Grandia II: Der Pfad zur Seele von Ghaldak (Eine Tragödie in 5 Akten) ================================================================================ Kapitel 10: Der Weg zum Bruder ------------------------------ So begab ich mich auf die Suche nach Mareg. Ich hatte noch lange überlegt, ob ich es wirklich tun sollte, waren doch meine Erinnerungen an den Bestienmann nicht die besten. Er hatte mich niedergestochen und zum Sterben zurückgelassen. Er hatte Elena mit ihrer Angst allein gelassen. Nichts davon rührte in ihm ein Bedauern. Kurzum, er war kein Wesen, das man gerne um sich haben möchte, doch war er auch nicht mein Feind. Der Bestienmann jagte Melfice. Wenn Millenia der Meinung war, dass mein Bruder irgendwo ganz nah auf mich wartete, so war ihr Rat Gold wert, denn gegen ihn würde ich untergehen, daran zweifelte ich nicht. Melfice war eine offene, schmerzende Wunde für mich, die nicht verheilen wollte. Es schmerzte mich schon, jetzt an ihn erinnert zu werden, und ich spürte, dass ich zitterte. Doch halt. Ich zwang mich zur Distanz. Noch war nicht sicher, dass ich diesen Kampf aufnehmen musste. Vielleicht war das ja auch nur einer von Millenias Plänen, die sich für uns einen Anstandswauwau wünschte, doch wie hätte sie dann von Melfice wissen können? Was wusste sie? Hatte sie Elena etwa beim Stöbern über die Schultern gesehen und mehr verstanden als sie? Ich durfte die Entscheidung nicht Elena überlassen. Ich musste jetzt entscheiden. Mein Bruder war dort draußen und wartete auf mich. Entweder würde ich mich ihm stellen, dann müsste ich jetzt die Schritte unternehmen, oder ich würde versuchen müssen, vor ihm wegzulaufen. Ich war aufgesprungen. Die Idee bewegte mich, sie machte mich zornig und aufgeregt zugleich. Melfice war eine Bestie. Er hatte mein Heimatland verwüstet und war davongelaufen, ehe ich ihn stellen konnte. Ich war ihm nach Schlesien gefolgt, um ihn zur Strecke zu bringen. Ja, es war Zeit vergangen, und ja, ich hatte ihn aus den Augen verloren, aber was bedeutete das? Millenia fühlte ihn nah und sah eine Chance, ihn zu besiegen. Mit ihr und Mareg im Rücken würde ich stark sein. Ich konnte ihn besiegen. Ich kam in Bewegung. Ich wurde verfolgt, hatte Millenia mir gesagt, also musste er sich in meiner Nähe aufhalten. Als riesiger Bestienmann musste er in Kyrnberg auffallen, also sollte es nicht schwer sein, einen Jäger zu jagen. Es war schwerer, als ich dachte. Als ich Mareg schließlich sah, lud ich ihn auf ein Bier ein, schon konnten wir reden. Ich beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ich werde gegen Melfice ziehen“, sagte ich ihm, kaum dass wir uns begrüßt hatten, „bist du bereit, mich zu unterstützen?“ Die Bestie sah mich lange an und schnaufte zu mir herab. „Melfice“, murmelte sie, „Melfice“ und wirkte so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht wahrnahm, wie sie mich mit ihren großen Händen an der Kehle packte. „Was weißt du, Mensch?“, knurrte sie und ließ mich erst ein paar Mal japsen, ehe sie den Druck verringerte. „Du bist dumm wie Dreck“, warf ich ihm ins Gesicht, woraufhin er mich durch die halbe Schenke schleuderte. Der Aufprall war schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Ich kam auf die Beine, während er noch auf mich zustapfte. „Wo ist er?“ Ich hatte inzwischen mein Schwert in der Hand. „Soll ich dich abstechen?“ Ein langes Fauchen folgte. „Grarr, du nervst.“ Ich blickte ihn scharf an. „Ich kann dich brauchen, aber nicht so. Wenn wir Melfice jagen, dann nur mit dir zu meinen Füßen. Ich befehle, du folgst. Verstanden?“ Der Koloss erbebte und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er lachte. „Du willst ganz schön viel für so ein kleines Männlein.“ Meine Stimme wurde ruhiger. „Nein, im Gegenteil, du kommst billig davon. Ich biete dir nicht nur die Kampfkraft, die du brauchst, um ihn zu besiegen…“ - heftigeres Beben - „… sondern auch all die Dinge, die ein Mensch im Gegensatz zu einer Fellbestie vollbringen kann. Ich kann uns eine Reise mit dem Schiff organisieren und ich kann Menschen nach Spuren und Informationen befragen, ohne gleich einen Gardetrupp befürchten zu müssen. Dort draußen bei Nacht und Nebel mochtest du überlegen sein, diese Taverne hier aber verlassen wir gemeinsam oder ich allein.“ Die Bestie sah mich an und kam langsam zur Ruhe. Ich ließ ihr die Zeit, die Vorteile hinter meinem Angebot zu erkennen und dann, als der Groschen gefallen zu sein schien, trat ich auf sie zu: „Ich bin Ryudo, Melfices Bruder. Ich habe mir geschworen, ihn zu vernichten. Sei mir dabei zu Diensten.“ Die Bestie stand vor einer Entscheidung. Ich würde nicht, auch in Anbetracht Elenas, auf die Führungsrolle verzichten. Wenn sie mit mir zusammenarbeiten wollte, so hatte sie keine Wahl. Schließlich gab sie auf. „Ich jage den Dämonenmann seit über fünf Jahren. Für das, was er meinem Stamm und mir angetan hat, soll er vernichtet werde. Ich habe mein Leben nur noch diesem Ziel geweiht und wer auch immer mir in den Weg tritt, den werde ich nicht schonen.“ Die Drohung war nicht zu überhören. Ich hatte nicht mit weniger gerechnet, da Mareg wusste, dass er verloren hatte. Nun lag er in meinen Händen und konnte nur hoffen, dass ich auch aufrichtig war. „Ich werde uns ein Schiff zur Insel Garland besorgen“, sagte ich, als das erledigt war. „Dort wird sich Melfice aufhalten. Wir werden an Land gehen und ihn finden, wenn er uns nicht zuerst aufspürt. So lautet der Plan.“ Ich hielt ihm die Hand hin und er zögerte. Eine Insel also, das musste er erst verdauen. „Du hast meine Axt“, knurrte er schließlich, als er einschlug, und ich wusste, ich hatte Millenias Bitte erfüllt. Es dämmerte schon, während ich noch auf Elena wartete. Ich hatte Stunden auf der Bank verbracht und mich gefragt, wie ich sie von meinen neuen Plänen überzeugen konnte, wobei ich hoffte, dass Millenia irgendwie einen Beitrag dazu leistete. Dann hatte ich es nicht mehr ausgehalten und begann, durch das nächtliche Kyrnberg zu streifen, denn gerade jetzt schien diese Stadt, die niemals schlief, ihr zweites Gesicht aufzusetzen. Lärm drang aus Schenken, auf dem Basar herrschte noch immer ein reges Treiben, Lichter spiegelten sich im Wasser der Kanäle und über alldem hing schwer Valmars Mond, mit blutrotem Siegel in jedem Wasser zu erkennen. Zusammengefasst zeigte die Stadt gerade die ganze Schönheit und ganze Hässlichkeit Schlesiens. Ich wünschte nur, Elena wäre bei mir, um sie mit mir zu teilen. Langsam erst wurde mir klar, worauf all die Entscheidungen hinausliefern. Mein jahrelanger Aufenthalt in Schlesien neigte sich seinem Ende entgegen. Ich hatte das Land zwar nie geliebt, doch ich fand mich doch von der Aussicht überrascht, dass mein Leben hier und die erlebten Jahre so schnell enden konnte. Wie musste es da dann Elena ergehen? Es würde mich wundern, wenn sie schon einmal von hier fort gekommen wäre. Ich musste sie langsam suchen. Auch wenn ich annehmen konnte, dass die Bibliotheksarbeit ihre Zeit erforderte, so würde sie sicher schon lange müde und erschöpft zurückgekehrt sein. Um so überraschter war ich, als ich sie auf offener Straße traf. „Hallo, Ryudo.“, begrüßte sie mich, „Es ist spät, es tut mir leid. Ich habe der königlichen Abendmesse beigewohnt. Ich hätte vielleicht Bescheid geben sollen…“ – „Nein, es ist in Ordnung. Möchtest du noch ein wenig mit mir die Gegend erkunden? Dann kannst du mir erzählen, wie es war.“ „Ich habe gesungen“, begann sie. „Es war irgendwie ungewohnt, nach all der Zeit. Aber es war schön. Weißt du, Ryudo, wie man die Bewohner Kyrnbergs nennt? Das Volk der Dunklen. Ich bin in den Schriften darauf gestoßen. Sie heißen so, weil sie im großen Krieg auf der Seite Valmars fochten, auch wenn sie ihm schon lange abgeschworen haben. Ich finde es irgendwie interessant.“ Sie wirkte glücklich, bis eine Erinnerung ihre Freude trübte: „Ich konnte aber nichts rausfinden. Es tut mir leid, ich fürchte, ich habe…“. Ihre Beschämung war fast schon süß. Sie konnte nicht wissen, dass sie damit eines der besten Ergebnisse für mich darstellte. Nun musste ich mir keinen Grund ausdenken, warum ich ein anderes Ziel bestimmte. „Es ist in Ordnung.“, weihte ich sie mit meiner tröstenden Stimme in meine Pläne ein, „Wir verlassen Kyrnberg morgen früh. Ich habe für uns ein Schiff gefunden, was uns nach Garland bringen wird. Es ist die Insel… es ist der Ort, von dem ich stamme.“ Das überraschte sie. „Wie, du kommst nicht von hier?“, fragte ich sie, worauf ich den Kopf schüttelte. „Nein.“ – „Ich dachte…“ „Jedenfalls…“, kehrte ich zum Wesentlichen zurück, „suche ich meinen Bruder. Melfice. Wobei man ihn nicht wirklich als meinen Bruder bezeichnen kann. Er ist… Er war in deiner Situation. Und er wehrte sich nicht.“ Dunkle Bilder zogen durch meine Gedanken. Ich sah Melfice, der mit Valmar verschmolz und musste mit ansehen, wie er seine Menschlichkeit verlor und einfach durchdrehte. Es folgten Berge von Blut… und Elena, die mich aus meinen Erinnerungen holte. „Und weiter?“ Ich brauchte einen Augenblick, um sie zu verstehen. „Wie ‚Und weiter’?“ – „Was ist, wenn du ihn gefunden hast? Wie hilft mir das weiter?“ Das war eine gute Frage und ich sah, wie enttäuscht sie war, als ich zu lange nachdachte. „Zum einen…“, begann ich, „… sind wir ihn dann los. Wir müssten nicht fürchten, dass er plötzlich in unserem Rücken auftaucht.“ – „Ist er das denn je?“ – „Nein, aber… nun… zum anderen…“ Ich schluckte und holte tief Luft. „Für mich ist Garland ein Alptraum und ich kann mir vorstellen, dass es ihm genauso geht. Er hat eine Menge Gräber hinterlassen und besitzt sicher auf der Insel keine Freunde mehr. Wenn er nun dahin zurückkehrt, dann doch deshalb, weil er etwas sucht. Und das, was er sucht, könnte für uns von Interesse sein.“ „Das ist alles?“ Elena machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. Ich nickte. „Das ist Blödsinn. Ich sollte lieber zu den Büchern zurückkehren.“ – „Nein, es ist… kein Blödsinn. Vertraue mir. Ich weiß es.“ Sie blickte mich so durchdringend an, dass ich mich fragte, ob sie gleich zu lachen oder zu weinen anfangen würde. Schließlich wandte sie sich von mir ab. „Du entscheidest eh“, gab sie mir nach, „Gute Nacht.“ Ich wagte es nicht, sie aufzuhalten, als sie ging. Dabei hatte ich ihr noch gar nicht von Mareg erzählt. Die nächsten Tage waren sehr schweigsam. An Bord des Schiffes, welches uns nach Osten trug, hatte keiner der Passagiere Interesse an der Gesellschaft eines Geronshundes, während sich Mareg nicht von mir stören ließ und Elena sich in der Kabine ihrer Seekrankheit hingab und für eine Märtyrerin sehr geräuschvoll litt. Seit jenem Abschiedsabend in Kyrnberg hatten wir nicht mehr ernsthaft miteinander gesprochen, doch ich spürte, dass sie immer noch sauer war. Ich ließ sie gewähren. Ich verbrachte die Tage damit, Möwen zu zählen, in der Sonne zu liegen und mein Schwert zu polieren, bis ich befürchten musste, der Stahl könnte brüchig werden. Melfice verbannte ich so gut es ging aus meinen Gedanken, merkte ich doch, dass schon die Nennung seines Namens mich aufwühlte und dass es hier an Bord keinen Raum für mich gab. Ich hatte auf dem Festland alles erledigt, was ich erledigen konnte. Jetzt war es das Beste, wenn ich auf meine Vorbereitungen vertraute und die Insel einfach auf mich zukommen ließ. Es gelang mir auch erstaunlich gut. Wir waren fast am Ziel einer zweiwöchigen Reise, als Elena endlich wieder an Deck trat und sich zu mir setzte. „Ich muss mich bei dir entschuldigen.“, sagte sie fast beiläufig, „Was ich gesagt habe, war hart zu dir. Mir ist klar geworden, dass ich auch nicht wollen würde, wenn Millenia frei herumläuft und es auf mich abgesehen haben könnte. Ich war nur so überrascht.“ Sie suchte auf den Planken nach einer bequemen Sitzhaltung, dann erzählte sie weiter. „Letzte Nacht habe ich von Tessa und den anderen geträumt und mir dann gedacht, wie es wohl für mich wäre, zurück nach Karbowitz zu kommen. Ich würde die ganzen Plätze in den Familien spüren und hätte immer die Angst, nicht erklären zu können, warum ich bislang auch keinen Erfolg hatte. Warum konnte ich Valmar nicht besiegen? Ich hätte keine Antworten. Ich meine… ich kann verstehen, wie es dir geht. Und ich wollte dir das sagen, damit du es nicht noch schwerer hast.“ Hatte sie das wirklich gesagt? Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hatte schon viel zu lange mit niemandem mehr reden können. „Ich weiß noch gar nicht, was ich tun soll“, sagte ich, „wenn Melfice mich wirklich findet. Mir graut davor, wenn er sich verändert hat und mir helfen will, während ich zum Krieg gegen ihn rüstete. Aber mir gefällt auch der Gedanke nicht, er könnte sich überhaupt nicht verändert haben. Ich kann dir nicht sagen, wie es enden wird.“ Sie blickte mich an, ehe sie mir eine Hand auf die Schulter legte. „Warum versuchst du dann nicht, die Begegnung zu vermeiden?“, fragte sie mich, „Ich meine, wenn der Kampf nicht notwendig ist…“ Ich wollte ihr schon widersprechen, als mir aufging, dass ihre Worte erstaunlich sinnvoll klangen. Melfice war mir in all den Jahren nicht weggelaufen und würde es wohl auch in Zukunft nicht tun. Indem ich mich ihm jetzt stellte, gefährdete ich eigentlich nur unsere Reise und gewann nichts. Eine Aussicht auf Gewinn gab es nicht. „Es tut mir leid“, sagte ich kleinlaut, „Du hast recht. Du hast wirklich recht. Ich denke, wir sollten wirklich den Kampf meiden. Seltsam, wie schnell doch aus einer Möglichkeit ein Kriegszug werden kann.“ – „Es ist schon in Ordnung“, sagte sie und ich antwortete ihr: „Nein… wobei, doch.“ Sie dachte da schon einen Schritt weiter. „Was hast du eigentlich mit Mareg vor?“ - „Das, was ich schon immer vorhatte. Ich werde ihn mitnehmen, solange wir in Garland unterwegs sind. Danach werden wir sehen. Wenn Melfice auf der Insel ist, können wir ihn ja dalassen.“ Ja, das könnten wir. Es wäre treulos, aber bei Bedenken der Umstände wohl die beste Wahl. Elena hatte mich überzeugt. Der Kampf konnte vermieden werden. Ich sah in die Ferne. Hinter den Wolken glaubte ich schon, die Umrisse von Garland-Stadt erkennen zu können. „Findest du es nicht auch seltsam“, begann ich lachend, „wie oft wir uns in letzter Zeit auf Wasser aufhielten?“ Sie deutete auf ihren Magen und sagte nichts, weswegen ich für sie antwortete. „Nein, das gehört wohl zum Reisen dazu.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)