. Schließlich sank Millenia zusammen und weinte gegen meine Brust. Ich hatte den dritten Weg gefunden. Was es bedeutete, das würde sich zeigen, doch für heute hatte Valmar die Welt nicht bekommen. Kapitel 19: 5. Akt: Die Zeit danach ----------------------------------- Die Ereignisse hatten mich ausgelaugt, deshalb blieb ich noch eine Weile, um mit Millenia noch etwas Zeit zu verbringen. Sie sah es ähnlich und blieb an mich angeschmiegt im Gras liegen, während die Sterne funkelten. „Warum hast du es eigentlich getan?“, fragte ich sie dann, „Ich meine, Valmar zusammengefügt. Was hast du davon, wenn die Welt untergeht?“ Sie sah mich an, während sie überlegte. „Ich weiß nicht. Es war in meinem Blut. Mir kam nicht einmal die Idee, dass es falsch sein könnte, ehe es passierte.“ – „Und nun?“ Sie lachte. „Was glaubst du denn?“ Nein, ich hatte wirklich nicht das Gefühl, dass sie Skye und mich töten würde. Von allen Sorgen, die mich plagten, konnte ich wenigstens die vor dem Weltuntergang beiseite schieben. Eine andere kam mir in den Sinn. „Weißt du eigentlich, ob Elena etwas von uns weiß?“, fragte ich dann, „Von den Ereignissen des Fests?“ Das brachte sie zum Lachen. „Nein, sie denkt, sie habe zuviel getrunken und wäre vor der Quelle eingeschlafen, noch bevor du kamst.“ – „Und generell?“ – „Generell befürchtet sie es, aber ihr fehlt jedes Indiz.“ – „Gut.“ Wir schwiegen eine Weile, bis ich fortfuhr. „Wie geht es eigentlich Elena? Sorgt sie sich um Tio und mich?“ – „Wo denkst du hin? Sie irrt durch die Keller. Dort unten hausen Schlangenfrauen und nun sucht sie verzweifelt nach einem Ausgang.“ – „Aber sie lebt?“ – „Sie lebt. Ich passe schon auf sie auf. Sie ist recht gut darin geworden, Dinge zu überleben.“ Ich musste lachen. „Ja, das ist sie.“ Ich seufzte und Millenia lehnte sich ein wenig mehr an mich. Uns gingen die Worte aus, aber wir fanden es nicht schlimm. Für heute hatten wir genug geredet. So saßen wir eine Weile einfach nur beisammen und freuten uns, dass es nicht donnerte und bebte. Ich lachte. Ich wusste nicht warum, aber ich lachte. Vielleicht lag es daran, dass ich glücklich war. „Ob Selene wohl nach uns suchen lässt?“, scherzte ich. Millenia war ernster. „Ihre Wachen sind tot.“ – „Was?“ – „Gefallen. Mareg ist zurückgekehrt.“ Damit war alles vorbei. Das Lachen erstarb, als mir plötzlich bewusst wurde, dass in der Außenwelt die Zeit nicht stehen geblieben war. Millenia ging es ähnlich. „Bringst du Elena zu mir?“, fragte ich sie, „Und lass mich erwachen. Ich sehe dich wieder, wenn wir Zeit haben.“ Ich küsste sie zum Abschied, kurz, aber innig. „Nächstes Mal habe ich mehr mit dir vor“, lachte ich, als ich aufstand. Mit ihr verblasste Westschlesien. Die Welt, in die ich zurückkehrte, war seit meinem Verblassen nicht schöner geworden. Eine Unzahl von Verletzungen begann sofort wieder zu schmerzen, die Welt war dunkel und ich fühlte mich schmutzig. Zum Glück hatte sich eine bullige Gestalt über mich gebeugt und nach mir gesehen. „Mareg“, seufzte ich. Ich war froh, ihn zu sehen. Der Bestienmann blickte auf mich herab. Seine massive Gestalt blutete aus mehreren Wunden, doch auch seine riesige Lanze hinterließ mit jedem Schritt Tropfen auf den Boden. Er grunzte und strahlte, als er mich erkannte, während ich etwas länger für das blonde Bündel in weißem Gewand brauchte, das über seiner Schulter hing. „Elena“, rief ich, „Was ist mit ihr? Was ist passiert?“ – „Es ist ein gefährlicher Ort. Sie hatte Glück, dass ich sie fand.“ Ich nickte. „Ein Glück, dass du hier bist. Aber was machst du eigentlich hier? Wolltest du nicht bei deinem Dorf bleiben?“ Ein verächtliches Lachen war die Antwort. „Der Bote, den du zurückließest, kam zu mir, kurz nachdem ihr aufgebrochen wart. Er sagte, Selene habe ein Geschäft für mich und würde mich gut bezahlen. Ein neuer Dämon müsse vernichtet werden, einer wie Melfice einer war, doch diesmal in einem blonden Mädchen. Er sagte, es ginge um Elena.“ Ich nickte. Damit hatte ich zwar nicht gerechnet, aber es ergab auf schreckliche Weise einen Sinn. „Wie ging es dann weiter?“ – „Nun, er sagte, du würdest den gleichen Auftrag erhalten und bat mich, wieder Seite an Seite mit dir zu kämpfen.“ – „Das habe ich nicht.“, sagte ich schnell, „Ich weiß nicht mehr, wie es weiterging. Schließlich drohte er mir. Er habe meinen ganzen Stamm vergiftet und nur wenn ich gegen das Mädchen zöge, würden sie nicht sterben.“ Er ballte die Faust, als die Wut erneut in ihm hochstieg. „Was hast du getan?“ – „Was ich musste.“, sagte er. „Ich eilte zum Turm, so schnell ich konnte. Dort sah ich, dass es diese Selene wirklich gab und dass sie Männer hatte. Sie haben es bereut.“ – „Lebt sie noch?“ – „Ja, sie floh mit dem Rest ihres Trupps ins Land. Ich ließ sie ziehen.“ Ich dachte an das Elena-Bündel und nickte. Eine gute Wahl. „Was ist mit deinem Dorf?“, fragte ich ihn. „War die Drohung etwa…?“ Er fauchte und unterbrach mich, doch es folgte keine Antwort. Vermutlich wusste er es selbst nicht, doch seine Kriegerehre ließ ihm keine Wahl. Ich beneidete ihn nicht. „Ich danke dir.“, sprach ich laut aus und war froh, ihn um mich zu haben. Nur was tun? „Ich denke, wir sollten bald aufbrechen. Vielleicht können wir Selene ja noch einholen. Was immer sie auch plant, momentan ist sie die einzige Spur, die wir haben.“ Mareg schnaubte, widersprach aber nicht. So ging alles voran. Wir waren wieder auf der Jagd. Der erste Tag der Jagd war die Hölle. Bilder, Töne und Gedanken spukten und schossen ganz plötzlich durch meinen Kopf, so real, dass ich mich mehr als einmal umwandte, nur um nichts als Bäume und Gesträuch zu erspähen. Dann wieder hatte ich das Gefühl, dass der Boden unter meinen Füßen gar nicht echt sei und ich tastete vorsichtig voran, während mich Elena und Mareg nur verwundert anstarrten. Es war gut, den Bestienmann als Begleiter dabeizuhaben, denn sonst wären wir nie auf einen Weg gekommen – und uns zu verirren wäre bei dem Chaos in meinem Kopf noch die angenehmste Aussicht. Schon lange vor der Dämmerung war ich völlig fertig und bekam mein Lager. Ich dachte, nach einem Mal ordentlichen Ausschlafens würde es mir besser gehen. Stattdessen träumte ich einen seltsamen Traum. Ich war an ganz anderem Ort, zu ganz anderer Zeit und ein ganz anderer Mensch. Damals lag ich auch in einer Decke. Ich war in der alten Heimat inmitten der Berge und zählte die Rillen meines Zelts, denn ich konnte nicht schlafen. Dessen dünner Stoff schirmte mich kaum wirklich vor der Kälte dort draußen. Ich hoffte, er würde auch die Monster draußen halten. Ein Mädchen lag bei mir. Ich hatte sie in Garland getroffen, ein Engel aus blondem Haar und weißem Gewand inmitten dunkler Gassen. Sie hatte vor meinem Haus gewartet auf der Suche nach Antworten. Sie hatte mich lange nicht erkannt. Nun lagen wir im Zelt, hoch oben auf den Bergen, und ich konnte nicht begreifen, wie es dazu kommen konnte. Es war nicht so, dass ich es nicht wollte, aber es machte so vieles schwieriger. Elena räkelte sich neben mir. Ihre Finger umspielten mein Horn, welches aus meiner Stirn ragte als Zeichen einer Sünde, ich spürte den Druck und hörte, wie sie mit ihren Fingernägeln daran schabte, um zu prüfen, ob es tatsächlich echt war. Sie war entspannt wie noch nie an diesem Abend. Ich konnte es nicht verstehen. „Dass ich es einfach übersehen konnte“, lachte sie und ich antwortete. „Das macht Magie.“ – „Beeindruckend.“ Sie beendete ihre Erforschung, ließ den Arm sinken und kuschelte sich an mich. „Dadurch verschwindet es aber nicht. Ich lernte recht schnell, mir nicht auf der Straße die Schuhe zu binden.“ Sie musste grinsen. „Weißt du“, begann sie nach einer Weile, „Wenn mich meine Eltern so sehen könnten, meine Freundinnen, mein Priester, sie würden ausflippen – aber nur, weil du ein Mann bist, und nicht, weil du Valmar bist. Kannst du das verstehen?“ Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. „Sie würden sagen, das gehört sich nicht für eine Gefolgsfrau Granas. Wie ich ihnen denn und mir selbst in die Augen sehen könnte? Ich müsste mich doch schämen.“ – „Und, schämst du dich denn?“ – „Nein, warum? Mir ist klar geworden, dass Granas an allem schuld ist. Ohne ihn wären die Teile Valmars nie verstreut worden und ohne ihn gäbe es keine Kirche mit ihren Siegel bewahrenden Ritualen. Ohne ihn wäre mir das alles nicht passiert. Ich musste lange irren und mich lange auslachen lassen, ehe ich erkannte, dass es sinnlos ist, zu ihm zu beten. Er ist nicht die Lösung. Er ist das Problem.“ – „Und doch hast du hier missioniert?“ – „Ich dachte, es würde mir helfen.“ Sie zuckte mit den Schultern und erkannte dann, wie kalt es doch war, wogegen sie in meinen Armen Schutz suchte. „Du bist eine interessante Frau, Elena“, flüsterte ich ihr zu. Ich wusste, das wollte sie hören. „Morgen ist es also soweit?“ Ich nickte. „Ich spüre schon die Angst der Flügel. Sie kauert in den hintersten Winkeln deines Geistes und hofft auf Rettung. Es muss in deinem Kopf sehr still sein, nicht wahr?“ Elena strahlte. Auch das hatte sie hören wollen. „Sie ist es. Erzählst du mir noch einmal, was du vorhast?“ – „Ich werde die Flügel Valmars aus deinem Körper lösen und sie zurück in ein Siegel verbannen. Dann wird alles sein, wie es vorher war.“ Es gefiel ihr, davon zu hören. „Und ist es gefährlich für mich?“ Der schwierigste Punkt. „Das kommt auf die Flügel an. Wenn sie sich an dich krallt, dann kann es ziemlich schmerzhaft für dich werden, aber wenn sie so tapfer ist wie in den letzten Stunden…“ Ich lachte, um sie zu beruhigen. Ihre Freude am Spott ließ sie auftauen. „Was hast du dann vor?“, fragte ich sie. „Zur Kirche zurückgehen natürlich. Wenn meine Reise erfolgreich war, werden sie mich wieder aufnehmen. Ich kann gar nicht erwarten, nach Karbowitz zurückzukehren und das alles hinter mir zu lassen.“ – „Du meinst, deine Reise?“ Sie nickte. „Wenn ich an Ryudo denke…“ Sie brach ab und überlegte. „Ich möchte dich nicht verletzen. Er ist ja dein Bruder.“ Ich musste lächeln. „Er ist nicht hier.“ – „Er ist verrückt. Und er ist bewaffnet.“ Sie seufzte. „Ich bin so froh, dass du erschienen bist. Ich verstehe einfach nicht, was ich mit ihm tun soll. Ich verstehe ihn einfach nicht.“ Ich streichelte ihr Haar, doch mir fehlten die Worte. Ich hätte es gerne entkräftet, aber ich konnte es nicht. Er war Valmar, genau wie ich. „Menschen sind leicht zu verstehen“, erzählte ich ihr, „sie wollen alle die gleichen Dinge. Ryudo ergeht es da nicht anders. Er ist verzweifelt, auf seine Weise.“ Ebenso wie du, dachte ich im Stillen. „Lass mich mit ihm reden. Ich weiß, dass er kommen wird. Ich bin hier, um seinen Frieden zu finden.“ Sie sah mich überrascht an. „Warum tust du das? Er will dich töten.“ – „Ich bin der Stärkere von uns beiden. Seinem Leid verdanke ich, dass ich so stark bin. Er kann es nicht tun, also muss ich es tun.“ – „Du wärst mein Retter“, lachte sie. „Gleich in doppelter Weise.“ Auch ich lachte. „Du revanchierst dich ja dafür.“ Die Flügel. „Ja, das stimmt. Auch wenn ich nicht weiß, was sie dir bringt.“ - „Macht“, sagte ich knapp und sie nickte. „Eines Tages wirst du die Welt in Finsternis hüllen. Ich habe davon gelesen.“ Ja, das war mein Ziel. „Nur könntest du bitte noch ein paar Jahre warten? Ich bin noch so jung.“ Ihr Blick forderte mich heraus. Ich sollte ihr widersprechen, damit sie mit überzeugen konnte. Dann küsste sie mich. Wie konnte ich einem solchen Engel widerstehen? Die nächsten Tage wurde es langsam besser. Wir erreichten ein die Küste und fanden ein Schiff, welches Selene zurückließ, um Überlebende und Versprengte aufzusammeln. Es kostete uns nur etwas Überredungskunst und Geld, dann waren wir mit dabei. Es ging fast schon alles zu schnell und alles zu einfach. Tage vergingen. Diesmal legten wir keinen Zwischenstopp auf Garland ein, würden bis Kyrnberg durchsegeln, was sicher auch in unserem Interesse war. Wir wollten Selene hinterher oder besser: Ich wollte es. Meine Gefährten ließen mich wieder einmal allein. Mareg blieb unter Deck und Elena spielte kranke Diva, die nicht aus ihrer Kajüte trat, also war niemand da, der mit mir Pläne schmieden und die Situation besprechen konnte. Ich vermisste Skye, doch auch wenn der Gedanke schmerzte, spürte ich auch, wie sehr ich mich in den letzten Monaten an seine Abwesenheit gewöhnt hatte. Er ließ mich ja schon seit Millenias Auftreten allein. Selene war zu schnell geflohen. Ihre Männer waren zu gut, um mal eben in Panik zu geraten, und wenn sie sich dennoch zurückzog, dann musste das bedeuten, dass sie auf Nummer sicher gehen wollte. Selene musste noch ein As im Ärmel haben und sie muss gerannt sein, um es zu holen, doch was es auch war: Ich war mir sicher, es würde mir nicht gefallen. Es musste verhindert werden. Vermutlich wäre Elena nicht begeistert, aber sie würde keine andere Idee haben. Ich saß draußen an Deck und versank im Anblick des durch die Dunkelheit rauschenden Meeres, als ich plötzlich ein Poltern und Schritte hörte. „Ryudo!“, zerriss eine tiefe Stimme die Ruhe der Nacht und ich war nicht allein. „Guten Abend, Mareg.“ Trotz des schlechten Lichtes konnte ich sehen, dass das Gesicht des Bestienmannes von Sorge erfüllt war. Er trat etwas dichter an mich heran, als mir lieb war, ehe er mir seine Befürchtung offenbarte: „Ich rieche Gefahr. Wir sind hier…“ „Was ist los?“, brach es aus mir heraus, als er plötzlich innehielt. Ich konnte förmlich sehen, wie ihm ein Gedanke kam, als er zu schnüffeln anfing. Dann griff er zu seiner Lanze und sah sich grimmig um. „Mareg, was ist los?“ Diesmal erreichte ich ihn. „Es ist Melfice“, knurrte er und es lag Feuer in seinen Augen, „Ich kann ihn spüren und jetzt rieche ich ihn. Er muss uns getäuscht haben. Er ist hier.“ – ‚Ja’, wollte ich sagen, ‚Ich bin doch…’, als mir aufging, wie gefährlich das war und mir eiskalt ein Schauer über den Rücken runter lief. Wenn Mareg wüsste, dass der Dämon wieder in mir lebte, dann würde er nicht mehr mein Freund sein. Er würde mich einfach töten. Er war so verdammt nah. „Greife zu deinen Waffen, Ryudo. Wir werden ihn finden und hier…“, schrie er mich an, ehe mich meine Angst verraten haben musste. Er hielt inne und schnüffelte erneut, wobei er mir widerlich nah kam. „Du bist es. Du bist nicht Ryudo.“ Ich schrie auf und stürzte panisch fort von ihm, während er blitzschnell bei der Lanze war. Ich stolperte, rutschte über das feuchte Deck, schlug mir den Kopf an Werweißwas auf und nur die Reling bewahrte mich davor, über Bord zu gehen. Keinen Moment später bemerkte ich trotz des Schmerzes, dass Mareg bereits bei mir war und auf mich herabblickte. „Rennt wie ein Hase“, lachte er und ließ seine Lanze über seinen Kopf schwingen. „Doch nun…“ Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass alles gleich vorbei sein könnte, als die Bestie innehielt. In seinem Blick lag Verwirrung, fast schon Panik, als er wild in alle Richtungen schnüffelte und schließlich wie ferngelenkt seinen Arm hob. Mit einem Platschen fiel seine Lanze ins Wasser. „Du bist nicht Melfice.“, hörte ich ihn in Panik stammeln. „Ich bin nicht Melfice. Sie muss Melfice sein.“ Er wirbelte herum und rannte über Deck hin zu einem Ort, an dem ich die Schemen einer Frau in Rot zu erkennen glaubte. „Nein“, schrie ich ihm hinterher. „Mareg, nein.“ Ich sah ihn abermals innehalten. Er schnüffelte, dann wandte er sich zu mir um. „Da ist niemand“, stammelte er, „aber wenn Melfice hier ist und du nicht Melfice bist… dann bin ich es.“ Ich hatte Mareg noch nie so hilflos gesehen, als ihn die Erkenntnis überkam und er mit schnellen Schritten über Deck sprang. Ein lautes Platschen folgte und es wurde gespenstisch still. Mein Kopf schmerzte, als ich mich langsam aufrichtete. Ich fühlte Blut an meinem Gesicht herab laufen, doch es war sicher nur eine Platzwunde. Dann starrte ich ins Meer. Jedes Zeichen des Bestienmannes fehlte. „Mareg.“, schrie ich. „Mareg?“ Ich war zu schwach, um in Panik zu verfallen, als ich merkte, dass eine Frau an meine Seite trat. Ich erkannte sie an ihrem Geruch nach Wald und Heimat. „Millenia?“ „Es tut mir leid“, sagte sie mir leise. „Seine Muskeln sind gelähmt, sonst würde er um sein Leben schwimmen.“ – „Was?“ – „Ich wollte ihm einen Tod in Würde erlauben. Es tut mir wirklich leid.“ Ich wusste, dass sie recht hatte, und schrie in die Nacht hinein, ehe mir die Tränen kamen. Ich sank zusammen und schlug gegen das Schiff, während Millenia ihren Arm um mich legte. „Daran bin ich schuld.“, sagte sie mir leise, „Ich hatte nicht bedacht, was Melfices Rückkehr für ihn bedeuten könnte.“ Ich wandte mich zu ihr und schrie ihr ins Gesicht: „Du hast Mareg beherrscht?“ Sie zuckte nicht zurück. „Ja“, sagte sie einfach, „Schon seit einer sehr langen Zeit. Ich sicherte mir die Herrschaft über ihn, als du verletzt im Wald lagst.“ – „Seit Anfang an?“, schrie ich und sie nickte. „So ziemlich.“ Mein Zorn verrauchte, weil sie ihm keinen Halt bot, und es blieb ohnmächtige Trauer. „Warum?“, fragte ich sie. „Ich brauchte ihn.“ – „Aber warum hast du es mir nicht gesagt?“ – „Das habe ich doch.“ Obwohl ich in ihren Armen lag, ließ sie mich allein. „Seine Wut auf Melfice war echt und sehr mächtig“, erklärte sie sich lieber. „Sie war mir von Nutzen, solange er mein Feind war, also ließ ich sie bestehen. Ich habe Mareg nur sehr selten direkt beherrscht. An den Instinkten von Menschen zu spielen ist sicherer, dann muss man sie nicht im Auge behalten.“ Sie strich mir währenddessen durchs Haar, dass ich kalt erschauderte. „Kein Instinkt hätte ihn aber dazu gebracht, seine Waffe wegzuwerfen. Ich musste dich retten, Ryudo. Es ging nur auf diesem Weg.“ Ich fühlte mich in ihren Armen so müde. Ein heißes Bad wäre genau das Richtige, wusste ich, oder mein Bett. Dann überkam mich ein seltsamer Verdacht. Waren das meine Wünsche oder versuchte sie auf diese Art, mich zu beruhigen? Was es auch war, ich würde diesem Instinkt nachgeben. „Millenia“, fragte ich sie, als ich mich von ihr löste. „Ein Mensch ist heute Nacht gestorben. Verstehst du das?“ – „Ja“, sagte sie, aber ihre Augen verrieten nicht, ob ich ihr das glauben konnte. Die restlichen Tage an Bord glichen einem Alptraum. Ich war vorher schon einsam gewesen, doch nach Maregs Verlust fühlte sich das Boot noch einsamer an. Millenia zeigte sich nicht mehr, ob aus Zurückhaltung, Scham oder Machtlosigkeit weiß ich nicht, und Elena zog ihre verschlossene Kajüte meiner Gegenwart vor. So langsam musste sie sich doch ans Meer gewöhnt haben, dachte ich mir. Kyrnbergs Silhouette wirkte beim Anbrechen des neuen Tages so unverändert, als wären wir nie fort gewesen. Inmitten der größeren und geschäftigeren Schiffe verschwand unser Boot bald und als ich mit Elena an Land ging, die noch blass und grünlich im Gesicht wirkte, nahm uns niemand wirklich wahr. Wir verabschiedeten uns von der Mannschaft und gingen ein Stück mit dem Kapitän, der eine erfolgreiche Mission hinter sich hatte und sich nun nach einem neuen Ziel umsah. Dann sagte auch er uns Lebewohl und ich fand es nicht unpassend. Wir würden in nächster Zeit kein Schiff mehr betreten. An Land schöpfte Elena bei jedem Schritt neue Kraft. „Lass uns reden“, sagte sie schließlich ziemlich direkt und drängte mich auf eine Parkbank, ehe sie sich neben mich setzte. Von dort aus blickten wir herab auf den Kyrnberger Hafen. „Ich komme spät damit…“, stammelte sie schwach, „… und ich hatte eine ganze Schifffahrt Zeit, aber ich wollte nicht, dass du mich so siehst und eine Welle das Schiff trifft und ich dir plötzlich sonst wohin… ach, du verstehst…“ – „Nein?“ – „Jedenfalls möchte ich gerne wissen, was da im Turm passiert ist. Was war jetzt mit dem Schwert?“ – „Nichts.“ – „Wie nichts?“ Ich zuckte mit den Schultern und seufzte betont. „Es war eine Falle. Sie erwiesen sich als Valmars Klauen.“ Elena zeigte sich erschreckt, doch außer einem „Oh“ fehlten ihr die Worte, weswegen ich fortfuhr. „Das erkannten wir zu spät. Tiodora wurde verseucht. Ich musste sie töten.“ Den Stich im Herzen, als ich daran dachte, nahm ich langsam als Gewohnheit hin. Zu viele Freunde starben in letzter Zeit. Ich hatte seit Maregs Tod noch keine neuen Tränen gewonnen. „Aber hatte Selene…“, unterbrach sie meine finsteren Gedanken, „… nicht gesagt, das könne nicht passieren?“ – „Es ist passiert. Ich kann dir nicht sagen, wie es geschah. Vielleicht war Tio nach den Jahrhunderten einfach zu alt.“ Elena stieß einen enttäuschten Laut aus und sank auf die Bank zurück. Für sie war es eine weitere gestorbene Hoffnung, für mich ein zerstörtes Menschenleben. Ich erzählte ihr weiter: „Mit den Klauen hatten sich alle Teile zusammengefunden und leiteten das Ende der Welt ein…“ – „Ja!“, warf Elena dazwischen, die aufgesprungen war, „So etwas habe ich auch gespürt.“ Dann dachte sie den Schritt weiter. „Aber die Welt lebt noch?“ – „Ja, sie lebt noch.“ Wir sanken beide zurück und betrachteten den Hafen. Zu viele Erinnerungen warteten in uns, die noch zu frische Wunden geschlagen hatten. Ich dachte an Skye, der irgendwo in Valmars Tiefen die Feder im Getriebe mimte, um die Vereinigung zu verhindern. „Ryudo?“, fragte sie dann in den Wind. „Was tun wir jetzt?“ – „Wir jagen Selene.“ – „Warum?“ - „Sie hat irgendeinen Unsinn vor, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn nicht, dann führt sie uns vielleicht zu etwas Nützlichem.“ Ich hatte gehofft, sie damit zu begeistern, doch sie sank enttäuscht in die Bank zurück. „Ich bin verbannt aus diesem Land, erinnerst du dich? Wer mir hilft, selbst mit einer Geste, der bringt sein unsterbliches Seelenheil vor Granas in Gefahr. Nun möchtest du mich da nicht nur wieder tief hineinführen, sondern dich auch mit der vielleicht mächtigsten Truppenkommandantin anlegen? Du hast wirklich einen Überschuss an dummen Ideen.“ Ich hätte gelogen, wenn ich nicht sagen würde, dass sie recht hatte. „Was hättest du denn vor?“ Sie lachte ohne jede Freude. „Lass sie doch hantieren. Dann kommt entweder der Weltuntergang oder wir können uns Helden nennen.“ Es schmerzte mich, sie so zu sehen. Ohne lange zu überlegen, sprach ich aus, was mir in den Sinn kam: „Melfice hat dich geliebt.“ Sie überlegte auch nicht lange und schlug einfach zu. „Ich weiß dass, weil…“, erklärte ich, „…wir wieder eins geworden sind. Seine Gedanken und Erinnerungen wurden zu einem Teil von mir.“ Elena wandte den Blick ab und schaffte es nicht ganz, nicht rot zu werden. Sie wusste nichts zu sagen. Mir wäre es wohl in ihrer Lage ähnlich ergangen. „Hör mal“, sagte ich ihr, „ich wünschte, ich könnte dir die Rettung versprechen, die er für dich wollte. Im Augenblick kann ich es nicht. Vielleicht kann es Selene, deshalb suchen wir sie. Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich nicht mehr ans Ende der Welt führen werde. Jetzt führe ich dich nach Hause.“ – „Schön“, murmelte sie, „dann nach Hause.“ „Ja, nach Hause“, echote ich, als mir ein Gedanke kam. „Erinnerst du dich, was Tiodora uns erzählte? Sie war Wächterin eines Felsklosters bei St. Heim. Ich frage mich, was sie dort bewachte und was dort nun frei zugänglich liegt.“ Elena zuckte nur mit den Schultern. „Klingt nach einer Reihe mit Siegel und Schwertturm, was?“, lachte ich, worauf sie nur nickte. „Keine Angst. Wir finden einen Weg. Wir finden einen Weg.“ Kapitel 20: Die letzte Prüfung ------------------------------ Als Elena und Ryudo sich dazu entschlossen, noch einmal durch das Land zu reisen, um das Schlimmste zu verhindern, wussten sie noch nicht, wohin sie diese Reise führen sollte. Die Antwort lag in den Sternen, denn irgendwo oben am Nachthimmel, so sagte man sich in Schlesien, lauerte Valmars Mond und blickte auf die Menschen herab, um sie zu Sünden zu verleiten. Davon waren sie so überzeugt, dass es sehr verwundert, dass niemand auf den logischen Schluss daraus kam: Wenn dieser Gott so weit fort und in höchsten Höhen lebte, war es dann verwunderlich, dass sein Gegenspieler Granas unter ihren Füßen in den Tiefen der Erde residieren musste? Kein namhafter Theologe erkannte die zugrunde liegende Weisheit in Millenias Worten: „Wenn aus Valmars Teilen eines wird, dann verschmilzt es mit der Erde und läutet das Ende der Zeit ein.“ Sie hätten lieber auf sie gehört. So aber konnte Ryudo nicht wissen, dass der Pfad in ein geheimes Felskloster mit Zugang in den Bergen, bewacht von dem letzten der alten Krieger und direkt unter dem Hauptsitz von Granas menschlicher Armee gelegen, der Pfad zur Seele selbst war. Diesmal führte er Elena wirklich nicht an das Ende der Welt. Er führte sie vor ihren Gott. Selene wusste es nicht und auch wenn sie der Wahrheit ziemlich nahe kam, dachte sie zu klein. Mit einfacher, doch klarer Logik hatte sie die Lage der Welt erkannt und entsprechend ihren Möglichkeiten gehandelt. Viele Teile Valmars bedeuteten eine Bedrohung, ein Teil Valmars brachte das Ende, doch kein Teil Valmars verhieß Erlösung für eine lange Zeit. Als sie merkte, wie die Zeit verrann, wusste sie, was zu tun war. Sie brauchte dafür alle Teile Valmars an einem versiegelten Ort und eine Armee, die niemanden herausließ. Dann brauchte es nur einen Sturm und inmitten des Bluts wären alle Teile Valmars gefallen, noch ehe sie sich finden konnten. Nun war ihr Plan gescheitert und sie brauchte eine andere Idee. Wieder ging sie mit einfacher, doch nicht falscher Logik vor: Wenn Menschen mit Valmar verschmelzen konnten, um die Erde zu zerstören, dann mussten doch auch Menschen mit Granas verschmelzen, um sie zu retten. Sie suchte nach Teilen von Granas Kraft und vermutete sie im Kloster. Wie gesagt, sie dachte zu klein. Elena verfolgte keine Ziele. Sie wurde immer stiller, während sie mit Ryudo durch das Land reiste, denn sie glaubte nicht mehr an ihn und ebenso wenig an eine Rettung. Sie dachte sich, dass Selene, wenn sie ihr helfen könnte, es ihr schon angeboten hätte, und erwartete nur eine weitere Enttäuschung. Sie zweifelte auch daran, dass Ryudo ehrlich spielte, handelte er doch zu hastig und zu entschlossen, um nur reden zu wollen. Alles an dieser Situation wirkte so vertraut. Sie sah ein zweites Garland, doch langsam bemerkte sie, dass es sie nicht mehr bedrückte. Ob sie nun von Valmar gefressen, von Ryudo verheizt oder von allen verlassen wurde, war nicht mehr von Bedeutung. Ihr Leben war verwirkt, alles, was noch offen war, war die Frage nach dem Tod. Millenia verfolgte keine Ziele mehr. Sie war seltsam abwesend und wirkte wie eine Spielerin auf der Rennbahn, deren Pferd nicht spurten wollte, so betrachtete sie die Reise in einer Mischung aus vager Hoffnung und aufkeimender Verzweiflung. Elena hatte ihn berührt und er sich nicht gewehrt. Es schmerzte sie mehr, als sie zugeben wollte, es machte sie wütend und doch wusste sie, dass es dafür nur eine Erklärung geben konnte: Ryudo teilte nun Melfices Erinnerungen. Melfice jedoch hatte sie gehasst und Maiden in Not immer beigestanden. Lange dachte sie darüber nach, einfach die Feder aus dem Getriebe zu ziehen und als Valmar die ganze Welt in Stücke zu reißen, doch immer wieder schreckte sie davor zurück. Er hatte sie verletzt und sie ihn, doch sie liebte ihn. Sie liebte ihn mehr, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Sie würde mit ihm leben oder mit ihm sterben, ganz wie er es wollte, nur immer mit ihm zusammen. Auch Ryudo verfolgte keine Ziele. Auf einmal gab es zu viele Frauen in seinem Leben und er wusste nicht, wohin. Er wünschte sich, mit Skye reden zu können, und lachte zugleich über seine Einsamkeit. Er wusste nur: Mit dem Töten sollte endlich Schluss sein. Das brachte ihn ebenfalls in eine vertraute Situation, suchte er doch wieder einmal nach einem dritten Weg, der alles möglich machte, auch wenn er ihn noch nicht verstand. Selene flüsterte in den Wind: „Ryudo. Seit ich ein kleines Mädchen war, erscheinst du mir jede Nacht im Traum. Du nahmst meine Hand und sagtest mir, du würdest mein Schicksal sein. Für dich reiste um die ganze Welt und hoffte, dich zu finden, jetzt weiß ich, dass der Moment gekommen ist. Erscheine und finde mich. Bitte, Ryudo, werde mein Gott und rette die Welt.“ Der Weg entlang der Südküste des Kyrnreiches kam mir viel leichter vor als der Hinweg, was sicher auch an unserem Gepäck lag – und damit meine ich nicht die Rucksäcke. Wir hatten damals auf Elenas Pilgerweg in die Verbannung viele Erlebnisse verarbeiten müssen, diesmal aber gab es für uns nichts mehr zu verlieren. Wir sprachen wenig und zählten nicht die Tage. Es hauchte uns erst wieder Leben ein, als der Heimsberg auftauchte, an dessen Spitze sich die Kathedrale befand. Nun hieß es, dem flachen Land Ade zu sagen und an seinen Osthängen nach jenem Felsenkloster Ausschau zu halten. Es war nur gut, dass Elena sich auch an den Namen erinnerte. Domus Caelis. Der Weg war leichter zu finden, als wir es gedacht hatten, wiesen uns doch Bauern in den Weinbergen den Weg. Bald schon traten wir durch das große Tor des Landgutes, durchquerten den Komplex und suchten unseren Weg zum Hauptgebäude. Vereinzelte Bauern und Gesinde kreuzten unseren Weg, ohne uns aber aufzuhalten, und uns fiel sehr schnell auf, dass jede Spur von Mönchen oder Wachen fehlte. Nichts deutete darauf hin, dass Selene bereits hier eingetroffen war. Der ganze Ort stank geradezu penetrant nach einer Falle. Ich überschlug unsere Möglichkeiten und kam zu einem Ergebnis, das so eindeutig war, dass ich Elena damit erschreckte. Dies hier war unsere einzige Chance und selbst wenn bewaffnete Männer im Hintergrund lauern mochten, gab es für uns keine Alternative. Wie schon einmal lag unser Schicksal nun in fremden Händen. Das Gebäude wirkte verlassen, als wir es durchwanderten, so als wäre es vor Wochen geräumt und danach nicht wieder betreten worden. Jede unserer Bewegungen wirbelte Staub auf. Ich war nicht gerne hier. „Was wohl mit den Mönchen geschehen ist?“, fragte Elena gegen die Stille. „Ich weiß es nicht. Ich vermute, sie sind irgendwo anders.“ Was für eine dumme Aussage. „Mir gefällt es nicht. Es ist zu ruhig. Egal, was passierte, hier müsste jemand sein. Mönche, Diener, Wachen, Plünderer – nichts davon. Als wäre der Ort mit einem Mal unbewohnbar geworden.“ Sie überlegte. „Du meinst, Monster könnten hier hausen?“ – „Ja, das ist am Wahrscheinlichsten.“ Hätte ich mein Schwert nicht schon lange gezogen, spätestens jetzt hätte ich es getan, schon allein um Elena zu beruhigen. Ich wollte nicht recht daran glauben. Es fehlte einfach jede Spur. „Kennst du dich denn mit Klöstern aus?“, fragte ich sie zur Beruhigung. „Nein, aber ich denke, wir müssen in den Keller.“ Das ergab Sinn. Es mochte ein Felskloster sein, aber trotzdem versteckten Menschen ihre Schätze gerne in den tiefsten Tiefen. „Meinst du, dieser Eingang könnte es sein?“ – „Ja, dies hier sind Schutzzeichen gegen das Böse.“ Nun lag auch eine kunstvoll verzierte Tür hinter uns und eine enge Felstreppe führte immer tiefer in die Dunkelheit. Kalte, modrige Luft schlug uns entgegen und nur meine Fackel spendete etwas Licht. Ich weiß nicht, wie lange wir so gingen, doch mit jedem Schritt fühlte es sich leichter und leichter an. Irrte ich mich oder wurde es auch wärmer? Fast kam es mir so vor. Irgendwann fiel mir auf, dass es hinter mir so still war. Ich wandte mich um und Elena war verschwunden. Sie war fort, doch es gab keinen Weg, auf dem sie hätte verschwinden können. Ich rief ihren Namen. „Elena!“ Nicht vor mir, nicht hinter mir, nicht über und nicht unter mir. Nirgendwo war sie. Ich rief und rief sie, doch sie antwortete mir nicht. Schließlich wusste ich es, auch wenn ich nicht wusste, woher: Ich befand mich auf dem Pfad zur Seele. Auf diesem Pfad war ich allein. Warm wurde es um mich, feucht und hell. Meine Stiefel quietschten auf nassen Holzbrettern, meine Kleidung fing an zu kleben und ich kam mir vor wie im Traum. Eine Stimme rief mich. „Ryudo. Du bist der, den ich suche.“ „Elena?“, rief ich laut. „Millenia?“ Ich hatte es nicht genau gehört. „Nein, nur ich.“ Die Stimme klang traurig, hoffend und nah. Ich wandte mich um und dort stand Selene. „Ryudo, ich bin es nur.“ Ich traute meinen Augen nicht. Sie war nackt und allein, nur von einem großen Handtuch bedeckte. Langsam dämmerte mir, wo ich war. Es war nicht Garland, doch es sollte es sein. „Ich bin so froh, dich zu sehen“, flüsterte sie mir zu, „und an diesem Ort zu sein. Granas erzählte mir, dass du hier vor Melfice flohst. Wie gerne wäre ich damals bei dir gewesen.“ – „Selene“, rief ich, als auch meinem Schock langsam Schrecken wurde. „Wo sind wir hier?“ – „Es ist das Herz der Welt, die Halle der Wahrheit. Es wäre Granas heiligster Ort, wenn die Menschen ihn kennen würden. Hier kannst du vor Gott treten und deine Wünsche wahr werden lassen.“ – „Aha? Ich glaube, das geht mir alles etwas zu schnell.“ Die Inquisitorin im Handtuch zeigte mir, dass man mir das ansah und konnte sich nicht verkneifen, zu kichern. „Setzen wir uns doch.“, bot sie mir gnädig an, „Hier herumzulaufen bringt uns gar nichts.“ Ich fühlte mich unwohl, als ich mich setzte, und das lag nicht nur an dem Ort. Selene starrte auf meine Kleidung, als wolle sie mich daran erinnern, dass sie unüblich war, doch egal wie sehr sie klebte, die Blöße gab ich mir nicht. Ich wollte mich nicht an diesen Ort anpassen. Ein Themenwechsel käme mir auch gelegen, also fragte ich etwas Unverfängliches: „Wo sind eigentlich Ihre Truppen? Auf dem Weg hierher habe ich niemanden getroffen.“ Das tat sie mit einer Handbewegung ab. „Ich habe sie verbrannt.“, sagte sie und beugte sich zu mir vor, womit sie mir wohlwissentlich tiefe Einblicke bescheren konnte, „und nicht so förmlich. Wir sind uns doch so nah.“ Ich wünschte mir, ich wäre unsichtbar. Der ganze Ort war ein Witz. „Weißt du“, sprach sie zu mir während sie sich auf den Boden auf ihr Handtuch legte und vor meinen Augen räkelte, „Ich habe viel mit Granas gesprochen, hier unten in diesen Hallen. Ich sprach über dich und er hat mir viel erzählt. Ich kenne deine Abenteuer, weiß von Garland, Karbowitz und Nainan. Ich weiß sogar mehr über… dich.“ Sie lächelte verschwörerisch, so als habe ich nicht verstanden, wohin ihr Blick gewandert war. Es war ein Ort, an dem sich gar nichts regte. Ich musste sie enttäuschen. „Du bist schön“, sagte ich, „Selene, doch es gibt bereits eine Frau in meinem Leben.“ – „Ich weiß. Auch darüber habe ich mit Granas gesprochen. Er sagte mir, du würdest das sagen.“ Es musste sie betrüben, es zu hören, doch sie ging nicht. Was sollte ich jetzt tun? „Dann ist gut“, murmelte ich. „Weißt du, dass ich von dir träume, seit ich ein kleines Mädchen war? In jeder Nacht erschien mir ein Ritter mit einem Schwert und rettete mich vor den Monstern unter meinem Bett. Ich sah dich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lange dachte ich, du wärst bestimmt, mich glücklich zu machen. Ich dachte, Granas wollte mir meinen späteren Mann und Geliebten zeigen, doch in den letzten Jahren verstand ich, dass das nicht alles war. Ich las vom letzten Kampf. Ich sah dich und mich. Gemeinsam sind wir dazu bestimmt, gegen das Dunkel zu kämpfen. Valmar betrat diese Hallen, Ryudo, tief in deiner Freundin Elena. Lass sie uns aufhalten, gemeinsam. Lass uns zu Helden werden für Granas.“ Sie hatte sich aufgerichtet und blickte nun auf mich herauf. Ich konnte nicht vor und auch nicht zurück. In ihrem Blick und in ihrer Stimme lag etwas, was mich erschreckte. Sie war verrückt und sie war verzweifelt. Ein Stich traf mich aus den Untiefen meiner Seele. Wirkte ich so auf Elena? Ich musste Zeit gewinnen. „Hat dir Granas auch erzählt, wie es weitergeht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hast die Wahl, hat er mir gesagt. Du trägst die Welt in der Hand… und mich.“ Sie griff nach meiner Hand, um es mich spüren zu lassen, doch ich entzog mich ihr. „Hör zu, Inquisitorin“, sagte ich und stand auf, „Ich weiß nicht, was die Welt von mir will oder du oder Granas. Ich bin hier, weil ich will, dass das Sterben ein Ende hat. Ich will einfach nur…“ – „… Liebe?“ Sie schmiegte sich an mich, doch ich schob sie auf Abstand. „Nein, Ruhe.“ Ihr dämmerte langsam die Abfuhr und sie versuchte, Haltung zu bewahren. „Du bist zu gut“, sagte sie mir, „In jeder anderen Zeit würde ich dich dafür lieben, doch die Zeit des letzten Kampfes ist angebrochen. Da kannst du dir nicht erlauben, auf ein Wunder zu hoffen.“ – „Nein, Selene. Der Kampf ist vorbei. Ich habe einen Weg gefunden.“ Sie sah mich an und ich hoffte schon, dass sie verstand, doch dann lachte sie. „Du vergisst, dass ich mit Granas sprechen konnte. Er kennt deinen dritten Weg. Nein, Ryudo, ein Aufschub, der mit dem Tod eines Geronshundes endet, kann nicht die Lösung sein. Es ist nur gewonnene Zeit, verstehst du nicht? Sie muss genutzt werden. Wir können sie nutzen.“ „Das werden wir nicht.“ Wut überkam mich ob der Sinnlosigkeit der ganzen Diskussion. „Ich liebe Millenia und werde nicht zulassen, dass ihr etwas passiert.“ Selene starrte mich an: „Du bist von Sinnen.“ – „Das bin ich nicht. Millenia will ja selbst die Welt nicht mehr zerstören. Sie ist eine der Guten, hörst du.“ Ich schüttelte den Kopf. Selene knotete ihr Handtuch so fest sie konnte um sich und überlegte noch, was sie mit mir anstellen konnte, als mir die Idee kam. „Wir sind doch hier vor Granas, oder?“ Vollkommen überrascht von meiner Frage nickte sie. „Wenn ich mit ihm reden könnte, dann könnte er ja vielleicht Millenia reinigen. Er vernichtet alles an ihr, was böse ist, und verhindert damit die Zusammenkunft.“ Selenes erste Reaktion war schon aus Prinzip ablehnend. „Das funktioniert nicht.“ – „Natürlich funktioniert es. Was wäre er für ein Gott, wenn er nicht die Mittel hätte? Millenia will die Reinigung doch auch.“ – „Es könnte sie verstümmeln.“ – „Das wird es nicht.“ Selene seufzte. Sie entknotete ihr Handtuch und breitete es auf der Bank aus, ehe sie sich draufsetzte. „Ich wünschte, ich könnte dir diesen Plan kaputtreden“, sagte sie, „aber das kann ich nicht. Er kann funktionieren. Ohne meine Hilfe. Ohne mich.“ „Doch, ich brauche dich“, sagte ich schnell. „Du musst mir den Weg weisen.“ Sie sah mich an und ein glückliches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, ehe sie mit einem Mal bleich wurde. „Das funktioniert nicht“, sagte sie und ich sah, dass sie mit einem Mal mit den Tränen kämpfte. „Ryudo, verdamm mich, aber…“ Ich setzte mich zu ihr und legte meinen Arm um ihre Schulter. „Ganz ruhig“, sprach ich zu ihr, „Was ist los?“ – „Ich hatte nicht damit gerechnet.“, kam es ihr unter Tränen, „Ich hatte nicht damit gedacht, dass es noch eine Möglichkeit gäbe und deshalb bat ich Granas um diesen Ort… Er sagte mir, ich könne dich nicht überzeugen, und da bat ich ihm um einen Ort für uns, an dem wir reden konnten, wir zwei zusammen… und nur einer kann weg.“ Das war ein Schlag. „Du hast was?“ – „Ich wusste, du würdest so sanft sein, und ich wollte verhindern, dass du vor mir wegrennst. Ich liebe dich und wenn du mich nicht liebst, dann wollte ich wenigstens dein Opfer sein, wie du es immer brauchst, wie Skye…“ – „Nein!“ Ich sprang auf, als mir alles klar wurde. Das Opfer würde ich sein. „Hör zu“, sagte ich, als ich nach meinem Schwert griff, „gehe zu Granas und bitte ihn. Du weißt, was wir…“ Ich erstarrte, als ich mich zu ihr umwandte. Selene saß auf der Bank. Ein Dolch steckte in ihrer Brust und ließ Bäche von Blut aus ihrem Körper platzen, die an ihr herab liefen und ihr Handtuch versauten. Noch bei Bewusstsein lächelte sie mich an. „Nein“, sagte sie schwach, „nicht so. Aber wenigstens… kam ich… doch noch… in dein Herz.“ „Nein!“, schrie ich, während ich noch auf sie zu stürmte. Das Licht und die Wärme verschwanden. Ich musste das Herz der Welt erreicht haben. Kapitel 21: Reise, Reise, Seelenreise ------------------------------------- Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Die Welt war dunkel und ohne jede Konturen, so dass ich mich fragte, ob ich doch tot war. Dann passierte etwas. Ich spürte Schnee auf meiner Haut. Ich lag auf kaltem Boden. Die Flocken schmolzen auf meinem Körper und liefen als Tropfen an mir herab. Ich blieb liegen, bis mich etwas erreichte, ein Klopfen oder Kratzen an meiner Wange. Ich schlug die Augen auf. „Skye?“ Der Vogel von mir auf dem Boden sah mir zu, während ich langsam versuchte, aufzustehen und mir Schnee und Dreck vom Leib klopfte. Wir befanden uns in irgendeinem Winterland inmitten von Schnee und kaltgrauen, schwer beladenen Bäumen. Es war biestig kalt. „Skye“, stieß ich aus, was ich dachte. „Das ist Schlesien. Träume ich, wache ich oder bin ich tot?“ Der Vogel erhob sich nun, noch ehe er mir antwortete, er nahm sich seine Zeit. „Nordwestschlesien, um genau zu sein. Würde der Schnee nicht liegen, würdest du den Ort erkennen.“ Ja, das war es. „Hier irgendwo müsste sich der Carmina-Turm befinden. Wir sind also…“ Ich hielt inne, als mir das Wetter bewusst wurde. „Ist es schon so lange her?“ Skye gab mir keine Antwort. Hier an diesem Ort war mir Millenia zum ersten Mal im Traum erschienen. Hier hatte alles begonnen. Trotzdem, ich durfte jetzt nicht melancholisch werden. Ich wechselte meinen Gedankengang. „Skye“, fragte ich stattdessen, „warum bist du hier?“ Hoch oben weit über mir zog ein fliegender Punkt seine Kreise. Ich wollte schon in den Himmel brüllen, als er mir doch antwortete: „Elena stieß mich ab. Ich bin wieder frei.“ – „Aber das heißt ja… Wenn du hier bist, wer verhindert dann Valmars Wiedergeburt?“ „Elena. Und Granas selbst. Es kann sein, dass schon alles vorbei ist.“ – „Was?“ Ich schrie den Himmel an, mit dem ich doch so klar sprechen konnte, „Ich muss dort hin. Zeige mir den Weg.“ Ich musste hier weg. Sofort griff ich zu meinem Schwert, doch der Schnee, der keine Spuren wies, ließ mich zaudern. Wo musste ich hin? „Ryudo, bitte. Du bist geschwächt und unterkühlt. Wünsche dich ins Warme, sonst wirst du gar nichts erreichen.“ – „Mich ins… So funktioniert es hier?“ Dieser sonderbare Ort, wurde mir wieder bewusst, war das Herz der Welt. Ich nahm es halb hin und hatte es halb vergessen. „Erzähle mir mehr.“, schrie ich, „Wie komme ich zu Millenia? Wo sind sie?“ Ich konnte Skye nicht genau erkennen. Er ließ sich Zeit, seine Runden zu drehen, während ich immer wütender wurde. „Verdammt. Sage mir, wie…“ Da wurde mir alles klar. Er hielt mich hin. Seine Verachtung für Millenia schien ihren Höhepunkt erreicht zu haben. „Hör auf, Spielchen zu spielen. Ich gehe da jetzt hin, ob du willst oder nicht. Wenn ich nu…“ „Ryudo, warte.“ Mit einem Mal wurde der Vogel ganz schnell. „Ich bin hier, um dich zu retten. Ich wusste von Selenes Wunsch und wollte nicht, dass du erfrierst oder verblutest. Ich wollte, dass du lebst. Bitte, respektiere das.“ – „Oh, danke, Skye. Danke für alles.“, spuckte ich ihm entgegen. „Du willst doch bloß nicht mit mir untergehen, wenn’s grade nicht so läuft, wie du es willst, was?“ Ich ließ ihm keine Wahl. „Du hast ja recht.“, gab er zu, „Ich würde dich nur ungern am Ort des Geschehens sehen. Denke an Melfice. Damals hast du alles nur schlimmer gemacht.“ Das war ein Schlag ins Gesicht. „Das heißt, du vertraust mir nicht.“ – „In diesem Fall nein, tut mir leid.“ Seine Kreise wurden unregelmäßiger, doch er blieb weit oben. Hatte er etwa Angst? „Danke, aber ich gehe trotzdem.“ Das Schwert fühlte sich schwer an in meiner Hand. „Sage mir, wo sie sind.“ – „Ryudo, sie…“ Er schien zu seufzen. „Sie sind auf St. Heim, hoch oben in der Kathedrale. Dort konnte die Kirche Elena nicht helfen.“ – „Na, dann auf…“ Ich wollte es aussprechen, aber mich hielt etwas zurück. Ja, was Skye sagte, klang logisch, aber mir gefiel etwas nicht. Ich konnte es nicht genauer festmachen. „Gelogen“, stellte ich fest. „Bitte. St. Heim, Kyrnberg, Nainan… irgendwohin. Du musst es nur aussprechen. Bitte sprich es aus.“ Ich wusste es, doch etwas störte mich weiterhin. Irgendwas war, irgendwas wollte er… Das war es. Mir kam es ganz plötzlich. „Skye, du Flügelratte, wohin ist dein Horn verschwunden?“ Das war es, was mich störte, und was er hoffte, in der Luft vor mir zu verbergen. „Du bist es losgeworden. Du hast mich verkauft. Ist es nicht so, Skye?“ Er antwortete nicht, doch das war Antwort genug. Wer außer Granas konnte ihm Vergebung gewähren? Und was war der Preis? Es war doch… eine Idee. „Skye, du Lügner“, schrie ich erneut. „Du versuchtest, mich von hier fortzulocken. Ich habe mich nicht an diesen Ort gewünscht und wenn ich es nicht war, dann bin ich hier richtig. Der Carmina-Turm. Da soll alles enden.“ Ich begann, zu rennen. Schnee war Schnee, doch ich hatte eine Ahnung. Ob Skye in den Wolken hing oder mich überholte, konnte ich nicht sagen. Ich sah nicht zurück. In einer Mischung aus Angst und Hass rannte ich durch den Schnee, rutschte, fluchte und schrie, und auch wenn der Turm in der Ferne langsam Gestalt annahm, konnte doch alles schon zu spät sein und ein totes Mädchen auf mich warten. „Wartet!“, schrie ich ins Nichts, als sich Schatten am Horizont in schwarzen Stein verwandelte und Zinnen, Fenster und Treppen abzeichneten. So nah dran. Hoffentlich scheiterte ich nicht auf den letzten Metern. „Millenia, Gefolgsfrau Valmars“, schnitt sich plötzlich eine Stimme durch die Luft und gleißendes Licht drang aus dem Inneren des Turms, „Du bist kein Teil von mir und hast in meinem Körper nichts verloren. Verschwinde von hier.“ Ein Schrei folgte und plötzlich wurde es wieder dunkel. Die Stille, die folgte, war ekelhaft und grausam. „So einfach war es dann doch. Ich hätte es wissen müssen. Ryudo konnte es und ich… kann es nun auch. Nur noch ein kleines Stück…“ Ein Blitz zerriss erneut das Land und im nächsten Moment sah ich Millenia aus dem Fenster segeln. Sie schlug wild mit den Flügeln, doch trugen sie diese nicht und sie stürzte ab wie ein Stein. Ich rannte, um sie aufzufangen… uff. Schmerz zerriss mich. Ich lag im Dreck vor dem Turm unter einer Frau, der hoffentlich nichts passiert war und die doch kein Zeichen von sich gab. Ich wollte nach ihr sehen, doch mein Körper folgte nicht seinen Befehlen. Ich war mit meiner Kraft am Ende. Selige lange Momente hoffte ich, dass ich schlafen könnte, dass mir das Knarren des Tores gar nicht auffiel. Erst der Anblick schwerer Wanderschuhe vor meinem Gesicht gab mir Grund zur Sorge. Ich sah auf. Elena, vor dem dunklen Turm rein wie ein Engel, strahlte eine unglaubliche Ruhe und Energie aus. Sie blickte zu mir hinunter, während ich feststellte, dass ihre Haut zu leuchten schien. Sie wirkte wie aus flüssigem Silber gegossen, eine Gestalt, die mir jedes bisschen Ehrfurcht abjagte, dass ich in den Windungen meiner Seele besaß. Ich griff zu Millenia, um sie zu spüren. „Habe keine Angst“, sagte Granas-Elena, „Ich will dich nicht zerreißen. Stehe auf und tritt zurück. Für dich ist es vorbei.“ „Nein“, murmelte ich schwach, ehe ich taumelnd aufstand und mich zwischen sie stellte. „Ich werde sie nicht…“ Ich rechnete mit einem Schlag. Das wäre ein Ende. Als ich die Augen wieder öffnete, sah mich Elena ruhig an. „Ja, das hat mir Skye verraten. Er sagte, ich sollte dich verbrennen, sobald du hier nur erscheinst.“ Wie auf Kommando erschien der Vogel und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. „Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er wollte nicht vernünftig sein. Was erwartest du auch von einem Dämonenfreund?“ Diese widerliche kleine Ratte. Mein Stand wurde fester und ich griff nach meinem Schwert, das auf dem Boden lag. Mit einer Handbewegung brachte mich Elena zum Stocken. „Ja, Ryudo, du hättest so ein schönes Mädchen haben können, aber du bist ja so dumm. Siehe sie dir doch an. Sie hat dich belogen, sie hat dich benutzt und sie ist nicht einmal ein echter Mensch. Sie ist ein verdammter Klumpen Erde in menschlicher Form.“ Langsam kam Skye in Fahrt. „Soll ich zusehen, wie du ins Verderben rennst? Du kranker Verrückter hast mich gar nicht verdient.“ Ich knurrte zurück und böse Blicke trafen sich. Ich hätte ihm am Liebsten einen Bratenspieß durch den Körper gerannt und was er mit mir getan hätte, wollte ich nicht wissen, allein, Elena zerbrach die Lage. Sie hob die Hand und traf Skye, der sich von dannen machte. Sie hatte sich für mich entschieden. „Bitte“, sagte ich ihr und vergaß meinen Zorn, „er liegt falsch und das weißt du. Millenia ist mehr als nur Schmutz. Sie entstand aus einem Teil deiner Seele und wuchs mit der Zeit zu etwas Großem heran. Sie ist wie Melfice, ein neuer Mensch.“ Ein heller Blitz ging plötzlich von ihr aus und verbrannte meine Haut, ließ mich schreien und riss mich mitsamt Millenia zurück. Ich konnte kaum die Augen offen halten, als ich mich tief im Dreck wiederfand. Das war für den Geist. „Du bist…“ – „… mächtiger geworden? Ja. Granas hat mich auserwählt. Seine ganze Kraft ist nun in mir.“ Ich dachte laut nach: „Dann hast du erreicht, was Selene für mich wollte.“ Sie nickte nur. „So ist es besser für mich. Mit Granas Hilfe wird meine Seele keinen Schaden erleiden. Es wird mir nicht wehtun.“ Ich wollte eingreifen, protestieren, doch sie schnitt mir das Wort ab. „Seit Monaten leide ich unter dieser Frau, unter ihren Taten und ihren Gedanken. Sie wollte mich vernichten, mich beherrschen oder zu etwas in ihrem Leben machen, doch jetzt ist es vorbei. Es ist mein Körper, meine Seele und mit meinem Gott im Rücken soll sie dafür bezahlen.“ „Nein“, schrie ich, als neue Wut mich packte und plötzlich sah ich, wie nah doch mein Schwert lag. Ich packte den Griff und riss mich nach oben. „So endet es nicht.“ Die Welt glitt mir aus den Händen und im nächsten Moment fand ich mich in einer Kugel wieder. Sie umfasste Millenia und mich und trug uns beide fort. Es war wie im Traum. Dann standen wir in einem Wald. „Ein bisschen Macht habe ich also doch noch“, keuchte Millenia hinter mir, hörbar stolz, und ich stützte sie, um sie nicht fallen zu sehen. Ich handelte ganz automatisch, wie im Fluss. Alles ging mir zu schnell. Ich brauchte wieder Boden unter den Füßen, stellte ich fest, also setzte ich mich mit Millenia ins Gras. Sie war unverletzt, doch bereitete es ihr Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten und ich wusste, ohne es zu sehen, dass sich ihre Kraft dem Ende entgegenneigte. Sie schmiegte sich an mich. Ich betrachtete sie und betrachtete den Wald um uns herum. Ja, ich kannte ihn, vor gar nicht langer Zeit hatte ich ihn mit dem Paradies verglichen. Millenia hatte uns zurück nach Waracha geführt. „Was hat sie dir nur angetan?“, fragte ich sie aus einem Wunsch heraus, zu reden, und sie antwortete mir schwach: „Sie hat mich aus ihrem Körper gerissen. Ich hatte nicht damit gerechnet, also tat es weh.“ – „Geht es denn?“ – „Ja.“ Ich musste überlegen. „Dann bist du jetzt…?“ – „… ein verdrängter Traum, genau wie Melfice. Sie war endlich bereit, mich loszulassen.“ Ich blickte sie an, während ihr die Tränen kamen und sie sich immer fester an mich klammerte. „Hätte sie es früher getan, dann hätten wir… Ich will nicht sterben“ Ich küsste sie auf die Stirn. „Wir sind noch nicht tot. Ich finde einen Weg, versprochen.“ Ich kam mir mit einem Mal schäbig vor. Der wievielten Frau versprach ich das? „Oder es wird wenigstens ein schöner Traum.“, setzte ich murmelnd hinterher. In der Ferne konnte ich die Umrisse des Turms der Purpurwolken erkennen, dem Gegenstück zu Carmina. Ich sprach laut aus, was mir in den Sinn kam: „Sind wir hier noch im Herzen?“ Sie nickte in meinen Armen. „Ich komme von hier nicht mehr weg. Wir gewinnen hier nur Zeit.“ Ein neuer Gedanke kam mir: „Was ist eigentlich mit dem Ende der Welt?“ – „Elena verhindert es, ihre neue Macht erlaubt es ihr. Schon deshalb werden wir sie nicht umstimmen können.“ Ich wollte ihr etwas erwidern, doch meine Stimme versagte. Wenn es mir hier schon mies ging, dann war das doch kein Vergleich zu den Qualen einer Millenia. „Ryudo, es gibt nur einen Weg. Nur den einen. Also bitte, rette dich und lass mich zurück. Ich will dich nicht in den Tod reißen.“ Ich blickte sie an, in ihre tränennassen, grünen Augen. Es war wieder und immer wieder das gleiche. „Nein“, sagte ich, und das war’s. Meine Entscheidung stand schon so lange fest, doch Millenia starrte mich an und ihr kamen erneut die Tränen. „Du bist so dumm“, murmelte sie „so entsetzlich dumm.“ und versank in meiner Schulter. Ich spürte, dass sie noch nie in ihrem Leben so glücklich war. Es gab ihn doch, den dritten Weg. Ich sprach ihn aus, ohne ihn selbst erkannt zu haben: „Lass uns die Welt beenden.“, sagte ich ihr, „Lass uns in die Erde fahren und sie neu erschaffen, gebaut auf unsere Liebe. Wir lenken Elena ab und nutzen den Moment. Ich bin sicher, wir können es schaffen.“ Sie sah mich an und ich dachte schon, der Gedanke würde sie erschrecken, als sie ihn weiter fortfuhr. „Wir nehmen Skye. Er ist mit deinem Herzen verbunden und machtlos gegen meine Magie.“ Ich nickte und sie drückte sich an mich. „Dann lass das das Ende sein“ „Nicht ganz.“ Elenas Stimme durchschnitt die Stille und ihr Lichtschein ließ uns sofort herumwirbeln. „Skye ist tot.“ – „Was?“ Wir sprangen auf und starrten sie an. Das blonde Mädchen stand vor uns, unbewaffnet, aber spürbar von einer gigantischen Macht beseelt. „Hast du etwa…?“ – „… euren Plan geahnt? Nein, aber ich hasse Verräter.“ Sie brauchte einen Moment, ehe sie merkte, dass meine Verwirrung echt war. „Hast du es nicht gespürt?“, fragte sie und ich konnte ihr keine Antwort geben. Nein, hatte ich nicht. Wir mussten Elena überraschen. Wann sollte es gehen, wenn nicht jetzt? Ganz plötzlich löste ich mich von Millenia und stürmte auf sie zu. Ein Schrei dazu und… nach unserer Reise kannte ich Elena – selbst wenn sie jetzt mächtig war, so blieben doch ihre Instinkte das, was sie waren. Sie erstarrte vor Schreck, da war ich schon bei ihr. Mein Schlag traf sie in die Magengrube und Wucht meines Körpers riss sie zu Boden. Sie quiekte und jaulte vor Schmerz und Überraschung. Mehr Ablenkung hätte auch Skye sicher nicht erreicht. Sie war ein Mädchen, doch sie war zäh geworden. Ich wandte mich zu Millenia um, als ich in Flammen stand und mich eine Welle aus hellem Schmerz ergriff. Ich dachte schon, es wäre aus, als sie mich jäh wieder losließ. Nicht weit weg wankte Elena und blickte zu mir hinab. Wir sind quitt, schien sie zu sagen. Das aber war nicht genug. Diesmal würde ich ihr eine Kollektion meiner Kinnhaken zeigen und die bestimmt nicht zur Ruhe kommen. Ich setzte zu einem neuen Anlauf an, als eine Stimme unseren Kampf zerschnitt. „Hört auf.“ Auf einmal ruhten alle Blicke auf Millenia, „Ryudo, ich muss sagen… ich liebe dich. Ich liebe die Welt und dich, Elena, liebe ich auch. Ich möchte nicht der Grund für noch mehr Morde sein. Ich will die Welt nicht beenden.“ Wir waren wie erstarrt. „Ryudo, es war schön, dich zu lieben und von dir geliebt zu werden. Dafür danke ich dir. Ich bin sicher, noch nie hatte ein schmutziges Monster wie ich ein so schönes Leben. Und, Ryudo: Sollte es für mich ein weiteres Leben geben, werde ich nach dir suchen.“ Ich konnte nichts sagen, ich war wie gelähmt. „Elena, bitte: Bringe es zu Ende.“ Ich riss mich auf, während Millenia die Augen schloss. Ein heller Blitz zerriss die Welt und ließ nichts übrig außer meinem Schrei. Epilog: Status Quo Ante ----------------------- Lange Zeit sollte vergehen, in dem ich die Welt hinter mir ließ. Ich floh aus dem Herzen von St. Heim und wandte mich nach Garland, ehe mich dort die Schatten verjagten und ich mich in den Dschungeln Warachas versteckte, ehe mich auch dort meine Zeit heimsuchte. Frischer Rauch führte mich zu den Ruinen von Nainan, menschliche Fußspuren gingen zum Strand. Eine Katastrophe war eingetreten. Ein neues Bewusstsein breitete sich aus. Die Anhänger von Granas blickten sich um und lernten aus ihren Fehlern. Die Kirche hatte sich im Angesicht des Bösen hilflos gezeigt, weil sie zu lange Vergebung statt Vergeltung predigte, und wurde damit durch Valmar und die Ketzerin Selene in Gefahr gebracht. Nun sollte all das nicht mehr passieren. Das Schwert wurde zum Symbol und schon bald wurde es ins fremde Land getragen. Ich hörte schon vorher von einem Massaker an Altgläubigen auf Garland, doch verstand ich es erst, als ich die Reste Nainans durchschritt. Selbst die Quelle war nicht mehr wiederzuerkennen. Ich hatte neue Kraft schöpfen wollen und wusste nun, dass ich nicht länger im Nichts bleiben durfte. Nach einem Jahr der Abwesenheit kehrte ich nach Schlesien zurück. Ich suchte sie und wusste, wo ich sie finden konnte. Kyrnberg im Osten war nicht wiederzuerkennen, seit ein despotischer Prinz die Macht an sich riss und die Stadt in ein Heerlager verwandelte, St. Heim strahlte in seiner stillen Größe, die die Jahrhunderte überdauert hatte, und Mirmau blieb in Eis versunken. Hier sollte ich auf sie treffen. „Inquisitorin Elena?“ Als ich es hörte, konnte ich es kaum glauben. Ein Wort von ihr ließ ihre Begleiter ihre Waffen zurückstecken und sich auf böse Blicke beschränken, ehe sie sich von uns entfernten. Ich wollte mit ihr reden und war doch erstarrt. „Geronshund Ryudo.“, begrüßte sie mich und lächelte ohne Glanz, „Es ist lange her.“ – „Nein.“, wehrte ich ab und zeigte an mir herab, „Ich meine, der Geronshund.“ Ich trug kein Schwert mehr seit jenem Tag. „Wie auch immer.“ Sie schluckte. „Ich habe nicht mit deinem Erscheinen gerechnet. Wollen wir nicht wohin gehen, wo wir ungestörter sind?“ Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Auch Mirmau hatte ich lange nicht mehr gesehen. „Ich hatte dich eigentlich in Karbowitz erwartet“, begann ich schließlich, als wir wie in alten Zeiten durch die Straßen schlenderten. „Ich bin ganz überrascht, dich hier schon zu finden.“ – „Karbowitz hätte dir nicht gefallen. Es hat mir nicht gefallen.“ Ich wunderte mich über ihren Ton zwischen wehmütig und hart. „Ich komme gerade von dort. Dienstlich, du verstehst?“ – „Nein.“ – „Ich musste…“, sagte sie traurig, „… mit Pater Carrius sprechen. Nun steht sein Haus leer.“ Sie unterbrach mich, ehe ich etwas sagen konnte. „Warum dachtest du eigentlich, dass ich da bin?“ – „Es ist deine Heimat. Nach all der Zeit…“ – „Dann müsstest du doch in Garland sein.“ Der Schlag traf und ich verstand. Auch für sie bestand die Heimat aus zu vielen leeren Häusern. „Es war kalt, als ich erwachte“, erzählte sie ihre Geschichte. „Ich war allein. Granas war fort, du warst verschwunden und in meinem Innersten zuckten die Krämpfe. Einen Teil von sich rauszureißen ist keine angenehme Erfahrung, du kannst es dir gar nicht vorstellen. Dann fand ich schließlich den Ausgang und wusste, dass ich, nachdem ich einmal Granas Macht getragen hatte, nicht mehr im Kirchenchor singen würde, also zog ich nach St. Heim. Die Kardinäle erkannten die Rückstände seiner Macht in mir und gaben mir einen Posten, der gerade vakant war. Als Siegerin über Valmar und Selene war ich genau das, was sie sich wünschten. Ich war ein strahlendes Gesicht einer jungen, sich erneuernden Kirche.“ Sie musste lachen, als sie die Erinnerung noch einmal durchlebte. „Sie dachten, ich wäre ungefährlich, weil ich noch so jung war. Ich verspreche dir, das werden sie noch bereuen.“ Ich hörte sie reden und erkannte sie nicht wieder. In all der Zeit unserer Reise hatte ich sie so nie erlebt. „Ich habe sogar schon ein Buch schreiben lassen über meine Reise. Gerade jetzt suchen die Menschen nach Vorbildern. Aus diesem Grund wollte ich auch mit Carrius reden.“ Ich nickte, als mir langsam klar wurde, in welche Richtung das Gespräch ging. „Und nun bin nur noch ich da?“ Sie war so selbstbewusst, kein verängstigtes Mädchen mehr. „Ich ging davon aus, dass du tot bist, aber das muss ja nicht der einzige Weg sein. Ich könnte dir einen Platz in einem Kloster beschaffen, natürlich in einem abgelegenen. Du kannst auch weiter mit mir reisen.“ Ich musste meine Bestürzung verbergen. Es lag einfach zuviel hinter uns, als dass ich nun auch nur darüber nachdenken könnte, in ihrem Spiel mitzuspielen. „Danke“, sprach ich langsam aus, „aber nein. Ich werde wieder an den Rand der Welt zurückkehren und du wirst nichts mehr von mir hören.“ – „Oder so.“ Im Geiste hakte sie einen weiteren Punkt ab. Schweigend gingen wir ein Stück nebeneinander her. „Was passiert eigentlich mit dem Kloster?“, fragte ich dann. Sie wusste eine Antwort. „Die Mönche kamen frei und ich ließ eine Garnison zu ihrem Schutz zurück. Ich möchte den Eingang nicht ganz verschließen.“ Sie zögerte, als sie zum ersten Mal ein Geheimnis aussprach: „Weißt du, ich war schon dort, wieder und wieder, doch Granas antwortet mir nicht mehr. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich möchte es herausfinden. Ich möchte diese Macht zurück, ganz gleich was ich dafür tun muss.“ Ich nickte nur, weil ich nichts zu sagen wusste. „Ich werde dann mal gehen.“ – „Ja, es ist Zeit.“ Wie belämmert standen wir da, ehe ich es aussprach: „Darf ich dich küssen?“ – „Nein, lieber nicht“, antwortete sie schweren Herzens, „Es würde nur alles noch schwerer machen.“ Zeit verging und verbrannte mich. Ich hatte die Welt gesehen und wusste doch nicht, wohin ich gehen sollte. Mit all diesen Orten waren Namen, Gesichter und Bilder verbunden und doch hatte ich versprochen, zu gehen. Ich irrte ziellos umher, wartete verzweifelt auf eine Eingebung, und als ich gar nicht mehr wusste, wohin ich ziehen konnte, suchte ich die Höhe. Ich erklomm die Inor-Berge und hielt mich immer weiter westlich. Ein Gebirge lag vor mir, welches angeblich noch nie von einem Menschen überquert worden war. Ich merkte mir nicht einmal seinen Namen. Carrius war tot, der Ursprung von allem, sein Unglück war seine Schülerin. Tiodora und Selene wurde ihr Glaube zum Verhängnis, gestürzt über all ihre Liebe. Die kleine Aura hatte nie eine Chance, ebenso wenig Mareg in seinen letzten Minuten. Beide waren sie nur Figuren in Millenias Spiel. Millenia schließlich hatte ein zu weiches Herz und gab auf, ehe die letzte Schlacht geschlagen war. Der Gedanke schmerzte mich immer noch. Ich stieg über Felsen und blickte ins Tal. Irgendwo ganz in der Ferne meinte ich, den Carmina-Turm zu sehen, und nicht weit davon müsste auch Elenas Heimat liegen. Ich war wieder ganz am Anfang angekommen, doch diesmal stand ich nicht mittendrin. Diesmal stand ich darüber. Hätte ich damals, wenn ich gewusst hätte, was es bedeutet, diesen Auftrag angenommen? Ja, ohne zu zögern. All das Leid schien mir weitaus erträglicher zu sein als der Gedanke, noch einmal in meine damalige Haut schlüpfen zu müssen und wieder ein kleiner, verlogener Söldner zu sein, der bei allem, was er tat, nur vor sich selbst davonlief. Ob ich auch so weit gekommen wäre, ohne mich mehrfach selbst zu verstümmeln? Ich dachte darüber nach, dann warf ich die Frage davon. Frische, kühle Bergluft schien sie fortzuwehen wie ein Blatt im Wind. Melfice war mein dunkelster Wunsch gewesen und im Licht wurde er heller, als ich es jemals sein konnte. Ich musste ihn töten, um zu verstehen, was ich mir vorher nie eingestehen konnte: Ich liebte ihn und verdankte ihm so viel. Er rettete mich aus einer Zeit, als ich keinen schimmernden, sondern einen dunklen Ritter brauchte. Auf ihn und seine Taten wollte ich ebenso wenig verzichten wie auf meine Reise. Sie hatten mich geprägt. Eine Klippe führte in ein tiefes Tal. Ich setzte mich und ließ die Füße baumeln. Als ich auf das Tal herabblickte, welches so frei von Menschen die Zeit überdauerte, musste ich an Millenias Worte denken. In einem nächsten Leben, so hatte sie gesagt, würde sie mich suchen, um mich endlich lieben zu können. Es schmerzte mich, wenn ich nur daran dachte. Ich hatte auf meinen Reisen auch nach ihr gesucht, doch sie nie gefunden. Es war ein frommer Wunsch, wusste ich doch, dass Valmar besiegt war und Elena ihren Traum für sich geopfert hatte, doch trotzdem, auch wenn es sinnlos war, wollte ich sie nicht aufgeben. Ich hatte gehofft, irgendwo hinter den Bergen auf sie zu treffen, in welcher Gestalt auch immer. Skye hatte recht gehabt. Während ich in die Tiefe unter mir blickte, wurde es mir immer deutlicher. Er hatte von Anfang an gesagt, dass ich nicht nach Träumen suchen sollte. Es gab keinen Weg für ihn, der Millenia gerettet hätte, und es hatte tatsächlich keinen Ausweg gegeben. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr tat es mir leid, ihn als Verräter verflucht zu haben. Er hatte auch recht, auf seine Weise, und hätte ich auf ihn gehört, dann hätte ich wohl Elena küssen dürfen. Hätte ich dann gelächelt, wenn ich auf dem Fels gesessen hätte? Vermutlich nicht. Ich hätte mich wohl eher für viel zu viele ihrer Taten schämen müssen. Inquisitorin Elena. Das klang verrückt, aber irgendetwas regte sich in mir. Sie wurde es aus freien Stücken, also musste es etwas in ihr geben, das schon immer in diese Richtung strebte. Hatte ich es wirklich übersehen? Ich hatte sie wohl nie richtig gekannt. Ich seufzte und blickte ins Tal. Ich wusste, hier war ich angekommen. Was hatte wohl Skye jetzt für einen Ratschlag für mich? Vielleicht würde er wollen, dass ich zurückkehre, Elena küsse und weiter als ihr Leibwächter arbeite. Dann würde die Reise weitergehen, dann würde sie ewig dauern. Tatsächlich, es gab eine Zeit, in der ich mir gewünscht hätte. Doch diese Zeit war vorbei. Langsam stand ich auf und blickte ins Nichts. Ich wusste, ich würde nur einige Schritte brauchen, dann käme mein Sturz und alles wäre vorbei. Es wäre ein würdiger Abschluss gewesen. Stattdessen begann ich, zu singen. Wer die Welt am Stab durchmessen, wenn der Weg in Blüten stand, nimmer konnt er doch vergessen glückberauscht sein Heimatland. Und wenn tausend Sangesweisen nur der Fremde Lob entquillt, einzig will das Land ich preisen, dem mein ganzes Sehnen gilt. Sei gegrüßt am schönen Oderstrand, liebe Heimat, traute Heimat! Schlesien, du mein liebes Heimatland! Schlesien du mein liebes Heimatland! Ich musste lachen. Das Tal dort unten lud zur Erkundung ein. Vielleicht gab es da unten ja auch Menschen mit Monstersorgen und blonden Töchtern. Ich dachte an Skye und auch wenn er nicht mehr da war, fühlte ich mich nicht allein. Ihm hätte es gefallen. „Skye“, rief ich laut, während ich den Abstieg begann. Es war Zeit für die Jagd. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)