Der Eisfürst von moonlily (Splitternde Erinnerungen) ================================================================================ Prolog: Planungen ----------------- Willkommen zu meinem neuen, bereits im Weblog angekündigten Großprojekt. Ich hoffe, es gefällt euch. ^______^ Moonlily Musik: http://www.youtube.com/watch?v=9Fy_uV354lE&NR=1 Always – Seto und Jou Frei nach „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen und dem Film „Snow Queen“ (2002) unter der Regie von David Wu Prolog Planungen Die Tür zum Aufenthaltsraum, wo sich die Darsteller von den anstrengenden Dreharbeiten erholten, flog mit einem lauten Krachen gegen die Wand. Yugi, sein größeres Ebenbild Yami und die anderen blickten überrascht auf, als sie Seto Kaiba im Türrahmen erkannten, die Hände gegen dessen hölzerne Pfosten gestützt und mit einem Gesichtsausdruck, der nur eine denkbare Reaktion zuließ: Weg hier! Doch niemand wagte sich zu rühren. Setos Augen hatten eine unheimliche dunklere Färbung angenommen und flackerten unter einem wilden Feuer, das nur auf sein Opfer wartete. Eben jenes erspähte der Braunhaarige Sekunden später und steuerte darauf zu. Ein wütendes Fauchen in der Kehle, das einem Löwen durchaus zur Ehre gereicht hätte, baute er sich vor Katsuya Jonouchi, von seinen Freunden auch Jou oder Kats genannt, auf, der sich in eine Zeitschrift vertieft und so noch gar nichts von der Ankunft seiner Nemesis mitbekommen hatte. „Jonouchi!“ „Anwesend.“ Er blickte nicht mal von seiner Lektüre auf. „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, Köter.“ „Wir drehen gerade nicht, also lass deinen Köter stecken“, sagte Katsuya ruhig und blätterte eine Seite um. „Es ist vollkommen gleichgültig, ob wir vor oder hinter der Kamera sind, du verbreitest Chaos, wo du gehst und stehst. Ich war eben in meiner Garderobe, um mich umzuziehen und hätte um ein Haar den ganzen Flur zusammengeschrien.“ „Och, hat der arme kleine Kaiba etwa eine Maus zwischen seinen Mänteln und Haarteilen gesehen?“ Seto schnappte hörbar nach Luft, während die anderen den Atem anhielten. Da fragten sich doch einige, warum ihre Drehbuchautoren manchmal so lange für die Dialoge der beiden brauchten, wo sie ihnen nur einmal fünf Minuten zuhören mussten. „Merk dir eines, Jonouchi“, sagte er und schnappte ihm die Zeitschrift weg. „Ein Seto Kaiba fürchtet sich grundsätzlich vor gar nichts. Das liegt nicht in seiner Natur. Und die Haarteile gehören Pegasus, meine Haare sind gesund.“ „Hmmm ... Und was von beidem soll ich mir jetzt merken?“ „Was –“ „Du hast doch eben gesagt, merk dir eines.“ Ein fröhliches Grinsen breitete sich auf Katsuyas Lippen aus. „Ich nahm an, dass dir diese Redewendung geläufig sei, Köter. Aber anscheinend habe ich deinen Intellekt ein wenig überschätzt.“ „Was willst du überhaupt, Kaiba? Wolltest du nicht noch mal deinen Text für die nächste Szene durchgehen?“ „Das hatte ich auch vor, aber dann habe ich das hier entdeckt!“ Damit warf er ihm ein großes weißes Stoffbündel in die Arme, das sich, als Katsuya es entfaltete, als einer von Setos Mänteln herausstellte. „Was soll damit nicht in Ordnung sein?“, fragte Katsuya und betrachtete erst den Mantel und dann seinen Besitzer, der ungehalten knurrte. „Nicht nur blöd, auch noch blind. Dann sieh ihn dir mal genau an“, sagte Seto und drehte den Stoff herum, bis mehrere rötlich schimmernde Flecken zum Vorschein kamen. „Du warst an meinen Sachen und hast ihn total versaut.“ „Hey, ich schwöre dir, dass ich deine Garderobe nicht betreten habe. Großes Ehrenwort.“ „Vielleicht bist du ja drangekommen, als der Botenjunge den Mantel gebracht hat.“ „Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich was damit zu tun habe?“, verlangte Katsuya nun zu wissen. „Ich wasche meine Pfo ... Hände in Unschuld.“ „Weil das hier erstens die Abdrücke deiner Pfoten sind und zweitens kenne ich niemand sonst hier im Haus, der zum Frühstück Erdbeermarmeladenbrötchen isst. Mein Reis hinterlässt jedenfalls nicht solche Flecken.“ „Hmm ...“ Katsuya lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und überlegte, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. War er nicht heute Morgen einem der Laufburschen in die Arme gelaufen? Langsam legte sich die Erkenntnis auf sein Gesicht. „Ohh ... ups. War keine Absicht, Kaiba. ’tschuldige.“ „’tschuldige? Ich entschuldige auch gleich was, nämlich, dass ich dich umbringe!“, rief Seto und stürzte sich auf ihn. Katsuya sprang mit einem Schrei von seinem Stuhl auf und beeilte sich, aus seiner Reichweite zu kommen. „Hey, Leute, steht nicht so faul da rum, helft mir! Der meint es heute ernst.“ „Mal ehrlich, Kaiba, du reagierst wegen deines Mantels total über“, sagte Anzu. „Die Flecken müssten sich doch wieder herauswaschen lassen.“ „Wie kann man nur so an einem Gegenstand hängen“, meinte Yami. „Das lasse ich mir nicht von jemandem sagen, der ständig ein zehn Kilo schweres Puzzle aus massivem Gold mit sich herumschleppt“, sagte Seto und fixierte mit seinen Augen Katsuya, der sich auf der anderen Seite des Tisches befand und seine Umgebung verzweifelt nach einem Ausweg absuchte. „Tue ich nicht!“, rief der Bunthaarige. „Jetzt fang du nicht auch noch an“, mischte sich Bakura ein. „Du hältst dich da raus.“ Seto langte über den Tisch, um Katsuya am Arm zu packen. Dieser duckte sich, krabbelte unter dem Tisch und Setos Beinen durch und raste, kaum dass er sich aufgerichtet hatte, durch die offene Tür nach draußen. Der Brünette folgte ihm fluchend. Mai seufzte schwer und stellte ihren Kaffeebecher ab. „Immer das Gleiche mit den beiden. Ich möchte nur einmal einen Tag erleben, an dem sie sich nicht streiten.“ „In dem einen Punkt hat Kaiba aber leider Recht. Ob wir nun drehen oder nicht – sie können sich nicht riechen“, fügte Ishizu hinzu. „Wie Hund und Katze – oder Kater.“ „Nur dass in diesem speziellen Fall Hund und Kater aufeinander scharf sind“, bemerkte Bakura. „Aber, Bakura!“ Ryou sah seinen älteren Bruder, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, stirnrunzelnd an. „Kannst du nicht ein bisschen weniger direkt sein?“ „Warum soll man die Sache nicht beim Namen nennen?“ „Da gibt es überhaupt keine Sache, die beim Namen genannt werden muss. Sie hassen sich leidenschaftlich, sonst nichts.“ „Ja, genauso wie Yami und ich uns leidenschaftlich gern an die Gurgel gehen, bevor wir ... zärtlich werden.“ „Wow, du überraschst mich“, meldete sich Ryuji zu Wort. „Ich dachte immer, Worte wie ‚zärtlich’ kommen in deinem Wortschatz gar nicht vor.“ „Anstatt zu streiten, sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir den beiden helfen können“, sagte Yugi. „Der Krach zwischen ihnen hat uns gerade noch gefehlt. In nicht einmal drei Monaten ist Weihnachten und das Thema für unser Special steht immer noch nicht fest.“ „Wie wäre es denn, wenn wir beides miteinander kombinieren?“ Alle wandten sich zu Shizuka um, die bisher ruhig in einer Ecke gesessen und in einem dicken Buch gelesen hatte. „Wie meinst du das?“, fragte Anzu. Shizuka hob das Buch hoch, auf dessen Deckel in großen goldenen Lettern MÄRCHEN gedruckt war, und drehte es um. Die anderen starrten ungläubig auf die Überschrift der Geschichte, die sie gerade aufgeschlagen hatte. „Nee, oder?“, sagte Mai. „Das ist nicht dein Ernst.“ „Kann es sein, dass du zu viel Zeit mit Mokuba verbringst?“, fragte Yami. „Wie soll uns ein Märchen bei unserem Problem weiterhelfen.“ „Und dann auch noch Die Schneekönigin“, fügte Honda hinzu und sah das Buch skeptisch an. „Wenn ich mich richtig erinnere, kommen darin außer Kai und dem Prinz im Schloss der Sommerprinzessin gar keine Männer vor.“ „Dann schreiben wir die Geschichte eben um“, meinte Ryou und warf einen Blick auf das Buch. „Kann doch nicht so schwer sein. Also, wen haben wir denn da alles ...“ Er nahm Shizuka das Buch aus der Hand und setzte sich an den Tisch, um eine Liste zu machen. „Kai, Gerda, die Schneekönigin ... Hmm, wie wär’s denn stattdessen mit einem Eisfürsten?“ „Die Rolle wäre Kaiba wie auf den Leib geschneidert, den eisigen Blick hat er jedenfalls drauf“, sagte Bakura. „Das geht nicht, der Eisfürst ist der Antagonist, so können wir die zwei nicht versöhnen. Willst du den nicht übernehmen, Bakura?“ „Nein danke, ich habe kein Bedürfnis, bei eurem kleinen Theater mitzumischen.“ „Ach, wirklich?“, murmelte Yami und strich ihm eine weiße Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich könnte dich mir aber gut als Räuberhauptmann vorstellen.“ „Jaaa, das ist auch meine Paraderolle.“ „Die habe ich schon besetzt, aber für dich hab ich auch was Passendes“, sagte Ryou und setzte Bakuras Namen mit schwungvollen Strichen auf das Papier. Und für den Eisfürsten –“ „Den übernehme ich!“ Die Blicke wandten sich dem Eingang zu. Pegasus kam, ein Rotweinglas in der Hand, auf sie zugeschritten. „Na ja ... warum eigentlich nicht“, überlegte Shizuka. „Und wer erzählt die Geschichte?“ „Großvater ist auf Erholungsurlaub und wenn wir ihn aus dem Ryokan holen, wird er sauer“, sagte Yami. „Macht nichts, dann übernehme ich das“, meldete sich Anzu. So ging es weiter, bis hinter allen Figuren, die Ryou auf seiner Liste vermerkt hatte, ein Darsteller stand. Da er und Shizuka heute keine Aufnahmen mehr hatten, zogen sich die beiden in das Appartement zurück, das Shizuka mit ihrem Bruder Katsuya bewohnte, und begannen damit, das Drehbuch für das diesjährige Weihnachtsspecial zu schreiben. Fünf Tage später traf sich die Crew um Punkt neun Uhr morgens wieder im Aufenthaltsraum. Ryou und Shizuka hatten dunkle Ringe unter den Augen; sie hatten die letzten Tage durchgearbeitet und waren auch heute die halbe Nacht wach gewesen, um das Drehbuch fertig zu schreiben. Katsuya und Seto saßen an den entgegengesetzten Enden des Tisches und warfen sich giftige Blicke zu. „Das kann ja was werden“, murmelte Yugi und beugte sich zu Ryou. „Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut.“ Shizuka stand auf und räusperte sich. „Während ihr zwei“, sie blickte ihren Bruder und Seto kurz an, „gestern mit der neuesten Auflage eures Kleinkrieges beschäftigt wart, haben wir uns darüber Gedanken gemacht, was wir dieses Jahr als Weihnachtsspecial bringen und wir haben uns für eine Adaption der Schneekönigin entschieden. Natürlich können wir das Märchen nicht eins zu eins umsetzen. Dazu haben wir leider ein paar Damen zu wenig unter uns. Hier ist also unser Vorschlag dazu.“ Sie reichte einen Stapel Textbücher herum, von denen sich jeder ein Exemplar nahm. Seto las nur die erste Seite, auf der die Rollen der Hauptdarsteller umrissen wurden, und warf das Buch mit einem „Auf keinen Fall!“ auf den Tisch. „Was hast du dagegen einzuwenden? Wir haben uns echt Mühe gegeben“, sagte Ryou. „Bei euch sitzen wohl ein paar Schrauben locker! Ich soll meine Firma verlieren und für den Vater dieses Kläffers da drüben arbeiten? Dass die Kaiba Corp Pleite machen soll, ist allein schon eine Anmaßung sondergleichen. Völlig haltlose Behauptungen.“ „Hast du in letzter Zeit einen Blick in die Zeitung geworfen, Kaiba?“, erkundigte sich Mai. „Die Welt befindet sich gerade in einer Wirtschaftskrise, ganz so abwegig ist das also nicht.“ „Trotzdem ist das –“ „Aber wir können unsere Fans doch nicht enttäuschen!“, warf Honda leidenschaftlich ein. „Ich wüsste nicht, dass du Fans hast“, gab Seto trocken zurück. „Du aber, Seto“, erwiderte Mokuba. „Die wollen mich aber nicht als Kai sehen und diese Flohschleuder sicher nicht in der Rolle dieser Gerda.“ „Und da bist du dir so sicher?“, sagte Ryuji, der vor seinem aufgeklappten Laptop saß. Er tippte kurz ein paar Befehle ein und drehte ihn zu den anderen herum. „Wir haben eine kleine Umfrage im Internet gemacht, die eindeutig gegen deine Theorie spricht.“ „Bitte, Seto, sag Ja.“ „Und ich werde gar nicht gefragt?“, sagte Katsuya. „Dass Kaiba für mich – äh, meinen Vater – arbeiten soll, klingt zwar cool, aber ... ich weiß nicht.“ „Überlegt es euch“, warnte Yami sie. „Wenn wir unseren Fans nichts zu Weihnachten bieten können, schicken sie dir sicher keine Fanpost mehr, Kaiba.“ „Und dir, Kats, werden sie keine Fresspakete mehr zukommen lassen, für den Fall, dass unser Büffet mal wieder leer ist“, fügte Anzu hinzu. „Keine Post ...?“ „Kein Essen?!“ Die beiden sahen ihre Freunde entsetzt an. Dann trafen sich ihre Blicke und kurz darauf nickten beide. „Überredet“, sagten sie. „Wann fangen wir an?“ Kapitel 1: Tränen im Schnee --------------------------- Mit diesem Kapitel beginnt das eigentliche Märchen, aber es wird auch regelmäßig ins Filmstudio geschaltet (erkennbar an den Zierstreifen). ^^ Wenn ihr etwas näher am Wasser gebaut seid, legt euch vorsichtshalber Taschentücher bereit, die könnten hier nötig werden. Vorspann: http://www.myvideo.de/watch/6816567/Vorspann_Der_Eisfuerst (1): http://www.youtube.com/watch?v=rWHPm863hAI (Angel Sanctuary – Saras Death) Kapitel 1 Tränen im Schnee Im Kamin flackerte ein knisterndes Feuer. Anzu hatte es sich mit einer großen Kanne heißer Schokolade in einem Sessel daneben bequem gemacht. Auf der Couch ihr gegenüber saßen Mokuba, Leon, Rebecca und Noah, ebenfalls mit heißer Schokolade und einem großen Teller Plätzchen ausgerüstet, und sahen sie gespannt an. „Was erzählst du uns denn heute, Anzu?“, fragte Mokuba. „Heute lese ich euch das Märchen vom Eisfürsten vor“, antwortete sie und schlug das Märchenbuch auf, das ihr Shizuka geliehen hatte. „Meinst du nicht Die Schneekönigin?“, wandte Leon ein. „Von einem Eisfürsten habe ich noch nie was gehört.“ „Nein, die Geschichte heißt: Der Eisfürst. Lasst euch einfach überraschen.“ Anzu blätterte noch etwas, bis sie die richtige Seite gefunden hatte, und begann vorzulesen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Der frisch gefallene Schnee, der die Hügel am Stadtrand von Domino überzog, glitzerte im Licht der Mittagssonne wie Diamanten. Joey Wheeler, seines Zeichens ältester Spross von Jonathan Wheeler, blinzelte gegen das helle Licht und winkte seinem Vater zu, der mit ein paar Freunden in dem kleinen Pavillon am Rand des Sees stand und ein Konzert zum Besten gab. Im Winter trafen sich die sechs Herren alle zwei Tage, um gemeinsam zu musizieren und die Menschen, die zum Schlittschuhlaufen herkamen, mit ihren Stücken zu erfreuen. Joey zog zu den Klängen der Oboe, die sein Vater spielte, seine Bahnen auf dem glatten Eis, fuhr mal rückwärts oder legte eine elegante Drehung hin. Der Winter war seine Jahreszeit, er war mitten im Winter geboren, als das Land unter Eis und Schnee versunken war. Sobald die ersten Flocken fielen, hielt ihn nichts mehr in der warmen Stube. „Hey, Joey!“ Er stoppte seinen gleitenden Tanz über das Eis und brauchte nicht lange, um unter den Leuten, die am Ufer standen oder saßen, um sich ihre Schlittschuhe anzuziehen oder eine Pause zu machen, seine kleine Schwester zu entdecken. Serenity stand mit ihrer Mutter in der Nähe eines Händlers, der heiße Maronen verkaufte. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. An ihrem bunten Schal steckte eine Brosche aus drei silbernen Rosen, die Joey ihr vor vier Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Er steuerte sie mit wenigen Schritten an und kam am Rand der Eisfläche zum Stehen. Sein noch vom Laufen schnell gehender Atem gefror an der Luft sofort zu eisigem Nebel. „Sollen wir dir irgendwas aus der Stadt mitbringen?“, fragte Susan Wheeler ihren Sohn. „Du hast noch einen Wunsch für Weihnachten frei.“ „Nein, so spontan fällt mir da nichts ein.“ „Okay, du hast ja noch genug Zeit, um zu überlegen.“ „Bis später, Joey“, sagte Serenity und umarmte ihren Bruder. Dann wandte sich die Vierzehnjährige um und stapfte hinter ihrer Mutter den Weg entlang, der vom See zum Parkplatz führte, wo sie ihren Wagen abgestellt hatten. Joey sah dem Auto nach, wie es langsam vom Parkplatz rollte, hinaus auf die Straße, die sie ins Zentrum von Domino bringen sollte. In zwei Wochen war Weihnachten und die beiden Damen des Wheelerschen Haushaltes hatten sich vorgenommen, heute ihre Weihnachtseinkäufe zu tätigen, bevor die Stadt zu überfüllt dafür war. Als sie um eine Ecke gebogen waren, nahm Joey seine Fahrt über den See wieder auf, warf jedoch ab und zu einen Blick in die Richtung, in welche die beiden verschwunden waren. Er wusste nicht, was es war, doch er hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend und das kam sicher nicht von der Tüte Maronen, die er bei seiner Ankunft hier verdrückt hatte. Mrs. Wheeler drehte die Heizung etwas höher, um die garstige Kälte aus dem Wageninneren zu vertreiben. Serenity saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und ging die Einkaufsliste durch, um sicherzugehen, dass sie alles aufgeschrieben hatten, was sie besorgen wollten. Das Hotel, das Jonathan Wheeler von seinem Vater übernommen hatte, lief gut und war meistens ausgebucht, so dass sie sich über mangelnde Einnahmen nicht zu beklagen brauchten und die Familie auch in diesem Jahr reichlich Geschenke unter dem Weihnachtsbaum vorfinden würde. Mutter und Tochter plauderten vergnügt miteinander über Serenitys gutes Abschneiden bei den letzten Prüfungen und das bevorstehende Theaterstück, das die Schüler vor den Ferien aufführen wollten. Darüber entging ihnen, wie das helle Blau des Himmels immer mehr hinter dichten, grauweißen Wolken verschwand, die eisige Fracht mit sich führten. Sie hatten die Straße für sich, kein Auto war unterwegs. Susan stellte das Radio an. Gerade begann Last Christmas, das die zwei als Liebhaberinnen dieses Stücks aus voller Kehle mitzusingen begannen. Joey sah zum Himmel auf, der sich zusehends bezog. Der Wind begann aufzufrischen und strich ihm die blonden Haare aus der Stirn. Aber klang im Wind nicht noch etwas anderes mit? Er hielt an und schloss die Augen, versuchte in den Wind hineinzulauschen. Langsam wandte er den Kopf nach allen Richtungen und konzentrierte sich. Es roch nach Schnee – jedoch nicht nach dem, der das Land überzuckert hatte, nein, in der Luft hing der Geruch nach Schnee, der sich erst noch seinen Weg zur Erde bahnen musste. Eine kleine Flocke löste sich aus den Wolken, segelte, vom Wind getragen, mit Überschlägen durch die Luft wie eine Tänzerin und ließ sich schließlich auf Joeys Nasenspitze nieder. Dieser öffnete, als er die sofort schmelzende Flocke auf seiner Haut fühlte, die Augen. Der einen kleinen Eistänzerin folgten weitere, erst nur wenige, doch innerhalb kurzer Zeit verdichteten sie sich, wurden vom Wind durcheinander gewirbelt. „Auch das noch“, sagte Mrs. Wheeler und betätigte den Knopf für die Scheibenwischer. „Hätte der Schnee nicht warten können, bis wir in der Stadt sind?“ Serenity zog den Schal enger um ihren Hals und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, während sie die Flocken verfolgte. Sie fuhr das Seitenfenster ein Stück herunter und streckte die Hand nach draußen. Ein paar Eiskristalle trafen auf ihre Hand, wo sie sich sofort in Wasser verwandelten. Der Wind zog an ihren braunen Haaren und spielte mit ihnen. „Mach zu, es wird zu kalt“, bat ihre Mutter. In dem Moment, da sie diesem Wunsch Folge leisten wollte, meinte sie auf einmal, ein leises Lachen zu hören. Es kam weder von ihrer Mutter noch aus dem Radio. Kam es ihr nur so vor oder schwang das Lachen im Wind mit? Es war kalt, schneidend und ließ Serenity zittern. Sie schloss das Fenster und blickte wieder durch die Frontscheibe. Ihre Mutter drosselte das Tempo etwas, der Schnee nahm immer mehr zu und ihnen damit die Sicht. Sie überlegte, wie es innerhalb von wenigen Minuten zu solch einem drastischen Wetterumschwung kommen konnte. Serenity blinzelte. Da eben in der Wolke vor ihnen hatte sie doch nicht ein Paar bernsteinfarbener Augen angesehen. Oder doch? Nein, das konnte nicht sein. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was ich dir zu Weihnachten schenken soll, Mum“, überlegte sie. „Überrasch mich einfach“, erwiderte Susan und warf einen kurzen Blick zu ihrer Tochter. Deren Augen weiteten sich plötzlich in einer Mischung aus Überraschung und Schrecken, als sie den weißen Hasen bemerkte, der über die Straße lief. „Pass auf!“, schrie sie. Ihre Mutter, wohl wissend, was für eine große Tierliebhaberin ihre Tochter war, trat mit aller Kraft auf die Bremse, doch auf dem glatten Asphalt fanden die Reifen kaum Haftung und rutschten weg. Panisch riss sie das Steuer herum. Aus den Mündern der beiden drang lautes Kreischen, Serenity schlug die Hände vor das Gesicht, als der Wagen über die Straße schlitterte, sich drehte und die Leitplanke durchbrach. (1) Ein scharfer Stich traf Joey, der eben seine Schlittschuhe wieder gegen seine Straßenschuhe getauscht hatte, in der Brust. Er zuckte zusammen und verkrampfte sich kurz. Leises Gelächter drang an sein Ohr, das ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Sie gehören mir!“, flüsterte eine Stimme im Wind. „Mom ... Serenity!“ Es kam ihm vor, als sei ein Stromstoß durch seinen Körper gegangen. Er sprang auf, warf sich die Schlittschuhe über die Schulter und rannte los. „Joey, was ist denn?“, rief ihm sein Vater nach. „Was ist mit Susan und Serenity?“ „Ihnen ist irgendwas passiert, das fühle ich!“ Sein Weg führte ihn den Hang hinauf, zur Straße, auf der Mutter und Schwester weggefahren waren. Daneben führte ein schmaler Weg für Fußgänger und Radfahrer lang, den er nahm. Jonathan Wheeler folgte seinem Sohn nach kurzem Überlegen. Joey lief, so schnell ihn seine Beine trugen. Bald brannte die kalte Luft in seinen Lungen, doch er dachte gar nicht daran anzuhalten. Wenn er nur rechtzeitig kam ... Welcher Gott sollte so grausam sein – Vor sich sah er die zerstörte Leitplanke und daneben das Nummernschild, das sich gelöst hatte. „Nein ...“ Sich an Bäumen und Sträuchern festhaltend rutschte Joey den Abhang hinunter, immer der breiten Schneise folgend, die sich in die Bepflanzung des Straßenrandes gefressen hatte. Endlich sah er den roten Wagen. Er war an vielen Stellen verbeult und zerkratzt, die Fenster zeigten große Risse und aus der Motorhaube drang Qualm. „Serenity! Mom!“ Die letzten Meter legte Joey in großen Sprüngen zurück, kam rutschend zum Stehen und riss die Fahrertür auf. Seine Mutter kippte ihm entgegen. An ihrer Schläfe sickerte Blut aus einer großen Wunde, ihre Augen waren geschlossen. Er tätschelte ihr unbeholfen die Wange. „Mom ... Hey, wach auf, Mom.“ „Joey!“ Sein Vater hatte ihn erreicht, das Handy in der Hand, und wählte den Notruf. Ungeduldig wartete er, bis abgenommen wurde und ihm eine Frauenstimme antwortete. Er schilderte in knappen Worten, was vorgefallen war und ihre Position, dann wandte er sich seiner Frau zu. „Schatz, hey, komm schon. Hörst zu mich?“ Sie reagierte nicht. „Mach keinen Unsinn, wach auf. Bitte!“ Jonathan löste ihren Gurt und zog sie vorsichtig aus dem Wagen. „Joey, hol deine Schwester da raus, der Wagen könnte anfangen zu brennen.“ Der Junge hastete hinten um den Wagen herum und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. Serenitys rechter Arm stand in einem unnatürlichen Winkel von ihrem Körper ab. „Serenity ... Los, komm zu dir, Kleine.“ Er hob sie aus dem Wagen, trug sie um diesen herum und folgte seinem Vater, der seine Frau ein Stück entfernt gegen einen umgestürzten Baumstamm gelehnt hatte. „Was ist mit Mom?“ „Joey, sie ist ... ist ...“ Die Tränen erstickten Jonathans Stimme. „Nein ... Serenity, wach auf.“ Joey legte sie neben seiner toten Mutter ab und strich ihr sanft über die Wange. Ihre Augen, in deren dunklen Wimpern sich die Flocken verfingen, bewegten sich zaghaft und öffneten sich ein Stück. „Jo ... Joey?“, murmelte sie. „Was ...“ „Psst. Ruhig, Schwesterchen. Ihr hattet einen Unfall, seid von der Straße abgekommen. Der Krankenwagen kommt gleich. Bleib schön still liegen.“ „Mir ist so ... so kalt.“ „Ich wärme dich“, sagte Joey und zog sie vorsichtig, um ihr mit dem gebrochenen Arm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, näher an sich. „Das wird nichts nützen!“, flüsterte es im Wind, der mit den Flocken einen Wirbel formte. Joey blickte auf und ein paar Sekunden kam es ihm vor, als würden ihn bernsteinfarbene Augen mit einem kalten Blick betrachten. Serenity hob zitternd ihre linke Hand, nahm die Brosche von ihrem Schal und legte sie in Joeys Hand. Kurz streifte sie das Gesicht ihres älteren Bruders. „Ich bin immer bei dir.“ „Sie gehört mir!“, rief der Wind triumphierend. Ihre Hand sank auf ihre Brust. „NEIN!“ *Eisbecher für alle hinstell* Ich hoffe, es hat euch gefallen, trotz des traurigen Inhalts. Wir lesen uns im nächsten Kapitel. Eure Moonlily Kapitel 2: Zerfallene Träume ---------------------------- Vielen Dank an euch alle für eure Kommentare. ^____^ Und nun ohne Umschweife: Vorhang auf! (1) http://www.youtube.com/watch?v=vFomKMptUe0 Roran leaves – Eragon (2) http://www.youtube.com/watch?v=GFLMLHPVhaw Way of Live – Last Samurai OST Kapitel 2 Zerfallene Träume (1) Über ein Jahr war vergangen, seit Serenity und Susan Wheeler im Schneetreiben von der Straße abgekommen und tödlich verunglückt waren. Der Schnee, der in den ersten Wochen nach ihrem Tod das Grab bedeckt hatte, war bald von Krokus und Osterglocken vertrieben worden. Im Sommer hatte Joey ihnen Rosen gebracht, die er von den Rosenstöcken abgeschnitten hatte, welche hinter dem Hotel im Garten wuchsen. Früher hatten er und Serenity zusammen dort gearbeitet, nun kümmerte er sich allein um die Rosen. Im Herbst hatte er ihr Grab mit Chrysanthemen und bunten Blättern geschmückt und es den Winter über mit Lebensbaumzweigen abgedeckt. In diesen Monaten hatte man ihn selten draußen gesehen. Mit der gleichen Inbrunst, mit der er den Winter früher geliebt hatte, hasste er ihn nun, denn er hatte ihm die Menschen genommen, die ihm am wichtigsten waren. Seine Leistungen in der Schule waren seither gesunken, doch das kümmerte ihn nicht. Als es zu schneien begann, verkroch er sich bei Mai, die im Hotel seines Vaters als Köchin arbeitete, in der Küche und warf kaum einen Blick auf das Treiben der Flocken, das ihn früher so fasziniert hatte. Mai, die seit mehreren Jahren für die Wheelers arbeitete und mit Joey gut befreundet war, wusste nicht, wie sie den Jungen aufheitern sollte. An manchen Tagen, wenn die Kinder draußen lachten und sich mit Schneebällen bewarfen, schaffte sie es nicht einmal mit ihren besten Kuchenkreationen, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern und auch sein Vater verfiel immer wieder in Lethargie. Dann saß er still vor dem Feuer, eine Tasse mit dampfendem Tee neben sich, und starrte in die Flammen. Doch der Winter verging und als das Gras wieder unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kam und der Garten nach und nach wieder grün wurde, kehrte auch ein wenig von Joeys Lächeln zurück. Allerdings war es nicht mehr so frei und unbefangen wie früher und häufig lächelte er nur, damit sich seine Freunde keine Sorgen um ihn machten. Er stand nun im dritten Jahr der Oberschule, nur noch ein Jahr und er hatte seinen Abschluss in der Tasche. Nach dem derzeitigen Stand würde es nur ein knapp durchschnittlicher werden, für einen guten waren seine Noten immer noch zu schlecht, aber er bemühte sich wieder etwas mehr, seinem Vater zuliebe. Wenn dieser gerade nicht am Kamin saß und über sein Leben grübelte, vergrub er sich in seiner Arbeit und bescherte dadurch dem Hotel Zum Schwarzen Rotauge der Krise, die die Wirtschaft erfasst hatte, zum Trotz, einen beachtlichen Umsatz. Da die Arbeit immer mehr wurde und eines der Dienstmädchen wegen einer Hochzeit und kurz darauf festgestellter Schwangerschaft kündigte, entschloss sich Jonathan, eine Anzeige in der Zeitung zu schalten und nach einem neuen Hotelpagen zu suchen. (2) Seto Kaiba ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die große Penthousewohnung schweifen, die er bis vor kurzem sein Eigen genannt und in den letzten drei Jahren bewohnt hatte. Er fühlte sich immer noch außer Stande zu begreifen, wie es zu diesem absoluten Desaster hatte kommen können. Vor vier Jahren hatte ihn sein Ziehvater Gozaburo zu einer Wette herausgefordert, um sein geschäftliches Geschick auf die Probe zu stellen. Er hatte ihm die Summe von einer Million überlassen, die er innerhalb eines Jahres verzehnfachen sollte. Seto hatte einige kluge Investitionen getätigt und es so geschafft, nicht nur die Forderung Gozaburos zu erfüllen, sondern vielmehr seine ganze Firma zu übernehmen. Stück für Stück hatte er die Aktien der Kaiba Corp aufgekauft, bis er zum Mehrheitseigner geworden war. Gozaburo hatte daraufhin wutentbrannt die Stadt verlassen und war danach nicht mehr gesehen worden. Seto hatte die Firma vollständig umgekrempelt und drei Jahre lang mit großem Erfolg geführt, bis ... Ja, bis völlig unvorhergesehen diese Wirtschaftskrise hereingebrochen war. Praktisch über Nacht war der Wert der Aktien in den Keller gesunken und schließlich hatte er feststellen müssen, dass er bankrott war. Eine bittere Erkenntnis. Hatte er seit seiner Adoption mit zehn Jahren in purstem Luxus geschwelgt, auch wenn ihm Gozaburo bei seiner Erziehung sehr viel abverlangt hatte, blieb er nun in tiefster Armut zurück. Ebenso enttäuscht hatte er feststellen müssen, dass sich seine ehemaligen Geschäftspartner, von denen er viele als Freunde betrachtet hatte, von ihm abwandten und sich weigerten, ihm zu helfen. Die meisten hatten durch die Krise selbst genug Probleme und niemand war bereit, ihn bei sich einzustellen. Bei einigen hingegen schien es Schadenfreude darüber zu sein, dass er, der als Jugendlicher einen derartig steilen Aufstieg hingelegt hatte, nun von seinem Thron gezerrt wurde. Alles, was er noch besaß, hatte er in einem kleinen Koffer verstaut, den er in der Hand hielt. Unter seinem Arm klemmte die heutige Ausgabe der Daily Domino, einer städtischen Tageszeitung. Es war ein seltsames, ungewohntes Gefühl gewesen, sich durch den Anzeigenteil zu blättern mit der Absicht, eine Arbeitsstelle zu finden. Er, der große Seto Kaiba, der mit fünfzehn Jahren die Kontrolle über einen weltweit agierenden Konzern übernommen hatte, war nun mit achtzehn gezwungen, sich wie jeder andere Sterbliche dieses Planeten einen Job zu suchen, um sein Überleben zu sichern. Heute begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt und er hatte nicht vor, sich hängen zu lassen, auch wenn ihm das Leben einen ziemlichen Schlag ins Gesicht verpasst hatte. Das passte nicht zu ihm. Seto straffte sich, drehte sich um und schloss hinter sich die Tür. Jonathan war dabei die Post durchzugehen, als Mai an seine Bürotür klopfte. „Was ist denn?“ „Da ist ein junger Mann gekommen, der sich bei dir als Hotelpage bewerben möchte.“ „Lass ihn hereinkommen.“ Mai nickte ihm zu und verschwand, um den Besucher zu holen. Kurz darauf klopfte es erneut und ein junger Mann betrat das Büro. „Guten Tag, Mr. Wheeler.“ „Guten Tag. Ähm ... wie war noch der Name?“ „Seto Kaiba“, stellte er sich vor. Kaiba ... Da klingelte doch etwas bei ihm. Jonathan überlegte und betrachtete seinen potenziellen künftigen Angestellten genauer. Sportliche Figur, braune Haare, eisig blickende blaue Augen ... Ja, die hatte er schon einmal gesehen, nur dass damals ein hochmütiger Ausdruck in ihnen gelegen hatte. Als er Kaiba aus Versehen angerempelt hatte, gerade als dieser aus seiner Limousine steigen wollte, und stattdessen einen Satz in die nächste Pfütze gemacht hatte. Aus der Diskussion über den Ersatz für die beschmutzte Kleidung und das zerstörte Handy war schnell ein handfester Streit geworden, der für Jonathan mit einer Anzeige wegen Körperverletzung und einer saftigen Geldbuße ausgegangen war. Und jetzt stand er wieder vor ihm, doch die Situation war eine ganz andere. Jonathan warf einen Blick auf Setos Lebenslauf. „Hmm ... also gut, ich werde es mit dir versuchen, Junge. Als Hotelpage stehst du auf der untersten Stufe unserer Hierarchie. Du bringst die Koffer der Gäste aufs Zimmer und bei ihrer Abreise nach draußen, gibst den Gästen Auskunft auf ihre Fragen und kümmerst dich um alle anderen Tätigkeiten, die so nebenbei anfallen. Und solltest du auf die Idee kommen, dich mit einem unserer Gäste näher einzulassen, wirst du schneller hier rausfliegen als aus deiner Firma. Verstanden?“ Setos Mundwinkel verzogen sich nur minimal, bevor er nickte. Hätte er nicht das Geld so dringend gebraucht, wäre er nie auf die Idee gekommen, hier anzufangen. Wenn er denjenigen ausfindig machte, der für diese verdammte Krise verantwortlich war, den würde er in Grund und Boden verklagen – aber dafür brauchte er ja auch wieder Geld. Mist. „Gibt es noch Unklarheiten?“, erkundigte sich Jonathan, als Seto nicht antwortete und nur Löcher in seinen Schreibtisch starrte. „Nein.“ „Das heißt ‚Nein, Sir’“, korrigierte er ihn süffisant und entlockte Seto ein leises Knurren. Oh, er würde es genießen, sich an ihm zu rächen. „Nein, Sir“, wiederholte Seto, nachdem er sich in Gedanken zur Ruhe gemahnt hatte. „Mai!“ Selbige betrat Augenblicke später den Raum, als hätte sie vor der Tür gewartet. „Zeig Kaiba sein Zimmer und gib ihm dann seine Uniform.“ Die meisten Angestellten lebten wegen des Schichtdienstes in einem U-förmig angelegten Nebengebäude des Hotels, wo sich auch die Privatwohnung der Wheelers befand. Mai brachte Seto zu einem Raum im ersten Stock, der schlicht mit Bett, Schrank und Sitzgelegenheit samt Tisch eingerichtet war. Ade, du schöne große Couchgarnitur und extra breites Bett. Er fühlte sich ernüchtert. „Zieh dich um und dann komm runter, damit unser Portier dich einweisen kann, Seto“, sagte Mai. „Es wäre mir lieber, wenn Sie mich Kaiba nennen.“ „Was bist du denn für einer?“, kicherte Mai, doch das Lachen verging ihr schnell, als sie sein Gesicht sah. „Bitte, wie du meinst. Aber ich rate dir, dich unserem Chef und den Gästen gegenüber anders zu benehmen.“ Damit ließ sie ihn allein. Im Schrank entdeckte er mehrere Uniformgarnituren, in edlem Rot gehalten, dazu eine kleine Kappe. „Ich glaube nicht, dass ich das tue“, murmelte er und begann sich umzukleiden. „Also dann, bis morgen, Ryou“, verabschiedete sich Joey von seinem Freund, als sie an der Straßenecke waren, die zum Hotel abzweigte. „Wir sehen uns in der Schule.“ Ryou hob kurz die Hand und trottete dann in die andere Richtung davon nach Hause. Joey sah ihm lächelnd nach, bis er verschwunden war. Sobald von seinem besten Freund nichts mehr zu sehen war, erstarb das Lächeln auf seinen Lippen und der alte, leicht melancholische Ausdruck kehrte in seinen Blick zurück. Er wusste nicht, was er tun sollte. In letzter Zeit kam es öfter vor, dass sein Vater in seinen Tee einen Schuss Kognak mischte und Joey hatte den Eindruck, dass dieser Schuss mit jedem Mal größer wurde. Das machte ihm Sorgen. In seine Gedanken versunken, achtete er nicht auf die Straße und riss erschrocken den Kopf hoch, als er gegen jemanden stieß und nach hinten stürzte. Sein Rucksack rutschte ihm von der Schulter, als sein Hosenboden Bekanntschaft mit dem harten Pflaster des Weges machte. Verdattert setzte er sich auf und sah geradewegs in zwei blaue Augen, die ihn verärgert musterten. „Kannst du nicht besser aufpassen, wo du hinläufst, Köter?“, fragte Seto und machte sich daran, die Koffer aufzuheben, die ihm heruntergefallen waren, und auf dem Gepäckwagen zu verstauen. „Wie hast du mich eben genannt?“, fragte er und stand auf. „Du hast mich schon verstanden, Straßenköter. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss arbeiten.“ Die letzten Worte spie er fast aus, als wären sie Gift. Der erste Tag und wie sehnte er sich bereits jetzt nach seinem Schreibtisch zurück! Mr. Wheeler hielt ihn gehörig auf Trab, alle paar Minuten läutete die Messingglocke am Empfang und rief ihn, um für die Gäste die Koffer zu schleppen oder sonst irgendwelche Botendienste zu erledigen, für die sich kein anderer fand. Wie erniedrigend das alles war! Er hatte ein Heer von Angestellten befehligt und in zwei Stunden sollte er die beiden weißen Pudel von Frau Kazuoka Gassi führen. Die Welt stand Kopf. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor“, stellte Joey fest, als er ihn näher betrachtete. „So? Na, meinetwegen“, brummte Seto und wuchtete eine große Reisetasche auf den Gepäckhaufen. „Vater scheint ja echt dringend wen zu brauchen, wenn er so was Unfreundliches einstellt“, murmelte Joey und schlenderte zum Wohnhaus hinüber. Sein erster Weg, nachdem er Schulsachen und Jacke in sein Zimmer gebracht hatte, führte ihn in den Garten. Um den größten Teil des Gartens kümmerte sich der Gärtner, einzig die Beete, in denen die Rosen standen, pflegte Joey selbst. An diese durfte niemand sonst dran. Die Rosenstämmchen bildeten junge Triebe mit zartgrünen Blättern aus. Noch ein paar Wochen und sie würden in voller Blüte stehen. Er prüfte kurz, ob die Erde noch locker genug war und sie genug Wasser hatten und ging anschließend ins Hotel hinüber, um seinen Vater zu begrüßen. Dieser nickte ihm lediglich kurz zu und widmete sich dann sofort wieder seiner Arbeit. Der Junge schloss leise die Bürotür und überließ ihn seinem Schreibtisch. Besser er arbeitete, als dass er wieder trank und sich in seiner Trübsal vergrub. Letzteres tat Joey schon zur Genüge. In der Küche traf er auf Mai, die mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war. „Hi, Joey, wie war die Schule?“, fragte sie und blies sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus der Stirn, während sie den Teig für eine Pastete bearbeitete. „Wie immer, nix Besonderes.“ „Hast du schon unseren Neuzugang kennen gelernt? Es hat sich jemand auf die Anzeige deines Vaters gemeldet, als Hotelpage.“ „Ja, ich hatte die zweifelhafte Ehre.“ „Was soll das denn heißen?“ Mai sah von ihrem Teig auf, ohne das Kneten einzustellen. „Er sieht doch ganz süß aus.“ „Dann war das vielleicht der Grund, warum er die Stelle gekriegt hat. Sein Benehmen kann es jedenfalls nicht sein.“ „Also ...“, Mai räusperte sich. „Es gab ein paar Monate im letzten Jahr, da wirktest du auch nicht gerade so, als hättest du einen Knigge verschluckt und –“ „Was für Pastete gibt es denn heute?“ „Rehpastete“, antwortete die Köchin. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Joey das Thema wechselte, sobald sie auf diese Zeit zu sprechen kam. „Klingt lecker.“ Er hob den Deckel eines Topfes an. „Und das hier?“ „Die Gemüsesuppe für die Angestellten. Du kannst dir eine Kelle voll nehmen, wenn du magst, ich habe genug gemacht.“ Das ließ sich Joey nicht zweimal sagen. Wenn er aus der Schule kam, hatte er immer Hunger. Er setzte sich mit seinem Teller zu ihr an den Tisch und begann die Suppe zu löffeln. „So, was war das denn nun für eine zweifelhafte Ehre, die du mit dem Neuen hattest?“ „Ich hab ihn aus Versehen angerempelt und er hat mich als Köter beschimpft!“ „Ohh ... Und was hast du jetzt vor?“ „Ich gehe zu Vater und beschwere mich“, erwiderte Joey nach kurzem Überlegen. „Wenn er so unfreundlich ist, schadet das unserem Haus.“ „Na ja, schon ... Aber heute ist sein erster Tag.“ „Wäre ich ein Gast, hätte unser Hotel schon längst eine Beschwerde auf dem Tisch. Das hat Vater immer gepredigt, der Kunde ist König.“ „Lass ihm wenigstens ein paar Tage, um sich einzugewöhnen“, sagte Mai. „Okay, okay, meinetwegen“, zuckte Joey mit den Schultern. Seto fiel an diesem Abend wie tot ins Bett. So erschöpft hatte er sich selbst in den arbeitsreichsten Wochen vor Weihnachten nie gefühlt, wenn er praktisch nicht mehr aus seinem Büro heraus- und nach Hause gekommen war. Arme und Beine taten ihm von der ungewohnten körperlichen Arbeit weh und sein Rücken fühlte sich an, als wäre er mitten durchgebrochen. Er wusste nicht, wie viele Koffer er heute geschleppt hatte; eine achtköpfige Reisegruppe war gekommen und natürlich hatte jeder von ihm gefordert, dass sein Gepäck zuerst aus dem Kleinbus geholt wurde, mit dem die Gäste vom Flughafen abgeholt worden waren. Die Nacht war für Seto kurz, er musste früh heraus und seinen Platz an der Eingangstür einnehmen, bevor die ersten Gäste zum Essen in den Frühstücksraum des Hotels gingen. Er selbst konnte sich nur rasch bei Mai ein Käsebrot abholen und eine Tasse Kaffee trinken, für mehr ließ ihm Mr. Wheeler keine Zeit. Das Wissen, seinen einstigen Gegner nun nach Herzenslust durch sein Hotel scheuchen zu können und ihm die Arbeit zuzuteilen, bereitete ihm eine fast diebische Freude. Seto hörte bald auf zu zählen, wie oft die kleine Messingglocke am Empfang geläutet wurde, um ihm zu sagen, dass eine neue Aufgabe auf ihn wartete. Mit jedem Mal, dass er beim Portier oder bei Mr. Wheeler persönlich erschien, um seinen Auftrag abzuholen, wurde sein Unmut größer. Was tue ich hier überhaupt? Ich sollte, wenn schon nicht in meiner eigenen Firma, im Vorstand irgendeines Konzerns sitzen und mich mit wichtigen Themen beschäftigen und Entscheidungen fällen. Ich sollte die Aktienkurse studieren, statt den Leuten die Zeitung aufzubügeln. Es musste doch wenigstens eine Firma auf diesem verdammten Planeten geben, die ihn in einem höheren Rang einstellen wollte! Pling! Pling! „Kaiba, hierher!“, rief Mr. Wheeler. „Die Herrschaften möchten ihre Koffer heute noch aufs Zimmer gebracht haben.“ Seto brummte leise und begab sich zum Empfang, wo ein junges Ehe-paar aus Amerika mit einem Berg von Koffern und Reisetaschen auf ihn wartete. Als sich Seto am späten Nachmittag gerade eine kurze Pause gönnte, kam Michael, der Oberkellner des Restaurants, zu ihm und bat ihn, aus dem Garten schnell ein paar frische Blumen zu holen. Der Wagen des Floristen, der sie sonst lieferte, hatte einen Unfall gehabt. Miss-mutig ging er nach draußen und ließ sich vom Gärtner eine Rosenschere und einen flachen Korb geben. Er streifte durch die Gartenanlage und schnitt wahllos Flieder, Maiglöckchen und Bärlauchblüten sowie etwas Efeu ab. Sollten doch die Kellner sehen, wie sie daraus etwas für die Tische arrangierten, das war nicht seine Sache. Schließlich wandte er sich den Rosenbeeten zu. Die meisten Büsche und Rosenstöcke waren gerade erst dabei, Knospen zu bilden, nur bei einem weiß blühenden Rosenbusch waren sie schon etwas weiter. Seto wollte den zarten Blüten gerade mit seiner Schere zu Leibe rücken, als ihn ein entsetztes „Halt, nicht die Rosen, Kaiba!“ herumfahren ließ. Mai kam mit fliegenden Röcken auf ihn zu gerannt. „Was denn, ich denke, ich soll Blumen für das Restaurant schneiden.“ „Ja, schon, aber keine Rosen. Die gehören dem Sohn des Chefs.“ „Mr. Wheeler hat einen Sohn?“ Wird ja ein ziemlicher Milchbubi sein, wenn der sich wegen ein paar Blumen so anstellt, dachte Seto. „Du verstehst das nicht“, sagte Mai, „aber Joey hängt sehr an seinen Rosen. Außer ihm hat niemand das Recht, sich um sie zu kümmern.“ Er zuckte mit den Schultern, steckte die Schere in den Korb und machte sich auf den Rückweg ins Haupthaus der Hotelanlage, um die Blumen im Restaurant abzuliefern. Mai hatte ihn nach ein paar Schritten eingeholt und begleitete ihn zurück. „Du kannst Feierabend machen, wenn Michael die Blumen hat“, sagte sie. „Komm dann zu mir in die Küche, die andern haben schon gegessen.“ Sein Magen knurrte seit Stunden leise vor sich hin, außerhalb der kurzen Speisezeiten, die für die Hotelangestellten vorgesehen waren, war er vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen, irgendetwas zu essen. Jonathan Wheeler bedachte ihn mit einem unzufriedenen Blick, als er das Foyer betrat und fragte ihn, warum er so lange gebraucht habe, um einen einfachen Auftrag auszuführen. „Ich habe mich beeilt, so gut ich konnte. Ihr Garten ist groß, Sir“, erwiderte Seto, wobei er die letzte Silbe nur stirnrunzelnd über die Lippen brachte. „Geh jetzt, dein Essen wartet“, sagte Mr. Wheeler dann, nachdem er Seto noch einmal scharf angesehen hatte. Der Brünette hatte die Tür zur Küche noch nicht geöffnet, als er schon einen Schrei und ein darauf folgendes lautes Fluchen hörte. „Stell dich nicht so an“, drang Mais Stimme nach draußen. „Sonst machst du auch nicht so einen Terz.“ „Sonst rückst du auch nicht gleich mit Wasserstoffperoxyd zum Desinfizieren an“, gab eine männliche Stimme zurück. „Das brennt.“ „Das andere Desinfektionsspray ist aufgebraucht“, sagte sie. Seto öffnete die Tür einen Spalt breit und schob sich in die Küche. Wenn Mai für jemanden Krankenschwester spielte, bitte, aber er würde nicht warten, bis sie fertig war, um sein Essen zu holen. Vor ihr, den Rücken der Tür zugewandt, saß ein blonder Junge auf einem Schemel, baumelte mit den Füßen und murrte, wann immer Mai den großen Wattetupfer auf seine Stirn drückte. „Du kannst froh sein, dass das nicht genäht werden muss“, sagte sie. „Hmpf, ich möchte nur eine Woche erleben, in der du ohne einen blauen Fleck nach Hause kommst.“ „Ach, Mai, das war doch nichts weiter“, winkte er ab. „Bloß ’ne kleine Rauferei.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf und klebte ihm ein großes Pflaster auf die Stirn. „So, fertig, du Rabauke.“ Mai sah auf. „Ah, Kaiba. Dein Essen steht da drüben im Backofen.“ Er nahm sich einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit dem Auflauf, den Mai zum Warmhalten in den Ofen zurückgestellt hatte. „Danke, Mai“, sagte Joey und betastete sein Pflaster. „Bleib von der Wunde weg. Und jetzt ab mit dir an die Hausaufgaben, Kleiner.“ Er hüpfte von dem Schemel herunter. Im gleichen Moment trat Seto von der heißen Ofentür zurück und fühlte Joeys Ellbogen im Rücken. Der Warnruf von Mai kam zu spät, ihre Füße gerieten durcheinander, sie stolperten, der Teller mit dem Essen flog durch die Luft und landete krachend auf den hellen Bodenfliesen. Seto und Joey strauchelten, versuchten sich noch an den Möbeln festzuhalten und stürzten ebenfalls. In einem heillosen Durcheinander kamen sie auf dem Fußboden auf. „Aaauuu ...“, jaulte Joey. „Du Tölpel, kannst du nicht besser aufpassen!“, blaffte Seto und rieb sich das Steißbein. Dann erkannte er den Jungen. „Du schon wieder!“ „Kaiba“, Mai stieß ihn vorsichtig an, „das ist –“ „Ich weiß, was das ist, ein ungeschickter Trampel!“ Er zog sein Bein unter denen von Joey hervor und erhob sich. „Hey, wie redest du mit mir!“, ereiferte sich Joey, der ebenfalls aufstand. „Ähm, Kaiba“, begann Mai erneut, „das ist Joey.“ „Schön für ihn.“ „Der Sohn deines Chefs.“ Stille. Seto blinzelte. Er hatte den Sprössling seines neuen Chefs nicht gerade als Trampel bezeichnet, oder? Der wütende Ausdruck in Joeys Gesicht sagte ihm eindeutig etwas anderes. „Entschuldige dich.“ „Bei wem?“ Der kühle Ausdruck kehrte in Setos Gesicht zurück. Er hatte sich noch nie bei jemandem für irgendetwas entschuldigt. „Bei mir“, gab Joey mit der gleichen Kälte in der Stimme zurück. „Wozu? Dank dir liegt mein Abendessen auf dem Boden.“ „Kaiba, Joey ist trotzdem Mr. Wheelers Sohn“, flüsterte ihm Mai zu. „Und?“ „Er kann dich feuern lassen.“ Man konnte fast sehen, wie die Rädchen hinter Setos Stirn arbeiteten. Er konnte es sich nicht leisten, seinen Job schon wieder zu verlieren. „Entschuldigung“, presste Seto zwischen seinen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wie bitte? Ich hab dich nicht verstanden.“ „Entschuldigung“, wiederholte Seto deutlicher. „Es ist immer noch Auflauf übrig, Kaiba“, versuchte Mai die Situation zu entschärfen. „Joey, Zeit für deine Hausaufgaben.“ Die beiden jungen Männer maßen sich mit einem letzten abschätzenden Blick, bevor Joey aus der Küche verschwand und Seto sich wieder dem Herd zuwandte, um wenigstens den Rest des Essens in seinen Magen zu bekommen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Katsuya räkelte sich, eine Tüte Chips auf dem Schoß, in einem der großen Sessel im Aufenthaltsraum des Filmstudios. „Entschuldigung“, klang Setos Stimme aus dem Fernseher. „Hach, das ist Musik in meinen Ohren“, seufzte Katsuya und spulte die Kassette zurück, um es sich noch einmal anzuhören. Er hatte sich die Aufnahme aus dem Schneideraum besorgt. „Jonouchi, hör endlich auf, dir diese Stelle anzusehen“, verlangte Seto, der mit einem Kaffee in der Hand darauf wartete, von seinem Fahrer abgeholt zu werden. „Das nervt.“ „Dich vielleicht, ich kann nicht genug davon kriegen. Ryou, Shizuka, wie soll ich mich nur bei euch dafür bedanken, dass sich der Eisklotz da drüben bei mir entschuldigen musste.“ Katsuya strahlte über das ganze Gesicht. „War doch nicht der Rede wert“, erwiderte Ryou lächelnd. „So, war es das?“ Ryou schluckte, als er Setos Blick Marke „Tod in Reichweite“ auf sich gerichtet sah. „Dann wird es sicher auch nicht der Rede wert sein, wenn ich dich und die Schwester dieses missratenen Köters ins nächste Krankenhaus befördere.“ Seto setzte die Kaffeetasse mit einem lauten Klirren auf der Glasplatte des Tisches ab und marschierte auf die beiden Drehbuchautoren zu. „Kaiba! Mich kannst du beleidigen, so viel du willst, das prallt an mir ab, aber lass Shizuka aus dem Spiel!“ „Und Ryou!“, mischte sich Bakura ein. Katsuya und Bakura sprangen von ihren Sitzen auf und stellten sich Seto in den Weg, die Fäuste geballt. Sie knackten mit den Fingerknöcheln. „Keinen Schritt weiter oder du bereust es, Kaiba“, zischte Bakura. „Seto, der Wagen wartet draußen“, platzte Mokuba herein. „Äh ... was ist denn hier los?“ „Nichts von Belang.“ Seto nahm seinen Mantel und verließ den Aufenthaltsraum. „Wir sehen uns morgen.“ Kapitel 3: Ein neues Leben -------------------------- (1) http://www.youtube.com/watch?v=-nSYU1EVeqQ&feature=related Yiruma – Love hurts (2) http://www.youtube.com/watch?v=S-ets2ZvWwc&feature=related Yurima – When the Love Kapitel 3 Ein neues Leben (1) In den folgenden Tagen wurde es Seto immer schwerer, die freundliche Miene aufzusetzen, die von den Angestellten eines guten Hotels erwartet wurde. Die geringschätzigen Blicke der Gäste – sofern sie ihn überhaupt beachteten – entgingen ihm nicht und er kannte sie nur zu gut. Die gleiche Art von Blicken hatte er dem Personal der Hotels zugeworfen, in denen er auf seinen zahlreichen Geschäftsreisen abgestiegen war. Allein mit den Augen hatte er ihnen klar gemacht, auf welcher Stufe sie sich in der Hierarchie befanden. Er hatte sich nie darum geschert, was die Leute über ihn dachten, doch diese ständige, offensichtliche Missachtung ging selbst an ihm nicht ganz spurlos vorüber. Nie zuvor war er so dankbar für seine eiserne Selbstbeherrschung gewesen. Am Ende der Woche platzte ihm allerdings der Kragen. Ob der Hund ihn mit einem Baumstamm verwechselte oder etwas gegen ihn persönlich hatte, wusste er nicht. Fest stand jedoch, dass dieses unverschämte Mistvieh ihn angepinkelt hatte und ihn obendrein noch ankläffte. Sein Besitzer, ein feister, älterer Geschäftsmann, bemerkte den Vorfall erst, als sich sein vierbeiniger Liebling auf der Flucht vor Setos Eisblick hinter ihm versteckte. Der Mann verlangte umgehend den Hoteldirektor zu sprechen und beschwerte sich bei Mr. Wheeler lang und breit über sein unfreundliches Personal. Kaum war er, ausgestattet mit einem Entschuldigungsknochen, der fast so groß wie der Chihuahua selbst war, in seiner Suite verschwunden, wandte sich Jonathan an Seto. „Ich warne dich nur noch dieses eine Mal, Freundchen. Benimm dich unseren Gästen gegenüber, wie es sich gehört oder du fliegst in hohem Bogen.“ „Aber er hat mich ange –“ „Und wenn schon, dann lächelst du höflich, wartest, bis der Gast gegangen ist und gehst dich umziehen. Was ist daran bitte so schwierig?“ Die Glocke am Empfang wurde betätigt und er entließ Seto mit einem Nicken. In der Nacht lag Seto lange wach und dachte über die Worte seines Chefs nach. Er hatte immer gekämpft, sich nie unterkriegen lassen. Sollte er jetzt etwa damit anfangen? Er stellte sich den Triumph auf Mr. Wheelers Gesicht vor, wenn er die Kündigung einreichte und verneinte seine Frage. Er hatte sich durch Gozaburos harte Schule gebissen, mit der er ihm das nötige Wissen für die Leitung der Firma eingetrichtert hatte, er würde auch das hier überstehen. Dass er die Kaiba Corp übernommen hatte, hatte er seiner harten Arbeit zu verdanken gehabt und er würde sich wieder hocharbeiten, auch wenn es dieses Mal länger dauern sollte. Am nächsten Morgen trat er seinen Dienst mit dem freundlichsten Lächeln an, das man im Schwarzen Rotauge je gesehen hatte. Er dachte nicht daran, Jonathan noch einen Grund zur Klage zu geben. Der Blauäugige ahnte nicht, dass nicht nur Mr. Wheelers scharfe Augen auf ihm ruhten, sondern sich auch die seines Sohnes häufiger auf ihn richteten, nachdem die anfängliche Verärgerung vergangen war. Er wunderte sich, dass sein Vater ihn härter heran nahm, als er es sonst mit neuen Angestellten zu tun pflegte. Zwar wurden auch diese bei Fehlern ermahnt, hatten in den ersten Tagen aber noch ein gewisses Maß an Schonfrist, um sich an die neue Stelle zu gewöhnen. Als Joey ihn darauf ansprach, hüllte er sich in Schweigen und meinte lediglich, dass Kaiba den Stress nun mal ertragen können müsse. Mai konnte ihm seine Frage ebenso wenig beantworten, war aber erfreut, dass Joey Seto nicht mehr so feindselig gegenüberzustehen schien wie in den ersten Tagen, als sie mehrfach unglücklich zusammengestoßen waren. Der Blondschopf wurde unterdessen das Gefühl nicht los, den Brünetten schon einmal irgendwo gesehen zu haben, bevor er im Schwarzen Rotauge aufgetaucht war, doch er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wo das gewesen sein könnte. „Hast du nicht eine Idee, woher ich Kaiba kenne?“, fragte er Ryou in der zweiten Maiwoche auf dem Rückweg von der Schule, knapp zwei Wochen, nachdem Seto bei ihnen angefangen hatte. „Dafür, dass du ihn nicht sonderlich magst, machst du dir aber viele Gedanken um ihn“, bemerkte sein Freund. „Ich weiß, aber dieser dämlich Gedanke geht mir einfach nicht aus dem Kopf“, erwiderte Joey verzweifelt. „Ich hab mich schon durch das Schülerverzeichnis unserer Schule und durch unsere Gästebücher der letzten drei Jahre gearbeitet. Nichts.“ „Hast du es mal im Internet versucht?“ Joey schlug sich gegen die Stirn. „Manchmal hab ich echt ein Riesenbrett vorm Kopf. Da hätte ich auch von selbst drauf kommen können. Okay, dann sehen wir uns am Montag. Bis dann!“ Ryou konnte ihm seinen Abschiedsgruß nur noch hinterher rufen, Joey bog schon um die Ecke und flitzte auf das Hotel seines Vaters zu. Er umrundete ein paar Hotelgäste, die ihm entgegenkamen, und gelangte durch einen Torbogen in den kleinen Innenhof des Nebengebäudes, in dem die Wheelersche Privatwohnung und die Zimmer der Angestellten lagen. Die Haustür zum Angestelltentrakt öffnete sich und entließ Seto in die warme Nachmittagssonne. Sein Blick hingegen war eisig und wurde noch einige Grad kälter, als er Joey entdeckte. „Guten Tag, Mr. Wheeler“, nickte er ihm zu und ging an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Ihr Streit in der Küche war Mr. Wheeler senior nicht verborgen geblieben und hatte Seto einen weiteren Tadel eingetragen. Seither siezte er Joey, falls er ihn sah – falls, denn er vermied es, wenn möglich, ihm über den Weg zu laufen. Dieser „blonde Trampel auf vier Pfoten“ oder kurz „Köter“, wie Seto ihn im Geheimen getauft hatte, bedeutete nur Ärger und gerade den konnte er nicht gebrauchen. Joey erwiderte den Gruß und schloss die Tür der Wohnung auf. Sein Zimmer befand sich im ersten Obergeschoss, wie das Schlafzimmer seines Vaters und Serenitys Zimmer. Jonathan hatte mehrfach Anstalten gemacht, ihre Sachen einzupacken und auf den Dachboden zu räumen, doch Joey hatte sich beharrlich dagegen geweigert und so war es so geblieben, wie es an ihrem Todestag gewesen war. Während der Laptop auf seinem Schreibtisch mit einem leisen Summen anlief und sich hochfuhr, trat Joey ans Fenster und sah in die Richtung, in die Seto eben verschwunden war. Blaue Augen mit einem Ausdruck wie blankes Eis und dennoch hatte Joey in den letzten Tagen mehrmals kurz gedacht, noch etwas anderes als die Kälte in ihnen gesehen zu haben, wann immer sich ihr Besitzer unbeobachtet gefühlt hatte. Eine Art Melancholie, als trauere er um etwas. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen, ging ins Internet und tippte „Seto Kaiba“ als Suchbegriff ein. Ein überraschter Pfiff drang über seine Lippen, als ihm die Suchmaschine Sekundenbruchteile darauf ihre Ergebnisse präsentierte. Die Liste war überwältigend, mehr als 200.000 Einträge. „Wo soll ich da anfangen“, murmelte er und klickte aufs Geratewohl den ersten Eintrag an. Noch während er die ersten Zeilen las, weiteten sich seine Augen sowohl vor Erstaunen als auch vor Erkenntnis. Kaiba handelt Millionenvertrag mit Industrial Illusions aus. Seto Kaiba auf Platz 1 der begehrtesten Junggesellen des Landes. Eine Schlagzeile jagte die andere. Während der folgenden Stunden klebte er förmlich am Bildschirm. Vor seinen Augen tat sich das Leben eines Mannes auf, der es seit seinem elften Lebensjahr gewohnt war, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, ständig begleitet von den Blitzlichtern der Fotografen, das Auge immer auf die Firma gerichtet, die er von seinem Stiefvater übernommen hatte. Langsam setzten sich die einzelnen Teile, die Eindrücke, die er bisher von Kaiba gewonnen hatte, zu einem Puzzle zusammen. Plötzlich verstand er die Bitterkeit, die ein paar Mal in der Miene des Brünetten aufgeflackert war, und den kühlen, abweisenden Blick, mit dem er jedem außerhalb des Dienstes begegnete. Aber das erklärt immer noch nicht, warum Dad ... Oder könnte es sein, dass – Er sprang auf und lief in das kleine Arbeitszimmer seines Vaters hinüber, wo er in einem Aktenschrank die Ordner mit den privaten Unterlagen der Familie aufbewahrte. Im dritten Ordner, den er hervorzog, fand er, wonach er suchte, inklusive der überhöhten Rechnung, die der Anwalt Jonathan Wheeler nach dem Prozess geschickt hatte. Also ist Kaiba der Idiot, über den Dad so lange geschimpft hat. Aber ist das gleich ein Grund, sich jetzt so an ihm zu rächen? Joey schüttelte den Kopf. Kaiba tat ihm irgendwie leid. Wie er ihn allerdings einschätzte, würde er ihn für sein Mitleid eher verfluchen, als ihm das Herz auszuschütten. Beim Abendessen fragte er seinen Vater vorsichtig, ob er Setos Arbeitsbedingungen nicht allmählich normalisieren wolle. Jonathan lachte lediglich kurz und meinte, diese einmalige Chance würde er sich nicht entgehen lassen. Kaiba sollte sich einmal so fühlen, wie er damals. (2) Der Mai neigte sich seinem Ende zu. Flieder und Maiglöckchen waren verblüht, dafür hatten Lilien, Tagetes und andere Blumen sie abgelöst. Die Rosenstöcke, die Joey voller Hingabe pflegte, waren voller Knospen, von denen die ersten bereits aufgegangen waren. Er wanderte im schwindenden Licht der Abendsonne durch den Garten, knipste mit der Schere einen abgeknickten Zweig von einer Kletterrose ab. Der Himmel sah aus, als wäre er in Brand geraten. Gelb, Orange, Rot und dunkles Rosa wetteiferten miteinander und badeten die aufziehenden Wolken und den Garten in einem rötlich-goldenen Schimmer. Joey schnitt einen Zweig mit zwei zartrosafarbenen Rosen ab, die eine bereits erblüht, die andere hatte gerade erst ihre Knospe geöffnet. Diese Rosen hatte Serenity am liebsten gemocht, der Rosenstock war zu ihrer Geburt gepflanzt worden. Der von Joey, der volle, dunkelrote Rosen mit betörendem Duft trug, stand gleich daneben. Er brachte seiner Schwester regelmäßig Blumen ans Grab, stellte aber auch häufig welche in ihr Zimmer. Nachdem er die Dornen entfernt hatte, legte er die Schere wieder an ihren Platz im Geräteschuppen und machte sich über die Wiese, auf der die Gäste im Sommer lagen und sich sonnten, auf den Rückweg zum Haus. Lächelnd winkte er einem jungen Ehepaar zu, das auf dem Balkon seines Zimmers stand und den Sonnenuntergang genoss. Sie waren frisch verheiratet und verbrachten nun ihre Flitterwochen in Domino. Die Wolken, die sich von Westen näherten, wurden dichter und verschluckten den Sonnenuntergang immer mehr, bis kaum noch etwas von ihm zu sehen war. Schade, dabei war heute so ein schöner Tag, dachte Joey. Er beschloss, noch kurz bei Mai vorbeizusehen. Es war fast neun, das Abendessen war lange beendet, sie musste also mit ihrer Arbeit fertig sein. Der Eingang zur Küche lag an der Nordseite des Hauses, wo es kaum Gästezimmer gab und somit auch keine unzufriedenen Gäste, die sich an den Gerüchen stören konnten, die aus den großen Containern aufstiegen, in welche die Essensreste entsorgt wurden. Auf der Hand des Blondschopfs landete ein Wassertropfen. Sein Blick richtete sich nach oben, weitere Tropfen folgten. Noch während er seine Schritte beschleunigte, öffneten sich die Schleusen des Himmels. Wir müssen hier endlich für bessere Beleuchtung sorgen, dachte Joey, als er die Tür nach einem kurzen Sprint erreichte. Es gab nur eine Lampe über dem Eingang, der größte Teil der Hotelseite lag im Dunkeln. Seine Hand lag schon auf der Türklinke, als ihn ein leises Stöhnen, das aus der Dunkelheit zu seiner Rechten drang, aufhorchen ließ. Er wandte sich um. „Ist da jemand?“ Langsam, mit schleppenden Schritten löste sich eine Gestalt aus den Schatten und näherte sich ihm. „Whe ... Wheeler?“, murmelte eine Stimme. Die Person schwankte, fast als hätte sie zu viel getrunken. Dann kam sie in Reichweite der Lampe. Joeys Augen weiteten sich, als er Seto erkannte – oder das, was von ihm übrig war. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und blutete, eine weitere große Wunde hatte er an der Stirn davongetragen. Er hielt sich die Seite. Die Uniform war an mehreren Stellen zerrissen und auch sonst war er in einem erbärmlichen Zustand. Unbarmherzig prasselte der Regen auf ihn nieder. „Kaiba, was –“, setzte Joey an. Seto machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und strauchelte. Seine Augen schlossen sich, dann brach er bewusstlos zusammen. „Kaiba!“ Die Rose entglitt Joeys Händen und fiel zu Boden. Mit zwei Schritten war er bei ihm und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. „Hey, aufwachen! Kaiba!“ Er schlug sachte mit dem Handrücken gegen die Wange des Älteren. Erleichtert stellte er fest, dass dieser wieder zu sich kam. Für Sekunden war sein Blick verwirrt, wurde dann jedoch schlagartig wieder klar und nahm seinen üblichen kühlen Ausdruck an. „Was ist mit dir passiert?“, fragte Joey. „Nichts weiter ... Mr. Wheeler“, presste Seto hervor und setzte sich abrupt auf. Seine Hand fuhr an seine schmerzende Stirn. „Komm hoch, ich kümmere mich um deine Wunden.“ „Das kann ich alleine.“ „Du kannst kaum laufen“, widersprach Joey und half ihm aufzustehen. Entschieden marschierte er auf das Wheelersche Wohnhaus zu und zog Seto mit sich. Er führte den Brünetten ins Wohnzimmer und nötigte ihn trotz seines Protestes, seine Kleider seien durchnässt, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Joey lief kurz in sein Zimmer, um seine nassen Sachen loszuwerden und sich ein frisches T-Shirt und eine Hose anzuziehen. Im Bad durchsuchte er das Medizinschränkchen nach den nötigen Utensilien und eilte damit zu dem Verletzten zurück, dem er ein großes Badetuch um die Schultern und ein Handtuch über die feuchten Haare legte. „Wie ist das geschehen?“, versuchte er noch einmal sein Glück, eine Antwort zu erhalten, tränkte einen Wattebausch mit Desinfektionsmittel und begann damit, die Platzwunde an Setos Stirn zu betupfen. „Unglücklich gefallen“, kam die gemurmelte Antwort. Von dem Blondschopf kam ein trockenes Lachen. „Ich bin in meinem Leben schon oft hingefallen und ich sah nie so lädiert aus wie du, Kaiba. Du siehst eher aus, als wärst du unter einen Laster geraten – oder zwischen die Fäuste einer Straßengang.“ „So was ähnliches.“ „Was ist mit deiner Seite?“ „Alles in Ordnung, nur ein blauer Fleck.“ „Davon möchte ich mich selbst überzeugen. Zieh das Hemd aus.“ „Ich denke nicht daran, mich wegen einer Lappalie vor dir zu entblößen“, erwiderte Seto und fiel, ohne es zu merken, in die Du-Form zurück. „Jetzt stell dich nicht so an oder ich ziehe es dir selbst aus.“ „Nein.“ Seto verschränkte demonstrativ die Arme. „So ein sturer Drache.“ „Besser ein Drache als ein Hund.“ „Meinst du etwa mich?“ „Siehst du noch einen Hund außer dir im Raum?“, entgegnete Seto, erhob sich und funkelte ihn herausfordernd an. Joeys Hand ballte sich unwillkürlich. Dieser überhebliche Ton seines Gegenübers machte ihn wahnsinnig. Blaue und braune Augen fochten einen stummen Kampf miteinander aus. Seto war sich sicher, dass er dieses kleine Duell unter normalen Umständen jederzeit für sich entschieden hätte, doch das Vorangegangene hatte ihn sehr geschwächt, so ungern er es auch zugeben mochte. Seine Beine gaben unter ihm nach, er ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. Auf keinen Fall wollte er sich noch einmal die Blöße einer Ohnmacht geben. So schnell wie Joeys Wut gekommen war, verrauchte sie wieder. Er besaß ein hitziges Temperament, konnte jedoch ebenso nicht zusehen, wie es jemandem schlecht ging. „Ziehst du dein Hemd jetzt freiwillig aus?“, erkundigte er sich. „Ich möchte wirklich nur nachsehen, ob alles okay ist und du dir keine Rippe gebrochen hast.“ Wenn auch widerwillig, kam Seto dem Wunsch nach und zog Jacke und Hemd aus. Seine linke Seite war rot und blau. Joey tastete die Prellungen vorsichtig ab, alle Knochen schienen noch an ihrem Platz zu sein. Er bat Seto, morgen vorsichtshalber zum Arzt zu gehen, sich von ihm untersuchen und die nächsten Tage krankschreiben zu lassen. Der Brünette sah ihn entrüstet an. „Ich kann mir nicht einfach so eine Auszeit nehmen.“ „Das ist keine Auszeit aus Spaß, du bist verletzt und durch das Kofferschleppen wird es sicher nicht besser.“ „Aber –“ „Dann erteile ich dir als Sohn des Hoteldirektors und stellvertretender Direktor hiermit die dienstliche Anordnung, dich ärztlich untersuchen und krankschreiben zu lassen“, sagte Joey ernst. Seto brummte unzufrieden und zog das Badetuch enger um sich. Er hasste es, wenn er sich geschlagen geben musste. „Wenn’s denn sein muss.“ „Es muss. Hast du sonst noch irgendwo Schmerzen?“ „Nein, du hast mich ja ... Ich meine, Sie haben mich –“ „Du kannst gern beim Du bleiben“, unterbrach ihn Joey. „Ich glaube, wir hatten vor ein paar Wochen einen schlechten Start. Joseph Jay Wheeler, genannt Joey.“ Er streckte ihm die Hand hin. Seto betrachtete sie einen Augenblick und reichte ihm dann seine. „Kaiba.“ „Hast du keinen Vornamen?“ „... Seto.“ „Freut mich, Seto.“ Joey lächelte leicht. „So, und jetzt geh dich umziehen, bevor du dir noch ’ne Erkältung in dem nassen Zeug holst.“ „Dann gute Nacht und ... Danke.“ „Keine Ursache, Seto.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Anzu nahm einen tiefen Schluck von ihrer heißen Schokolade. So lange am Stück vorzulesen, war anstrengend für die Stimme. Was sie den vier Kindern erzählte, sollte im späteren Film zum Teil als Hintergrundstimme verwendet werden. Mokuba ordnete seine Beine auf der Couch um und murrte, als Noah ihm den letzten Schokokeks vom Teller schnappte. „Seto begab sich in sein Zimmer“, fuhr Anzu fort, „und –“ „Nein, nein, nein, ich will das nicht anziehen!“, drang plötzlich Pegasus’ Stimme durch die Tür zum Studio. „Herr Pegasus, warten Sie!“, rief Hitomi, die für die Kostüme verantwortlich war. „Sie können da jetzt nicht rein, die Aufnahme läuft.“ „Aber ich muss mit dem Regisseur sprechen.“ Die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen, zu schwungvoll, wie Pegasus gleich darauf feststellte, denn sie prallte mit einem lauten Knall gegen die Wand. Anzu sah von ihrem Buch auf. „Aus!“, rief Ryou und unterbrach damit die Aufnahme. Er drehte sich in seinem Regisseurstuhl um und sah zur Eingangstür. Seine Miene verfinsterte sich. „Pegasus, was zur Hölle soll das? Wir stecken mitten in der Aufnahme.“ „Ryou, ich kann das nicht anziehen“, sagte Pegasus. Er schwenkte einen Kleiderbügel mit einem langen weißen Mantel durch die Luft. Hitomi bemühte sich, ihm das Kleidungsstück abzunehmen, doch er entzog es ihren zugreifenden Fingern immer wieder. Tief durchatmend erhob sich der Weißhaarige von seinem Stuhl. Er hatte geahnt, dass es nicht einfach werden würde, die Regie zu übernehmen, hatte aber keine große Wahl gehabt. Ihr Regisseur war zwei Tage vor Drehbeginn in seinem Haus beim Auswechseln einer Lampe von der Leiter gestürzt, die Treppe heruntergefallen und lag jetzt im Krankenhaus. „Und warum nicht?“, erkundigte sich Ryou. „Es ist so ... weiß.“ „Wir haben doch darüber gesprochen, Pegasus, dass ich deinem Vorschlag nicht nachkommen kann.“ Seine Finger trommelten gegen seinen Oberschenkel. Fast eine Stunde hatten sie deswegen vorgestern diskutiert. „Schon, nur ... Warum denn nicht rosa?“ Tiefe Falten gruben sich in Ryous Stirn, so dass er seinem älteren Bruder Bakura verblüffend ähnlich sah. „Du bist nicht der Frühling!“, erklärte er genervt. „Du bist der Eisfürst, der Herr der Kälte, des Schnees und des Eises und damit ist deine Farbe Weiß, nicht Rosa!“ Er holte ein weiteres Mal tief Luft. „Ich bin sicher, wir finden einen Weg, der uns beide zufrieden stellt. Lass uns das besprechen, wenn wir mit der Szene durch sind.“ Pegasus brummte noch etwas Unverständliches und verließ dann das Studio. Ryou wandte sich wieder dem Set zu. „So, weiter geht’s. Alle auf ihre Plätze!“ Kapitel 4: Herzsplitter ----------------------- Vielen Dank an all meine fleißigen Kommentarschreiber. ^_____^ Nachdem die Kommentare durchweg sehr "rosa" ausgefallen sind - hier ist der nächste Teil für euch. *Eisbecher verteil* (1) http://www.youtube.com/watch?v=dWc1jEmlib4&feature=related Future World Music – Eternal Love (2) http://www.youtube.com/watch?v=0mJm173fpQg Sendan Taiko – Inazuma Kapitel 4 Herzsplitter (1) Wenn auch mit einigem Zähneknirschen – er hatte Ärzten nie etwas abgewinnen können – folgte Seto am nächsten Morgen Joeys Wunsch und suchte den Arzt auf, den er ihm empfohlen hatte. Dieser schrieb ihn umgehend für die nächsten zwei Wochen krank, nachdem er neben den Prellungen auch eine angebrochene Rippe festgestellt hatte, und verbot ihm bis auf weiteres, schwere Lasten zu tragen. Mr. Wheeler war alles andere als darüber erfreut und sein Sohn musste auf ihn einreden, dass Seto doch nichts dafür könne, er sei auf ein paar angetrunkene Halbstarke getroffen. Glücklicherweise glaubte er Joey diese Ausrede. Über den tatsächlichen Ursprung seiner Verletzungen konnte Joey auch in den folgenden Tagen, in denen Seto zum Teil bei Mai in der Küche aushalf, nichts herausfinden. Dazu schwieg sich Seto hartnäckig aus. Dafür hatte sich das Verhältnis zwischen den beiden merklich gebessert. Wenn Joey am späten Nachmittag mit seinen Hausaufgaben fertig war, kam er zu Mai und Seto in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und erzählte, was er den Tag über erlebt hatte. Seto hörte der fröhlich und unbekümmert plaudernden Stimme des Blonden meist schweigend zu, während er das Gemüse putzte und klein schnitt, das Mai ihm gab. Diese – wenn auch oft einseitigen – Unterhaltungen behielten sie auch bei, als Seto wieder seinen Dienst am Hoteleingang aufnahm und die Küche tagsüber nur noch zu den Mahlzeiten aufsuchte. Wenigstens hatte Joey seinen Vater endlich überreden können, seine unsinnige Racheaktion zu beenden und Seto anständige Arbeitszeiten einzuräumen. „Kommst du noch auf einen Spaziergang durch den Garten mit?“, fragte Joey eines Abends, nachdem Seto seine Uniform gegen Privatkleidung getauscht hatte. „Ich habe nichts gegen etwas Bewegung einzuwenden.“ Sie verließen den Innenhof des Wohngebäudes und schlenderten über den frisch gemähten Rasen. Die Abendluft war immer noch von dem würzigen Duft des Rasenschnitts erfüllt, der seine letzte Ruhestätte auf dem Komposthaufen am anderen Ende des Grundstücks gefunden hatte. „Betrachtest du mich eigentlich als Freund, Seto?“, fragte Joey unvermittelt. „Ich ... ja, ich denke schon.“ „Du klingst, als hättest du bisher nicht viele Freunde gehabt.“ „Für so etwas fehlte mir die Zeit“, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Und ich hielt es für Zeitverschwendung, mir richtige Freunde zu suchen. Dabei hätte ich Freunde in den vergangenen Monaten gut brauchen können. „Ich war stets anderweitig beschäftigt.“ „Ich nehme an, diese anderweitige Beschäftigung war dein Unternehmen. Die Kaiba Corp.“ „Woher weißt du –“ Überrascht sah Seto auf und zu Joey. Dieser war an einer Kiefer stehen geblieben und strich über deren Rinde. „Ich konnte mir nicht erklären, was mein Vater gegen dich hatte. Also habe ich ein bisschen recherchiert.“ „Und bist dabei auf die KC gestoßen.“ „Ich wusste nicht, dass du so eine Berühmtheit bist. Ich meine ... natürlich habe ich in den letzten Jahren immer mal was über dich und die Kaiba Corp gelesen – und dieser Wolkenkratzer ist ja unübersehbar. Aber ich hätte den CEO Seto Kaiba nicht mit unserem Hoteldiener in Verbindung gebracht.“ Seto versteifte sich für einen Moment. Das war Salz in seinen Wunden. „Wenn du nicht mehr an der Spitze stehst, wirst du für die Medien schnell uninteressant. Zumindest in dem Punkt hatte die Angelegenheit ihr Gutes. Dieser Medienzirkus kann sehr nervenzehrend sein. Gerade in den Wochen vor der Schließung der Kaiba Corp.“ „Ach ja, darüber bin ich etwas gestolpert. Gut, die Wirtschaftskrise wütet seit letztem Herbst, aber die Kaiba Corp ist ... war ein riesiges Unternehmen. Diese Zeit hätte sie locker durchstehen müssen.“ „Ich habe getan, was in meiner Macht stand und ja, eigentlich hätte ich diese Zeit gut bewältigen müssen ... Ich hatte schon seit über einem halben Jahr den Verdacht, dass mehrere Mitglieder meines Aufsichtsrates gegen mich arbeiteten, aber mir fehlten die letzten, stichhaltigen Beweise, um sie zu überführen. Und dann war es zu spät.“ „Das tut mir leid.“ „Verschon mich mit deinem Mitleid, Joey“, gab Seto etwas kühler als beabsichtigt zurück. Er räusperte sich kurz. „Es ist Vergangenheit. Ich kann es mir nicht leisten, darum zu trauern. Mein Blick richtet sich nach vorn, nicht zurück.“ „Du erleidest so einen Verlust und willst gleich weitermachen, als sei nichts gewesen?“ „Was soll ich denn tun? Etwa in Selbstmitleid zerfließen?“ „Das tue ich doch gar nicht!“, rief Joey und erntete einen verwirrten Blick von dem Brünetten. „Das ... das hat mir Ryou mal vorgeworfen.“ Seto musterte ihn. „Welchen Grund solltest du für Selbstmitleid haben? Du lachst ständig, deine Noten sind in Ordnung, so weit ich das mitbekommen habe ...“ „Meine Mutter und meine Schwester sind gestorben. Sie hatten einen Autounfall, vorletzten Winter.“ „Das ... Mein Beileid, Joey.“ Seto wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Er erinnerte sich noch daran, wie ihm die Polizei die Nachricht vom Tod seiner leiblichen Eltern überbracht hatte. Ihre Beerdigung und die folgenden Wochen hatte er wie in dichte Schleier gehüllt zugebracht. Die Beileidsbekundungen der zahlreichen Menschen, die zur Trauerfeier erschienen waren, waren einfach an ihm abgeglitten. „Seto ... Seto, ist alles in Ordnung?“ Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, blinzelte und sah auf. „Du sahst gerade aus, als wärst du ganz weit weg“, sagte Joey. „... Ich kenne das Gefühl, jemanden zu verlieren, den man liebt“, erwiderte Seto nach einigen Augenblicken des Zögerns, in denen sie ihren Spaziergang fortgesetzt hatten. „Wer ...“ „Meine Eltern. Gozaburo Kaiba war mein Stiefvater. Hast du das bei deiner Recherche nicht herausgefunden?“ „Ich habe mich mehr auf deinen Werdegang nach der Firmenübernahme konzentriert.“ „Joey!“ Er wandte den Kopf und sah seinen Vater auf der Terrasse stehen, der ihn zu sich winkte. „Entschuldige mich“, sagte er zu Seto und ging eiligen Schrittes, Jonathan sah ungeduldig aus, den Weg zurück. „Was hattest du mit Kaiba zu schaffen?“, fragte er, sobald sein Sohn nahe genug herangekommen war. „Wir haben uns unterhalten.“ „Aha, und worüber?“ „Worüber man sich mit einem Freund eben so unterhält“, wich Joey aus. „Freund ...“ Mr. Wheeler schnappte hörbar nach Luft. „Nennst du diesen Burschen etwa deinen Freund?“ „Ja. Hast du was dagegen?“, erkundigte sich der Jüngere herausfordernd. „Seine Schadenersatzforderungen hätten uns damals fast in den Ruin getrieben. Aber das Blatt hat sich gewendet, jetzt steht er in meinem Dienst – und du wirst dich von ihm fernhalten. Verstanden?“ Vater und Sohn sahen einander an. Joey fiel der etwas dumpfe Ausdruck auf, der in den Augen seines Vaters lag, dann nahm er den feinen Geruch wahr, der seinem Mund entströmte. Er schien sich wieder Brandy oder Whiskey in den Tee gemischt zu haben. „Das ist meine Angelegenheit, Dad“, zischte Joey und verschwand im Wohnhaus. Joey dachte gar nicht daran, dem Wunsch seines Vaters Folge zu leisten. Was anfangs böse Streitereien gewesen waren, waren inzwischen freundschaftliche Wortduelle geworden, auch wenn Joey ganz fuchsig wurde, nannte Seto ihn „Hündchen“ oder „Köter“. Der Blauäugige hingegen schien es als Kompliment aufzunehmen, wenn Joey ihm zum hundertsten Mal an den Kopf warf, ein Eisdrache zu sein. Im Gegensatz zu Jonathan, der Seto in seinen Dienststunden scharf im Auge behielt, waren Mai und Ryou über die wachsende Freundschaft der beiden jungen Männer sehr glücklich. Sie konnten nur den Kopf darüber schütteln, dass Joeys Vater gegen die Treffen der beiden war und zusah, dass er Seto mit Arbeit eindeckte, wenn sie zu lange zusammen waren. Dies änderte sich erst wenige Tage vor den Sommerferien, als Mr. Wheeler von Joeys Mathelehrerin mitgeteilt wurde, dass er dringend Nachhilfe benötige, wenn er einen guten Abschluss machen wollte. Seto bot sich ihm als Lehrer an, wurde aber von dem schlecht gelaunten Hotelbesitzer vor die Tür gesetzt, kaum dass er ihm seinen Vorschlag unterbreitet hatte. Er traktierte die Bürotür, die mit einem Knall hinter ihm geschlossen worden war, mit bösen Blicken. Mai beugte sich zu ihm herunter. „Lass mich mit ihm reden“, bat sie, klopfte kurz an und trat ein. Seto stand auf und wollte gehen, als ihm Joey, an einem Apfel kauend, entgegen kam. „Und, was hat Dad gesagt?“ „Er hat abgelehnt, was sonst. Jetzt versucht Mai ihr Glück.“ „... Hast du dir deinen Sohn in letzter Zeit mal angesehen, Jonathan?“, hörten sie da Mais Stimme durch das Holz. „Er ist fröhlich, er lacht wieder. Wann hast du in den letzten anderthalb Jahren ein ehrliches Lächeln in seinem Gesicht gesehen?“ „Er hat mit Ryou einen guten Freund.“ „Das hat er“, bestätigte sie, „aber auch Ryou ist es bisher nicht gelungen, vollständig zu Joey durchzudringen und ihm über Serenitys Tod hinwegzuhelfen. Ich bitte dich. Joeys Noten kann es auf jeden Fall nicht schaden.“ Jonathan murrte noch eine Weile und erklärte sich schließlich einverstanden. Vor der Tür fielen sich Seto und Joey in die Arme, um sich, peinlich berührt von diesem Ausbruch, gleich wieder loszulassen, als sie es merkten. „Entschuldige“, nuschelte Joey. „Ich freue mich einfach.“ So kam es, dass Seto und Joey nun auch mit väterlichem Segen ihre Zeit zusammen verbrachten. Sobald Seto Feierabend hatte, setzten sie sich auf die Terrasse oder unter die Kiefer und lernten zusammen. Dabei merkte Seto erst, wie sehr es ihm gefehlt hatte, mit Zahlen zu jonglieren. Bei Joey zeichneten sich innerhalb weniger Tage die ersten Erfolge ab, auch wenn er Seto manchmal nahe an den Rand der Verzweiflung brachte, da er einige Dinge wieder und wieder nachfragen musste und sie sich dennoch nicht richtig merken konnte. Zum Teil saßen sie bis in den späten Abend über den Schulbüchern. Die Folgen dieser Dauerbeschäftigung ließen nicht lange auf sich warten. Es war Hochsaison, das Hotel war, insbesondere wegen der Ferien, ausgebucht und das Personal einschließlich des Hotelchefs ertrank in Arbeit. Nach drei Wochen hatten sich unter Setos Augen wegen des mangelnden Schlafes dicke, dunkle Ringe gebildet. Als Joey ihn darauf ansprach und ihm den Vorschlag machte, die Unterrichtsstunden einzuschränken, lachte Seto nur trocken und meinte, davon würde Joey es ja nicht lernen. Umso erstaunter waren er und Mai, als der Blondschopf am nächsten Morgen in aller Frühe in der Küche aufkreuzte, sich sein Frühstück holte und das Buch aufschlug. „Na nu, bist du aus dem Bett gefallen, Kleiner“, fragte Mai. „Ich dachte, sonst bekommt man dich während der Ferien nicht aus den Federn“, fügte Seto hinzu. „Schon, aber wenn ich tagsüber mehr mache, müssen wir abends weniger lernen und du musst nicht deine ganze Zeit dafür opfern.“ „Ich habe dir gesagt, dass das kein Problem für mich ist.“ Die Glocke am Empfang unterbrach ihn. Seto verdrehte die Augen, trank rasch den letzten Schluck Kaffee und verließ die Küche. „Bis nachher!“, rief er noch. „Du machst dir Sorgen um ihn, hmm?“, erkundigte sich Mai und begann damit, den Braten mit der Gewürzmischung einzureiben, die sie gerade vorbereitet hatte. „Er sieht in letzter Zeit so blass aus. Und ... Wir sind doch Freunde.“ Mai lächelte und er senkte den Blick schnell wieder auf seine Müslischüssel. Freunde ... Wenn es nur noch so einfach wäre. Natürlich sah er in Seto einen Freund, aber er war sich nicht mehr sicher, ob das alles war. Es gab noch einen Grund, warum er heute so früh aufgestanden war. Er hatte von ihrem Ausflug an den See geträumt, den sie neulich an Setos freiem Tag gemacht hatten. Beim Anblick des Brünetten in seinen blauen Shorts war er rot angelaufen und später hatte Seto es sogar zugelassen, dass Joey ihm nach dem Schwimmen den Rücken mit Sonnencreme einrieb und ihn massierte. Der Grund aber, warum er aus dem Schlaf hochgefahren war, war die plötzliche Nähe des Traum-Seto gewesen und das Kribbeln bei der kurzen Berührung ihrer Lippen. Ob sich das in der Wirklichkeit auch so anfühlte? Aber er wollte sich auch nichts vormachen. Seto würde seine Gefühle sicher nicht erwidern und wenn sein Vater davon erfuhr – der würde an die Decke gehen. Von seinem einzigen Sohn erwartete Mr. Wheeler, dass er heiratete und Kinder zeugte, damit das Hotel in der Familie bleiben konnte. Setos Augen betrachteten kritisch das Blatt Papier, das vor ihm lag. Er runzelte die Stirn, überprüfte ein letztes Mal die Zahlen, die dort geschrieben standen und setzte dann einen Haken. „Und? Und, sag schon?“ Joey hatte während der Korrektur immer wieder versucht, ihm über die Schulter zu schauen, doch Seto hatte das Aufgabenblatt jedes Mal an sich gedrückt und ihm nicht gestattet, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Auf die Lippen des Brünetten stahl sich ein Grinsen. „Alles richtig“, sagte er zufrieden und legte den Rotstift in das Federmäppchen zurück. „Jippie!“, rief Joey. Seit gut vier Wochen unterrichtete Seto ihn nun und heute hatte er ihm eine mehrseitige Arbeit vorgelegt, um sein Wissen zu prüfen. „Zur Belohnung darfst du dir was wünschen.“ „Ehrlich? Okay, hmm ... Morgen hast du frei, oder?“ „Sofern es deinem Vater nicht wieder einfällt, mir noch ein paar Zusatzarbeiten aufzutragen, ja.“ „Dann gehen wir morgen zusammen zum Sommerfest“, bestimmte Joey freudig. Am darauf folgenden Vormittag machten sie einen Spaziergang zum Friedhof. Sie hatten vor einer Weile festgestellt, dass Setos Eltern und Joeys Mutter und seine Schwester auf demselben Friedhof lagen, die Gräber befanden sich sogar nur wenige Reihen auseinander. Seto hatte mit Joeys Erlaubnis im Garten eine weiße Rose abgeschnitten, die er seinen Eltern ans Grab stellte. Danach erhielt auch Serenity ihre Rose. Joey strich über den Stein, auf dem ihr Name und ihre Lebensdaten eingraviert waren. „Du hattest deine Schwester sehr gern, nicht wahr?“, fragte Seto. „Sehr gern“, bestätigte Joey und zwang sich, den Blick von dem Grab abzuwenden. „Aber jetzt komm, Mai hat bald das Mittagessen fertig.“ Seto lachte leise. „Du denkst immer mit dem Magen, Joey.“ „Ich höre auf mein Bauchgefühl, aber das heißt nicht, dass ich verfressen bin“, wehrte er sich. „Macht das bei dir so einen großen Unterschied?“ Er stieß ein leises Keuchen aus, als er Joeys Ellbogen in der Seite spürte, und grummelte etwas Unverständliches. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Auuuu! Jonouchi!“ Seto entfernte sich ein paar Schritte von seinem Filmpartner und bedachte ihn mit seinem berühmt-berüchtigten Eisblick. „Im Script steht, dass du mir den Ellbogen leicht in die Seite stoßen sollst, nicht dass du damit Rammbock spielen sollst!“, beschwerte er sich. „War doch keine Absicht.“ „Nein?“ Der Blauäugige trat ihm auf den Fuß und setzte eine unschuldige Miene auf. „Das auch nicht.“ „Aus! Kaiba, Jou, hört mit dem Unsinn auf!“, verlangte Ryou. „Das ist schon die zwölfte Wiederholung der Szene. Reißt euch doch bitte endlich zusammen, wir müssen hier pünktlich fertig sein.“ Sie befanden sich auf einem großen Friedhof am Rande der Stadt, um hier einen Teil ihrer Außenaufnahmen zu drehen. „Och, Ryou“, maulte Katsuya. „Ich meine es ernst, du bekommst keine Kekse mehr.“ „Du bist fies.“ „Fies? Nein“, lächelte der Weißhaarige, „nur euer Regisseur, der sehr ungemütlich wird, wenn diese Szene nicht bald im Kasten ist.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (2) Sie konnten erst am späten Nachmittag, nach fünf Uhr, aufbrechen, da einer der Kellner wegen eines Unfalls fehlte und Mr. Wheeler dringend kurzfristigen Ersatz im Restaurant brauchte. Als er Seto aber für den Abendbetrieb ebenfalls verpflichten wollte, sprach sein Sohn ein Machtwort, dass Setos freier Tag nicht zum Arbeiten gedacht sei. Die Wolken, die am Vormittag den Himmel verhangen hatten, waren verschwunden. Das Sommerfest war bei ihrer Ankunft in vollem Gang. Die Menschen drängten sich durch die schmalen Gänge, die von den hölzernen Ständen gebildet wurden. Durch die Luft schwebten die Klänge verschiedener Instrumente, an manchen Ständen lief auch Radiomusik. Da hinein mischten sich die Düfte, die von den vielen verschiedenen Buden aufstiegen, an denen Essen verkauft wurde. Ob Chinesisch, Indisch, Europäisch, Japanisch, Stände mit Eis und heißen Waffeln ... es gab alles, was das Herz begehrte. Joey lief das Wasser im Munde zusammen. Sie ließen sich in der Masse mittreiben, blieben an einigen Ständen kurz stehen und zogen weiter. Die Sonne sandte knallend heiße Strahlen zur Erde, so dass ihnen die Wassermelonenstücke, die sie bei einer alten Dame kauften, eine mehr als willkommene Erfrischung waren. Sie versuchten ihr Glück am Goldfischstand und Seto brummte verärgert, als ihm die Goldfische auch bei seinem fünften Versuch das feine Papiernetz zerrissen, das zum Einfangen benutzt wurde. Joey kicherte leise. „Was ist so lustig?“ „Wie du schmollst ... Das sieht irgendwie süß aus“, meinte er mit einem leichten Rotschimmer. „Ähm ... Da, sieh mal, wollen wir uns Luftballons kaufen?“ „Was für einen willst du denn haben?“, fragte Seto. Joey starrte ratlos auf die wogende bunte Menge. „Such du einen für mich aus.“ Seto betrachtete die Ballons, bis sein Blick an einem Golden Retriever hängen blieb, den er sich von dem Händler aushändigen ließ und Joey reichte. Dieser revanchierte sich mit einem großen Seepferdchenballon. Sie grinsten einander an und begannen gleichzeitig zu lachen. Fröhlich redend setzten sie ihren Weg fort. Als Abendessen holten sie sich bei einem Chinesen Rindfleisch mit gebratenem Reis und suchten sich eine Bank im nahen Park, um dort in Ruhe zu essen. Auf dem Sommerfest selbst war kaum noch ein freier Platz zu bekommen. „Ich habe gelesen, dass es heute ein Feuerwerk gibt“, sagte Joey. „Ich dachte, wir gehen nach dem Essen.“ „Ach bitte, willst du dir das etwa entgehen lassen? Das Feuerwerk ist ganz toll, das ist jedes Jahr der Höhepunkt des Sommerfestes.“ „Darum ist es jetzt wohl dort so voll geworden. Wir werden auf dem Festplatz keinen guten Standort mehr zum Sehen kriegen.“ „Das brauchen wir auch gar nicht“, erklärte der Blondschopf lächelnd. „Ich kenne einen Ort, von dem aus wir eine super Sicht haben.“ „Und wo soll das sein?“ „Verrate ich nicht.“ Er steckte sich den letzten Rest Reis in den Mund und beförderte die Pappschachtel mit einem gezielten Wurf in den nächsten Papierkorb. Die Abendsonne malte die Bäume bunt an, während sich der Himmel langsam verdunkelte und die beiden den Park verließen. Joey führte den Brünetten an den Festständen vorbei, durch mehrere Straßen und zu einem Hügel am Stadtrand, der mit vereinzelt stehenden Bäumen bewachsen war. Unter einem Kirschbaum saß ein junges Pärchen auf einer Decke und schien ebenfalls auf den Beginn des Feuerwerks zu warten. „Hier war ich früher oft mit meinen Eltern und meiner Schwester.“ Der Wind wehte die Geräusche des Festes herüber. Hunderte Lampions tauchten den Platz ein Stück vor ihnen in ein Lichtermeer. Auf dem Platz im Zentrum des Sommerfestes stand eine Bühne, auf der sich eine Gruppe Taiko-Trommler versammelt hatte und ihren Instrumenten eine schnell dahinwirbelnde Melodie entlockte, welche ihre Zuhörer wie ein Sturm mit sich riss. Joey und Seto setzten sich nebeneinander auf eine große Baumwurzel und hörten den Trommlern zu. Kaum von den Festbesuchern beachtet, versank die Sonne rot glühend und überließ der Nacht die Herrschaft. Mit dem Verklingen des letzten Tons brandete stürmischer Beifall für die Künstler auf. Nur schwach war das Zischen zu vernehmen, dann explodierte die erste Rakete über dem Platz und schickte weiß-rote Funken an den Himmel. In rascher Folge kamen die nächsten, malten bunte Kugeln, Blumen, sprühende Fontainen und goldenen Regen vor die tiefblaue Kulisse. Gebannt blickte Joey auf das Spektakel. Er liebte Feuerwerke und wollte sich nichts davon entgehen lassen. Erst als er eine Hand auf seiner fühlte, wandte er seine Augen vom Himmel ab und sah Seto an, auf dessen Lippen ein kleines Lächeln lag. Kein Wort fiel zwischen ihnen, ruhig sahen sie zu, bis der letzte Schauer aus blauen und goldenen Funken vergangen war. „Wollen wir nach Hause?“, fragte Seto und wunderte sich über seine belegte Stimme. Joey nickte nur und erhob sich. Er streckte seine vom Sitzen steif gewordenen Gliedmaßen. Auch auf dem Heimweg blieben sie still. Die Ballons tanzten über ihnen in der Luft, bis der Wind sie sich packte und sich die Schnüre umeinander schlangen. Der Versuch, sie wieder zu entwirren, schlug fehl, so dass Seto, als sie beim Hotel ankamen, Joey das Seepferdchen in die Hand drückte und sagte, er solle beide nehmen, wenn sie sich partout nicht voneinander trennen lassen wollten. Mr. Wheeler stand im Erdgeschoss am Wohnzimmerfenster und beobachtete die herzliche Verabschiedung der beiden mit Sorge. Er hatte schon seit einer ganzen Weile den Verdacht, dass etwas mit seinem Sohn nicht stimmte. Joey hatte bislang noch nie eine Freundin gehabt. „Was ist dieser Kaiba für dich?“, fragte er, als Joey im Flur seine Schuhe ausgezogen hatte. „Du bist noch wach?“ „Antworte mir.“ „Wir ... sind Freunde.“ „Sonst nichts?“, forschte er weiter. „Nein. Ich bin müde, Dad. Gute Nacht.“ So schnell wollte Mr. Wheeler jedoch nicht aufgeben. Erneut richtete sich sein Blick scharf auf Seto und folgte jedem Schritt, den er auf seinem Grund und Boden tat, trotz Mais Warnung, den beiden ihre Freundschaft zu lassen. Kurzerhand verlegten sie ihre Treffen außer Haus und nutzten ihre freie Zeit für nachmittägliche und abendliche Ausflüge. Sie erkundeten gemeinsam die Innenstadt und futterten sich durch das Sortiment eines italienischen Eiscafés, wobei Seto seine Vorliebe für Schokoladen- und Meloneneis entdeckte. Als im Oktober ein neues Einkaufszentrum eröffnet wurde, gehörten sie zu den ersten, die sich dort umsahen. Die Konstruktion aus Glas, Stahl und Granit beherbergte über hundertfünfzig Geschäfte, Restaurants und kleine Cafés. Vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts blieb Joey stehen und sah bewundernd auf ein Paar rote Sneaker, die an der Außenseite mit einem schwarzen Drachen verziert waren. Ein Blick in sein Portemonnaie ernüchterte ihn allerdings. Für diesen Monat hatte er sein Geld bereits ausgegeben und bis er wieder genug hatte, waren sie sicher weg. Enttäuscht ließ er den Kopf hängen und machte sich mit Seto auf den Heimweg. Als Joey eine Woche später wieder in der Stadt war, waren die Sneaker aus dem Schaufenster verschwunden. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Sehr schön“, sagte Ryou und stand von seinem Regisseurstuhl auf. „Das war’s für heute.“ „Na endlich.“ Seto ließ Katsuya los, der sich für die Szene mit dem Einkaufsbummel nach Ryous Anordnung bei ihm eingehakt hatte. Er klopfte demonstrativ seinen Jackenärmel ab und ignorierte den giftigen Blick, den der Blondschopf ihm daraufhin zuwarf. „Bist du sicher, dass unser Plan funktioniert?“, wandte sich Yugi leise an Shizuka. „Bisher sieht das nicht so aus.“ „Kommt Zeit, kommt Rat. Wir haben ja noch einiges vor uns.“ Katsuya zog sich brummend in seine Umkleide zurück, entledigte sich seines Kostüms und ging in den Duschraum. Im Studio unter voller Beleuchtung und in warmer Daunenjacke drehen – Ryou musste verrückt geworden sein. Die Tür ging auf und Ryuji, in einen langen Bademantel gehüllt und ein Frotteetuch über dem Arm, trat ein. „Hey, Katsuya, gut gespielt.“ „Danke, Ryuji“, sagte er, betrat eine der Kabinen, hängte Tuch und Bademantel über die Tür und stellte das Wasser an. „Was machst du hier, du hattest doch heute gar keinen Dreh.“ „Schon, aber ich habe gleich noch ein Date.“ Ryuji zwinkerte verschwörerisch. „Einer deiner Fans?“ „Erinnerst du dich an die süße Braunhaarige mit den dunklen Augen, die neulich den Ärger mit unserem Wachmann hatte, weil sie sich auf der Studiotour verirrt hat?“ „Jaaa ... Du scheinst auf brünett zu stehen, das ist schon mindestens die dritte. Bist wohl noch nicht ganz über Shizukas Korb hinweg, wie?“ Katsuya seifte sich ein und griff dann nach dem Duschkopf, um den Schaum wieder abzuspülen. „Wer rechnet auch bitte damit, dass sie was mit Ryou hat?“, brummte Ryuji und begann sich abzutrocknen. Er schlüpfte in seinen Bademantel und verließ die Duschkabine. „Ach ja, was ich dir noch sagen wollte, Katsuya ... Die Stelle, als ihr das Feuerwerk angesehen habt und du rot werden musstest – das sah richtig echt aus.“ Er grinste. „Oder war das gar nicht gespielt?“ „Da war überhaupt nichts echt!“, rief Katsuya und knurrte wütend. Er hob den Wasserschlauch und richtete ihn auf Ryuji, der sich, immer noch breit grinsend, beeilte, seine Sachen zu packen und den Raum zu verlassen. Katsuya verschränkte die Arme und lehnte sich böse grummelnd an die Wand seiner Kabine. Was denkt sich Ryuji! Ich und rot – wegen Kaiba! Pah! Er hörte, wie erneut die Tür geöffnet wurde. Hat er was vergessen? Katsuya schlang sich das Badetuch um die Hüften und schnappte sich den voll gesogenen Schwamm, den er auf die Ablage der Dusche gelegt hatte. Er stieß die Kabinentür auf. Heißer Dampf entwich und ließ ihn den Eintretenden nur unscharf erkennen. Er holte aus und warf. Klatschend traf der Schwamm sein Ziel. Eine wütende Stimme erhob sich, die so gar nicht nach dem Schwarzhaarigen klang. „Du machst nichts als Ärger, Jonouchi!“ Kalte, blaue Augen tauchten aus dem Nebel auf und fixierten den Werfer. Katsuya schluckte. „Ni ... nichts für ungut, Kaiba.“ Er riss seine Sachen an sich, stürmte an Seto vorbei und duckte sich unter den zugreifenden Händen weg. Keuchend kam er bei seiner Umkleide an und sperrte hinter sich ab. Ich soll Gefühle für den Eisklotz haben? Niemals. Kapitel 5: Winter-Sonate ------------------------ (1) http://www.youtube.com/watch?v=L3EU6DrSrTc&feature=related Future World Music – Saga (2) http://www.youtube.com/watch?v=NKSq0LGNi9c Anastasia – Once upon a December (3) http://www.youtube.com/watch?v=_r1x4uWXazA&feature=related Van Helsing – Who are they to judge Kapitel 5 Winter-Sonate (1) Zu seinem Geburtstag wurde Seto von Joey, Mai und den anderen Angestellten mit einer leckeren Schokoladentorte überrascht. Mr. Wheeler ließ sich dagegen nur kurz sehen und verschwand dann wieder in seinem Büro, sobald er ihm, ohne seinen Mund auch nur zu einem Lächeln zu verziehen, gratuliert hatte. Die Zeit verging wie im Flug, die Bäume warfen ihre bunt gefärbten Blätter ab und wurden kahl, das Wetter wurde nasskalt und ungemütlich. Nachdem Mr. Wheeler seinen Sohn Arm in Arm mit Seto auf der Couch bei einem Film erwischt hatte, sprach er ein sehr ernstes Wort mit dem Brünetten und verbot ihm, die Wheelersche Wohnung noch einmal zu betreten. Draußen konnten sie sich wegen des regnerischen Wetters abends ebenso nicht mehr aufhalten und so blieb ihnen nichts, als sich an ihre Zimmerfenster zu setzen und den anderen durch die Scheibe zu betrachten, während sie leise miteinander telefonierten. Zu ihrem Glück war Jonathan bisher nicht in den Sinn gekommen, dass ihre Zimmer einander genau gegenüber lagen, nur durch den Innenhof getrennt. Wenn es die Witterung erlaubte, ließen sie die Fenster offen und unterhielten sich über den Hof hinweg, immer auf der Hut vor etwaigen Lauschern. Joey verstand seinen Vater nicht mehr. Ende November sanken die Temperaturen plötzlich rapide ab, Raureif bedeckte die Wagen und setzte sich nachts sogar, der Heizung zum Trotz, an die Fenster, um dort Eisgeflechte zu bilden. Einen so kalten Winter hatte die Stadt seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Wollten sich Seto und Joey nun abends sehen, mussten sie Münzen oder etwas anderes an der Heizung wärmen und damit ein Loch in das Eis schmelzen. „Das sieht für dieses Jahr nach einem kalten Winter aus“, sagte Mai einige Tage später und stellte den Sandtopf neben dem Hinterausgang der Küche ab. Kurz nach dem Mittagessen hatte es Eisregen gegeben, die Straßen waren spiegelglatt und sie hatte den Weg zu den Müllcontainern mit Sand bestreut, nachdem sie ebenso unrühmlich wie unsanft zu Boden gegangen war. „Dann wird Dad wieder über die hohen Heizkosten fluchen.“ Joey pustete, um seinen heißen Kakao ein wenig abzukühlen. „An denen wird er nicht vorbeikommen, wenn er seine Gäste nicht im Kalten sitzen lassen will.“ Am 9. Dezember, Joey war gerade auf dem Heimweg von der Schule, begann es zu schneien. Seit Tagen war der Himmel mit hellgrauen Wolken bedeckt gewesen und man konnte die Eiskristalle schon in der Luft riechen. „Was hast du heute noch vor?“, fragte Ryou und schlang sich den Wollschal enger um den Hals. „Seto und ich wollen eine Partie Duel Monsters spielen und –“ Er unterbrach sich mitten im Satz selbst, als die erste Schneeflocke auf seiner Nase landete, und sah nach oben. „Entschuldige mich, Ryou, ich muss nach Hause.“ Bevor dieser zu einer Erwiderung ansetzen konnte, war der Blondschopf schon herumgefahren und eilte die Straße entlang. Immer mehr der eisigen Tänzerinnen lösten sich aus den Wolken und schwebten gen Erdboden. Joey begann zu rennen. Ich hasse dich. Ich hasse dich, Winter! Keuchend, außer Atem kam er am Hotel an, ging grußlos an ein paar Gästen vorbei und verkroch sich in seinem Zimmer. Erst am Abend, es war schon lange dunkel und im Innenhof des Wohngebäudes waren die Laternen angegangen, zog er die Vorhänge wieder zurück und sah nach draußen. Alles war von einer feinen Schneeschicht bedeckt, die im Laternenschein glitzerte. Seto war damit beschäftigt, das frisch gefallene Weiß mit einem hölzernen Schieber und einem Besen zu entfernen und in einer Ecke des Hofes aufzutürmen. Er sah auf, be-merkte Joey und winkte ihm zu, herauszukommen. Joey schüttelte nur den Kopf, auch als Seto noch einmal eine einladende Geste machte. Er warf ihm einen enttäuschten Blick zu, beendete seine Kehrarbeiten und räumte Besen und Schneeschieber fort. Nachdem der Winter seinen Einstand gegeben hatte, dachte er gar nicht daran, das Zepter wieder aus der Hand zu geben. Jeden Tag luden die Wolken – sehr zu Joeys Missmut – eine neue Flut Schnee ab und verschafften Seto eine umfangreiche Zusatzbeschäftigung an der frischen Luft, da Mr. Wheeler darauf bestand, alle Wege des Hotels schneefrei zu halten und der Gärtner dies nicht allein bewältigen konnte. Joey ließ sich indessen kaum noch sehen und hielt sich meistens in seinem Zimmer oder bei Mai auf. Er wurde schweigsam und sein Lachen, an das sich Seto in den letzten Monaten so gewöhnt hatte, verstummte. Schlug dieser ihm einen Spaziergang vor, brachte er jedes Mal ein Bündel Erklärungen an, warum er keine Zeit habe oder nicht in die Kälte hinaus könne. Dennoch wollte sich der Blauäugige nicht so leicht geschlagen geben, Joeys fehlendes Lächeln drückte auch seine Stimmung herunter. „Verflucht noch mal, sag mir endlich, was mit dir los ist!“, verlangte Seto eine Woche vor Weihnachten von ihm zu wissen. Sie waren allein im Restaurant, wo Joey noch einmal die Tische für das Abendessen kontrollierte. „Sonst warst du schon fünf Schritte vor mir, sobald ich einen Spaziergang nur vorgeschlagen habe und jetzt verkriechst du dich wie ein ängstlicher kleiner Welpe!“ Joey zuckte zusammen, als er so scharf angefahren wurde, seufzte und richtete seine braunen Augen langsam auf sein Gegenüber. „Ich hasse diese Jahreszeit“, erwiderte er schlicht. „Wegen deiner Schwester? Meine Eltern sind im Hochsommer gestorben, aber deshalb verfluche ich nicht gleich die Sonne, weil sie am Himmel steht.“ „Du verstehst das nicht ... Der Winter hat Serenity umgebracht.“ „Joey, es war ein Autounfall“, sagte Seto und legte einen Arm um seine Schultern. „Genau das ist es. Ich glaube nicht, dass es ein gewöhnlicher Unfall war.“ „Und was war es deiner Meinung nach dann?“ „Versprich mir, dass du nicht lachst“, bat Joey und wartete sein Nicken ab, bevor er weitersprach. „Da ... da waren diese Augen. Kalte Augen. Und ein böses Lachen in der Luft. Ich glaube, das war der Winter.“ „Der Winter ist doch nur eine Jahreszeit, aber keine richtige Person.“ „Ich wusste, dass du mich nicht verstehst.“ Joey streifte den Arm des anderen ab. „Glaub mir, ich möchte dich verstehen, Joey. Vor allem jedoch möchte ich, dass du wieder lachst.“ „Das werde ich, wenn der Winter vorbei ist.“ „Und wann ist das?“ „Steht doch im Kalender“, brummte Joey. Setos Mundwinkel verzogen sich zu einem minimalen Grinsen. „Wenn das so ist ...“ Er packte Joey bei der Hand und zog ihn aus dem Restaurant, durch die Eingangshalle, hin zum Empfangstresen. Dort durchsuchte er die Kalender, die für die Gäste zum Mitnehmen auslagen, bis er ganz unten im Stapel einen für das aktuelle Jahr fand, und ließ sich vom Portier einen Stift geben. Er schlug den Dezember auf, machte eine Notiz und reichte den Kalender Joey. Unter dem 17. Dezember stand in akkurater Handschrift Frühlingsanfang. Joey sah Seto fragend an. „Morgen ist der Winter vorbei“, erklärte er. „Und dann gehen wir Schlittschuh laufen.“ „Im Frühling? Du hast eine merkwürdige Logik, Seto.“ „Die muss man bei dir haben.“ Seto bemerkte zufrieden, wie sich ein kleines Lächeln in Joeys Züge stahl. (2) Am nächsten Tag ging Seto nach Dienstschluss schnell unter die Dusche und zog sich um. Seine Sachen hatte er bereits am Morgen in einem Rucksack verstaut. Er erwischte gerade noch den Bus, der Richtung See fuhr, und ließ sich aufatmend gegen die Lehne seines Sitzes sinken. Zusammen mit einem halben Dutzend Schülern und einigen Erwachsenen verließ er den Bus zwanzig Minuten später und legte das letzte Stück bis zum See zu Fuß zurück. Über ein Dutzend große Scheinwerfer, die rundherum am Ufer verteilt waren, strahlten die Eisfläche an, auf der sich die Läufer tummelten. Seto zog seine Schlittschuhe an und glitt auf das Eis hinaus. Er war in den letzten Tagen öfter hier gewesen und hatte über Joeys Verhalten gegrübelt. Während er seine Kreise zog, warf er hin und wieder einen Blick zu der Uhr, die am Seeufer stand. Der Zeiger rückte langsam, doch unaufhaltsam vorwärts, überschritt erst die Sieben, dann die Acht. Trotz der Tüte Maronen, die er zwischendurch gegessen hatte, begann Seto zu frösteln. Es war kaum noch jemand da, er hatte den See fast für sich. So schön es auch war, so viel freie Fläche zum Laufen zu haben, was hatte er davon, wenn er sie nicht mit Joey teilen konnte? Er war enttäuscht. „Seto!“ Mit einer raschen Bewegung drehte er sich um und sah Joey am Ufer stehen und ihm zuwinken. Er hat doch Wort gehalten, stellte er mit Erleichterung fest und näherte sich ihm. „Hallo, Joey.“ „Entschuldige, dass ich erst jetzt komme. Ich musste warten, bis Mai Dad ablenken konnte. Er wollte ausgerechnet heute mit mir über die Weihnachtsfeier sprechen.“ „Vielleicht hat er was gemerkt“, überlegte Seto. „Was ist, willst du deine Schlittschuhe nicht anziehen?“ „Ich ... ich weiß nicht, ob ich das noch kann. Schlittschuhlaufen, meine ich.“ „So etwas verlernt man nicht. Komm, probier es einfach.“ Joey seufzte, setzte sich dann aber auf die nächste Bank, packte seine Schlittschuhe aus und zog sie an. Zögernd setzte er einen Fuß auf das Eis, zog ihn jedoch gleich wieder zurück. „Ich weiß nicht“, murmelte er. Seto war mit wenigen Schritten bei ihm und reichte ihm die Hand. „Na komm, oder muss ich dich für einen Feigling halten?“ Der Blondschopf zog eine Schnute, nahm die ihm angebotene Hand und betrat das Eis nun um einiges entschlossener. Kaum hatte er sich ein paar Schritte vom Ufer entfernt, verlor er das Gleichgewicht. Seine Füße machten sich selbstständig und bevor Seto ihn festhalten konnte, war er mit Knien und Händen auf dem Eis gelandet und versuchte vergeblich, allein wieder aufzustehen. Sein Freund betrachtete ihn schweigend. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde breiter und zu einem Grinsen, bis er laut anfing zu lachen. Es war auch zu süß, wie Joey verzweifelt versuchte, sich wieder auf die Beine zu kämpfen und dabei jedes Mal von neuem weg glitt. „Tapsig“, brachte er zwischen seinen Lachern hervor, „wie ein kleines Hündchen!“ Joey knurrte ungehalten, als er das hörte. „Wäre es zu viel verlangt, wenn du mir hilfst, statt dich über mich lustig zu machen? Ich bin eine Weile nicht mehr gelaufen.“ „Ich meinte das nicht böse“, erwiderte Seto und ließ sich endlich dazu herab, Joey hochzuziehen. „Du musst dich nur wieder ans Eis gewöhnen.“ Im Laufe des Abends landete Joey noch einige Male auf dem gefrorenen See, doch Seto hatte erreicht, was er wollte: In die topasfarbenen Augen war das Lächeln zurückgekehrt und Joey lehnte auch nicht ab, als er ihm den Vorschlag machte, morgen wieder zum See zu fahren. Nie zuvor waren Joey und Seto so dankbar gewesen, in Mai und Ryou Verbündete gefunden zu haben, da sie es übernahmen, Mr. Wheeler abzulenken und Joey ein Alibi zu geben, wenn er sich mit dem Blauäugigen treffen wollte. Die frische, kalte Luft vertrieb rasch die Blässe, die sich durch den langen Aufenthalt drinnen auf seinen Wangen breit gemacht hatte und rötete diese. Auch gelang es Seto, die verschütteten Eislaufkünste seines Freundes binnen weniger Tage zu reaktivieren, selbst wenn sich Joey zeitweise recht unbeholfen anstellte und sich einige Male sogar mit voller Absicht fallen ließ und Seto mit sich zog, um ihn zu ärgern. Als Seto am Morgen des 24. Dezember in die Eingangshalle kam, um seinen Dienst anzutreten, fand er die Türen zum Festsaal, in dem Mr. Wheeler häufig Hochzeiten, Bälle und andere Feste ausrichtete, fest verschlossen und mit einem Schild versehen vor, auf dem Betreten verboten stand. Von den beiden Mitgliedern der Familie Wheeler war den ganzen Tag über nichts zu sehen, nur um die Mittagszeit drangen ein lautes Poltern und kurz darauf ein derber Fluch, der nach Wheeler senior klang, aus dem Saal. Seto fragte den Portier, was sie dort drin treiben würden, doch dieser lächelte nur geheimnisvoll und meinte, das würde er bald sehen. Selbst Mai hatte an diesem Tag lediglich ein paar kurze Worte für ihn übrig, während sie ihre Gehilfen in der Küche herumscheuchte und ihren Lehrling Akio anfauchte, endlich die Brotlaibe aus dem Ofen zu nehmen, bevor diese verbrannten. Sie hatte für den Abend ein anspruchsvolles Menü geplant, das ihre volle Aufmerksamkeit forderte. Wie der Brünette von Joey erfahren hatte, wurde das Weihnachtsfest im Schwarzen Rotauge von Hausgästen und Angestellten (sofern diese nicht bei ihrer Familie waren) zusammen begangen. Von den Küchenangestellten abgesehen, hatten alle früher als sonst Feierabend, um sich für die Feier fertig zu machen. Nachdem er ausgiebig die heiße Dusche genossen hatte, zog Seto eine schwarze Hose und ein blaues Hemd an und begab sich ins Hotel hinüber, wo er sich unter die Hotelgäste mischte. Die Kellner liefen herum und verteilten Sekt zur Begrüßung. Jemand tippte ihm auf die Schulter. „Da bist du ja, Seto.“ Joey stand vor ihm, heute ganz in vornehmes Schwarz gekleidet. „Du siehst gut aus“, meinte Seto nach einer kurzen Musterung. „Danke, du auch. Komm, das Essen fängt gleich an.“ Wie aufs Stichwort gab Mr. Wheeler seinen Kellnern ein Zeichen und ließ sie die Türen zum Speisesaal öffnen, den er mit Dutzenden Kerzen hatte erleuchten lassen. Die Gäste strömten hinein, vor der Tafel, die die Sitzverteilung auswies, bildete sich ein kleiner Stau. Seto steuerte die Tische an, welche für die Bediensteten bestimmt waren, doch Joey hielt ihn zurück und schüttelte den Kopf. „Du sitzt bei uns.“ „Aber dein Vater ...“ „Ich habe die Sitzverteilung gemacht.“ Er zog ihn zu einem runden Tisch, an dem sein Vater mit einigen persönlichen Gästen Platz genommen hatte. Jonathan warf dem Blauäugigen einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. Neben ihm saßen ein alter Freund von ihm und dessen Tochter, die etwa in Joeys Alter war. Sein Sohn konnte die beiden nicht ausstehen und hatte ihrer Einladung nur zugestimmt, weil sich Jonathan im Gegenzug bereit erklärt hatte, Seto an ihrem Tisch sitzen zu lassen. Das ganze Essen über, das aus vier Gängen bestand und sich mehr als zwei Stunden hinzog, war die Atmosphäre bei ihnen angespannt, erst recht, als das Mädchen einen Versuch unternahm, mit Joey zu flirten. Der finstere Blick, den Seto ihr daraufhin zuwarf, ließ sie mitten im Satz verstummen. Nachdem auch die letzten Reste des Nougat-Honig-Parfaits und der mit Erdbeeren verzierten Weihnachtstorte von den Tellern verschwunden waren, stand Jonathan auf und klopfte an sein Glas. Ruhe senkte sich über den Raum. „Meine liebe Gäste, nachdem wir nun den kulinarischen Teil des Abends abgeschlossen haben – an dieser Stelle möchte ich mich bei unserer Küchenchefin Mai Valentine bedanken, die mit ihrem Team dieses außergewöhnliche Menü gezaubert hat ...“ Der Applaus der Gäste unterbrach ihn. Mai verbeugte sich und lächelte geschmeichelt in die Runde. Dafür hatten sich die Stunden, in denen sie sich durch ihre Rezepte gewühlt hatte, gelohnt. Jonathan räusperte sich laut, als der Applaus nachließ und brachte so auch die die letzten wieder zur Ruhe. „Kommen wir nun zu dem, worauf vor allem unsere jüngeren Gäste seit Stunden gewartet haben. Folgen Sie mir bitte.“ Joey warf Seto einen auffordernden Blick zu und erhob sich, um sich seinem Vater anzuschließen. Mit gewichtiger Miene schritt Jonathan, gefolgt von den Gästen, aus dem Restaurant und zum Festsaal, wo er einen Schlüssel aus der Jackentasche zog und die Doppeltüren weit aufstieß. Rasch trat er ein paar Schritte zur Seite, um die nachströmenden Menschen, allen voran die kleinen Kinder, einzulassen. Seto wurde von Joey am Unterarm ergriffen und in den Raum hineingezogen, in dessen Mitte ein mehr als ansehnlicher Weihnachtsbaum von über vier Metern Höhe stand. Hunderte künstliche Kerzen strahlten wie kleine Sterne zwischen den Zweigen hervor und brachten die roten und silbernen Kugeln zum Strahlen. „Habt ihr daran den ganzen Tag gearbeitet?“, fragte Seto. „Haben wir. So eine Riesentanne aufzubauen, dauert. Dad ist beim Schmücken ein ganzer Karton Kugeln runtergefallen und dann wäre er fast von der Leiter gestürzt.“ „Ach, das war also der Krach, den ich gehört habe.“ Ein Junge rempelte Joey an und entschuldigte sich hastig, bevor er seiner Schwester nacheilte, die ihre Eltern neben einem Stapel bunter Päckchen entdeckt hatte. In den letzten Tagen hatten Gäste und Angestellte die Möglichkeit gehabt, ihre Geschenke an der Rezeption abzugeben und fanden sie nun, nach Zimmernummer und Empfänger sortiert, unter dem Baum wieder. „Willst du deine Sachen nicht auspacken, Joey?“, rief ihm sein Vater zu. „Komme schon.“ Seto wandte sich ab, um nach seinem eigenen Stapel zu suchen. Er fand ihn auf der anderen Seite des Baumes und musste sich auf den Bauch legen, um überhaupt an die Päckchen heranzukommen. Jemand hatte sie tief unter die pieksenden Zweige geschoben. In einer Schachtel fand er den Füllfederhalter, den Jonathan für alle Angestellten besorgt hatte – in Sachen Geschenke hatte er noch nie viel Kreativität bewiesen, wie ihm Joey verraten hatte. Das zweite Päckchen stellte sich als blauer Schal von Mai heraus. Als letztes hob er einen flachen Briefumschlag hoch. „Aaaah, das ist ja der Wahnsinn!“, rief Joey da. Setos Finger, die den Umschlag hatten öffnen wollen, hielten inne. Was er wohl gerade ausgepackt hat? Die Antwort bekam er Sekunden darauf in Form von siebzig Kilo lebendigem Blondschopf geliefert, die sich um seinen Hals warfen und in einem Fort „Danke, danke, danke, Seto“, flüsterten. „Wofür denn?“ „Das war genau das, was ich brauchte“, sagte Joey und hielt ihm einen großen Kasten mit Aquarellfarben entgegen. „Gern geschehen. Ist das von dir?“ Er zeigte auf den Umschlag. „Jaa ... Kommst du mit raus? Ich ...“, Joey räusperte sich, „es wär nicht so gut, wenn du ihn hier drinnen aufmachst.“ Sie warfen kurz einen Blick zu Mr. Wheeler und stahlen sich dann aus dem Raum. Aus dem kleinen Aufenthaltsraum hinter dem Empfang holten sie ihre Jacken und verließen das Hotel über den Terrassenausgang des Restaurants, wo die Kellner in der Zwischenzeit das Geschirr abgeräumt hatten. „Darf ich ihn jetzt öffnen?“, erkundigte sich Seto, nachdem sie sich ein Stück von dem Gebäude entfernt hatten und über die vom Schnee frei geräumten Gartenwege wanderten. Allmählich wurde er ungeduldig. Auf Joeys Nicken schlitzte er den Umschlag auf. Zwei Karten fielen ihm entgegen, die er in den Lichtkegel einer der solarbetriebenen Gartenlampen hielt, um sie zu betrachten. Er sah überrascht zu Joey auf. „Karten für ein Konzert von David Garrett?“ „Ich bin zwar nicht unbedingt ein Fan von Klassik, aber der soll auch viel Modernes spielen. Also ein Kompromiss für uns beide.“ „Aber dann auch noch Parkett, ganz vorne – du bist verrückt, so viel Geld auszugeben.“ Er grinste leicht. „Und für wen ist die zweite Karte?“ „Für mich natürlich.“ „Du willst mit? Hmm ... Ich weiß aber nicht, ob sie Hunde ins Stadion lassen.“ „Hey! Du hattest versprochen, mich nicht mehr so zu nennen“, grummelte der Blonde. „Tut mir leid“, lachte Seto und umarmte ihn. „War nicht böse gemeint, natürlich kommst du mit. Ich will schon seit einer Ewigkeit in eins seiner Konzerte, aber mir ist immer etwas dazwischengekommen.“ „Dann lag ich mit den Karten ja genau richtig“, sagte Joey und schlang die Arme um seinen Nacken. Er musste sich etwas recken, um auf Augenhöhe mit Seto zu kommen. Seine Wangen schimmerten rötlich. Er liebte es, in diese tiefblauen Augen zu sehen. Sie hatten nicht nur die Farbe des Ozeans, sie waren auch so tief und unergründlich wie dieser. Seto beugte sich vor, sein Atem kitzelte Joey im Gesicht. Erwartungsvoll schloss er die Augen, wartete, dass Setos Lippen seine trafen. Plötzlich raschelte etwas im Gebüsch und lenkte ihre Aufmerksamkeit voneinander ab und auf den Lorbeerstrauch. „Ist uns wer gefolgt?“ Joey löste sich schweren Herzens von seinem Liebsten und bog die Zweige auseinander. Ein Paar hellgrüne Augen blickten ihm entgegen. Joey und Seto sahen verblüfft auf das Tier, dessen weißes Fell sich kaum vom Schnee ringsherum abhob – bis auf einen schmalen rosa Streifen an seiner rechten Seite. Eine seltsame Farbe für einen sonst komplett weißen Schneehasen. „Wo kommst du her?“ Joey streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu streicheln. Mitten in der Stadt auf einen frei laufenden Hasen zu treffen, war ungewöhnlich. Der Hase wich zurück, warf noch einen Blick auf Seto und lief davon. „Schade“, murmelte er, rieb seine Handflächen aneinander und blies hinein. „Wir sollten wieder reingehen“, sagte Seto. „Sonst erkältest du dich und ich muss alleine zum Konzert.“ Die Hände ineinander verschränkt, machten sie sich auf den Rückweg zum Hotel. (3) Joey wälzte sich in seinem Bett unruhig von einer Seite auf die andere. Er und Seto liefen über ein weites Feld, Seto immer ein Stück vor ihm. Er versuchte den Brünetten zu fangen, doch jedes Mal, wenn er nahe genug heran war und die Finger nach ihm ausstreckte, wurde Seto schneller und entwischte ihm. „Jetzt bleib doch mal stehen“, maulte er. „Fang mich!“, rief ihm Seto zu und lief weiter. Er seufzte und setzte sich wieder in Bewegung. Sein Freund wurde langsamer, blieb stehen und drehte sich um. Er hob die Hand und winkte Joey zu. Als dieser den Gruß erwidern wollte, stockte er mitten in der Bewegung. Aus dem Boden stiegen Rauchschwaden, die sich wie Ranken erst um Setos Beine, dann höher und um seinen Oberkörper schlangen. „Seto!“ Joey saß senkrecht im Bett und atmete schwer. „Puh, nur ein Albtraum“, flüsterte er und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Er sah auf seinen Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Es war kurz nach zwei, mitten in der Nacht. Draußen heulte der Wind wie ein Rudel Wölfe und rüttelte an den Fenstern. Joey blinzelte verschlafen. Was war das für ein helles, blassblaues Licht da drüben? Für den Mond war es zu hell, der Vollmond sollte erst am letzten Dezembertag eintreten, das war noch fast eine Woche hin. Er rieb sich die Augen und schwang sich aus dem Bett. Der Fußboden knackte unter seinen nackten Füßen. Es fröstelte ihn, nachts war die Heizung heruntergedreht. Langsam schlich sich Joey näher und zog die Gardinen beiseite, von plötzlicher Unruhe ergriffen. „Das kann doch nicht ...“ Das Licht erhellte den Hof, doch es kam nicht von der Lampe. Auf Höhe des ersten Obergeschosses, direkt vor Setos Zimmer, schwebte etwas in der Luft. Joey konnte es nicht genau erkennen, sein Fenster war von Eisblumen überzogen. Er wärmte die Scheibe mit seinem Atem an, bis er sich ein Guckloch schaffen konnte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Was er für ein Licht gehalten hatte, war in Wahrheit eine Person. Eine große Gestalt mit langen, silbrigen Haaren. Sie trug einen silber-weißen Mantel, der bis zu ihren Füßen reichte, am Kragen mit weichen Federn geschmückt und überall mit kleinen hellblauen Perlen bestickt war. Joey sah an ihr vorbei und erkannte, dass auch Seto aufgewacht war und die Gestalt ansah. Aber sein Blick gefiel ihm nicht. Er wirkte fast wie ... ja, wie hypnotisiert. Die Gestalt lachte leise. Joey lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Er hatte dieses Lachen schon einmal gehört. Die Gestalt wandte den Kopf zu ihm herum. Auf den Lippen lag ein grausames Lächeln. Beim Anblick der bernsteinfarbenen Augen traf den Jungen die Erkenntnis wie ein harter Schlag. „Was willst du?“, flüsterte Joey, auch wenn ihn der Mann im weißen Mantel durch das geschlossene Fenster kaum hören würde. Anscheinend musste er es doch irgendwie getan haben, denn er warf kurz einen Blick zu Seto. „Nein ...“ Joey packte den Fenstergriff, versuchte ihn aufzudrücken, er klemmte. „Nein, das lasse ich nicht zu! Wer bist du?“ Die letzten Worte schrie er. „Ich habe viele Namen“, flüsterte eine amüsierte Stimme. „Nenn mich Eisfürst. Ich bin der Herr des Schnees und des Eistees – äh, Eises!“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „AUS!“, brüllte Ryou. Er wusste nicht, ob er lachen oder weiter schreien sollte. Entgeistert sah er auf Pegasus, der auf einem blauen Podest stand (die Stelle sollte hinterher nachbearbeitet werden, so dass er scheinbar schwebte) und sich verlegen am Kopf kratzte. „Das ist mir jetzt aber peinlich ...“ Katsuya, der eben noch über sein Erscheinen erschrocken gewesen war, wälzte sich auf dem Boden seines Zimmers und hielt sich den Bauch vor Lachen. Selbst Setos Gesicht hatte sich zu einem leichten Grinsen verzogen. „Eistee, das ist ... gut!“, lachte der Blonde. „Das muss ... hahaha, das muss ich mir merken.“ Die Miene des Nachwuchsregisseurs zuckte. Die Szene war perfekt gewesen und dann dieser Riesenpatzer. Aber was brachte es, groß darüber zu grübeln, passiert war passiert. „Seto Kaiba bandelt mit dem Herrn des Eistees an ...“ Yami prustete los. Nun konnte sich auch Ryou nicht mehr halten. Er schloss sich dem allgemeinen Gelächter an und wischte sich ein paar Lachtränen aus den Augen. „Okay, machen wir erst mal eine Pause, damit sich alle beruhigen können.“ Einige Minuten und eine von Pegasus spendierte Runde Eistee für alle später nahmen sie ihre Positionen wieder ein. „Nenn mich Eisfürst“, sagte Pegasus und lächelte böse. „Ich bin der Herr des Schnees und des Eises, Gebieter über den kalten Nordwind.“ „Lass Seto in Ruhe“, verlangte Joey gepresst. „Ich werde ihn mir holen.“ „Niemals!“ Joey schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um. Es war Morgen, die Sonne schien durchs Fenster. War das jetzt nur ein Traum?, überlegte er. Oder nicht? Kapitel 6: Ein Stum zieht auf ----------------------------- Willkommen zu einem neuen Teil des Eisfürsten. *große Kanne Eistee mit Gläsern hinstell* Mit freundlichen Grüßen von Pegasus und dem Rest der Crew. ^_____^ (1) http://www.youtube.com/watch?v=Y_4515PnZmc David Garrett – Nothing else matters (2) http://www.youtube.com/watch?v=-mFxEwtyzz0&feature=related Illuminati – Immolation (3) http://www.youtube.com/watch?v=fZ-SdzSVECI Vanilla Ninja – Cool Vibes Kapitel 6 Ein Sturm zieht auf (1) Die Silvesternacht kam und ging, ohne dass sich irgendwelche Zwischenfälle ereigneten. Das Konzert, für das Joey Karten besorgt hatte, fand am 2. Januar im Domino Stadion statt und war ausverkauft. Seto war von der Vorstellung absolut begeistert und gehörte am Ende, nachdem der Geiger mehrere Zugaben gespielt hatte, zu denen, die am lautesten klatschten. „Und, wie fandest du es?“, wollte er wissen, als sie bei der Garderobe anstanden, um ihre Jacken zu holen. „Wie gesagt, sonst mache ich mir nichts aus klassischer Musik, aber das hat mir richtig gut gefallen. Besonders He’s a pirate. Da fällt mir ein, Fluch der Karibik könnten wir uns auch mal ansehen.“ „Wie, wenn mich dein Vater nicht in die Wohnung lässt?“ „Nächste Woche muss er für zwei Tage zu einem Hotelierskongress“, sagte Joey und zwinkerte ihm zu. Sie nahmen ihre Jacken vom Garderobenmädchen entgegen, zogen diese über und verließen das Stadion. Draußen schlug ihnen eisige Luft entgegen. Der Nachthimmel war klar, im hellen Licht des Mondes verschwand ein Teil der Sterne. Seto und Joey gingen gemütlichen Schrittes durch die Straßen. Ihr Wagen, oder genauer gesagt Mais Wagen, stand etwas abseits. Obwohl sie früh aufgebrochen waren, hatten sie wegen eines gleichzeitig stattfindenden Balles in Stadionnähe keinen Parkplatz mehr bekommen. „Joey?“ Der Blick des Braunäugigen richtete sich auf Seto. „Danke. Das war heute ein sehr schöner Abend.“ Er blieb stehen und wandte sich zu dem Angesprochenen. „Keine Ursache, Seto.“ „Ich meine mit ‚Danke’ nicht nur den heutigen Abend. Als CEO der Kaiba Corp war ich daran gewöhnt, eine Maske zu tragen. In der Geschäftswelt darf man seine Gefühle nicht offen zeigen, wenn man sich nicht angreifbar machen will. Und wenn man es doch wird ... dann endet das mitunter so wie bei mir.“ Sein Blick richtete sich zu Boden. „Wovon sprichst du?“ „Erinnerst du dich an den Abend, als du mich in der Hintergasse gefunden hast?“ „Natürlich“, nickte der Blonde irritiert. „Du sahst schrecklich aus. Aber du hast mir nie erzählt, wer dir das angetan hat.“ „Es war ... Die Schläger gehörten zu einem ehemaligen Geschäftspartner von mir“, begann Seto, ihm nun wieder fest in die Augen sehend. „Als sein Unternehmen Pleite ging, kaufte ich es zu sehr günstigen Konditionen und gliederte es in die Kaiba Corp ein. Er warf mir später vor, ich hätte ihn in den Ruin getrieben, um mir seine Firma einzuverleiben.“ „Und ... hast du das getan?“ „Nein. An seiner Misere war er ganz allein schuld. Ich habe ihm von ein paar Geschäften abgeraten, die er getätigt hat – und am Ende nur hinter ihm die Scherben aufgekehrt. Aber was ich eben eigentlich sagen wollte ... Bevor wir beide uns getroffen haben, Joey ... Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ehrlich gelacht habe.“ „Dabei steht dir ein Lächeln so gut“, meinte Joey leise und senkte rasch den Blick, als er merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Seto schluckte, hob die Hand und strich sachte über seine Wange. Ruhig erwiderte er den fragenden Blick aus den Topasaugen, beugte sich näher zu Joey und verschloss dessen Lippen mit seinen. Die Schmetterlinge in Joeys Bauch tanzten Tango. Seine Hände legten sich, nach Halt suchend, auf Setos Schultern, während sich ein Arm Setos um seine Taille schlang. Wie aus dem Nichts fegte der Wind heran, einen wütenden Schrei mit sich tragend. Die beiden lösten sich voneinander und sahen sich um. „Hast du auch gerade was gehört?“, sagte Joey. „War sicher nur jemand in der Nachbarschaft.“ Joey war sich dessen nicht so sicher, sagte aber nichts weiter dazu. Er wollte lieber Setos Umarmung genießen. „Sind das da Sternschnuppen?“, fragte dieser und deutete zum Himmel. Joey folgte seinem Blick. „Dann wünsch dir schnell was.“ Sie sahen nicht das sanfte Glitzern, das sich von den Sternschnuppen löste und in ihre Richtung schoss. Sie hörten nicht, wie jemand in der Ferne lachte. Seto fühlte nur, wie ihm etwas ins rechte Auge kam und kniff es leise stöhnend zusammen. „Was hast du?“ „Nichts ...“, er blinzelte mehrmals und versuchte den unbekannten Störenfried durch Wischen aus seinem Auge zu entfernen, wodurch er ihn nur noch tiefer schob. „Ich habe nur was ins Auge bekommen.“ Auf der Rückfahrt probierte er, wenn sie an einer Ampel hielten, jedes Mal, sein Auge davon zu befreien, in der Annahme, dass es sich um eine Wimper oder ein Sandkorn handelte. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Ja, doch.“ Seto klang ungehalten. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße nahe am Hotel und ließ Joey aussteigen. Immer noch blinzelnd, schloss er ab und folgte seinem Freund. „Kommst du nicht mit?“, fragte Joey, als sich Seto dem Hotel zuwandte. „Ich habe Mai versprochen, ihr den Schlüssel in die Küche zu legen.“ „Okay.“ Joey gähnte verhalten. „Entschuldige, ich bin todmüde.“ „Dann geh ins Bett. Schlaf gut.“ Erneut stahl sich die Röte auf das Gesicht des Jüngeren. „Bekomme ... ich einen Gutenachtkuss?“ Seto sah sich um und schüttelte dann zu Joeys Enttäuschung den Kopf. „Wir sind zu nahe am Hotel“, brummte er zur Erklärung. „Ach“, winkte Joey ab. „Mein Vater wird sich damit abfinden müssen.“ Er streckte sich und drückte Seto einen kurzen Kuss auf den Mund. „Schlaf schön, Seto.“ „Du auch.“ Joey drehte sich um und verschwand mit einem seligen Lächeln im Wohnhaus. Nachdem Seto den Schlüssel hinterlegt hatte, begab er sich in sein Zimmer vor den Spiegel und untersuchte sein Auge noch einmal ausführlich, ohne zu entdecken, was ihn die ganze Zeit quälte. In der Nacht wickelte er sich eng in seine Decke ein und doch wurde er das Gefühl nicht los, innerlich zu frieren. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Seto saß in seiner Garderobe auf der Couch, die Beine übereinander geschlagen und eine Tasse Tee in der Hand. Sein Mittagessen, Rinderfilet mit frischen Pilzen, stand noch gänzlich unberührt vor ihm auf dem niedrigen Tisch. Er lehnte sich tief aufseufzend zurück und ließ sich gegen die weiche Lehne sinken. Kaum hatte er die Augen geschlossen, tauchte das Bild seines blonden Filmpartners vor ihm auf und sah ihn sanft lächelnd an. Er wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Genauso wusste er nicht mehr, was er über sich selbst denken sollte. Katsuya – nein, Jonouchi! – war immer eine Nervensäge. Wo er hingeht, verbreitet er Chaos. Er ist die Personifizierung des Chaos. Das genaue Gegenteil all dessen, was ich schätze! Und trotzdem ließ ihn der Kuss, den sie vor der Kamera getauscht hatten, nicht los. Es war verwirrend, auf irgendeine verquere Weise hatte es sich richtig angefühlt. Kurz war in seinem Kopf sogar der Gedanke aufgeflackert, wie es sich anfühlen würde, ihn richtig zu küssen, ohne ein Dutzend Filmleute um sich herumstehen zu haben, ohne dass einer von ihnen es spielte. Warum nur konnte er ihn nicht weiter verachten, wie er es bisher getan hatte? Letzte Nacht hatte er sogar von einem Spaziergang mit Kat ... Jonouchi geträumt. Das musste daran liegen, dass Ryou und Shizuka so viele romantische Szenen in die Geschichte eingebaut hatten. Sein Geist verwechselte im Schlaf schon Realität und Spiel und gaukelte ihm Gefühle vor, die gar nicht da sein konnten. Nicht da sein durften. (2) „Sind alle so weit?“, fragte Ryou nach der Mittagspause. „Äh … Wo ist Mokuba?“ „Den habe ich gerade noch Richtung Toilette laufen sehen“, meinte Rebecca und schob sich das letzte Stück Putenbrustsandwich in den Mund. „Gut, dann warten wir noch kurz.“ Die Minuten verstrichen, erst fünf, dann zehn. Ryou wurde ungeduldig und schickte Noah, um nach ihm zu sehen. Als er die Herrentoilette betrat, hörte er Würgegeräusche. „Mokuba, bist du das?“ „Noah?“, kam es kläglich aus der ganz rechts liegenden Kabine. „Mir ist so schlecht …“ „Hast du was Falsches gegessen? Mach doch bitte die Tür auf.“ Ein Klicken ertönte, das rote Besetzt-Zeichen wurde weiß. Mokuba stieß die Tür auf und wandte sich wieder der Toilettenschüssel zu. Dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Aus der Kabine strömte ein scharfer, beißender Geruch. Noah zog die Nase kraus, kippte das Toilettenfenster und näherte sich Mokuba. „Wie ist das passiert?“, fragte er noch einmal. Er zog den Schwarzhaarigen behutsam auf die Beine, reichte ihm ein paar Blatt Toilettenpapier, um sich den Mund abzuwischen und betätigte die Spülung. Mokuba zitterten die Knie, er musste sich auf ihn stützen, damit er das Waschbecken erreichte. Mehrmals spülte er sich den Mund mit kaltem Wasser aus, ehe er zu sprechen begann. „Zu viele ... Kekse“, sagte er leise. „Tse“, schüttelte Noah den Kopf. „Ich hab dich gewarnt, so viel zu essen. Lass uns kurz ins Studio gehen und Ryou Bescheid sagen, dann besorge ich dir Kamillentee und bringe dich in unseren Aufenthaltsraum.“ „Nein, es geht schon. Nur Kamillentee und was zu knabbern.“ Noah kicherte leise. „Du bist genauso ein Sturkopf wie dein Bruder, Mokuba.“ Im Studio nahmen sich Anzu und Shizuka seiner an und versorgten ihn mit Tee und Zwieback. Katsuya setzte sich neben ihn und legte den Arm um ihn. „Warum hast du das gemacht, Mokuba? Du weißt doch, dass dir schlecht wird, wenn du zu viele Schokokekse isst.“ „... Wegen Seto.“ „Hat er dich etwa geärgert?“, fragte Katsuya ungläubig. Nein, unmöglich. „Sonst darf ich immer seinen Bruder spielen. Warum diesmal nicht?“, murrte der Kleine. „Also hast du aus Frust so lange gefuttert, bis dir schlecht geworden ist“, schlussfolgerte er. „Ach, Mokuba, wir haben dir doch erklärt, warum Ryou und Shizuka dich nicht in die Geschichte geschrieben haben. Würde Kaiba sein Vermögen verlieren, wäre das Jugendamt ganz schnell da, um ihm das Sorgerecht für dich zu entziehen und dich in einem Heim oder bei Pflegeeltern unterzubringen. Wärst du damit glücklicher?“ „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht“, gestand Mokuba verschämt und trank von seinem Kamillentee. „Entschuldigt, dass ich euch jetzt so viele Umstände bereite.“ „Hauptsache, dir geht es besser“, sagte Katsuya und verwuschelte ihm die Frisur. „Können wir dann weiter drehen?“, erkundigte sich Rebecca. „Ich habe heute noch ein Fotoshooting.“ Katsuya knuddelte Mokuba noch einmal und überließ dann wieder Anzu und ihrem Märchenbuch das Feld. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ In den ersten Tagen waren die Veränderungen, die mit Seto vonstatten gingen, so minimal, dass niemand, nicht einmal er selbst, etwas bemerkte. Zwar war ihm öfter kalt und für die Nacht legte er sich eine Wolldecke auf sein Bett, aber das schob er auf eine herannahende Erkältung. Die seltenen Momente, in denen sie ungestört waren, nutzten Seto und Joey zum Kuscheln. Der Blondschopf hatte erfreut festgestellt, dass sein Eisdrache ziemlich kuschelbedürftig war, hatte man seinen Panzer erst einmal durchbrochen. Eines Abends, sein Vater war schon ins Bett gegangen (oder eher gefallen, nachdem er allein eine Flasche Rotwein geleert hatte), entschloss sich Joey, Seto noch einen spätabendlichen Besuch abzustatten. Er trat in den verschneiten Hof hinaus und sah zu den Fenstern des Angestelltentraktes hoch. Zu seiner Verwunderung stand der Brünette am offenen Fenster und sah nach draußen. „Hey, Seto, was machst du da? Es ist eiskalt.“ „Den Schnee beobachten“, antwortete er, ohne den Blick von den Flocken auf seinem Fensterbrett abzuwenden. Joey seufzte und schüttelte leicht amüsiert das Haupt. Manchmal hatte sein Freund schon seltsame Marotten. Er stieg die Treppen hoch, ging in Setos Zimmer und legte von hinten die Arme um ihn. „Mach das Fenster zu“, bat er ihn. „Du bist schon ganz ausgekühlt.“ „Ich möchte den Schnee beobachten.“ „Das kannst du auch bei geschlossenen Fenstern.“ „Aber nicht so gut“, widersprach Seto. „Hast du dir so eine Schneeflocke schon mal aus der Nähe angesehen? Jede von ihnen ist einzig-artig und jede so ... perfekt.“ In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. „Ist alles mit dir in Ordnung?“ „Mir geht es bestens“, sagte der Brünette. „Sei bitte trotzdem so lieb und mach zu.“ Joeys Lippen berührten seinen Nacken. „Ich möchte nicht, dass du morgen mit Grippe im Bett liegst.“ Seto versprach es ihm. Trotzdem saß er am folgenden Abend wieder am Fenster und sah den Schneeflocken zu, wie sie zu Boden schwebten. Die Eiskristalle übten eine seltsame Faszination auf ihn aus, die er sich nicht erklären konnte. Er begann sie mit Blumen zu vergleichen und meinte schließlich, keine der Blumen, die im Garten der Wheelers wuchsen, komme an die Schönheit einer Eisblume heran. „Was redest du da?“ Als Rosenliebhaber fühlte sich Joey verletzt. „Perfektes Aussehen ist nicht alles. Sie vergehen viel schneller als echte Blumen.“ „Stimmt ...“, murmelte Seto mehr für sich selbst. „Es müsste ewig Winter sein.“ „Das ist nicht dein Ernst.“ „War nur ein Scherz“, lenkte er rasch ein, als er Joeys bestürztes Gesicht sah. Ob Scherz oder nicht, der Winter schien entschieden zu haben, Seto seinen Wunsch zu erfüllen. Am 20. Januar schneite es den ganzen Tag und die Sonne, die nur wenige schmale Lücken in den Wolken nutzen konnte, um sich überhaupt zu zeigen, tauchte Domino in ein diffuses Zwielicht. Drei Tage später, während denen fast ununterbrochen Schnee gefallen war, gesellte sich ein eisiger Wind aus Nordosten dazu, der sich bis zum Abend in einen ausgewachsenen Schneesturm verwandelte. Am nächsten Morgen wurde in der Frühnachrichtensendung des städtischen Radios gemeldet, dass der Flughafen von Domino aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse geschlossen werde, Dutzende Flüge mussten abgesagt werden. Ähnlich problematisch sah es bei den Zügen aus, die Schienen waren stellenweise komplett vereist. Busse und Autos kamen selbst mit Schneeketten nur noch schlecht vorwärts. Immer mehr brachte das Wetter den Verkehr zum Erliegen und leerte die Innenstadt. Wer die Möglichkeit hatte, blieb zu Hause in der warmen Stube. Joey betrachtete das Wetter mit gemischten Gefühlen. Er freute sich natürlich, dass sich ihm so die Gelegenheit bot, seinen Geburtstag richtig feiern zu können, ohne zur Schule zu müssen, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass der Schnee nichts Gutes mit sich brachte. Als er Mai darauf ansprach, meinte sie, dass er auf jeden Fall damit Recht habe, was die Gästezahlen anging. Im Schwarzen Rotauge war dieser Tage kaum etwas los, die meisten Gäste waren abgereist, als die ersten Sturmwarnungen herausgegeben worden waren. Am 25. Januar wachte Joey, obwohl er seinen Wecker heute extra ausgeschaltet hatte, schon früh am Morgen auf und konnte beim besten Willen nicht mehr einschlafen. Seit Tagen kreisten seine Gedanken (neben dem Wetter) auch immer wieder darum, was ihm Seto zum Geburtstag schenken würde. Er tat schon die ganze Zeit so geheimnisvoll, weigerte sich zu Joeys steigender Verzweiflung jedoch, ihm wenigstens einen kleinen Hinweis zukommen zu lassen, um was es sich handelte. Jetzt ärgerte er sich umso mehr, auf den Vorschlag seines Vaters eingegangen zu sein, seine Geschenke erst am Abend bei der großen Party zu bekommen, die Jonathan und Mai für ihn geplant hatten. Die beiden hatten darauf bestanden, seinen Neunzehnten gebührend zu feiern, wenn schon die Feier seines Achtzehnten wegen der damals noch herrschenden Trauer um Mutter und Schwester ausgefallen war. Da Seto arbeiten musste (Jonathan fand selbst in dieser Flaute noch Aufgaben, mit denen er ihn zumindest für eine Weile von seinem Sohn fernhalten konnte), vertrieben sich Joey und Ryou die Zeit mit Kartenspielen. Kurz vor dem Mittagessen klarte es zum ersten Mal seit Tagen etwas auf, was sie gleich für eine Schneeballschlacht ausnutzten, von der sie eine halbe Stunde später nass und durchgefroren ins Haus zurückkehrten und sich in warme Decken gehüllt vor den Kamin setzten. Mai lachte lediglich amüsiert und machte ihnen eine große Kanne Kräutertee, um sie von innen wieder aufzuwärmen. „Wenn es so bleibt, können wir vielleicht noch zum Schlittschuhlaufen“, überlegte Joey und streckte die Hände näher an das Feuer, um sie zu wärmen. „Ich weiß nicht“, erwiderte Ryou bedächtig. „Mir erscheint es eher wie die Ruhe vor dem Sturm.“ (3) Wie Recht er damit behalten sollte, zeigte sich keine zwei Stunden später. Riesige, dunkle Wolken brauten sich über der Stadt zusammen und verfinsterten den Himmel, dass sie die Lampen anschalten mussten, um überhaupt etwas zu sehen. Hatten sie das Wetter der letzten Tage für schlimm erachtet, war dies nichts im Vergleich zu dem Unwetter, das nun über sie hinwegfegte. Der Sturm drückte Schnee und Hagel gegen die Fenster, dass die Gefahr bestand, er könnte sie damit zerschmettern. Kurz nachdem es drei Uhr geschlagen hatte, fuhr auf der Straße vor dem Hotel ein Pferdeschlitten vor, dem ein Mann, gekleidet in einen langen, silberweißen und mit hellblauen Perlen bestickten Mantel mit passender Pelzkappe, entstieg. Für die heutige Zeit ein sicher seltsam anmutendes Fortbewegungsmittel, in Anbetracht der Witterung jedoch eines der wenigen, mit denen man überhaupt vorwärts kam. Er ging gemessenen Schrittes auf das Hotel zu, als würde ihn der Sturm, der an seinem Mantel zog, überhaupt nicht stören. In der Eingangshalle wischte er sich mit einer lässigen Handbewegung den Schnee von Schultern und Kappe und betätigte die Messingglocke am Empfangstresen. Der Portier, der sich im Hinterzimmer einen Kaffee gegönnt hatte, fuhr von seinem Stuhl auf und eilte hinaus. „Guten Tag, werter Herr, ich heiße Sie herzlich im Schwarzen Rotauge willkommen“, sagte er, seine Überraschung über den unangemeldeten Gast mit einer tiefen Verbeugung verbergend. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ „Ich möchte ein Zimmer“, sagte der Fremde und blickte sich aufmerksam in der Halle um. „Selbstverständlich. Wünschen Sie ein bestimmtes? Wie lange möchten Sie bleiben?“ „Ich bleibe nur für eine Nacht.“ Der Portier rief die Zimmerbelegungsliste auf seinem Computer auf. „Dann habe ich für Sie eine sehr schöne Suite im ersten Stock. Wie ist bitte Ihr Name?“ „Maximillian Pegasus“, sagte dieser und legte einen Pass auf den Tresen. Der Portier übernahm aus diesem die Daten, speicherte ab und legte Pegasus ein in schwarzes Leder gebundenes Buch und einen Füller vor. „Würden Sie sich bitte in unser Gästebuch eintragen? Es ist eine alte Tradition unseres Hauses.“ Der Silberhaarige kam der Bitte des Mannes mit einem Lächeln nach und war gerade dabei, seinen Namen an die angezeigte Stelle zu setzen, als Jonathan aus seinem Büro kam. „Oh, ein neuer Gast. Willkommen, ich bin der Besitzer des Hotels, Jonathan Wheeler“, sagte er und schüttelte ihm die Hand. „Sie haben ein schönes Hotel.“ Pegasus sah sich um. „Ich bin sicher, hier werde ich mich wohl fühlen.“ „Vielen Dank. Entschuldigen Sie die Frage, aber ... Wie haben Sie es bei diesem Wetter geschafft, zu reisen? Der Flughafen ist gesperrt, wegen dieses fürchterlichen Sturms, Sie verstehen.“ „Ich verspreche Ihnen, dass der Sturm morgen aufhören wird“, sagte Pegasus. „Und was meine Reise anbelangt ... Mein Schlitten steht draußen. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie sich um meine Pferde kümmern würden.“ „Ähm ... selbstverständlich“, sagte Jonathan irritiert. „Haben Sie Gepäck?“ „Nur das hier“, erwiderte er und zeigte auf einen kleinen Koffer, den er neben sich abgestellt hatte. „Kaiba!“, wandte der Portier den Kopf zum Hinterzimmer, aus dem Seto kam. „Bring das Gepäck unseres neuen Gastes auf Zimmer 108.“ Er nahm den entsprechenden Zimmerschlüssel aus einem Schrank hinter dem Empfangstresen und reichte ihn Pegasus. „Einen angenehmen Aufenthalt in unserem Haus, Herr Pegasus.“ „Oh, den werde ich ganz gewiss haben“, meinte er und spazierte, den Schlüssel am Finger kreisend, zum Aufzug. Seto ächzte leise, als er den Koffer anhob. Er war lange nicht so leicht, wie er aussah. Was hat der eingepackt, Ziegelsteine? Er folgte Pegasus, betrat hinter ihm den Aufzug und drückte den Knopf für das erste Obergeschoss. Mit einem leisen Rattern schloss sich die Tür und der Lift setzte sich in Bewegung. Während der kurzen Fahrt musterte Seto den Mann neben sich unauffällig. Er war selbst groß, aber Pegasus überragte ihn noch etwas. Silbergraues Haar umrahmte ein attraktives Gesicht mit Augen in der Farbe von Bernstein, die belustigt zu ihm herüberblitzten. Rasch richtete sich Setos Blick wieder auf die Tür, die Sekunden darauf auf glitt und sie auf den Flur entließ. „Bitte hier entlang“, sagte er nach einem kurzen Räuspern und übernahm, wie er es inzwischen bei Gästen, die zum ersten Mal im Hotel eincheckten, gewohnt war, die Führung. Pegasus schloss mit wenigen Schritten zu ihm auf. „Arbeitest du schon lange hier?“, erkundigte er sich höflich. „Seit Anfang Mai.“ „Und macht dir die Arbeit Spaß?“ „Kann ... man so sagen.“ Seto blieb vor Zimmer Nummer 108 stehen, schloss auf und trat beiseite. „Ihr Zimmer, Sir.“ Pegasus schritt an ihm vorbei und sah sich aufmerksam in den Räumlichkeiten um. Über einen kleinen Vorflur gelangte man in den mit einer Sitzgarnitur und Fernseher ausgestatteten Wohnraum, von dem eine Tür zum Bad, eine weitere ins Schlafzimmer führte. Er ließ sich auf dem breiten Doppelbett nieder und strich über die rote Überdecke. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“ „Was ich bisher gesehen habe, gefällt mir sehr gut“, sagte Pegasus. Er sah auf und lächelte Seto an. „Stell den Koffer da hin.“ Er deutete auf einen kleinen Tisch und einen Sessel am Fenster. Seto setzte das Gepäck an der angegebenen Stelle ab, erleichtert, von dem schweren Koffer befreit zu sein. „Haben Sie noch einen Wunsch?“ „Magst du dich nicht eine Weile zu mir setzen?“ Pegasus klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Ich muss an die Arbeit zurück, Sir“, entschuldigte sich der Brünette. „Ach komm, die fünf Minuten wirst du doch haben. Du hast mich nach meinen Wünschen gefragt und mein Wunsch ist, dass du mir etwas Gesellschaft leistest.“ Der intensive Blick, mit dem er ihn dabei bedachte, sagte eindeutig, dass er nicht zu den Männern gehörte, die Widerspruch ohne weiteres zuließen. Seto nahm am anderen Ende des Bettes Platz. „Nein, nein.“ Pegasus wackelte mit dem Zeigefinger in der Luft, als schimpfe er ein kleines Kind aus und winkte ihn dann zu sich. „Hierher.“ Sein Gegenüber stieß einen leisen Seufzer aus und rutschte näher zu ihm, bis sie direkt nebeneinander saßen. „Schon besser. Ist Kaiba dein Vorname?“ „Mein Nachname, ich heiße Seto Kaiba.“ „Du gefällst mir“, sagte Pegasus und beugte sich näher zu ihm. Seto schluckte. Irgendwie jagte ihm dieser Mann einen kalten Schauer über den Rücken und gleichzeitig schaffte er es nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Auf eine seltsame Art und Weise war er von ihm fasziniert. Er zuckte zusammen, als er eine Hand über seine streichen fühlte. „Entschuldigen Sie“, er wunderte sich über seine belegte Stimme, „das Zimmer war einige Tage nicht belegt und ist durch das Wetter etwas ausgekühlt. Ich mache Ihnen die Heizung an.“ Als er Anstalten machte, sich zu erheben, hielt Pegasus ihn zurück. „Das ist nicht nötig. Mir ist nicht kalt. Oder sehe ich für dich aus, als würde ich frieren?“ Bernsteinfarbene Augen versenkten sich in blaue. Stumm schüttelte Seto den Kopf. Bedächtig, um ihn nicht zu verschrecken, hob der andere die Hand und strich ihm über die Wange. Ein weiterer Schauer durchlief ihn, Pegasus’ Finger waren kalt wie Schnee. „Du hast sehr schöne Augen. Ein außergewöhnlicher Farbton.“ Er umfasste das Kinn Setos, der langsam nicht mehr wusste, was er von dieser ganzen Dreistigkeit halten sollte. Er sollte aufstehen, ihm sagen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung sei ... aber er konnte nicht. Über seine Lippen kam lediglich ein leises Keuchen, als sich Pegasus noch etwas weiter vorbeugte, bis dessen Kopf auf gleicher Höhe mit seinem war und er heißen Atem an seinem Ohr spürte. „Ich bleibe nur für eine Nacht hier. Komm heute Abend zu mir.“ Vollkommen verdattert bemerkte Seto, wie ihm ein Geldschein in die Hand gedrückt wurde. So etwas war ihm während seiner ganzen Arbeitszeit hier noch nie passiert. Nun wurde es ihm aber doch zu viel. „Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie missverstehen da etwas“, sagte er und stand auf. „So etwas gehört nicht zu meinen Aufgaben. Mit Ihrer Erlaubnis begebe ich mich jetzt wieder an meine Arbeit.“ Pegasus hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte dich damit keinesfalls beleidigen. Überleg es dir, mein Angebot steht bis zu meiner Abreise.“ Immer noch nachdenklich kam Seto in die Eingangshalle zurück, wo ihn Joey mit einem vorwurfsvollen Blick erwartete. „Wo warst du so lange? Ich dachte, du wolltest uns beim Vorbereiten des Saales helfen.“ „Eben ist ein neuer Gast angekommen, den ich auf sein Zimmer bringen musste.“ „Sonst geht das doch immer so schnell bei dir.“ „Bei manchen dauert es nun mal etwas länger“, gab Seto schnippisch zurück. Er hatte jetzt keine Lust, mit Joey über seine Arbeitsmethoden zu diskutieren. „Okay, war ja nur ’ne Frage. Aber zur Feier heute Abend kommst du – oder hast du was anderes vor?“ „Ich komme ganz sicher, versprochen. Das lasse ich mir doch nicht freiwillig entgehen.“ Joey lächelte zufrieden, warf schnell einen Blick um sich und küsste ihn. „Gut. Wenn du nämlich nicht kommst, werde ich sehr böse auf dich werden.“ Kapitel 7: Eiskalte Küsse ------------------------- Allen, die näher am Wasser gebaut sind, empfehle ich für dieses Kapitel, sich Taschentücher vorsichtshalber bereitzulegen. (1) http://www.youtube.com/watch?v=hGp-YOYKJfs&feature=related Illuminati – Black Smoke (2) http://www.youtube.com/watch?v=T-86sKUPXYk&feature=related Yiruma – Moonlight (3) http://www.youtube.com/watch?v=_bM19ZpI8VE Memoires of a Geisha – Sayuri’s Theme Kapitel 7 Eiskalte Küsse An diesem Tag war nur am Fortschreiten der Uhrzeiger abzulesen, wie der Nachmittag in den Abend überging. Es hatte aufgehört zu schneien, nur der Sturm tobte noch mit unverminderter Kraft, hielt Joeys zahlreiche Gäste jedoch nicht davon ab, zu seiner Party zu kommen. In dem ihm eigenen Elan hatte er seine komplette Klasse sowie Bekannte, Freunde und Verwandte aus der ganzen Stadt und den umliegenden Ortschaften eingeladen. Das Geburtstagskind, sein Vater und Mai hatten sich bei der Dekoration des Festsaals wieder einmal selbst übertroffen, indem sie ihn zu einer Disko umgewandelt hatten. In einer Ecke war das große kalt-warme Büffet aufgebaut, das Mai mit ihren Kollegen vorbereitet hatte, die Bar war mit einem Barkeeper, der Cocktails mixte, und mehreren Kellnern besetzt, an der Frontseite hatte der DJ seinen Platz gefunden. Scheinwerfer und eine große Diskokugel tauchten den Saal abwechselnd in bunte Farben. An der Decke und den Wänden verteilten sich Girlanden und Luftballons und über dem Tisch für die Geschenke hing ein Plakat mit „Happy Birthday, Joey!“ als Aufschrift. Ein glückliches Lächeln zur Schau tragend, wanderte besagter Blondschopf durch den Saal und begrüßte seine eintreffenden Gäste, zwischen denen die Kellner herumliefen und Sektgläser verteilten. Dabei sah er sich immer wieder nach Seto um, ohne seinen Freund zu entdecken. Er hat versprochen, dass er kommt, beruhigte er sich. Also wird er auch kommen. „Alles Liebe zum Geburtstag, Joey“, wurden seine Gedanken von einem Jungen und seiner Freundin durchbrochen, die auf ihn zu kamen und ihn umarmten. „Hey, Yamato, Kairi, wie schön, dass ihr kommen konntet“, begrüßte er seine beiden Klassenkameraden. „Ist doch Ehrensache“, sagte Yamato. „Wo sollen wir dein Geschenk hinlegen?“ „Da rüber auf den Tisch, zu den anderen“, konnte Joey gerade noch sagen, bevor ihn ein paar Freunde aus dem Fußballclub der Schule in Beschlag nahmen, um ebenfalls ihre Glückwünsche loszuwerden. Mr. Wheeler nahm von dem eigens für heute engagierten DJ das Mikrofon entgegen, klopfte kurz dagegen, um zu sehen, ob es funktionierte, und ließ von dem Mann, der nur wenige Jahre älter als Joey war, einen Tusch spielen. Es wurde ruhig im Saal. „Liebe Gäste, wir sind heute hier, um den Geburtstag meines Sohnes Joey zu feiern. Wo bist du denn, Joey?“ Er sah sich um und entdeckte ihn neben Ryou. „Ah, da! Komm mal her zu mir“, winkte er ihm. Er löste sich aus der Menge und trat neben seinen Vater in das Scheinwerferlicht, das auf ihn gerichtet war. „Du wirst heute neunzehn und –“ Zu Jonathans Überraschung schnappte ihm Joey das Mikrofon aus der Hand. „Und darum wollen wir unsere Zeit heute auch nicht mit langatmigen Reden verschwenden“, sagte er und strahlte in die Runde. „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid, trotz des miesen Wetters draußen, und hoffe, dass wir heute einen schönen Abend zusammen haben!“ (1) Das in hübsches rotes Papier geschlagene Geschenk und eine rote Rose in der Hand, begab sich Seto, nachdem er sich für die Party umgezogen hatte, hinüber ins Hotel. Er freute sich seit Wochen auf das Gesicht, das Joey beim Auspacken machen würde. Sein Blick glitt mit leichter Besorgnis auf die Uhr an seinem Handgelenk, er war spät dran. Die Natur hatte unversehens noch ihr Recht gefordert und ihn über zehn Minuten auf der Toilette festgesetzt. Zudem dauerte der Weg über den Küchen- und Angestelltenbereich des Hotels, den er gewählt hatte, länger, als wenn er vorne herum und durch den Haupteingang gegangen wäre, setzte ihn im Gegenzug aber nur kurz den Elementen aus. Seine Schritte wurden schneller, als er die Eingangshalle erreichte und aus dem Saal Händeklatschen hörte. Joey musste schon mitten in seiner Eröffnungsrede sein. Pling! Pling! Ein heller, hoher Ton schwang durch die Luft und ließ ihn aufhorchen. Erst dachte er, es sei jemand an der Rezeption, doch als er sich dieser zuwandte, stand dort niemand. Verwirrt setzte er seinen Weg fort, um das Geräusch nur Sekunden später erneut zu hören. Er sah sich suchend um, bis sein Blick am Fenster hängen blieb. Durch die Scheibe sah er den neuen Gast, Maximillian Pegasus, neben einem Pferdeschlitten stehen und ihm zuwinken. Seto wunderte sich, was er bei diesem Wetter draußen zu suchen hatte; nur um darüber nachzudenken, fehlte ihm die Zeit. Er hob die Hand und erwiderte kurz den Gruß. Als er sich wieder dem Festsaal zuwenden wollte, zuckte er heftig zusammen, sein rechtes Auge schmerzte, fast als würde jemand mit einer Nadel hinein stechen. Mit einer Nadel, die aus Eis war. Komm zu mir, hallte eine Stimme in seinem Kopf wider. Konnte er sie im ersten Moment nicht richtig einordnen, wurde ihm bei einem zweiten Blick nach draußen klar, dass es Pegasus gewesen sein musste. Dieser blickte ihn mit einem ruhigen und zugleich unheimlichen Lächeln an und bedeutete ihm, hinauszukommen. Sträub dich nicht dagegen, Seto. Es bringt nichts. Starr, sich das rechte Auge mit der Hand zuhaltend, stand Seto da, rührte sich nicht von der Stelle. Erschüttert erkannte er, wie in ihm zwei Stimmen darum kämpften, gehört zu werden. Die eine riet ihm, sich endlich abzuwenden und zu Joey zu gehen. Es war schlichtweg unhöflich, ihn an seinem Geburtstag so lange warten zu lassen. Die andere Stimme hingegen rief ihm zu, Pegasus’ Einladung zu folgen, er würde es nicht bereuen. Was ist mit mir los? Was passiert mit mir?, dachte er, innerlich wie äußerlich bebend. Nicht fähig, die Augen von Pegasus loszureißen, stolperte er rückwärts, musste sich zwingen, die Füße zu bewegen. Seine Beine fühlten sich weich an, es fiel ihm schwer, überhaupt die Kontrolle über sie zu behalten, nicht dem Drängen der anderen Stimme nachzugeben, die ihn rief. Er stieß mit dem Rücken gegen etwas festes, erkannte den Empfangstresen und legte Joeys Geschenk darauf ab. Mit beiden Händen klammerte er sich an das Holz, tastete fahrig über die Arbeitsfläche, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Seine sonst so akkurate Handschrift wurde ungewohnt krakelig, er musste den Stift mehrmals ansetzen, um die wenigen Worte aufs Papier zu bringen. Tief durchatmend legte er den Zettel auf das Päckchen und schob die Rose für Joey vorsichtig in die Innentasche seines Jacketts. Als er sich wieder der Fensterfront zuwandte, war sein Blick um einige Grad abgekühlt, beinahe fähig, mit den derzeitigen Temperaturen in Konkurrenz zu treten. Er wollte zu Joey, ja, aber er musste erst herausfinden, was dieser Pegasus mit ihm trieb. Er marschierte um den Empfangstresen herum, holte aus dem Hinterzimmer den schwarzen Mantel mit dem Klappkragen und den blauen Schal, den er trug, wenn er sich während des Dienstes länger draußen aufhielt, schlüpfte in diesen und durchquerte mit großen Schritten die Eingangshalle. In ihm begann Wut aufzusteigen. Was bildete sich dieser Kerl ein? Und wer war er überhaupt? Sobald er durch die Tür ins Freie trat, zerzauste ihm der Wind die Haare. „Wie schön, dich zu sehen, Seto“, sagte Pegasus“, dessen Lächeln sich noch verbreiterte. „Was wollen Sie von mir?“, knirschte Seto durch zusammengebissene Zähne. „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich kein Interesse an Ihnen habe.“ „Bist du dir dessen so sicher, junger Kaiba?“ Pegasus’ Blick richtete sich geradewegs auf ihn, durchdrang ihn bis in sein Innerstes und ließ ein Gefühl von Taubheit zurück. Setos Gesichtszüge glätteten sich. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, nur Pegasus stand noch klar und deutlich vor ihm. Dieser zuckte mit den Schultern. „Na schön, Seto. Ich werde dich in Ruhe lassen ... aber vorher drehst du mit mir eine Runde. Nimm dir den Schlitten, der da steht“, er zeigte auf einen hölzernen Rodelschlitten, mit dem Seto und Joey am Vortag gefahren waren (den Einwand des Brünetten, das sei kindisch, hatte Joey nicht gelten lassen), „und häng ihn an meinen dran.“ Wie von selbst folgte Seto der Anweisung, holte den Schlitten und befestigte ihn mit der Schnur, an der er ihn hinter sich hergezogen hatte, hinten am Pferdeschlitten. Dessen Besitzer lachte leise, schwang sich hinein und nahm die Zügel zur Hand. Sobald Seto saß, schnalzte er mit der Zunge und die Pferde setzten sich in Bewegung. Sie fuhren die Straße entlang und um den Platz, auf dem jede Woche der Markt stattfand. „Das genügt“, sagte Seto, darum kämpfend, wieder die völlige Macht über sich zu erlangen. Die silbernen Schlittenglöckchen klingelten im Takt der sanft schaukelnden Bewegungen der beiden Schlitten und wurden lauter, als die Pferde im Tempo anzogen. „Halt! Sie sagten, nur eine Runde!“ Seto packte den Rodelschlitten mit beiden Händen, um nicht zu fallen. Es ging in eine Kurve, fort vom Marktplatz, durch die verwaisten Straßen. In den Wind mischten sich das Klingeln der Glocken und Wolfsgeheul. Das Licht im Festsaal ging aus und ließ die Gäste im Dunkeln zurück, die sich an die Seite drängten und einen Gang bildeten. Mai betrat mit einer großen Schokoladentorte, auf der neunzehn Kerzen brannten, den Raum. Überall hoben Stimmen an und vereinten sich zu einem Chor, der „Happy Birthday“ sang. Joey sah sich gerührt, doch allmählich auch besorgt um. Alle seine Freunde waren hier, nur der, mit dem er unbedingt feiern wollte, fehlte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Seto das grundlos tat oder ihn ärgern wollte. Mai blieb vor ihm stehen und hielt ihm den Kuchen hin, damit er die Kerzen ausblasen konnte. „Alles Liebe zum Geburtstag, Kleiner“, sagte sie. „So klein bin ich nun auch nicht mehr, Mai.“ Er beugte sich grinsend vor, holte tief Luft und blies. Die Flammen flackerten kurz und erloschen. Die darauf folgende erneute Dunkelheit währte nur Sekunden, noch während die Lichter nach und nach wieder angeschaltet wurden, brachen die Gäste in Applaus aus. Das plötz-liche Geräusch heulender Wölfe ließ Joey hochschrecken. Seto!, war sein erster Gedanke. „Entschuldigt mich kurz“, sagte er. „Aber dein Kuchen –“ „Später!“, würgte er Mai ab und bevor ihn jemand hindern konnte, war er aus dem Saal gestürmt. Sein Blick flog durch die Eingangshalle, erhaschte das Paket auf dem Empfangstresen, zu dem er eilte. Bestürzung trat in seinen Blick. Auf dem Zettel, der oben auf dem Geschenk lag, standen nur drei Worte: Hilf mir! Seto. Die Eingangstür stand offen, der Wind wehte Schnee und den Klang von Glocken herein. In Joeys Ohren klang es unheimlich, klirrend und kalt wie Glas oder Kristall. Er hastete nach draußen, sah die Schlittenspuren und bemerkte, dass sein eigener Schlitten fehlte. „Ich verlange, dass Sie sofort anhalten!“ Diese Stimme hätte Joey unter Tausenden erkannt. Er rannte los, den Spuren folgend, die sich in den Schnee gegraben hatten. Am Ende der Straße sah er einen Schlitten abbiegen. Schneller und schneller wurde der Schlitten, legte sich in die Kurven, dass Seto sich sorgte, das Seil, mit dem er am großen Schlitten hing, könnte reißen und er durch seinen eigenen Schwung gegen die nächste Hausmauer geschleudert werden. Andererseits ... Pegasus sah nicht aus, als würde er bald anhalten. Da nahm er lieber ein paar gebrochene Rippen in Kauf, statt sich entführen zu lassen. Er griff nach dem Seil, versuchte den Knoten zu lösen, vergeblich, er saß viel zu fest. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Seto richtige Angst. Die Häuser wurden weniger, dann waren sie aus der Stadt heraus und auf dem Weg zu der Brücke, die über den Fluss führte. Ein Stück von dieser entfernt, am anderen Ufer, begann das Industriegebiet. Die rauchenden Schornsteine der Fabriken hoben sich gegen den Nachthimmel ab. Sie passierten die Brückenpfeiler. Noch einmal griff Seto nach dem Seil, fingerte an dem Knoten herum und verfluchte den Moment, da er Pegasus’ Wunsch nachgegeben hatte. Der Rodelschlitten glitt über einen Schneebuckel, begann zu schlingern. Seto verlagerte sein Gewicht, bemüht, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen, geriet stattdessen jedoch noch weiter in Schieflage. Mit einem Schrei fiel er herunter und landete auf der festgefahrenen Schneeschicht. Der andere Schlitten hielt, Pegasus stieg aus, seinen Mantel elegant hinter sich werfend. Die blassblauen Perlen, mit denen er bestickt war, glitzerten im Licht der Laternen, von welchen die Brücke erleuchtet wurde. Kopfschüttelnd beugte er sich zu Seto herunter. „Du solltest vorsichtiger sein.“ „Was willst du von mir?“, fragte er und hob den Blick. Ihn fröstelte, dem warmen Mantel, den er sich angezogen hatte, zum Trotz. Der Wind war kalt, so wie der Boden, auf dem er lag. „Du zitterst. Ist dir so kalt?“ Pegasus legte die Arme um ihn und zog ihn ein Stück hoch, näher zu sich heran. „Du bist kalt wie Eis“, murmelte Seto, der sich in seiner Umarmung wie in einem Tiefkühlfach fühlte. „Sag mir endlich, wer du bist.“ „Dein Schicksal, Seto Kaiba.“ „Ich glaube nicht an so etwas wie Schicksal.“ „Ich weiß, ich weiß. Du solltest es aber.“ Kalte Finger fuhren seinen Hals entlang, verweilten dort kurz, um sich dann seiner Wange zuzuwenden. „Komm mit mir, Seto.“ „Ich kann ... nicht.“ „Was hält dich hier? Dieser Junge? Sieh mich an.“ Er drehte Setos Gesicht zu sich, beobachtete die blauen Augen, die auf ihn gerichtet waren. „Ich kann dir die ganze Welt bieten ... und noch viel mehr.“ Er wartete seine Antwort nicht mehr ab. Sanft und doch bestimmend legten sich seine Lippen auf die Setos. In diesem stieg das Gefühl auf, als fließe Eiswasser seine Kehle hinab, Eis, das sich über seinen ganzen Körper ausbreitete, durch seine Adern strömte, bis in jede Zelle, bis es sein Herz erreichte. Im gleichen Moment war es vorbei. Er wusste nicht, was genau Pegasus mit ihm gemacht hatte, nur eines spürte er deutlich. Die Kälte war vollständig aus ihm gewichen. Selbst der Wind hatte seine scharfe Note verloren und kam ihm nur noch wie ein laues Lüftchen vor. Seto nahm die ihm entgegen gestreckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Mit dem Kopf Richtung Pferdeschlitten deutend, bat Pegasus ihn einzusteigen. Während sich Seto gegen die Sitzlehne sinken ließ, löste sein Begleiter den kleinen Rodelschlitten mit wenigen Handgriffen und gab ihm einen Stoß mit dem Fuß. Er schlitterte über den Schnee, immer schneller werdend, bis er an einer von Flatterband abgesperrten Stelle, wo das Geländer kaputt war, über den Rand der Brücke glitt und in die Tiefe stürzte. Pegasus wandte sich mit sehr zufriedener Miene wieder dem Schlitten zu und setzte sich neben Seto, der sich schläfrig gegen die Pelze drückte, mit denen der Schlitten ausgelegt war. Auf einen leichten Schlag mit den Zügeln trabten die Pferde wieder an. Nur ganz am Rande registrierte Seto noch, wie sich die Kufen vom Boden lösten und der Schlitten mit seinen Insassen in den Himmel aufstieg. Joey keuchte schwer. Er war ein guter Läufer, aber einem Schlitten quer durch die Stadt zu folgen ... das war keine einfache Aufgabe. Wenn er ihn jedoch verlor, würde er Seto nie wiedersehen, das spürte er ganz deutlich. Seine Beine fühlten sich schwer wie Blei an und doch lief er weiter, den Blick zu Boden gerichtet und immer den schmalen Schlittenspuren nach. Außer Atem erreichte er das Flussufer und, nicht weit von ihm entfernt, die Brücke, auf der ein großer Schlitten hielt. Er erblickte zwei Männer, einer in einen weißen, der andere in einen schwarzen Mantel gehüllt. Im Wind flatterte ein blauer Schal. „Seto! Warte!“, brachte Joey mühsam hervor. Er stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab und rang nach Luft. In seinen Seiten stach es schmerzhaft. Als er sich aufrichtete, sah er, wie etwas von der Brücke fiel, die vereiste Wasseroberfläche durchschlug und im Fluss versank. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. Nur nicht wieder anhalten. Joey nahm seine verbliebene Kraft zusammen, setzte seinen Weg zur Brücke fort. Kalte Luft strömte in seine Lungen, hinterließ ein prickelndes Gefühl wie Eisnadeln. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, jetzt erkannte Joey deutlich, dass Seto in ihm saß. Der Kutscher drehte den Kopf zu ihm und lächelte ihn triumphierend an. Ein letztes Mal beschleunigte Joey, streckte die Hände nach dem Schlitten aus – und verfehlte ihn um Millimeter. Fassungslos musste er mit ansehen, wie das Gefährt des Eisfürsten aufstieg und Seto mit sich nahm. Er starrte ihm nach, bis er in den Wolken verschwunden war. „Seeeeetooooo!“ Die Tränen rannen unaufhaltsam über sein Gesicht, er ließ sich auf die Knie fallen, kümmerte sich nicht um den Schnee und den Sturm. Die Welt um ihn hörte auf, sich zu drehen und wurde schwarz. (2) „... Na endlich, er kommt zu sich.“ Joey blinzelte, alles war so verschwommen. Blonde Locken kamen in sein Blickfeld, dann fühlte er etwas Kaltes auf seiner Stirn. „Wir hatten solche Angst, dass du nicht aufwachst, Joey.“ Mai strich ihm über die Wange und erneuerte die Wadenwickel, die sie ihm angelegt hatte. „Was ...“ „Wir haben dich überall gesucht, bis dich Ryou auf der Brücke gefunden hat. Du warst schon ganz unterkühlt. Ohne Jacke in den Sturm zu laufen ... Was hast du da überhaupt gesucht?“ „Seto ... der Eisfürst hat ihn ... entführt ... wollte ihn aufhalten.“ „Psst. Du fantasierst, du hast Fieber.“ „Nein, ich ... Er hat unsern Schlitten von der Brücke gestoßen und –“ „Schlaf dich erst mal aus, Ruhe ist jetzt das Beste für dich“, sagte sie bestimmt, deckte ihn zu und verließ den Raum. Joey ließ sich erschöpft gegen die Kissen sinken. In seinem Kopf hämmerte es, seine Stirn brannte heiß. Er verkrampfte sich und hustete, gefolgt von einem kräftigen Niesen. Na ganz toll, hab ich mir jetzt auch noch ’ne Grippe eingefangen! Wie soll ich so nach Seto suchen? Ob Mai mich raus lässt, wenn ich sie ganz lieb darum bitte? Sicherlich nicht. Manchmal konnte Mai zu einer regelrechten Glucke mutieren und nicht anders verhielt es sich dieses Mal. Sie ließ Joey erst vier Tage später aus dem Bett, nachdem sein Fieber weit genug gesunken war. Jede seiner Fragen nach Seto würgte sie mit dem Einwand, er habe geträumt und es gehe Seto gut, er würde nur Besorgungen machen, ab. Sobald er aufstehen konnte, schleppte sich Joey, immer noch hustend und neben seinem Bademantel in eine dicke Daunenjacke gewickelt, ins Hotel hinüber und suchte nach ihm – ohne Erfolg, wie er es sich schon gedacht hatte. „Warum hast du mich belogen, Mai?“, fragte er, als er in die Küche kam. „Wie, ich –“ „Du weißt genau, dass Seto keine Besorgungen für das Hotel macht.“ Ein Hustenanfall unterbrach ihn. „Er kann gar keine machen, weil er gar nicht mehr hier ist. Dieser verfluchte Eisfürst ... wenn ich den in die Finger kriege.“ „Geh ins Bett zurück, Joey, du hast immer noch leichtes Fieber. Du fantasierst wieder.“ „So, ich fantasiere also? Ich habe mir nur eingebildet, dass er an meinem Geburtstag hier eingecheckt und Seto mitgenommen hat!“ „Joey ...“, Mai hob beschwichtigend die Hände, „an deinem Geburtstag sind keine neuen Hotelgäste gekommen.“ „Unsinn, er hatte Zimmer 108. Frag Dad, der hat ihn gesehen.“ „Für den Tag gibt es keine Einträge in der Datei.“ „Ich glaube dir nicht.“ Joey machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in die Eingangshalle, erwiderte knapp den Gruß des Portiers und machte sich an dessen Computer zu schaffen. Zeile um Zeile studierte er die Belegungsliste für den 25. Januar. Abgesehen von den alten Gästen, die ein paar Tage vor dem Schneesturm angekommen waren, war sie leer. Der nächste Eintrag war erst für vorgestern verzeichnet. Der Sturm war am 26. Januar – besonders für die Meteorologen völlig überraschend – verschwunden. Joey starrte verwirrt auf den Bildschirm. Die Software musste einen Fehler haben, ein Eintrag konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden. Er nahm sich das Gästebuch vor und blätterte darin. Die Seite, auf die Pegasus seine Unterschrift gesetzt hatte, war leer. Joey fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Es gab keine sichtbaren Anzeichen, dass er im Hotel gewesen war ... Aber er hatte sich das nicht eingebildet! „Was spielst du für ein böses Spiel mit uns“, flüsterte er. Weitere drei Tage vergingen, bis er die Grippe vollständig abgeschüttelt hatte und wieder zur Schule konnte. Da Seto im gesamten Hotel-komplex nicht auffindbar war und auch nicht zur Arbeit erschien, hatte ihn Mr. Wheeler zwei Tage nach seinem Verschwinden bei der Polizei als vermisst gemeldet. Seither wurde mit Hochdruck nach ihm gesucht. Nachdem Joey seine Aussage gemacht hatte (außen vor lassend, dass es sich bei dem mutmaßlichen Entführer Maximillian Pegasus um den Eisfürsten handeln musste), meldeten sich einige Zeugen, die in der fraglichen Nacht einen Schlitten gesehen hatten. Am 4. Februar bargen Polizeitaucher aus dem Fluss einen Rodelschlitten, den Joey sofort als seinen identifizierte. Damit war der Fall für die Behörden klar. Seto Kaiba war entweder in den Fluss gestürzt oder hatte Selbstmord begangen, seine Leiche war fortgeschwemmt worden Joey aber weigerte sich, ihn für tot erklären zu lassen und blieb bei seiner Version, er sei entführt worden. Daran änderte auch die Trauerfeier nichts, die sein Vater ein paar Tage später im Hotel ausrichtete, in der Hoffnung, Joey würde sich so von Seto lösen. Der Blondschopf schüttelte nur den Kopf, als er die geladenen Gäste in schwarzer Trauerkleidung sah, wie sie vor dem mit Blumen geschmückten Bild Setos und dem Schlitten saßen, Lieder sangen und einer Rede von Mr. Wheeler lauschten. Am liebsten hätte er sie angeschrien, mit diesem Unsinn aufzuhören. Seto war nicht tot. Weshalb wollten sie das nicht verstehen? Das Eis schmolz und die Schneefälle verwandelten sich in Regen. Jeden Tag ging Joey, seine neuen Schuhe tragend, nach der Schule zum Fluss und blickte auf das rauschende Wasser hinab. Er war erst einige Tage nach seinem Geburtstag dazu gekommen, Setos Geschenk auszupacken. Das Päckchen hatte die roten Sneaker mit dem Drachenmotiv enthalten, die er vor Monaten im Einkaufszentrum gesehen hatte. Ryou machte sich um seinen besten Freund Sorgen. Dieses schweigsame Verhalten erinnerte ihn an die ersten Wochen nach Serenitys Tod, nur dass sich Joey dieses Mal beim Unterricht zusammenriss. Er hatte Seto versprochen, einen guten Abschluss hinzulegen und daran wollte er sich halten, komme was da wolle. Das Zeugnis, das er während der Abschlussfeier vom Direktor überreicht bekam, konnte sich somit durchaus sehen lassen, doch kaum waren die letzte Abschlussrede verklungen, ein letztes Mal die Hände geschüttelt worden, um sich gegenseitig zu beglückwünschen, war er verschwunden. Zu Hause setzte er sich unter die Kiefer, wo er und Seto so häufig ihre Zeit zusammen verbracht hatten, und schloss die Augen. Er hatte sich für die Universität angemeldet, um dort – im Hinblick auf die spätere Übernahme des Hotels – Wirtschaft und Management zu studieren. Das Semester sollte schon in wenigen Wochen beginnen. „Versteckst du dich wieder, Joey?“ Er öffnete die Augen und sah Mai vor sich stehen. Sie setzte sich neben ihn, sah eine Weile auf das Gras und sagte dann: „Ich habe noch einmal über das nachgedacht, was du über Setos Verschwinden gesagt hast. Dass dieser Eisfürst etwas damit zu tun hat. Und ich ... ich glaube dir.“ Er sah sie überrascht an. „Hast du mir nicht die ganze Zeit gesagt, es seien nur Fieberträume gewesen?“ „Schon ... Aber wenn ich so darüber nachdenke ... Seit vielen Jahren verschwinden im ganzen Land immer wieder Jungen oder junge Männer. Meine Mutter wollte sich nie davon abbringen lassen, dass der Eisfürst sie entführt hatte. Einen Freund meines Vaters soll er angeblich auch geholt haben. Fest steht nur, dass er mit achtzehn über Nacht verschwand und wie die andern nie wieder gesehen wurde.“ „Willst du mir damit sagen, dass ich meine Hoffnungen, Seto wiederzusehen, lieber begraben soll?!“, rief er. „Nein, nur –“ Joey sprang auf und ballte die Fäuste. „Damit wird dieser Mitkerl nicht durchkommen!“ „Was hast du vor?“ „Ich hole mir Seto zurück. Der Eisfürst hat kein Recht, ihn zu entführen.“ Mit großen Schritten stürmte Joey über die Wiese, zurück zum Wohnhaus. „Und wenn er nun doch in den Fluss gefallen ist?“ „Dann wende ich mich eben an ihn und bitte ihn, mir Seto zurückzugeben.“ „Joey!“ Mai packte ihn am Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben. „Ich bitte dich, schlaf wenigstens eine Nacht darüber. Stürm nicht Hals über Kopf los, du stürzt dich ins Unglück.“ Ihr Griff lockerte sich erst, als er nickte und sich mit ihr nach drinnen begab, wo sein Vater auf ihn wartete, um mit ihm zu feiern. (3) Joey sah aus dem Fenster, hinaus in den Innenhof. Es war draußen noch dunkel, die Dämmerung hatte erst vor wenigen Minuten eingesetzt und sich daran gemacht, den tiefblauen Ton der Nacht Stück für Stück aufzuhellen. Er blickte sich in seinem Zimmer um, ob er an alles gedacht, nichts vergessen hatte. Der Brief an seinen Vater lag in einem sauber beschrifteten Kuvert auf dem Kopfkissen seines noch schnell gemachten Bettes. In seiner Hosentasche steckte die Rosenbrosche, die ihm Serenity hinterlassen hatte. Er wollte sie nicht hier zurücklassen. Leise schloss er die Tür hinter sich, schlich sich in ihr Zimmer, um ein letztes Mal über ihr Bild zu streichen. Vor der Tür zum Schlafzimmer seines Vaters blieb er kurz stehen. Er hätte sich gern von ihm verabschiedet, aber wenn er ihn weckte, würde er nur versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Die Treppe knarrte, er blieb mehrmals stehen und horchte, bevor er weiterging. Im Erdgeschoss nahm er Jacke und Schal vom Haken und schlüpfte nach draußen. Er hatte sein Fahrrad schon am Vorabend aus dem Schuppen geholt, geputzt und die Luft in den Reifen wieder aufgefüllt. Auf den Straßen, durch die er fuhr, war noch nicht viel los, er war vor den üblichen Morgenstaus aufgebrochen. Durch die Bewegung und die warme Jacke wurde ihm warm. Als er die Brücke erreichte, war er verschwitzt. Das letzte Stück bis zur Brückenmitte schob er sein Rad und lehnte es an das Geländer. Sein Blick glitt nach allen Seiten, es war niemand zu sehen. Etliche Meter unter ihm floss der schäumende Fluss, dessen Wasser die Farbe von grüner Jade hatte. Joey beugte sich weiter über das Geländer. „Alle erzählen mir, dass du mir Seto genommen hast“, sagte er zum Fluss. „Aber stimmt das? Und wenn, dann gib ihn mir wieder. Bitte.“ Abwartend stand er da, beobachtete die Wellen, ohne eine Antwort zu erhalten. „Du willst etwas von mir, oder? Ich bekomme ihn nicht ohne Gegenleistung ...“ Joey überlegte eine Weile und zog seine Sneaker aus. „Dann gebe ich dir meine Schuhe. Seto hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.“ Damit warf er sie ins Wasser und beobachtete, wie sie von der Strömung nach unten gezogen wurden. Wieder wartete er, doch auch dieses Mal machte der Fluss keine Anstalten, ihm zu antworten. „Reicht dir das noch nicht? Nein, natürlich nicht ...“ Joey wandte sich der Stadt zu. „Dad, Mai, Ryou ... Verzeiht mir, es muss sein.“ Er kletterte über das Geländer und drehte sich, immer vorsichtig ausbalancierend, zum Fluss um. „Bitte hilf mir, Fluss. Hilf mir, Seto zu finden.“ Er schloss die Augen und sprang. Die Füße voran, stieß er ins Wasser. Joey sog noch einmal tief Luft in seine Lungen, dann verschlang ihn die Flut vollends. Die Strömung wirbelte ihn umher, ließ ihn die Orientierung verlieren. Bald wusste er nicht mehr, wo oben und unten war, ob über ihm Licht und Luft oder dunkler Grund lag. Aber er brauchte Luft ... Seine Lungen begannen zu brennen, schrien nach Sauerstoff – Er verlor das Bewusstsein. Kapitel 8: Garten der Freude ---------------------------- *Teller mit Keksen hinstell* Heute wird sich einiges klären. ^^ Hilft der Fluss Joey oder wird ihn die Flut verschlingen? Und was ist mit Seto geschehen? (1) http://www.youtube.com/watch?v=xXgPIxSEFAY&feature=related Keiko Matsui – Water Lily (2) http://www.youtube.com/watch?v=eMeZNbjRrcg X-Ray Dog – Dark Empire Kapitel 8 Garten der Freude (1) Warm strahlte die Sonne auf den Fluss und ließ glänzende Lichtreflexe auf der sich sanft kräuselnden Wasseroberfläche entstehen. Der Vormittag war weit vorangeschritten, nicht mehr lange, und es würde zur Mittagsstunde schlagen. Zahllose Schmetterlinge flatterten zwischen den bunten Frühlingsblumen umher, die auf den Wiesen zu beiden Seiten des Gewässers wuchsen. Yugi hatte es sich auf dem Steg in der Nähe des kleinen Hauses bequem gemacht, das er sein Eigen nannte, ließ die Füße knapp über dem Wasser baumeln und genoss den schönen Tag. Er hatte seine Angel ausgeworfen und hoffte, heute noch einen Fisch für sein Abendessen zu fangen. Bisher war seine Ausbeute noch nicht besonders gut, geschweige denn essbar gewesen. Er hatte lediglich ein Paar rote Sneaker aus dem Wasser gefischt. Eine fröhliche Melodie pfeifend, ließ er den Blick über den Fluss gleiten. Plötzlich weiteten sich die violetten Augen entsetzt, als sie einen leblosen Körper im Fluss treiben sahen. Das nasse blonde Haar hing dem Jungen ins Gesicht, seine Arme waren um ein Stück Holz geklammert, mit dem er sich über Wasser hielt. Vergessen war der Fisch, Yugi ließ die Angel fallen, rannte den Steg entlang zurück ans Ufer, ohne Joey, denn um keinen anderen handelte es sich bei dem Unglücklichen, aus den Augen zu lassen. Hastig suchte er nach der flachsten Uferstelle, von wo aus er zu ihm gelangen konnte. Auch wenn er an einem Fluss lebte, war er kein besonders guter Schwimmer, so dass er vorsichtig sein musste, wenn er den ihm unbekannten Jungen retten wollte. Eine Stelle, an der das Ufer mit Kieselsteinen übersät war, erschien ihm günstig, er stolperte die mit Sträuchern bewachsene Böschung hinunter und ins Wasser. So schnell er konnte, watete er durch die Fluten. Yugi wusste, dass er sich beeilen musste, falls er zu lange wartete, würde der Blondschopf abtreiben und er konnte ihn nicht mehr erreichen. Je weiter er kam, umso schwerer fiel es ihm, das Wasser mit seinem Körper zu teilen und sich auf dem glitschigen Untergrund zu halten. Nach einer für ihn scheinbaren Ewigkeit hatte er Joey erreicht, schlang die Arme um dessen Oberkörper und begann ihn Richtung Ufer zu ziehen. Die feuchten Kleider und besonders die Jacke, die sich mit Wasser voll gesogen hatte, machten ihn schwer. Yugi schüttelte den Kopf, wie konnte der Junge bei dem Wetter noch herumlaufen, als wäre Winter? Kurz entschlossen zog er sie ihm aus, das erleichterte ihm den restlichen Transport, bis er ihn auf den Kieselstrand geschleift hatte und sich keuchend neben ihm niederließ. „Hey, du!“ Yugi tätschelte seine Wange, er rührte sich nicht. „Hörst du mich?“ Er legte Zeige- und Mittelfinger an Joeys Hals, doch der Puls, den er fühlte, war schwach, nicht mehr als ein leichtes Flattern. „Wenn ich nichts tue, wird er gleich in die Geisterwelt hinüber gleiten. Aber dafür bist du doch noch viel zu jung, Kleiner“, murmelte er, die Tatsache, dass Joey ein ganzes Stück größer als er war, geflissentlich ignorierend. „Dann hilft wohl nur eines.“ Yugi atmete tief durch, schlug seine Handflächen zusammen und rieb sie gegeneinander. Weiße Funken entstanden an seinen Fingerspitzen und zogen sich zu einer kleinen glitzernden Kugel zusammen, die er an seinen Mund führte. „Du musst wieder atmen. Komm zurück ... komm zurück“, flüsterte er, beugte sich herunter und legte seine Lippen auf die von Joey. Er fühlte sich kühl an, hoffentlich war es noch nicht zu spät. Yugi schloss die Augen und konzentrierte sich. Lebe!, dachte er unablässig. Deine Zeit ist noch nicht abgelaufen. Ich rufe dich zurück ... Dann spürte er, wie sich die magische Kraft von ihm löste und auf den Jungen überging. Erleichtert beendete er den Kuss. Joey drehte den Kopf zur Seite und hustete. Das Wasser, das er geschluckt hatte, kam in mehreren großen Schwallen heraus. Seine Augen flogen unsicher umher, bis Yugi in sein Blickfeld kam. Dreifarbiges Haar, an den vorderen Spitzen blond, das Haupthaar schwarz und rot – so etwas sah man auch nicht alle Tage. „Wo ... wo bin ich?“ „Wieder unter den Lebenden“, sagte Yugi. „Willkommen zurück.“ „Und ... wer bist du?“ „Nenn mich Yugi. Und wie ist dein Name?“ „Ich bin Joey.“ „Freut mich.“ Er lächelte sein Gegenüber freundlich an. „Was hattest du im Fluss verloren? Bist du reingefallen oder wolltest du dich umbringen?“ „Oh ...“ Joey stockte, der Kleine war ganz schön direkt. „Nein, wollte ich nicht. Ich bin auf der Suche nach jemandem.“ „Willst du mir nicht drinnen und in Ruhe erzählen, was dich hierher geführt hat?“ „Wach auf, wir sind da.“ Seto blinzelte verschlafen und öffnete die Augen. Im Schlaf hatte er sich an eine Ecke des Schlittens gelehnt, aus der er sich nun wieder in eine aufrecht sitzende Position schob, um sich umzusehen. Pegasus war damit beschäftigt, die Pferde auszuspannen. Sie befanden sich in einem großen Raum, einer Kombination aus Garage und Stall. Durch einige Fenster fiel schwaches Dämmerlicht herein. „Wo sind wir? Wohin hast du mich gebracht, Pegasus?“ Dieser lächelte lediglich und reichte Seto, nachdem er die Pferde in den Ställen untergebracht hatte, die Hand, um ihm vom Schlitten zu helfen. „Wir sind in meinem Palast. Du kannst es auch das Ende der Welt nennen – ganz wie es dir beliebt, Seto.“ „So war das also“, sagte Yugi und betrachtete Joey, der ihm gegenübersaß und sich einen Bissen Kuchen in den Mund schob. Sie hatten sich am Esstisch in der Küche von Yugis Haus niedergelassen. Er hatte eine offensichtliche Vorliebe für viel Farbe, die Einrichtung war knallbunt, hier ein gelber Stuhl, dort ein blauer Schrank oder ein cremefarben gestrichenes Wandbord. Joeys nasse Kleider hingen draußen auf der Wäscheleine zum Trocknen, stattdessen trug er nun ein weißes T-Shirt und eine Jeans. „Noch ein Stück Erdbeertorte?“ „Nein danke, nach den drei Stücken platze ich bald“, lehnte Joey ab und strich sich über seinen vollen Bauch. „Und ein paar Erdbeeren oder Kirschen?“ Yugi hielt ihm auffordernd die Schalen hin, bis sich Joey von den Früchten genommen hatte. „Die habe ich alle selbst geerntet“, erklärte er stolz und steckte sich selbst eine der süßen Erdbeeren in den Mund. „Die sind lecker, nur so, wie du mich mästet ...“ Joey beäugte ihn gründlich, „wenn ich mich so an Hänsel und Gretel erinnere ... Ah ... Du bist doch nicht so was wie die böse Hexe, nur in niedlich, oder?“ „Willst du mich mit dieser alten Schachtel vergleichen?“, fragte Yugi eingeschnappt. „Nein, sorry ... Aber um auf Seto zurückzukommen –“, wechselte er schnell das Thema. „Ich weiß schon“, unterbrach ihn der Kleinere, „du würdest am liebsten gleich weiterlaufen und nach ihm suchen. Wirklich nichts mehr?“ „Ich bin pappsatt und das will bei mir was heißen.“ Yugi stand auf und räumte die Tortenplatte und das Geschirr weg. Aus einem kleinen Bastkorb, der neben einer Schale mit Äpfeln und anderem Obst stand, nahm er einen Kamm, der aus Elfenbein geschnitzt war. Joey, der schon wieder grübelte, welche Richtung er nun einschlagen sollte, merkte nicht, wie er sich ihm näherte. Erst als er den Kamm in seinen noch feuchten Haaren spürte, schreckte er aus seinen Gedanken hoch. „Was machst du da?“ „Ich kämme nur ein bisschen dein Haar aus, das ist ganz zerzaust.“ Wieder und wieder, unablässig fuhr Yugi mit dem Kamm durch Joeys Haare. Der Blondschopf gähnte herzhaft. „’tschuldige, Yugi, irgendwie fühle ich mich hundemüde.“ „Macht doch nichts. Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir. Leg dich schlafen.“ „Und Seto? Ich muss doch zu ihm.“ Als Joey aufstehen und gehen wollte, wurde er von Yugi auf den Stuhl zurückgedrückt. „Du kannst ihn auch noch morgen suchen. Ruh dich aus.“ Der Kleine ist ja zuckersüß, dachte Joey und ließ weiter seine Haare bearbeiten. Je länger Yugi dies tat, umso schwerer wurden dem anderen die Lider, bis er sie nicht mehr aufhalten konnte. Joeys Gähnen registrierte er mit einem zufriedenen Lächeln und legte den Kamm weg. Er nahm ihn an der Hand und führte ihn in ein Zimmer, das voller Spielsachen war. Teddybären, Puzzle, Spiele, Kuscheltiere, Spielzeugautos ... Selbst auf dem Bett lag ein Plüschhund. Aus einer Kommode förderte Yugi einen Schlafanzug zu Tage, der mit kleinen Sündenböckchen bedruckt war, und forderte Joey auf, sich umzuziehen und sich hinzulegen. Joey, der sich etwas genierte, sich vor Yugi auszuziehen, bat ihn, draußen zu warten. Der Kleine wurde knallrot und verschwand mit einer gestotterten Entschuldigung aus dem Raum, bis ihm sein Gast durch einen Ruf zu verstehen gab, dass er fertig sei. „Sind das alles deine Spiele, Yugi?“ „Ja ... über die Jahre hat sich einiges angesammelt. Leg dich hin und schlaf erst mal, morgen früh sieht die Welt dann schon ganz anders aus.“ Etwas Schlaf kann ja nicht schaden, dachte Joey und schlüpfte in das Bett. Sein Blick wanderte zum Fenster, an dem sich rote Rosen hochrankten. Beeil dich, schienen sie zu flüstern, es ist schon spät. Die Zeit verrinnt. Du musst ihn finden. „Oh, da sind ja Rosen. Sie erinnern mich an ... Seto“, murmelte Joey schläfrig. „Muss ... ihn finden ...“ „Schlaf jetzt.“ Als sich Yugi von ihm abwandte, verfinsterte sich sein Gesicht. Er trat an das Fenster und zischte den Rosen zu: „Fort mit euch! Verschwindet, ab mit euch unter die Erde!“ Seinem Befehl folgend, zogen sie sich unter leisem Rascheln ihrer Blätter zurück, verließen das Fenster und verschwanden im Erdreich. „... gleich morgen früh ...“ „Streng dich nicht an, Joey, mach die Augen zu“, sagte Yugi, schloss die Fenster und verließ das Zimmer. Joey kuschelte sich in die Bettdecke und war kurz darauf eingeschlafen. (2) Über eine Reihe von Gängen gelangten Pegasus und Seto in eine große, achteckige Halle. Wände, Säulen, Decke, die Treppen, die in die oberen Etagen führten ... wohin Seto auch blickte, alles war von einer dicken Schicht Raureif überzogen. Selbst die Leuchter bestanden aus klarem Eis, doch in ihnen steckten keine Kerzen, so dass auch hier, wie im Rest des Schlosses, ein beständiges Zwielicht herrschte. In der Mitte der Halle stand ein mehrere Meter hoher Spiegel mit einem reich verzierten, goldenen Rahmen – oder eher das, was noch von ihm übrig war. Das Spiegelglas war in Tausende von Splittern zerbrochen und lag ordentlich aufgetürmt davor. Manche Stücke waren nicht größer als ein Salzkorn, andere groß wie Pflaumen. Seto hob eine der Scherben auf und betrachtete sie nachdenklich. „Es ist traurig, nicht wahr?“, sagte Pegasus, was Seto dazu veranlasste, den Kopf zu heben. „Dieser Spiegel zeigt, was immer du willst, aber unglücklicherweise wurde er zerbrochen. Deine Aufgabe wird es sein, ihn wieder zusammenzusetzen.“ „Was? Aber ... ich kann unmöglich hier bleiben! Dieser Palast besteht aus Eis, ich würde erfrieren“, wehrte er ab. „Obwohl, wenn ich mir ein Feuer anmachen könnte ...“ Seto sah sich um, auf der Suche nach brennbarem Material. „Nein, kein Feuer!“, schrie Pegasus auf einmal aufgeregt, als würde schon sein ganzer Palast in Flammen stehen, und fuchtelte hektisch mit den Armen herum. „Kein Feuer.“ „Aber –“ Der Eisfürst holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Seto, ich verspreche dir, dass du gehen darfst, sobald du den Spiegel fertig gestellt hast – wenn du es dann noch willst. Bei deiner Intelligenz sollte das kein Problem darstellen, ich bin mir sicher, du wirst dieses Puzzle schnell lösen.“ „Ich lasse mich doch nicht entführen, damit ich dir irgendeinen dämlichen Spiegel zusammenpuzzle!“, entfuhr es Seto. „Wofür hältst du mich eigentlich?“ Pegasus’ bernsteinfarbene Augen hefteten sich mit einem eisigen Blick auf ihn. „Du solltest den Mund nicht zu voll nehmen.“ Langsam hob er die Hand. Seto keuchte erschrocken auf, als er sah, wie sich seine eigenen Hände mit blankem Eis überzogen. „Vergiss nicht, dass du dich hier in meinem Reich befindest.“ „Ja ... ja, aber hör auf damit.“ Die Kälte stach in seine Finger und machte sie taub. Als Pegasus den Arm senkte, wich das Eis von seinen Händen zurück. Der Brünette starrte ihn ungläubig an. Er hatte nicht gedacht, dass er zu so etwas fähig war. „Ich werde mich nun schlafen legen“, sagte Pegasus und wandte sich von ihm ab. „Wehe dir, wenn du mich den Sommer über weckst. Mein Schlaf ist nicht ganz so fest wie deiner.“ „Warum sollte ich dich wecken?“, fragte Seto, was dem anderen ein leises Kichern entlockte. „Ich habe dich einmal geküsst und du hast zwei Monate lang durchgeschlafen. Doch ein Kuss reicht nicht für immer. Du wirst mich bald um einen weiteren bitten und wenn es soweit ist, dann weck mich bitte nicht dabei. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.“ „Dich küssen ... Das werde ich ganz sicher nicht!“, rief Seto. „Warum sollte ich dich noch einmal küssen wollen? Ich will nichts von dir, Pegasus.“ „Das sagen sie anfangs alle“, lächelte er, stieg die Treppe zu einer Galerie hinauf, die rund um die Halle verlief, und verschwand in einem der Gänge, die von dort abzweigten. „Ich werde nicht hier bleiben!“, rief ihm Seto nach. Während sich Seto die Frage stellte, was Pegasus von ihm wollte und Joey bei Yugi saß und Erdbeertorte in sich hineinschaufelte, stieg Mai die Treppe zu seinem Zimmer herauf, um ihn zu wecken. Sie wusste ja, dass er ein kleiner Langschläfer sein konnte, besonders in den Ferien, aber zum Mittagessen immer noch nicht aufgestanden zu sein, war selbst für ihn ungewöhnlich. „Joey! Hey, bist du wach oder schläfst du immer noch?“, fragte sie und klopfte an seine Tür. Als sie auch nach wiederholtem Rufen keine Antwort erhielt, öffnete sie und trat ein. Von Joey war nichts zu sehen, das Bett war gemacht – was lag da für ein Brief auf dem Kissen? Einer Ahnung folgend, nahm sie ihn an sich und öffnete das nicht zugeklebte Kuvert. Ihre Augen wurden beim Lesen der Zeilen weit vor Schreck. „Nein, das ... Joey!“ Mai stürzte zur Tür hinaus, hinüber ins Hotel, wo Mr. Wheeler mit der monatlichen Abrechnung beschäftigt war. „Jonathan!“ Ohne anzuklopfen, lief sie in das Büro ihres Chefs. „Mai ... ist was passiert?“ „Joey, er ... er ist weggelaufen, um Seto zu suchen. Hier!“ Jonathan war ebenso fassungslos wie die Köchin, als er las, was sein Sohn vorhatte. „Wir müssen ihn aufhalten, schnell! Ehe es zu spät ist.“ Dem Portier gab er noch rasch die Anweisung, sich in seiner Abwesenheit um das Geschäft zu kümmern, dann eilte er mit Mai aus dem Hotel. Eine knappe Stunde später, in der sie die halbe Stadt nach Joey durchkämmt hatten, erhielten sie per Handy einen Anruf der Polizei, sie habe sein Fahrrad an der Brücke gefunden, sein Schal sei, verhakt an ein paar Zweigen, im Wasser nahe des Ufers entdeckt worden. Vom Besitzer der Sachen fehlte allerdings jede Spur. An diesem Abend mischte Jonathan Wheeler zum ersten Mal keinen Whiskey in seinen Tee. Er nahm stattdessen gleich einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Als Joey am nächsten Morgen aufwachte, erwartete ihn Yugi bereits mit dem Frühstück in der Küche. „Was spielen wir denn heute?“, erkundigte sich der Blondschopf und bestrich sein Brötchen mit Erdbeermarmelade. „Was du willst“, erwiderte Yugi lächelnd, wobei er einen kurzen Seitenblick zu dem Körbchen warf, in dem der Elfenbeinkamm lag. Er war kein böser Magier, er liebte es nur zu spielen und besonders gern spielte er den Menschen in seiner Umgebung kleine Streiche. „Und Cut!“, rief Ryou. „Super, die Szene war perfekt, die nehmen wir. Ihr habt erst mal Pause, Jungs.“ Anzu legte das Märchenbuch auf den Tisch neben sich und ging zu Yugi hinüber, der in seiner grünen Latzhose und dem T-Shirt am Tisch sitzen geblieben war und seinen Früchtetee austrank. „War das niedlich. Du bist so süß in deiner Rolle, Yugi“, quietschte das Mädchen und bevor er überhaupt reagieren konnte, hatte sie die Arme um ihn geschlungen und drückte ihn. Yugis Gesicht verzog sich unwillig. „Ich bin nicht süß!“, brummte er, wobei er vergeblich versuchte, seiner Stimme einen erwachseneren Klang zu geben. Er machte sich von ihr los, stand auf und verließ das Studio. Süß ... Er hasste es, so genannt zu werden. Dieses Wort bekam er seit Jahren andauernd zu hören. Nahm ihn denn hier kein Mensch ernst? „Ach, Anzu, du weißt doch, dass er das nicht mag“, seufzte Ryou. „Schon, nur ... Er ist so putzig als Frühlingsmagier.“ „Lass ihn das bloß nicht hören, sonst weigert er sich am Ende noch, weiter zu spielen“, meinte Katsuya. „Und dann muss Yami wieder als Vermittler herhalten. Apropos, wo ist der überhaupt? Hat einer von euch ihn gesehen?“ „Keine Ahnung, ich weiß nicht, wo der ist.“ Anzu sah sich im Studio um. „Da fällt mir ein, Bakura ist auch verschwunden.“ Ryou entfuhr ein tiefes Seufzen, seine Hand fuhr an seine Stirn. „Ich ahne schon, wo die zwei wieder stecken“, sagte er und verdrehte die Augen. In einem anderen Teil des Gebäudekomplexes stapfte Yugi mit missmutiger Miene den Flur entlang. Die nächsten Szenen, die auf dem Drehplan standen, waren ohne ihn, da konnte er genauso gut das Studio verlassen und sich in seiner Garderobe über sein Mittagessen hermachen, während er ein bisschen vor sich hinschmollte. Als er an der Garderobe seines Bruders vorbeikam, stockte er mitten in der Bewegung, drehte sich zu der Tür um, auf der Yamis Name angebracht war ... Kein Zweifel, die Geräusche waren eindeutig. Warum musste sich Yami unbedingt mit Bakura einlassen?, wetterte er, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam. Ich verstehe Ryou ja so gut, dass er für die jetzigen Dreharbeiten aus ihrer Wohnung aus- und in ein Hotel gezogen ist. Wie soll man bei der Geräuschkulisse schlafen ... ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Joeys Verschwinden löste bei der Polizei von Domino die zweite große Suchaktion innerhalb weniger Monate aus, doch sie blieb ebenso erfolglos wie die nach seinem Geliebten. Sein Vater zog sich schwer getroffen in seine Wohnung zurück und überließ es die meiste Zeit seinen Angestellten, sich um die Leitung des Hotels zu kümmern. Mai tat ihr Bestes, um ihn aus seinem Wohnzimmer raus- und wenigstens zurück in den Salon zu holen, wo sie ihn besser im Auge behalten konnte. Nachdem er nach seiner Frau und seiner Tochter nun auch noch seinen Sohn verloren hatte, fürchtete sie, er könnte auf die Idee kommen, sich etwas anzutun. Sie und ihre Kollegen verteilten Jonathans Aufgaben unter sich, um ihren Chef zu entlasten und kamen meist nur zu ihm, wenn sie seine Unterschrift benötigten. Mit großer Sorge beobachtete Mai, wie er sich immer öfter ein Glas Whiskey, Sherry oder anderes einschenkte. Sprach sie ihn aber darauf an, brummte er, das ginge sie nichts an und wandte sich von ihr ab. Beim letzten Mal hatte er sich dank seiner Arbeit wieder gefangen. Ihr blieb nur zu hoffen, dass er es dieses Mal auf gleiche oder ähnliche Weise schaffen würde. Der regnerische April, zu dessen Beginn Joey fortgelaufen war, ging in einen warmen Mai über, der die Rosen aus ihren Knospen lockte und das Leid des Hoteldirektors damit noch vergrößerte. Mai schaffte es nur mit Mühe und dem vollen Einsatz ihrer Überredungskunst, ihn davon abzuhalten, die Rosenstöcke aus der Erde zu reißen und auf den Kompost zu werfen. Gemeinsam mit dem Oberkellner brachte sie ihn zum Wohnhaus, wo sie ihn die Treppen hoch schleppten und in sein Bett legten, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. „Oh, Joey“, seufzte sie, als die Tür hinter ihr zugefallen war. „Wo bist du bloß? Wir brauchen dich hier so dringend.“ Kapitel 9: Täuschung und Wahrheit --------------------------------- *Eisbecher verteil* Vielen Dank für eure lieben Kommentare. Und jetzt viel Vergnügen mit dem zweiten Teil von Joeys Aufenthalt bei unserem kleinen süßen Frühlingsmagier. *unter Yugis Geschoss wegduck* Yugi: „Ich bin nicht süß!“ Na, der hat wieder eine Laune. ^^° (1) http://www.youtube.com/watch?v=tloVx_b-YIs King Arthur – All of them Kapitel 9 Täuschung und Wahrheit „Okay, dann kommen wir jetzt zu der Szene, wo die Köchin ihren Chef zu überzeugen versucht, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Mai, bist du so weit?“ Ryou wandte sich der Blondine zu, die sich von der Maskenbildnerin rasch noch einmal das Gesicht abpudern ließ, um unter dem Licht der Scheinwerfer nicht zu glänzen. „Komme gleich“, winkte sie ihm lächelnd zu und zupfte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Tsubasa, füll noch mal Shirous Glas nach, das ist schon wieder leer“, wies der Regisseur den jungen Mann an, der für die Requisiten verantwortlich war. Shirou, der Joeys Vater spielte, saß in einem großen Sessel am Kamin und starrte abwesend in die vor sich hin tanzenden Flammen. Er hob kaum den Blick, als Tsubasa in das Glas, das neben ihm stand, kalten schwarzen Tee goss, der bei den Dreharbeiten anstelle von Whiskey verwendet wurde. „Können wir dann?“, fragte Ryou, als Mai ihren Platz am Rand des Filmsets eingenommen hatte. „Ich bin so weit. Shirou?“ Er antwortete nicht. „Hey, Shirou, träumst du?“ Trübe Augen sahen zu ihr auf. „Wasn .... Was ’n llos ...“, lallte er. Mai wich bei der Duftwolke, die ihr entgegenschlug, ein paar Schritte zurück. „Puh, du riechst ja wie eine ganze Schnapsdestille.“ „Wie bitte?“ Ryou sprang von seinem Stuhl auf, marschierte zu ihnen und musterte Shirou argwöhnisch. Der Gestank, der seinem Mund entströmte, war unverkennbar alkoholisch und das laute Rülpsen, das er hören ließ, machte es nicht besser. Einer Ahnung folgend, griff Ryou nach dem Whiskeyglas und roch daran. „Aber das ist ja gar kein Tee.“ Er fuhr herum. „Requisite! Ich will eine Erklärung und das schon vorgestern! Was macht der Whiskey hier?“ „I-ich kann mir ... d-das gar ni-nicht erklären“, stammelte Tsubasa hilflos, während der sonst so ruhige Weißhaarige einen Sturm von Beschimpfungen auf ihn niederhageln ließ. Katsuya und Honda nahmen sich in der Zwischenzeit des Betrunkenen an, um für ihn ein ruhiges Plätzchen zwecks Ausnüchterung zu finden. Die Szene wurde am folgenden Tag nachgedreht. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (1) Über den vielen Spielen, die sich in Yugis Haus stapelten, merkte Joey kaum, wie die Zeit ins Land zog. Jeden Tag gab es Erdbeeren und Kirschen zu essen und an jedem Morgen kam Yugi mit mindestens einem neuen Spiel an, das sie noch nicht ausprobiert hatten. Er fühlte sich gut, fröhlich und unbeschwert wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Und doch ... Manchmal, besonders wenn er abends im Bett lag und zur Zimmerdecke hochsah, überkam ihn das Gefühl, dass etwas fehlte. Dass er etwas vergessen hatte – etwas Wichtiges. Wenn er mit Yugi am Ufer des Flusses saß, um zu angeln oder sie sich im Garten um die Beete kümmerten und die Erdbeeren mit Wasser versorgten, dachte er nach und versuchte dahinter zu kommen, was es war, was er vergessen hatte. Yugi wollte er deswegen nicht fragen, er hatte das Gefühl, dass er ihm nichts sagen würde. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm nicht einfallen, als hätte etwas diese Erinnerung mit besonderer Gründlichkeit aus seinem Gedächtnis gelöscht. „Du, Yugi ...“, fing Joey eines Nachmittags, als sie mit einer Partie Monopoly beschäftigt waren, an. „Ja?“ Er sah von den Spielgeldscheinen auf, die er sortierte. „Was ist denn?“ „Also ... Bisher war ich ja immer hier im Haus oder im Garten, aber ... ich bin doch schon fast erwachsen und da dachte ich, ich könnte mal einen Ausflug machen. In die nächste Stadt zum Beispiel.“ Das süße Lächeln, mit dem er Joey sonst immer bedachte, verschwand von seinen Lippen. In seinen Augenwinkeln schimmerte es verdächtig feucht. „Du ... du willst von mir weg?“, kam es weinerlich von Yugi. Joey schluckte, als er ihn so sah. „Nein, ich meine ... Wir können natürlich zusammen in die Stadt fahren, ich dachte nur –“ „Du bist so undankbar!“, fuhr Yugi auf. „Ich spiele mit dir, gebe dir von meinen Erdbeeren ab und du denkst nur daran, wie du von mir wegkommst! Du bist soooo gemein.“ „Yugi ...“ Er berührte den Kleineren, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte, sachte an der Schulter. „Du bi-bist selbstsüchtig“, bekam Joey zwischen den Schluchzern zu hören. „Entschuldige, war eine blöde Idee von mir, in die Stadt zu wollen. Bitte vergiss es einfach.“ Yugi sah auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort. „Okay ... Darf ich dir noch ein bisschen die Haare kämmen, um mich zu beruhigen?“ „Darfst du“, erwiderte Joey lächelnd, auch wenn ihm dieser Tick des anderen so langsam auf die Nerven ging. Ihm die Haare mit dem Elfenbeinkamm zu kämmen, bevor sie sich abends in ihre Zimmer zurückzogen, war eine von Yugis Lieblingsbeschäftigungen geworden, wie es schien. Sobald der Kamm durch die blonden Strähnen fuhr, besserte sich die Stimmung des Bunthaarigen merklich und er begann, leise zu summen. Joey entspannte sich nach einer Weile und beschloss, die Frage nach einem Ausflug auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Seto lief wie ein Tiger im Käfig im Spiegelsaal herum, warf hin und wieder einen kurzen Blick auf den Scherbenhaufen, der ihm im Zwielicht entgegenfunkelte, wandte sich ab und setzte seine unruhige Wanderung fort. Seit Stunden versuchte er schon, den Weg aus dem Palast zu finden. Oder waren es Tage? Er konnte es nicht sagen. Da er keinen direkten Blick auf die Sonne hatte und sich das bläuliche Zwielicht nie änderte, hatte er keinerlei Anhaltspunkt, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, ob heute Dienstag oder Freitag, Tag oder Nacht war. Kurz nachdem sich Pegasus in seine Gemächer zurückgezogen hatte, hatte auch er dem Spiegelsaal den Rücken gekehrt und versucht, den Gang wieder zu finden, durch den sie bei ihrer Ankunft gekommen waren. Doch dies war längst nicht so leicht, wie er es sich gedacht hatte. Jeder Gang sah aus wie der vorherige, der gleiche Aufbau, die gleiche weiße Farbe, die von der feinen Schicht Eiskristalle herrührte. Hinzu kam, dass er sich nur langsam vorwärts bewegen konnte. Der Fußboden, gleichfalls mit Eis gesprenkelt, war stellenweise rutschig wie Schmierseife und hatte schon mehrfach mit Setos Gesäß Bekanntschaft gemacht. „Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen“, knurrte Seto. „Soll sich Pegasus seinen blöden Spiegel doch alleine wieder zusammenpuzzeln oder sonst wo reinschieben. Eisfürst hin oder her, der kann mich mal kreuzweise.“ Er sah sich um und nahm aufs Geratewohl den nächsten Gang. Aus diesem eisigen Gefängnis würde er sich nur mit Glück befreien können. Nach einer Weile weitete sich der Gang in eine große, höhlenartige Halle. Setos Schritte wurden langsamer, bis er neben einer der Stützsäulen stehen blieb. Ein Stück von ihm entfernt lagen sechs große Wölfe mit hellgrauem Fell und schliefen. Neben ihnen lag ein Haufen sauber abgenagter Knochen, an einigen Stellen wies der Fußboden dunkelrote Flecken auf. Der Brünette fragte sich lieber nicht, ob es sich dabei um tierische oder menschliche Überreste handelte. So leise er konnte, schlich er an ihnen vorbei, ohne sie aus den Augen zu lassen. Erst als er im nächsten Gang um die Ecke gebogen war, atmete er auf. Mehr denn je hätte er sich ohrfeigen können, Pegasus gefolgt zu sein. Er hätte wie geplant zu Joeys Geburtstagsfeier gehen sollen und was tat er? Ließ sich wie ein kleiner Junge von Pegasus auf dem Schlitten mitnehmen und stolperte jetzt im Halbdunkel durch endlose Gänge. Er wäre jedoch nicht Seto Kaiba gewesen, hätte er sich durch diese Umstände entmutigen lassen. Irgendwo in diesem Labyrinth gab es einen Weg nach draußen und den musste und würde er finden. Ein Weg nach draußen in die Freiheit ... zu Joey. Er öffnete seinen Mantel ein wenig und betrachtete die rote Rose, die in der Innentasche steckte. Obwohl seit seiner Entführung Monate vergangen waren, wenn er Pegasus’ Aussage Glauben schenken konnte, war sie bisher nicht aufgeblüht, was vermutlich an den unwirtlichen Temperaturen hier lag. Zitternd schloss er den Mantel rasch wieder, um sich selbst und die Blüte vor dem Einfluss der Kälte zu schützen und setzte seine Suche nach einem Ausgang fort. Kurz darauf knurrte er frustriert. Er befand sich wieder im Spiegelsaal. Seto war im Kreis gelaufen. „Gib dir keine Mühe“, sagte eine männliche, selbstgerecht klingende Stimme. „Wer einmal im Palast des Eisfürsten weilt, kommt nicht mehr hinaus.“ Der Angesprochene sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. „Wer spricht denn da?“ „Hier unten, du Trottel!“, kam die Antwort postwendend. „Den Trottel verbitte ich mir und –“ Seto stockte, als sich sein Blick nach unten richtete. Vor ihm saß ein schneeweißer Hase, dessen Fell an der rechten Seite einen schmalen rosa gefärbten Streifen aufwies. Der Blauäugige verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn mit seinem berühmten Eisblick, doch das Tier rührte sich nicht von der Stelle. „Dich kenn ich doch. Du warst im Hotelpark, als Joey und ich spazieren waren!“ „Nett, dass du dich an mich erinnerst, Kaiba.“ „Einen Störenfried mit so einer ungewöhnlichen Fellzeichnung vergisst man nicht. Wie kommst du hierher?“ „Ich wohne hier, was denkst du denn?“ „Dann gehörst du also zu ihm“, meinte Seto und deutete mit einem Kopfnicken nach oben, in die Richtung, wo er Pegasus’ Zimmer vermutete. „Ich bin gewissermaßen sein Haushofmeister. Du darfst mich Siegfried nennen“, erwiderte der Hase würdevoll und beschnupperte das Hosenbein des Brünetten. „Und jetzt husch mit dir an die Arbeit.“ „Wie. Bitte?“ Seine Augenbrauen zuckten gefährlich. „Du kleines Mistvieh, das mir nicht mal ans Knie reicht, wagst es, mir Befehle zu erteilen?“ „Wenn dir meine Gestalt nicht passt, kann ich auch eine andere annehmen.“ Das silberne Halsband, das der Hase trug, begann plötzlich zu strahlen, so hell, dass sich Seto abwenden und den Arm vor die Augen schlagen musste. Als er sich wieder zu Siegfried umdrehte, schluckte er schwer. Der Hase war verschwunden, dafür stand nun ein ausgewachsener Wolf vor ihm – gleichfalls mit einem Streifen Rosa im weißen Fell und einem silbernen Band um den Hals. Siegfried fletschte die Zähne und knurrte ihn an. „Ist dir das immer noch zu klein?“, fragte er mit dunkler Stimme. „Also ... nein.“ „Dann mach, dass du an deine Arbeit kommst. Der Spiegel setzt sich nicht von selbst zusammen.“ Seto warf ihm einen letzten eisigen Blick zu, ließ sich neben dem Scherbenhaufen nieder und griff nach dem erstbesten Spiegelstück. Pegasus ... Wenn ich dich finde, werde ich dich nicht küssen, dann erwürge ich dich! ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Siegfried griff nach seiner Flasche Evian und trank einen Schluck von dem Wasser. Er hatte sich immer noch nicht ganz damit abgefunden, dass er einem Hasen seine Stimme leihen sollte. Ein putziger, kleiner Hase – wenn das nicht schädlich für seinen Ruf war ... Wenigstens hatte Ryou ein Einsehen gehabt, dass sich Seto sicher nicht vor einem Hasen fürchten würde und sein Einverständnis gegeben, aus Pegasus’ Haushofmeister einen richtigen Gestaltwandler zu machen. Er warf einen Blick auf den Silberhaarigen, der es sich mit einem Latte macchiato auf einem Stuhl bequem gemacht hatte und in seinem Textbuch blätterte. Wie schade, dass sie sonst so wenig bei den Dreharbeiten miteinander zu tun hatten. Siegfried war schon seit einiger Zeit am Überlegen, ob er Pegasus nicht mal um ein privates Treffen außerhalb des Filmstudios bitten sollte, eventuell zu einem Glas Rotwein. Ryou trat neben Pegasus und räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. „Ähm, Pegasus, wegen deines Schlafzimmers ...“, begann er nervös, „könnten wir da nicht ein bisschen weniger –“ „Kommt nicht infrage!“, unterbrach dieser den Jüngeren. „Du hast mir den rosa Pelzmantel nicht erlaubt, okay! Aber bei meinem Schlafzimmer lass ich mir nicht reinreden.“ „Wovon redet er?“, wandte sich Seto an Shizuka, die zur Antwort bloß mit den Schultern zuckte. Dabei wusste sie nur zu gut, welchen Kampf Ryou mit Pegasus gehabt hatte, als es um die Einrichtung der Kulisse gegangen war. Volle vier Stunden war die Diskussion zwischen ihnen hin und her gegangen, bis sie sich geeinigt hatten. „Ich wusste gar nicht, dass du Angst vor Hasen hast, Kaiba.“ Katsuya gesellte sich zu ihnen, für seine nächste Szene bereits fertig eingekleidet und durch die Maske gegangen. Das Textbuch hatte er sich unter den Arm geklemmt. „Sehr witzig, Köter, dass ich nicht lache. Wenn du das Drehbuch richtig gelesen hättest, wüsstest du, dass das lediglich gespielt war, genau wie dieser Kuss mit Pegasus.“ Er schüttelte sich, als er daran dachte. „Ich und Angst vor einem Hasen. Apropos, wo steckt das Vieh überhaupt?“ „Na, da is –“, Katsuya deutete auf die große Box, in welcher der Hase von der Tiertrainerin transportiert wurde, „oh ...“ Die vergitterte Tür stand weit offen. „Ryou, der Hase ist ausgebüxt!“, rief Shizuka ihrem Freund zu. „Ja, geht denn heute alles schief?!“, fluchte dieser genervt. Pegasus blieb seelenruhig sitzen und schlürfte weiter seinen Latte macchiato, während sich der Regisseur, der Kameramann und die Schauspieler sowie der Requisiteur auf die Suche nach dem verschwundenen Tier machten. Es amüsierte ihn, in was für ein Chaos so ein kleines Häschen doch ein ganzes Studio stürzen konnte. Etwas kratzte an seinem Hosenbein. „Da steckst du also“, lachte er amüsiert und hob das Tier auf seinen Schoß, um ihm den Kopf zu kraulen. „Sie suchen schon überall nach dir, Kleiner. Hey, ihr könnt aufhören zu suchen, er ist bei mir!“ Katsuya, der unter ein paar aufgestapelten Stühlen nachgesehen hatte, stieß sich den Kopf, als er aufstand. Sich die Stelle reibend, drehte er sich zu Pegasus um. „Halt ihn ja fest, bis er wieder in seiner Kiste ist.“ „Keine Sorge, das – Iiiieee!“, schrie er wie von der Tarantel gestochen. Pegasus packte den Hasen im Genick, hielt ihn von sich weg und sprang von seinem Sitz auf. „Er hat mich angepinkelt!“ „Böser Hase! Ganz böser Hase!“, schimpfte Shizuka, die ihm das Tier abnahm und in seinem Käfig verstaute. „Siegfried hat mich angepinkelt“, jammerte Pegasus, der auf sein mit Hasenpipi besprenkeltes Kostüm starrte. „Bitte? Was hab ich denn damit zu tun?“ „Du teilst dir mit ihm die Rolle.“ „Das ist kein Argument“, entgegnete Siegfried beleidigt und zog sich schmollend zurück. „Argh ... Ruhe!“, schrie Ryou. „Wenn ich nicht schon längst weiße Haare hätte, würde ich sie euretwegen garantiert jetzt kriegen! Pegasus, geh zu Hitomi und lass deinen Mantel in Ordnung bringen. Alle andern auf ihre Plätze.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Ein lautes Knacken ließ Joey von seinem Tun hochschrecken und den Blick auf die Tür richten. Er lauschte in die Stille, bis er sicher war, dass Yugi nicht gerade auf dem Weg zu ihm war. Er nahm seinen Bleistift wieder zur Hand und vollendete den Satz, den er auf einen kleinen Zettel notiert hatte. Ich gehöre nicht hierher! Diese vier Worte drückten aus, wie er sich im Augenblick fühlte. Er wusste nicht, woher dieser Gedanke so plötzlich gekommen war, aber er hatte das Gefühl, dass dieses Haus nicht der Ort war, an dem er sein sollte, nicht der, an den er gehörte. Es klopfte, hastig ließ Joey den Zettel in seiner Hosentasche verschwinden, gerade noch rechtzeitig, bevor Yugi das Zimmer betrat. „Zeit für den Mittagsschlaf, Joey.“ „Och, nicht schon wieder“, brummte er. „Yugi, ich bin kein Kleinkind mehr.“ „Dabei ist das die schönste Zeit im Leben eines Menschen“, antwortete er, schlug die Bettdecke zurück und wartete, bis Joey grummelnd aufgestanden war und sich hingelegt hatte. „Ich nenne es den Frühling des Lebens.“ „Wie lange bin ich eigentlich schon bei dir?“, fragte Joey, nachdem er zugedeckt worden war. „Was soll das heißen, wie lange?“, erkundigte sich Yugi irritiert. „Du warst schon immer hier. Dein ganzes Leben lang.“ „Aber –“ „Nicht reden, jetzt wird geschlafen. Ich gehe in der Zwischenzeit zum Fluss und angle uns was für heute Abend.“ Joey schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt, so dass er sehen konnte, wie Yugi das Zimmer verließ. Diese ständige Bevormundung durch den anderen war auch etwas, das ihm auf die Nerven ging. Sobald die Schritte im Flur verklungen waren, schlüpfte er aus dem Bett und zog den Zettel aus der Hosentasche, um ein besseres Versteck dafür zu finden. Suchend sah er sich im Raum um und beschloss dann, ihn in eine Box zu legen, die Rommeekarten enthielt, da sie diese nur selten benutzten. Er hob den mit einer Sonne bemalten Deckel ab und stutzte. „Aber das ist ja ...“ Zwischen den beiden Kartenstapeln lag ein mehrfach zusammengefalteter Zettel, ähnlich dem, den er in der Hand hielt. Er nahm ihn heraus und entfaltete ihn. Ich gehöre nicht hierher! Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. Joey war sich sicher, diese Worte heute zum ersten Mal geschrieben zu haben, aber das war eindeutig seine Handschrift. Er besaß keine Erinnerung daran, schon einmal eine gleich lautende Notiz verfasst zu haben und doch hielt er sie in Händen. Aufgeregt lief er durch das Zimmer und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Wenn es diesen Zettel gab ... hatte er noch weitere geschrieben? Er marschierte kreuz und quer durch den Raum, drehte Kissen um, sah unter der Kommode und dem Schrank nach, nahm sein Bett auseinander, schaute in jede Ritze, warf die Kuscheltiere und Spiele durcheinander ... Aus jedem halbwegs versteckten Winkel beförderte er kleine Papierstücke zutage und innerhalb kurzer Zeit hatte er über zwanzig dieser Zettel zusammen. Jeder von ihnen verkündete ihm die gleiche Nachricht: Ich gehöre nicht hierher! Fassungslos starrte er auf den Haufen. Was geht hier vor? Was verheimlicht Yugi mir? Und wie ich ihn kenne, wird er alles wieder wegwischen und mich zum nächsten Schlaf ins Bett stecken. Aber das lasse ich mir nicht länger von ihm gefallen! Er wollte Antworten und das jetzt! Und ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass er sie in Yugis Zimmer finden würde. Auf Wunsch des Bunthaarigen hatte er dessen Schlafzimmer nie betreten, aber wenn er ihm wirklich etwas verheimlichte – Joey ließ die Zettel auf die Bettdecke zurückfallen und verließ auf leisen Sohlen den Raum. Das Zimmer, das Yugi bewohnte, lag am Ende des Flurs. Nachdem sich der Blondschopf mit einem Blick durch das Küchenfenster versichert hatte, dass sein Freund noch am Fluss mit Angeln beschäftigt war, huschte er zu Yugis Zimmer und öffnete die Tür extra vorsichtig, um ein Knarren zu vermeiden. Manchmal, so hatte er festgestellt, hatte der Kleine äußerst gute Ohren. Die Zimmereinrichtung unterschied sich nur durch die hellblaue Farbe der Möbel von Joeys. Schränke und Regale waren bis zur Decke mit Spielen voll gestopft. Neben einem Pyjama mit Wolkenmotiven saß ein weißer Plüschdrache auf der Bettdecke. Einen Moment lang kam es Joey vor, als würden die blauen Augen des Drachen ihn traurig ansehen. Blaue Augen ... Kannte ich nicht jemanden, der solche Augen besitzt? Augen wie das Meer ... Mein eisiger Drache ... Auf einem schwarzen Kissen ruhend, das auf einem kleinen Tisch am Fenster lag, entdeckte er voller Verwunderung nicht nur seine roten Sneaker, sondern auch die Rosenbrosche, die ihm seine Schwester hinterlassen hatte. „Ob Yugi sie im Fluss gefunden hat?“, murmelte er, schlüpfte in die Schuhe und drehte die Brosche in seinen Hände. „Rosen ... Ich muss mich erinnern ... ich – Seto!“, rief er aus und schlug sich die Hand vor den Mund, um flüsternd fortzufahren. „Seto ... wie konnte ich so gedankenlos sein und dich vergessen? Dabei war ich doch aufgebrochen, um dich zu finden – ich muss hier weg, sofort!“ Joey steckte die Brosche in seine Hosentasche und verließ das Haus. Er wollte sich nicht länger als nötig hier aufhalten und Zeit mit Umziehen verschwenden. Wo aber sollte er von hier aus hingehen? Noch während er überlegend in verschiedene Richtungen sah, fiel ihm ein, was er in Yugis Garten vermisst hatte. „Alle Blumen, die in den ersten Monaten des Jahres blühen, sind hier versammelt“, sinnierte er. „Aber warum fehlt dann ausgerechnet die Königin der Blumen? Sind denn hier keine Rosen? Gerade die Blume fehlt, die mich immer mit ihm verbunden hat. Seto ... bist du doch nicht mehr auf dieser Welt? Habe ich mich ... die ganze Zeit geirrt?“ Er ließ sich auf alle viere sinken und betrachtete den dunklen Boden. In seine Augen traten Tränen. „Du bist irgendwo da unten, nicht wahr? In der kalten, feuchten Erde, wo ich dich nicht erreichen kann.“ Seine Faust schlug auf die Erde, in der seine Tränen versickerten. „Seto ...“ Verwirrt sah er, wie direkt vor ihm das Erdreich zu wackeln begann. Er blinzelte, um besser zu sehen, was da vor sich ging, als auf einmal eine grüne, dornige Ranke hervor schoss und sich um sein Handgelenk wand. „Was –“ Weitere folgten, schlangen sich um seine Arme, Beine und seinen Oberkörper, drückten ihn nach unten und fixierten ihn so am Boden. Vergeblich versuchte Joey sich von den Ranken zu befreien. „Was soll das, was geht hier vor?“ Eine Ranke mit einer roten Rose schob sich in sein Blickfeld, die ihre Blätter entfaltete und ein kleines Gesicht offenbarte. „Hab keine Angst, Joey, wir wollen dir helfen. Wir wissen, wo er ist“, flüsterte die Rose sanft. „Du meinst Seto? Ist er ... tot?“ „Nein, wir waren unter der Erde. Dort ist er nicht. Er kam hier vor Monaten vorbei, zusammen mit dem Eisfürst.“ „Wo sind sie jetzt?“ „Nirgendwo. Er ist der Winter und der ist vergangen. Ihm ist der Frühling gefolgt.“ „Aber Pegasus muss ihn doch irgendwo hingebracht haben. Bitte sagt mir, wo ist er hin?“, fragte Joey. „Zu seinem Palast im Norden, wo alle Hoffnung stirbt“, antwortete die Rose. „Wenn du zum Eisfürst willst, musst du durch jede Jahreszeit gehen, ehe du zu ihm kannst. Wenn du ihn allerdings nicht bis zum Winteranfang erreichst, wird Seto sterben.“ Die Rosenranken lösten sich von ihm und wichen zurück. Joey stand auf und klopfte sich die Erde von den Knien. „Du willst also gehen.“ Er drehte sich um und erblickte Yugi. „Ich muss. Seto braucht mich.“ „Du kannst den Eisfürsten nicht bezwingen, das ist hoffnungslos“, seufzte er. „Woher willst du das wissen, Yugi? Kennst du ihn?“ Der Bunthaarige senkte den Blick zu Boden. „Ich bin der Magier des Frühlings und Pegasus ... Er ist mein Bruder. Ich weiß, wie gefühllos er ist, bis ins Mark. Ich habe ihn beobachtet, wie er Jahr für Jahr nach mehr Macht strebt.“ „Ich muss ihn trotzdem finden.“ „Ist er das wirklich wert, dieser Seto?“, fragte er und musterte ihn. Joeys Mund verzog sich zu einem sanften Lächeln. „Ja, das ist er. Das ist er auf jeden Fall. Er hat mich ins Leben zurückgeholt.“ „Also gut. Erinnerst du dich noch daran, wie ich dich damals ins Leben zurückgeholt habe, als ich dich aus dem Fluss gezogen habe? Unterschätze niemals die Macht eines Kusses.“ „Das werde ich nicht. Leb wohl, Yugi.“ Er wuschelte ihm durch die Stachelfrisur und sah sich um. „Ähm ... Kannst du mir sagen, wo Norden liegt?“ Yugi kicherte leise und zog einen kleinen, in Silber gefassten Kompass hervor. „Hier, damit du den Weg nicht verlierst“, sagte er und gab ihn Joey. „Ich wünsche dir viel Glück.“ „Vielen Dank, Yugi. Ich werde gut drauf aufpassen. Leb wohl.“ Den Blick auf den Kompass gerichtet, verließ Joey den Garten und machte sich wieder auf den Weg zum Palast des Eisfürsten. Kapitel 10: Träume einer Mittsommernacht ---------------------------------------- Ich freue mich, dass Pegasus und Siegfried so gut bei euch angekommen sind. ^_____^ *Siggy-Häschen knuddel* Er ist schon ein Süßer – und er genießt es, Seto dieses Mal herumkommandieren zu dürfen, wie er mir verraten hat. ^^ Jetzt aber zum Wesentlichen. *Kapitel ableg* (1) http://www.youtube.com/watch?v=6VAen4VRCdI&feature=related Twilight – Red Mist (2) http://www.youtube.com/watch?v=URRkOO3WvHQ&feature=related Future World Music – The Prayer (3) http://www.youtube.com/watch?v=wP9_bh9lE-A&feature=related Future World Music – Stages of Life Kapitel 10 Träume einer Mittsommernacht (1) Frustriert warf er den Splitter zurück auf den Haufen. Seit Tagen puzzelte Seto an dem Spiegel herum und hatte doch kaum mehr geschafft, als die Ränder etwas zu füllen. Auf dem Boden hatte er einige Stücke, von denen er schon wusste, dass sie zusammengehörten, zueinander geschoben und versucht, so etwas wie Ordnung in den riesigen, glitzernden Berg zu bringen, die großen und kleinen Stücke voneinander zu trennen. Siegfried, der nun wieder als Hase durch den Palast hoppelte, trug auch nicht gerade zur Besserung seiner Stimmung bei. Er besuchte ihn in unregelmäßigen Abständen, um zu überprüfen, wie weit er mit der Arbeit vorangekommen war. Wenn Seto nur irgendwo ein Messer auftreiben könnte ... Dann wäre sein nächstes Abendessen ein schöner Hasenbraten. Zumindest hätte dies eine willkommene Abwechslung zu dem ewig gleichen Fisch dargestellt, den ihm Siegfried morgens, mittags und abends servierte, damit er nicht verhungerte. Über diese Aufgabe war auch der Hase alles andere als glücklich. Er war Pegasus’ Haushofmeister, keiner seiner niederen Lakaien! Sollten die sich doch darum kümmern! In dieser Position hatte er mehr als genug zu tun, nicht zuletzt trug er dafür Sorge, dass der Sommerschlaf seines Herrn nicht gestört wurde und in den Monaten, in denen er durch die Welt reiste, oblag ihm die Verantwortung für den gesamten Palast. Und dennoch hatte ihm Pegasus diesen ungeheuerlichen Befehl erteilt. „Ich muss endlich hier raus“, murmelte Seto und blickte sich im Saal um. Von Siegfried war weit und breit nichts zu sehen. Er stand leise ächzend auf, durch das lange Sitzen waren ihm die Beine eingeschlafen. Nach kurzem Überlegen wandte er sich der Treppe zu. Irgendwo gab es einen Ausgang und wenn es nicht anders ging, nahm er gern auch mit einem Fenster oder dem Dach vorlieb. Die Schwierigkeit lag nur darin, dass er für dieses Vorhaben zunächst einmal in eines der oberen Stockwerke gelangen musste. Sein Fuß hatte kaum die zweite Stufe der Treppe berührt, da rutschte er schon aus und fiel, mit den Armen rudernd, nach hinten. Er rieb sich den Rücken, auf den er gestürzt war und stand leise fluchend auf. Nächster Versuch. Drei Stufen später lag er erneut auf dem Fußboden. Jetzt war sein Ehrgeiz, dort hochzukommen, erst recht geweckt. Entschlossen packte er mit beiden Händen das Treppengeländer und zog sich auf die Beine. Schritt für Schritt ausbalancierend, begann er die Treppe zum dritten Mal zu erklimmen. Immer wieder flog sein Blick durch den Saal, um nach Siegfried Ausschau zu halten. Dieser meckerte ja schon, wenn sich Seto für fünf Minuten aus dem Saal entfernte, um sich ein wenig die Beine zu vertreten – und vielleicht doch noch den richtigen Weg zu finden. Die Zeit, die er brauchte, um den oberen Treppenabsatz zu erreichen, kam ihm schier unendlich vor, schließlich aber hatte er die letzte Stufe überwunden. Von der Galerie, auf der er sich befand, zweigten drei, im gleichen Abstand zueinander befindliche Gänge sowie mehrere Türen ab. Die nächste Ebene dieses verfluchten Labyrinths, das sich Palast nannte. Wahllos öffnete er mehrere Türen und spähte in die Räume, die dahinter lagen. Bei den meisten waren die Fenster abgedunkelt, so dass man nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnte, sobald sich die Zimmertür geschlossen hatte. Es schien sich um nicht benutzte Schlafzimmer und Salons zu handeln. So ein riesiges Schloss und es lebt kaum jemand darin, dachte Seto und wandte sich der letzten Tür zu, die auf der Galerie noch verblieben war. Die Fenster des Raumes, in den er trat, waren geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Seto wollte schon innerlich jubeln, da dies die ersten Fenster waren, die in einer für ihn ohne Hilfsmittel erreichbaren Höhe lagen, doch als er einen genaueren Blick auf sie warf, musste er feststellen, dass sie mit kunstvoll geformten Gittern aus Eis verschlossen waren. Er packte eines der Gitter mit beiden Händen und rüttelte daran, versuchte es zu zerbrechen. Es rührte sich keinen Millimeter aus seiner Fassung. Seto schnaubte verärgert. Da war sein Weg in die Freiheit und ein lächerliches Stück Eis verwehrte ihm den Zugang. Ein leises Seufzen ertönte, er horchte auf. Von dem Fenster angezogen, hatte er den Raum um sich bisher nicht weiter wahrgenommen. Er drehte sich um und erstarrte mit weit aufgerissenen Augen, gefangen von einer Mischung aus Überraschung und Schock. Das ... das glaube ich nicht, was ich hier sehe. Weniger als zwei Meter vor ihm, so nah, dass er nur einen Schritt machen und die Hand ausstrecken musste, um das Holz zu berühren, befand sich das Fußende eines großen Bettes, über dem sich, gestützt von vier geschwungenen Pfosten, ein weißer Betthimmel wölbte. Auf einem in Zartrosa gehaltenen Kissen, das mit feiner Spitze gesäumt war, ruhte der Kopf von Pegasus. Er hatte die Augen geschlossen, seine Züge wirkten völlig entspannt, wie es nur den Schlafenden zueigen war. Beine und Oberkörper zeichneten sich unter der ebenfalls rosafarbenen Bettdecke ab, den rechten Arm hatte er locker neben seinen Kopf gelegt. Ein leichtes Lächeln lag auf Pegasus’ Lippen, er schien zu träumen. Vorsichtig näherte sich Seto ihm und betrachtete ihn. Der Eisfürst schlief tief und fest. Von der Anwesenheit seines unerwarteten Gastes bekam er nichts mit. Sie waren allein, niemand wusste, dass er hier war ... Das war die Gelegenheit, sich seiner für immer zu entledigen. Er brauchte nur die Hände auszustrecken und um den blassen Hals Pegasus’ zu legen, um fest zuzudrücken und ihm so die Luft zu nehmen. Es war so einfach, nur eine kleine Bewegung und alles wäre vorbei, der Albtraum hätte ein Ende ... Er könnte zurück zu Joey. Nur solch eine kleine Geste ... und doch führte Seto sie nicht aus. Regungslos verharrte er an der Seite des Bettes und betrachtete den Schlafenden. Ohne es wirklich zu merken, beugte er sich langsam näher zu ihm, musterte die langen silbernen Haare, die wie Porzellan wirkende Haut, die geschlossenen Augen, die hinter den Lidern gelegentlich zuckten. Er hasste ihn dafür, dass er ihn entführt hatte und zur gleichen Zeit faszinierte ihn etwas Unerklärliches an Pegasus. Dieser Kuss, den er ihm auf der Brücke gegeben hatte ... Seto zitterte. In diesem Raum war es noch kälter als im Rest des Schlosses. Wie lange war es wohl her, seit sich ihre Lippen berührt hatten? Er erinnerte sich nur noch daran, dass die Kälte in jenem Moment aus ihm gewichen war und einem ruhigen Gefühl Platz gemacht hatte. Seto schlang die Arme um seinen Oberkörper. Wenn er nur nicht so frieren würde ... Er rieb seine Hände gegeneinander und blies dagegen. Ein Kuss und die Kälte war verschwunden. Ob all seine Küsse diese Wirkung hatten? Und wenn er sich nur einen davon stahl und er es dadurch hier besser aushalten konnte ... Wäre das so schlimm? Er näherte sich Pegasus erneut, schloss die Augen – Vor ihm tauchte Joey auf, lächelte ihn an und streckte ihm die Hand entgegen. Wie süß hatten seine Küsse immer geschmeckt und dieses wunderbare Kribbeln in ihm ausgelöst. Abrupt fuhr Seto zurück, sein Blick verfinsterte sich. Pegasus mochte noch so friedlich aussehen, er war es nicht. Er war kalt. Seine Lippen waren kalt. Alles an ihm war ... kalt. Er war nicht der, für den sein Herz schlug, nach dem es sich sehnte. „Mich wirst du nicht rumkriegen“, zischte der Brünette, fuhr herum und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Das war großartig, ihr beiden. Wirklich großartig.“ Ryou klatschte begeistert in die Hände. „Ich wusste doch, dass es eine gute Idee ist, Seto unser Set vorher nicht zu zeigen.“ Der so Gelobte sah seinen Regisseur zerknirscht an. „Mir wäre eine Vorwarnung trotzdem lieber gewesen. Überall Rosa – fehlten nur noch die Blümchen und die Rüschengardinen.“ „Davon konnte ich Pegasus gerade noch abhalten.“ Katsuya kicherte leise, hob sein Handy und schoss, von den anderen unbemerkt, ein Foto. Das konsternierte Gesicht, das Seto gerade zur Schau stellte, war einfach zu gut, um nicht für die Nachwelt festgehalten zu werden. „Wo wir gerade von ihm reden, will diese Schlafmütze nicht mal aufstehen?“, fragte Ryuji und stupste ihn an. „Peggy, wir sind fertig – Ah, das glaub ich nicht. Hey, Leute, der schläft echt!“ „Wie bitte?“ Ryou, Seto und Katsuya, der sein Handy rasch wieder in der Hosentasche verstaut hatte, traten an seine Seite. „Tatsächlich.“ Katsuya musterte erst ihn und dann Seto mit hochgezogenen Brauen. „Und den ziehst du mir vor?“ „Wovon sprichst du?“ „Von dem Märchen, was denn sonst? Oder dachtest du, ich rede von dir?“ „Nur damit das klar ist“, schnaubte Seto, „ich könnte gar nicht so betrunken sein, um mich mit einem Köter wie dir einzulassen.“ „Herzlichen Dank, Kaiba, freundlich wie eh und je.“ Katsuya warf ihm einen finsteren Blick zu und marschierte aus dem Studio. „Was machen wir denn jetzt mit unserem Dornröschen hier?“, fragte Ryuji. „Oder ... würde Eisröschen da besser passen?“ „Lassen wir ihn noch ein paar Minuten schlafen“, meinte Ryou. „Wir müssen ihn nur wecken, bevor Feierabend ist, sonst wird er hier eingeschlossen.“ Pegasus murmelte etwas, das wie „mein Häschen“ klang, und drehte sich um. Seto verzog das Gesicht. „Will ich wirklich wissen, von was er gerade träumt?“ „Ich auch nicht unbedingt. Wie wär’s mit einem Kaffee?“, schlug Ryuji vor und verließ mit ihm und Ryou die Kulissen. „Nicht weglaufen“, nuschelte Pegasus, „... Siggy ...“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (2) Ein tiefes, durchdringendes Knurren verließ Joeys Magen und ließ den Blondschopf tief seufzen. Ich hätte doch auf Yugi hören und mir was zu essen mitnehmen sollen. Er hatte es dermaßen eilig gehabt, von Yugi und noch viel mehr von seinem Elfenbeinkamm wegzukommen, dass er seinem nachgerufenen Vorschlag, ihm noch etwas zu essen einzupacken, kein Gehör mehr geschenkt hatte. Seit diesem – etwas überstürzten, wie er sich mittlerweile eingestanden hatte – Aufbruch waren drei Tage vergangen. Der Kompassnadel folgend, hatte er sich bemüht, den eingeschlagenen Nordkurs möglichst genau beizubehalten. Über Wiesen, durch Wälder und Felder und vorbei an Städten und kleinen Dörfern hatte ihn der Kompass geführt. Joey hätte gern einen Umweg durch eine dieser Ortschaften genommen, doch einerseits hielt ihn die Befürchtung, man würde nach ihm suchen und ihn erkennen, davon ab, andererseits verfügte er über keinerlei finanzielle Mittel mehr, um sich etwas zu essen zu kaufen. Das Portemonnaie hatte der Fluss, während er ihn umhergewirbelt hatte, an sich genommen. Um seinem Magen zumindest etwas zukommen zu lassen, hatte er im Wald Himbeeren und essbare Wurzeln gesammelt und sich von einem Feld einen Kopfsalat stibitzt. Natürlich wusste er, dass es verboten war zu stehlen, doch ebenso wenig konnte er es sich leisten zu verhungern. Mit einem durchdringenden Knurren meldete sich sein Bauch erneut zu Wort. Wie soll ich es so bis zum Palast des Eisfürsten schaffen, dachte er. So verhungere ich, bevor i – „Ahhh!“ Instinktiv streckte er die Hände vor, um nicht auf dem Gesicht zu landen, als er stürzte und der Länge nach hinfiel. Weiches Moos, in das sich seine Finger gruben, federte den Sturz ab. „Au ...“ Sich die Stirn reibend und ein paar Erdkrümel ausspuckend, wandte er sich zu der Wurzel um, die ihn zu Fall gebracht hatte und bedachte sie mit einem bösen Blick. Seit Stunden wanderte er durch diesen Wald und sein Ende war immer noch nicht abzusehen. Ohne den Kompass hätte er sich hier hoffnungslos verlaufen. Plötzlich zerriss ein lauter Knall, wie von einer Explosion, die Stille. Joey sah sich um. Sekunden darauf ertönte ein zweiter Knall, etwas schlug knapp neben ihm in den Baumstamm ein und blieb rauchend dort stecken. Schüsse ... Da schießt jemand – auf mich! Joey sprang auf, ließ den Blick hastig über seine Umgebung schweifen, bis er an einem Mann hängen blieb, der, sein Gewehr noch im Anschlag, am oberen Ende eines Abhangs stand. „Da! Da drüben ist er!“, rief dieser und deutete auf die Stelle, an welcher sich der Blondschopf befand. Erschrocken japste Joey nach Luft. Die waren hinter ihm her! Gut, er war von zu Hause weggelaufen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, aber rechtfertigte das etwa, gleich ein Erschießungskommando auf ihn anzusetzen? Er war doch kein Schwerverbrecher! Nichts wie weg hier!, dachte er nur noch und nahm die Beine in die Hand. Jetzt war es ihm egal, in welche Richtung er lief, solange er nur viel Raum zwischen sich und die Jäger brachte, die ihm folgten, wie er an den schnellen Schritten hinter sich hörte, die das Laub am Boden rascheln und Zweige knacken ließen. Er hetzte zwischen den Bäumen hindurch, nahm keine Rücksicht auf das Stechen, das sich bald in seiner Seite bemerkbar machte und mit jedem Schritt schlimmer wurde. Diese Kerle würden ihn nicht kriegen, niemals. Wenn er tot war, wer sollte dann Seto aus den Klauen von Pegasus retten? Auch als er merkte, dass sich der Abstand zwischen ihm und seinen Verfolgern vergrößerte, verringerte er sein Tempo nicht. Er wollte ihnen keine Gelegenheit geben, doch noch aufzuholen und ihn niederzustrecken, denn wann immer sie etwas näher an ihn herankamen, pfiffen ihm wieder Schüsse um die Ohren. Die spinnen! Die müssen total verrückt sein, auf Menschen zu schießen. Trag ich etwa seit neuestem ein Geweih oder was für Probleme haben die? Joey blickte über die Schulter, um nach seinen Verfolgern Ausschau zu halten. Von ihnen war kaum noch etwas zu sehen. Nicht mehr lange und er hätte sie abgehängt. Zu spät bemerkte er, dass das Land vor ihm abrupt endete. Bevor sich in seinem Kopf auch nur der Gedanke formen konnte zu bremsen, hatte er den Abhang bereits erreicht und schlitterte ihn hinunter. Seine Füße fanden kaum Halt, auf ein paar kleineren Steinen rutschte er aus und überschlug sich mehrmals, bis er schließlich am Fuß des Hangs liegen blieb. Aus seinem Mund kam ein lang gezogenes Stöhnen. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh und er war sich ziemlich sicher, sich auch jeden davon mindestens einmal gebrochen zu haben. Eine ganze Weile blieb er einfach nur dort liegen, hörte, wie die Jäger sich berieten, weil er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war und ihre Hatz schlussendlich in einer anderen Richtung fortsetzten. Erleichtert kam er, nachdem er vorsichtig geprüft hatte, ob wirklich nichts gebrochen war, auf die Beine. Außer einigen Prellungen und ein paar Schürfwunden hatte er sich nichts Ernsteres getan. Ein kurzes Lächeln glitt über seine Lippen. Mai hatte immer behauptet, sein Schutzengel müsste Überstunden machen. Wie es ihr wohl geht. Und Dad ... „Hilfe! Hört mich jemand? Irgendjemand!“ Die verzweifelt klingenden Rufe ließen ihn aufhorchen. Nicht weit von sich entfernt entdeckte er eine mannshohe Box, die aus drei übereinander gestellten Würfeln zusammengesetzt zu sein schien. Jede der schwarzfarbigen Seiten wurde von einem großen, gelben Fragezeichen geziert. Joey klopfte dagegen. „Hallo? Ist da wer drin?“ „Hallo? Ja, ich bin hier! Bitte hol mich hier raus“, drang eine weiblich klingende Stimme durch das dünne Holz, aus dem die Box gebaut war. „Gern, nur wie denn?“ Joey umrundete die Box, konnte aber keine Tür oder etwas in der Art ausmachen. „Wo geht das auf?“ „Du musst auf den Punkt von einem der Fragezeichen in der obersten Reihe drücken, da ist ein versteckter Mechanismus.“ Gesagt, getan. Joey probierte die Fragezeichen der Reihe nach aus, bis sich, als er auf das dritte drückte, die drei kleinen Einzeltüren der Box öffneten. Das Mädchen, das herausstolperte und nach Luft schnappte, hatte bronzefarbene Haut und lange dunkelbraune Haare. Das hellbeige Kleid, das sie trug, reichte ihr bis zu den Knien, ihre Füße steckten in Sandalen. „Endlich“, keuchte sie. „Ich dachte schon, ich müsste da drin ersticken.“ „Wie bist du da überhaupt reingekommen?“, fragte Joey. „Hat dich jemand eingesperrt?“ „Also ...“, sie kratzte sich verlegen am Kopf. „Ehrlich gesagt war ich das selbst. Ich hab einen Zaubertrick geprobt und mich dabei eingeschlossen – ganz aus Versehen natürlich. Ich bin übrigens Mana.“ Sie streckte ihm die Hand hin, die er lächelnd nahm und kurz schüttelte. „Angenehm, Joey. Sag mal ... Was machst du hier mitten im Nirgendwo mit einer Zauberbox? Kannst du die überhaupt allein transportieren?“ „Ich bin unterwegs zum Schloss des Sommerprinzen, um ihm meine Künste vorzuführen. Weißt du, ich möchte mich bei ihm um eine Anstellung als Hofmagierin bewerben“, plauderte Mana drauflos. „Er hat sich vor kurzem verlobt und ich bin auf den Mann gespannt, der es geschafft hat, sein Herz zu erobern. Er soll sehr anspruchsvoll sein. Hey, da fällt mir ein ... hättest du nicht Lust, mein Assistent zu sein, Joey? Jeder große Zauberer hat eine hübsche Assistentin – und da brauche ich doch als Magierin auch einen gut aussehenden Assistenten, oder?“ „Ich kann nicht, Mana. Ich bin auf dem Weg zum Eisfürst, um meinen Freund Seto zurückzuholen.“ „Zum Eisfürst? Weißt du denn, wo der steckt?“, fragte sie und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Ja, ich habe einen Komp ...“ Joey griff in seine Hosentasche und stellte erschrocken fest, dass er Yugis Geschenk bei seiner wilden Flucht verloren hatte. Er hätte sich ohrfeigen können, dabei hatte er dem Kleinen felsenfest versprochen, gut darauf aufzupassen. Was für ein Glück, dass er die Rosenbrosche an seinem T-Shirt festgesteckt hatte, sonst hätte er sicher auch sie verloren. „Ich hatte einen Kompass“, korrigierte er sich. „Aber egal, ich finde den Eisfürst schon.“ „Hmmm ... Der Sommerprinz könnte was wissen. Eisfürst, Sommerprinz ... überleg mal, da müsste es doch eine Verbindung geben. Du hilfst mir, den Prinzen zu erfreuen und er hilft dir bei der Suche nach Seto. Einverstanden?“ Wieder hielt sie ihm die Hand hin, während Joey überlegte. Yugi hatte sich als Pegasus’ Bruder herausgestellt – auch wenn er nach wie vor nicht glauben konnte, dass der Bunthaarige mit diesem Eispaket von Entführer verwandt sein sollte. So abwegig klang Manas Theorie da nicht. „Okay, abgemacht. Dann lass uns mal dein Gepäck holen und gehen“, meinte er und sah zu der Box. „Wie hast du das unhandliche Teil bloß bisher geschleppt?“ „Gar nicht“, antwortete Mana kichernd und zog aus ihrem Gürtel einen blauen Stab, der in einem goldenen Knauf endete. Mit diesem zielte sie auf die magische Box, murmelte einige Worte und diese schrumpfte in sich zusammen, bis sie so klein war, dass sie auf ihre flache Hand passte. Beides stopfte sie in einen Beutel, den sie sich über die Schulter warf. „Wow ...“ Joey wusste nicht, was er dazu sagen sollte. „So, wir können gehen.“ Pegasus wachte von einem leisen Schaben auf, öffnete die Augen einen Spalt und sah sich um. Am anderen Ende seines Schlafzimmers entdeckte er Siegfried, der, einen Staubwedel in der Pfote, auf seinen Hinterläufen stand und die Möbel abstaubte. Solange Pegasus schlief, war es den anderen Dienern verboten, in seinem Zimmer sauberzumachen, so dass sich der Hase auch darum kümmern musste. „Welcher Tag ist heute?“, gähnte der Eisfürst und reckte sich. „Wir haben den 18. Juni, Herr“, antwortete Siegfried mit einer tiefen Verbeugung. „Ah, dann ist bald Mittsommer.“ Er schwang die Beine aus dem Bett und griff nach seinem weißen Pelzmantel, den er sich überwarf. „Ich gehe mal nach unserem Gast sehen.“ Er verließ sein Schlafgemach und trat auf die Galerie hinaus. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf Seto, der inmitten von rund einem Dutzend kleinerer Spiegelscherbenhaufen hockte und versuchte, diese ihren Plätzen auf der Spiegelfläche zuzuordnen. Sehr viel hatte sich in den letzten Tagen allerdings nicht getan. Pegasus schüttelte missbilligend den Kopf und schritt die Treppe hinab, den langen Mantel wie eine Schleppe hinter sich herziehend. Er blieb hinter Seto stehen und warf einen Blick auf dessen Arbeit. „Sehr weit bist du noch nicht gekommen“, tadelte er den Brünetten und streifte dessen linkes Ohr mit seinen Fingern. Setos Gesicht verzog sich vor Schmerz, als sich an der von Pegasus berührten Stelle Eis ausbreitete. „Scheint, als müsste ich mich mehr anstrengen“, knurrte er. „Ja, das solltest du.“ Der Eisfürst löste den Zauber und wandte sich von ihm ab, drehte sich jedoch nach einigen Schritten erneut zu ihm um. „Während ich geschlafen habe ... habe ich dich vermisst, Seto.“ Statt einer Antwort ballte Seto die Faust, die auf seinem Schoß ruhte. „Vermisst du ihn? Diesen Joey.“ „Ja ... nein ...“ Seto seufzte tief und schloss für ein paar Sekunden die Augen. „Ich weiß es nicht.“ Ich weiß es gerade wirklich nicht. Mir ist so kalt, das verdrängt alles andere Denken aus meinem Kopf. „Deine Hände zittern“, bemerkte Pegasus. „Es ist einige Zeit her, seit ich dich zuletzt geküsst habe, bedenke das. Kümmere dich um den Spiegel. Ich verlasse mich auf dich, Seto.“ Er gähnte. „Ich lege mich wieder hin. Die Sommermonate sind für mich immer am ermüdendsten.“ (3) „Wie weit ist es denn noch?“, murrte Joey und ließ müde den Kopf hängen. „Nicht mehr weit“, sagte Mana und wandte sich kurz zu ihm um. „Das gleiche hast du vor vier Stunden auch schon gesagt.“ „Nur keine Müdigkeit vorschützen, Joey“, lachte sie und bog einen Zweig zur Seite, der ihr im Weg war. Keine fünf Sekunden später jaulte der Angesprochene auf, als ihm das von Mana wieder losgelassene Gesträuch um die Ohren wischte. „Au! Hast du das mit Absicht gemacht?“ „Ups ...“ Sie kicherte peinlich berührt. „Entschuldige. Das wollte ich nicht.“ „Ja, ja ...“ Joey stapfte an ihr vorbei, riss ein Blatt von den tiefer hängenden Zweigen einer Pappel ab und zerfledderte dieses mit seinen Fingern. Sie waren seit dem Morgengrauen unterwegs, er war müde und ihm taten die Füße weh. Allerdings musste er zugeben, dass es durchaus seine Vorteile hatte, mit einer waschechten Magierin unterwegs zu sein. In dem kleinen Beutel, den sie locker über der Schulter trug, verwahrte sie nicht nur ihre magische Box und die anderen Utensilien, die sie zum Zaubern brauchte, sondern auch ein komplett ausgestattetes Zelt, das genug Platz für eine Großfamilie und bequeme Betten bot und – was Joey jedes Mal ein seliges Lächeln entlockte – einen immer gefüllten Kühlschrank. „Wie lange noch?“, fragte er und drehte sich zu Mana um. „Wir sind doch gleich da.“ „Wie oft hab ich diesen Satz heute schon gehört ...“ Er bog ein paar Büsche auseinander. „Oh ... Okay, ich nehme alles zurück, Mana.“ Vor ihnen lag ein weites Tal, durchzogen von einem Fluss und kleinen Bächen, zwischen denen sich Waldstreifen und blühende Wiese befanden. Im Zentrum des Tales, unweit des Flusses gelegen und von hohen, hellen Mauern umgeben, erhob sich ein gewaltiger Palast mit zahlreichen Türmen. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerten die Fassaden wie Gold. Joeys Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. „Na los, Mana, wer zuerst am Eingang ist!“, rief er und machte sich auf den Weg ins Tal. Die junge Magierin schüttelte lächelnd den Kopf und folgte ihm. An der Mauer angekommen, sah sich Joey suchend um. „Wo geht’s denn hier rein?“ „Irgendwo da lang.“ Mana deutete nach rechts. „Dann los ... Worauf wartest du?“ „Sie ... Ich glaube, die lassen uns nicht so einfach rein.“ „Woher willst du das wissen?“ Er beugte sich vor und musterte sie scharf. „Hast du mir was verschwiegen?“ „Na ja, ich ... ich war letztes Jahr schon mal hier und hab mein Glück versucht“, gestand sie kleinlaut. „Und da haben sie mich rausgeworfen.“ „Das kann doch nicht wahr sein, Mana. Und damit rückst du jetzt erst raus?“ „’tschuldige, Joey.“ „Schon okay. Wenn es so nicht geht, suchen wir uns eben unsern eigenen Weg ins Schloss. Hmm, mal überlegen ...“ Mana beobachtete ihn dabei, wie er auf und ab ging. Zwischendurch sah sie sich ängstlich um, ob nicht doch eine der Wachen hier vorbei kam. „Selbst wenn wir durchs Tor könnten, heute Abend kämen wir eh nicht mehr ins Schloss. Vielleicht fällt uns ja morgen früh was ein“, sagte sie, als die Nacht das Land verschluckte. Sie entfernten sich ein Stück von der Mauer, behielten sie aber in Sichtweite, und schlugen ihr Zelt zwischen ein paar Bäumen auf. Joey schlief unruhig und schien selbst im Schlaf noch zu überlegen, wie Mana aus seinem Genuschel heraushörte. Etwa eine Dreiviertelstunde vor Sonnenaufgang fuhr er plötzlich im Bett hoch. „Ah, ich hab’s!“, rief er und schreckte seine Begleiterin damit auf. „Und deshalb machst du so einen Krach?“, gähnte sie und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Wir klettern über die Mauer“, erklärte er, sprang aus dem Bett und begann sich anzuziehen. „Ganz einfach, und dann lassen wir uns auf der anderen Seite runterfallen.“ „Fallen lassen?“ Sie zog ihre Bettdecke höher. „Du, Joey ... Ich hab Höhenangst.“ „Das ist nicht dein Ernst, oder?“, sagte der Blondschopf und zog ihr, als sie keine Anstalten machte, aufzustehen, kurzerhand die Decke weg. „Meine Güte, Mana, wozu bist du eine Magierin? Gibt es keinen Zauber, der uns über die Mauer bringt?“ „Ach, natürlich! Warum ist mir das nicht gleich eingefallen.“ Er verdrehte die Augen und verließ, nachdem er sich noch schnell einen Apfel geschnappt hatte, das Zelt, um an der Mauer auf sie zu warten. „Manchmal bin ich ein Schussel“, lachte sie, zog ihren Zauberstab aus dem Beutel und schwang ihn, einige wohl gewählte Worte murmelnd, durch die Luft. Joey spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor und von ihrem Zauber über die Mauer getragen wurde. Auf der anderen Seite landeten er und Mana in einer Gruppe Farnsträucher. „So, das wäre geschafft und jetzt lass uns nach dem Prinz suchen.“ Im Schutz der Pflanzen und der gerade erst einsetzenden Dämmerung schlichen sie durch die Gartenanlagen, bis sie über einen Seiteneingang den Palast betraten, dessen Bewohner noch in tiefem Schlaf lagen. Weit und breit war niemand zu sehen. Umso verwirrter war Joey, als er sah, wie die Schatten von einem halben Dutzend Männern und Frauen in Abendgarderobe an den Wänden an ihm vorbeiliefen, einander Witze erzählten und lachten – ohne dass ihre Besitzer auch nur in der Nähe zu sein schienen. „Was ist das? Sind d-das ... Geister?“ „Nein, es sind Träume“, antwortete Mana, ohne den Blick von den Schatten zweier Männer abzuwenden, die miteinander tanzten. „Das sind königliche Träume, die gehen uns nichts an.“ Er nahm ihre Erklärung nur am Rande wahr, seine Aufmerksamkeit wurde von einer gebogenen Holztreppe angezogen, die auf eine Galerie im Obergeschoss führte. Die Schatten von Rosen rankten sich am Geländer und der Mauer in die Höhe, als wollten sie ihm den Weg weisen. Von der jungen Magierin unbemerkt, stieg er die Stufen hinauf, mit jedem Schritt aufgeregter werdend. Flüsterten die Schatten nicht den Namen seines Freundes? Und wenn Seto die Flucht gelungen ist? Hat Mana nicht gesagt, der Prinz hätte sich verlobt ... Wenn das nun Seto ist? Hat er mich etwa vergessen? Er folgte den Rosenranken durch die Gänge, bis er zu einer Doppeltür mit Goldbeschlägen kam. Seine Hände zitterten, als er die Klinge herunterdrückte und den Raum betrat. Als erstes fiel sein Blick auf ein großes Doppelbett, das den Raum dominierte. Beim Anblick der braunen Haare, die zwischen den roten Seidenlaken hervorragten, setzte sein Herz für einen Augenblick aus. Konnte es tatsächlich sein ... „Seto?“, flüsterte Joey hoffnungsvoll. Der Schlafende drehte sich um. In die braunen Augen, die ihn musterten, trat deutliche Enttäuschung. Der junge Mann, der vor ihm lag, hatte zwar braune Haare, doch es war nicht sein Seto. Mana hatte unterdessen bemerkt, dass ihr neuer Freund verschwunden war und sich auf die Suche nach ihm gemacht. Man kann ihn auch keine Sekunden aus den Augen lassen, dachte sie. Joey seufzte und wandte sich der anderen Betthälfte zu, wo sich ein Mann mit langen schwarzen Haaren in die Kissen kuschelte. Über ihm hing ein feines Gespinst aus Nebelschwaden, in deren Zentrum Joey zu seiner Überraschung sich selbst sah, wie er im Frack durch einen Wald lief. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“, murmelte er und beugte sich näher heran. Aus seinem Mund entwich ein erschrockener Schrei, als er sich plötzlich einem Paar grüner Augen gegenübersah, das ihn überrascht und verärgert musterte. „Wer bist du und was hast du in meinem Schlafzimmer zu suchen?“, entrüstete sich der Prinz. „Wachen!“ „Nein, Ihr versteht das falsch“, fuhr Joey entsetzt zurück, „ich –“ „Euer Hoheit!“ Die Blicke der beiden richteten sich auf die Tür, durch die Mana hereinkam. „Es wird eine grandiose Show werden, das verspreche ich Euch! Das Beste, was Ihr je erlebt habt.“ Sie griff nach Joeys Hand, um ihn aus dem Raum zu ziehen. „I-ich wollte hier nicht eindringen, Euer H-Hoheit“, stammelte dieser, „ich bin nur auf der Suche nach meinem Freund Seto.“ „Ihr habt gerufen, Prinz Duke?“ Die Palastwache kam, die Hellebarden im Anschlag, ins Zimmer gestürmt und richtete ihre Waffen sogleich auf die beiden Eindringlinge. „Was ist das denn für ein Krach?“, kam es da verschlafen von der anderen Seite des Bettes. „Nichts weiter, Tris, nur ein paar Witzbolde, die meinten, sich in unser Schlafzimmer einschleichen zu müssen“, erklärte Duke. „Aber ich komme mit einem ernsten Anliegen“, versuchte Joey seine Anwesenheit zu erklären. Tristan schaltete die Lampe an seinem Nachttisch an und wandte sich zu ihm um. „Und das konnte nicht bis zu Dukes nächster Audienz warten?“ „Du ... du bist das.“ Der Schwarzhaarige musterte seinen unerwarteten Gast auf einmal mit unverhohlenem Interesse. „Ich träume schon seit Monaten von dir.“ „Vo-von mir? Ehrlich?“ „Ja“, nickte Duke und sah zu den Wachen. „Lasst ihn los und bringt ihn in ein Zimmer, damit er sich ausruhen kann. Erfüllt ihm jeden Wunsch, den er äußert.“ „Wie Ihr befehlt, Herr. Was soll mit der Magierin geschehen?“ „Sie war mir eine große Hilfe“, schaltete sich Joey ein. „Dann ist sie mir auch als Gast willkommen. Aber jetzt wäre ich euch dankbar, wenn ihr uns allein lasst, mein Verlobter und ich würden gern noch etwas schlafen.“ Im Hinausgehen sah Joey noch, wie Tristan das Licht löschte und Duke in seine Arme zog. Kapitel 11: Utopia ------------------ Und weiter geht es, dieses Mal mit einer kleinen Widmung. ^^ Ohne deine Hilfe, liebe , wären einige Szenen wahrscheinlich nie zustande gekommen. Dieses Kapitel gehört dir. (1) http://www.youtube.com/watch?v=HHMXPRm8JFs Tschaikowski – Blumenwalzer (2) http://www.youtube.com/watch?v=c8yygOkG7qM David Arnold’s Untitled Waltz (3) http://www.youtube.com/watch?v=W2_Z2mS-agw Eragon – Burning Farm Kapitel 11 Utopia (1) „Au! Passen Sie doch auf, wo Sie mit den Dingern hinpieken!“, beschwerte sich Joey. „Du zappelst zu viel herum“, lachte Duke, während der Blondschopf den Schneider böse ansah. Seit gut einer Woche waren er und Mana nun schon die Gäste des Sommerprinzen und seines Verlobten Tristan. Joey hatte ihnen alles über Seto und seinen Verdacht, dass der Eisfürst hinter seinem Ve-schwinden stecke, erzählt und sie um Hilfe gebeten, die Duke ihm umgehend zugesagt hatte. Allerdings hatte er darauf bestanden, dass er sich vor dem Fortsetzen seiner Reise ein wenig im Palast erholte, auf ihn würden noch genug Strapazen warten. „So wird dein Frack nie fertig, Joey.“ „Wozu brauch ich überhaupt einen?“ Joey sah an sich herunter. Der Schneider war damit beschäftigt, die Länge der Hose abzustecken. Anzüge war er von offiziellen Anlässen im Hotel seines Vaters gewohnt, aber ein Frack war ein ganz anderes Kaliber. Duke reichte ihm die Hand und wartete, bis sich der Schneider zurückgezogen hatte und Joey von dem Podest gestiegen war, auf das er sich zum Abstecken hatte stellen müssen. Er führte ihn zum Fenster der Suite, die man ihm als Quartier zugewiesen hatte. „Für den Ball natürlich. Sieh selbst, Joey.“ Sie blickten in einen der Innenhöfe des Palastes. Mehr als ein Dutzend junger Männer hatte sich dort versammelt, einige hatten es sich auf den Bänken bequem gemacht, andere flanierten zwischen den bunt bepflanzten Blumenkästen und dem Springbrunnen umher. „Ich verstehe nicht ganz, Euer Hoheit.“ „Sie sind alle nur deinetwegen hierher gekommen“, lächelte Duke. „Wir werden dich verheiraten, also musst du absolut umwerfend aussehen.“ „Heiraten? Aber ich will doch gar nicht heiraten, ich suche nach Seto.“ „Und ich habe versprochen, dir dabei zu helfen. Aber erst siehst du dir diese Männer an. Vielleicht ist ja unter ihnen einer, der dir besser gefällt.“ „Aber es ist Seto, den ich liebe und nur ihn“, sagte Joey verzweifelt und sah sehnsüchtig in den Himmel. Was sollte er mit einem anderen Mann? „Perfekt!“, unterbrach der Schwarzhaarige seine Gedankengänge. „Den Gesichtsausdruck musst du beibehalten, Kleiner! Vertrau mir, du wirst noch vor Mitternacht verlobt sein.“ „Aber ich –“ „Jetzt lass erst mal den Schneider seine Pflicht tun und dann sehen wir weiter.“ Joey betrachtete sich prüfend im Spiegel und drehte sich, ein anerkennendes Lächeln auf den Lippen, um sich selbst. Der Schneider hatte gute Arbeit geleistet, wie er zugeben musste. Der mitternachts-blaue Frack, zu dem er eine weinrote Fliege und einen ebensolchen Kummerbund trug, saß ihm wie angegossen. Die schwarzen Lackschuhe waren auf Hochglanz poliert und warteten nur auf ihren Einsatz beim Tanz. Wirkliche Lust dazu verspürte Joey nicht, aber er hatte Duke versprochen, sich die Männer wenigstens anzusehen, die heute kommen sollten. Es würde ohnehin keiner von ihnen fertig bringen, ihm Seto zu ersetzen. Seto ... Ich wünschte, du könntest mich so sehen. Er warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz vor neun, höchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Immerhin veranstaltete Duke dieses Fest für ihn. Die Rosenbrosche fand ihren Platz in der Tasche seines Jacketts. Seit Yugi sie ihm damals abgenommen hatte, um seine Erinnerungen an Seto zu blockieren, ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Er folgte ein paar kichernden, in elegante Ballkleider gewandeten Damen und ihren Begleitern, die zu Dukes Hofstaat gehörten, durch die Gänge und die große Prachttreppe hinab. Er hatte Stunden damit zugebracht, im Palast umherzustreifen, auf der Suche nach etwas, das ihm bei seiner Suche nach Seto behilflich sein konnte, da sich Duke bisher nicht gerade ausführlich dazu geäußert hatte. Das mochte damit zusammenhängen, dass er die meiste Zeit mit Tristan zusammen verbrachte und mit ihm schäkerte – wodurch sich in Joey wiederum die Eifersucht meldete. Er wollte verdammt noch mal auch seinen Freund umarmen – aber wie sollte er das, solange er im Schloss des Sommerprinzen festsaß, verdammt zum Nichtstun? Was interessierten ihn die abendlichen Partys, wenn er allein hin musste? Wenn Duke morgen immer noch nicht bereit ist, mir zu helfen, gehe ich!, schwor er sich und betrat den Festsaal. Die meisten Gäste hatten sich bereits eingefunden und hielten sich mit ihren Champagnergläsern am Rand der Tanzfläche auf. An der Seite hatte sich ein kleines Orchester eingefunden, das mit dem letzten Stimmen der Instrumente beschäftigt war. Das Licht im Saal wurde etwas abgedunkelt. Die Musiker spielten einen Tusch, zwei Diener öffneten die Flügeltür am anderen Ende des Raums. Seite an Seite schritten Duke und Tristan herein, beide in schwarze Fräcke gekleidet. Wie Joey hatten sie statt der Weste einen Kummerbund aus roter beziehungsweise grüner Seide angelegt. Die Gespräche der Gäste verstummten. Duke räusperte sich und hielt eine kurze Willkommensrede, in der er Joey, welchen er zu sich gezogen hatte, den Gästen noch einmal offiziell vorstellte und ihn – zu seinem Schrecken – bat, jemanden aufzufordern, um den Tanz zu eröffnen. „Euer Hoheit, nein!“, flüsterte er an Duke gewandt. „Stimmt etwas nicht?“ „Davon, dass ich den Ball eröffnen soll, war nie die Rede. So gut kann ich auch wieder nicht tanzen und ... und die werden mich alle anstarren.“ „Wenn du Angst hast, dann überlass deinem Partner die Führung“, erwiderte der Schwarzhaarige, ohne etwas von dem breiten Lächeln einzubüßen, mit dem er seine Gäste musterte. „Das wird schon funktionieren.“ Er gab den Musikern ein Zeichen, reichte Tristan die Hand und schritt mit ihm auf die Tanzfläche. Dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit nun dem Blondschopf zuwandte, war diesem mehr als unangenehm. Zu Hause unter seinen Freunden hatte er keine Probleme zu tanzen, nur hier, vor all diesen vornehmen Leuten ... Wie war das noch mit dem Walzerschritt? Unsicher sah er sich unter den Anwesenden um. Wenn er nicht endlich jemanden aufforderte, würde er sich bis auf die Knochen blamieren. Er verbeugte sich vor dem, der ihm am nächsten stand und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er ihm nicht dauernd auf den Füßen herumtrampelte. Sein Tanzpartner hatte lange, türkisfarbene Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Sobald sich auch die beiden in Position begeben hatten, setzte das Orchester mit dem ersten Walzer ein, den Joey trotz seiner Nervosität einigermaßen zu seiner Zufriedenheit meisterte. Aus seinem Vorhaben, die Tanzfläche danach zu verlassen, wurde allerdings so schnell nichts. Dartz, wie sich ihm sein erster Tanzpartner vorgestellt hatte, ließ ihn erst aus seinen Armen, nachdem er noch zwei Tänze mit ihm absolviert hatte und kaum glaubte er, ihm entkommen zu sein, führte ihm Duke schon den nächsten Mann zu, der den Blondschopf um einen Tanz bat. Ehe er sich versah, waren mehrere Stunden vergangen und trotz der kurzen Pausen, die ihm Duke auf Tristans Bitte hin eingeräumt hatte, taten ihm die Füße weh. Mana genoss ihren großen Auftritt vor dem versammelten Hof, holte aus dem Nichts duftende Blumen und Tauben hervor, ließ eine der Hofdamen durch den Saal schweben und einen der Bediensteten in ihrer magischen Box verschwinden. Joey wünschte sich fast, er wäre an der Stelle des Mannes gewesen. Es nervte ihn, dass Duke ihn anscheinend um jeden Preis verkuppeln und nicht einsehen wollte, dass er nur an Seto Interesse hatte. Da konnten noch so viele adlige und gut betuchte Heiratskandidaten ankommen. „Sie sind ein wunderbarer Tänzer, Joey.“ „Und das sagen Sie, obwohl ich Ihnen dauernd auf die Füße trete, Valon?“, fragte er. Diese Methode hatte sich in den letzten Stunden bewährt, um die Herren etwas schneller loszuwerden. „Davon habe ich bisher nichts gemerkt“, erwiderte Valon lächelnd. „Es kommt eben nur darauf an, einen guten Tanzpartner zu haben – so wie mich. Ich habe gerade mein technisches Studium an der Universität abgeschlossen, selbstverständlich mit Auszeichnung. Nebenbei modele ich hin und wieder.“ Er drehte den Kopf nach links und rechts. „Welche, denken Sie, ist meine Schokoladenseite? Ich finde ja, dass ich von rechts am besten wirke.“ Joey verdrehte leicht die Augen und hielt nach Duke Ausschau. Das war schon ihr dritter Tanz zusammen und Valon kannte nur ein Thema: sich selbst. Er entdeckte den Schwarzhaarigen am Rand, wo er sich mit einem der Männer unterhielt, die Joey bereits abgewiesen hatte. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?“, wandte er sich höflich an Valon. „Jetzt? Aber wir sind doch gerade so schön drin.“ „Trotzdem. Entschuldigen Sie.“ Er zwang sich, sein Lächeln aufrecht zu erhalten, nickte dem anderen kurz zu und schlängelte sich, erleichtert, Valon zu los sein, zwischen den Tanzenden hindurch. „Euer Hoheit, kann ich Euch kurz sprechen?“ „Natürlich, Joey.“ Duke bat seinen Gesprächspartner, sich zu entfernen. „Stimmt etwas nicht?“ „Also, direkt ausgedrückt: Valon ist ein eitler Gockel.“ „Ich dachte, er gefällt dir“, sagte Duke. „Euer Hoheit, ich suche hier nach niemandem. Ehrlich nicht.“ „Ich verstehe schon, du bist etwas scheu.“ „Ihr versteht es eben nicht“, seufzte Joey und verließ den Ballsaal über den Terrassenausgang. „Duke, lass es doch.“ Tristan trat neben seinen Verlobten und zog ihn in seine Arme. „Wenn er nicht will.“ „Was Pegasus einmal hat, gibt er nicht mehr heraus. Ist es dann nicht besser, wenn er sich neu verliebt und seinen Freund vergisst? Einen Trumpf habe ich noch.“ „Dass du auch immer deinen Kopf durchsetzen willst“, sagte Tristan lächelnd. „Hab ich dich auf die Art nicht auch herumgekriegt?“, erwiderte er und küsste ihn zärtlich. Tristans Zunge glitt auffordernd über Dukes Lippen, bis ihr der erwünschte Einlass gewährt wurde, um ihren Kuss zu vertiefen. (2) Die Ellbogen auf die Balustrade gestützt, die die Terrasse umgab, hatte Joey den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete die Sterne. Ob Seto sie sich auch gerade ansieht? Wenn er überhaupt ein Fenster hat ... Pegasus traue ich es eher zu, dass er ihn in ein Verlies geworfen hat. „Haben Sie kein Interesse mehr an dem Ball?“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm und brachte ihn dazu, sich umzudrehen. Vor ihm stand ein junger Mann, nur wenig älter als er. Das gebräunte Gesicht wurde von sandfarbenen Haarsträhnen eingerahmt, die Augen erinnerten Joey in ihrer Farbe an Veilchen. „Marik Graf von Surda“, stellte er sich mit einer eleganten Verbeugung vor. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen zusammen.“ „Wollen Sie auch mit mir tanzen?“, stöhnte Joey genervt. „Nur sofern bei Ihnen Interesse besteht ... Aber das scheint mir nicht der Fall zu sein.“ „Entschuldigen Sie.“ Er seufzte. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Dieser Abend ist nur etwas anstrengend für mich. Seine Hoheit hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verkuppeln.“ „Ach so. Aber wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, es ist doch auch nicht gut, wenn ein junger, gut aussehender Mann wie Sie alleine bleibt“, sagte Marik und schenkte seinem Gegenüber ein charmantes Lächeln. „Ich bin eigentlich nicht allein, mein Freund ist nur gerade ... unpässlich, sozusagen.“ „Ist er auch hier?“ „Nein. Er ist ganz weit weg.“ Joey wandte sich wieder dem Himmel zu. „Und deshalb blasen Sie solche Trübsal?“ Der junge Graf lehnte sich neben ihm an die Balustrade. „Es ist so eine schöne Nacht, genießen Sie sie. Ihr Freund wird es Ihnen schon nicht übel nehmen, wenn Sie auch etwas Spaß haben.“ „Meinen Sie?“ „Aber sicher doch. Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang? Das bringt Sie auf andere Gedanken.“ Sie verließen die Terrasse und begaben sich in den Schlosspark. Die Wege waren mit brennenden Fackeln beleuchtet, im Gras zirpten die Grillen und einige Nachtfalter umkreisten die flackernden Lichtquellen. Die beiden jungen Männer wanderten schweigend über die mit Kies bestreuten Wege, die sich zwischen den bunten Blumenbeeten hindurchschlängelten. Auf einer Bank, an der sie vorbeikamen, hatten sich zwei von Joeys ehemaligen Verehrern niedergelassen und trösteten sich gegenseitig, wenn man die wilden Küsse zwischen ihnen so interpretieren wollte. Der Blondschopf beschleunigte seine Schritte und lenkte sie zum Schloss zurück. Überall Pärchen, das war ja nicht zum Aushalten. Marik musste laufen, um aufzuholen und mit ihm Schritt zu halten. „Warum haben Sie es auf einmal so eilig?“ „Mir wird die Luft hier draußen etwas zu süß“, brummte er und sah einer Hofdame nach, die, von ihrem Begleiter verfolgt, auf den Irrgarten zulief. „Joey, wo bist du gewesen? Wir suchen dich schon überall“, rief ihm Duke entgegen. „Oh nein, nicht der schon wieder“, murmelte er. „Hatten Sie eben nicht was von tanzen gesagt, Marik?“ Dieser Aufforderung kam Marik nur zu gerne nach und führte ihn auf die Tanzfläche, wo eben der nächste Walzer begann. Wenn er so Dukes Verkupplungsversuchen entkommen konnte, war Joey nahezu jedes Mittel recht. Während sie sich zur Musik durch den Saal bewegten, rutschte Mariks Hand langsam, ohne dass sein Tanzpartner es mitbekam, tiefer, bis sie an seinem Poansatz lag. Duke beobachtete die beiden lächelnd. „Du bist ja ganz schön durchtrieben“, meinte Tristan. „Setzt unseren größten Charmeur auf den armen Joey an.“ „Was soll ich machen, wenn die andern alle bei ihm versagt haben? Er ist hartnäckig.“ „Ich weiß nur nicht, ob das der richtige Weg ist, Duke.“ Marik zuckte zusammen, als ihm sein Partner versehentlich kräftig auf den Fuß trat und musste sich zwingen, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. In den vergangenen Jahren hatte er schon viele Herzen an Prinz Dukes Hof erobert und ebenso viele gebrochen. Joey aber würde das Kronjuwel in seiner kleinen Sammlung werden und er gedachte ihn dieser noch heute Nacht hinzuzufügen. Die Chancen, dass der blonde Junge ihn nicht abweisen würde, standen gut. Er hatte jetzt schon mehr Zeit mit ihm verbracht als mit jedem seiner Vorgänger und ihm nach dem Spaziergang sogar den erhofften Tanz gewährt. Er beugte sich näher zu Joey heran. „Sehen Sie, jetzt genießen Sie den Abend doch noch“, hauchte er ihm ins Ohr und fühlte unter seinen Fingern ein leichtes Erschauern von Seiten den Blonden. Dieser hatte die Augen halb geschlossen und stellte sich vor, wie er mit Seto statt Marik durch den Raum schwebte. Durch seine Reaktion mutiger geworden, strich Marik über dessen Gesäß. Dem wohligen Seufzen folgte die Ernüchterung, als sich die braunen Augen öffneten. „Nehmen Sie Ihre Hand da weg“, knurrte Joey und stieß den überraschten Grafen von sich. „Aber was –“ „Sie sind nicht wie die anderen, Sie sind schlimmer!“ Duke noch einen wütenden Blick zuwerfend, rauschte er aus dem Ballsaal. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Au! Musstest du so fest zutreten, Katsuya?“, beschwerte sich Marik und hüpfte auf einem Bein durch den Saal. „Entschuldige, das war doch keine Absicht.“ „Das kann hinterher jeder behaupten!“ „Nimm es nicht so persönlich“, sagte Seto. „Hunde sind eben keine guten Tänzer.“ So könnte er mal mit mir tanzen, fügte er in Gedanken hinzu. Äh ... was denke ich da? „Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt.“ Katsuya funkelte ihn gereizt an. „Lern lieber deinen Text, damit du nachher keinen Hänger hast.“ „Ich habe nie einen Hänger, egal bei was.“ „Das möchte ich sehen.“ „Sollen wir euch allein lassen?“, erkundigte sich Marik feixend. „Was soll das blöde Grinsen?“, kam es von den beiden Streithähnen. „Och, ich dachte ja nur, ihr wollt vielleicht ungestört sein, wenn Seto unter Beweis stellt, dass bei ihm ... nichts hängt.“ Katsuya schnappte hörbar nach Luft. „So hab ich das doch gar nicht gemeint!“, rief er und fuchtelte wild mit den Armen herum. „Aber gedacht?“ „Auch nicht!“ „Was für ein Theater“, brummte Seto und vergrub sich in seinem Textbuch, um ein letztes Mal die Szene durchzugehen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Die Arme vor der Brust verschränkt, schritt Pegasus um Seto herum und musterte ihn unzufrieden. Immer noch war ein großer Teil des Spiegels leer. „Mit welchen Worten soll ich dich nur beschreiben, Seto? Hmm ... Willensstark?“ Er ließ die Arme sinken und ging an ihm vorbei auf die Treppe zu. „Du strapazierst meine Geduld.“ Setos Hände ballten sich zu Fäusten. „Ich habe hart gearbeitet, Pegasus, ich brauchte nur eine Pause. Auch ich kann nicht ständig arbeiten.“ Was sollte er denn noch tun? Er verbrachte unzählige Stunden damit, die Scherben miteinander zu vergleichen und zu versuchen, sie an ihren Platz im Rahmen des Spiegels zu setzen. Als Pegasus zu ihm gekommen war, hatte er sich gerade eine kurze Erholungspause gegönnt und die Rose betrachtet, die er Joey hatte schenken wollen. Noch immer hielt er sie in der Hand. Pegasus blieb bei seinen Worten stehen, wandte sich langsam zu ihm um. „Ich denke, dein Problem liegt woanders“, sagte er, während er sich ihm näherte. „Bei diesem Jungen.“ Er nahm Seto die Rose aus der Hand und betrachtete sie nachdenklich, führte sie an seine Nase und seine Lippen. Die Blütenblätter waren weich ... So ganz anders als seine Eisblumen. „Wie war sein Name noch ... Joey?“ Er begann die roten Blätter einzeln abzuzupfen. „Wie ist er so, mein Rivale?“ „Gib mir die Rose zurück“, sagte Seto, der die Zähne zusammenbeißen musste, um mit ihnen nicht vor Kälte zu klappern. „Sie ist alles, was ich noch habe.“ „Alles, was du hast? ALLES?“, schwoll die schneidende Stimme des Eisfürsten an. „Ich habe dir alles angeboten! Hast du eine Ahnung, wie verletzend das ist?“ Er fuhr herum und marschierte, die Rose weiter ihrer Blütenblätter beraubend, die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Lachend glitten Seto und Joey über den zugefrorenen See und genossen die abendliche Stille, die am Rand der Stadt herrschte. Kein dauerndes Versteckspiel mit Mr. Wheeler, wie sie es im Hotel treiben mussten, hier draußen gab es nur sie beide und den unendlichen, klaren Himmel ... aber etwas störte. Irgendwo klatschte jemand, Joey konnte niemanden ausmachen. Es wurde lauter. Er setzte sich im Bett auf, mit einem Mal hellwach, und sah sich verstört um. Es war Morgen, die Sonne schien ins Zimmer herein. Alles gut und schön, nur was machten all diese Menschen in seinem Schlafzimmer? Neben dem Bett saß, auf mehrere Stuhlreihen wie in einem Kino verteilt, gut ein Dutzend Männer und Frauen, die Joey bei näherem Hinsehen als Mitglieder von Dukes Hofstaat erkannte. Seine Hoheit selbst saß in der ersten Reihe und applaudierte ihm anerkennend. „Das war ein wunderbarer Traum, Joey.“ „Habt Ihr mich etwa beobachtet?“ „Du hast meinen Traum in der ersten Nacht auch gesehen.“ Joeys Gesichtsausdruck wandelte sich von Verblüffung zu Entrüstung. „Und Ihr habt mir versprochen, mir den Weg zum Eisfürst zu zeigen, wenn ich Euch erinnern darf. Dabei habt Ihr mich die ganze Zeit hier nur festgehalten“, schnaubte er. „Um Partys zu feiern.“ „Du bist zu ungeduldig, mein lieber Joey“, erwiderte Duke ruhig und ließ sich von einem Diener ein zusammengerolltes Pergament aushändigen. „Alle Informationen, die du benötigst, befinden sich hier auf dieser Schriftrolle und heute Abend wird sie dir gehören.“ „Warum wollt Ihr sie mir nicht gleich geben? Ich muss Seto endlich finden, mir läuft die Zeit davon.“ „Aber er ist doch hier“, sagte Duke und machte eine raumumgreifende Geste. „Er ist hier? Wo?“ Joey sprang aus dem Bett, dem völlig zerknitterten Frack, den er nach wie vor trug, keine Beachtung schenkend. Nach seiner Flucht am gestrigen Abend hatte er sich auf sein Bett geworfen und war fast sofort eingeschlafen, ohne sich noch die Mühe zu machen, sich auszuziehen. „In deinen Träumen und immer perfekt. Was gibt es besseres?“ „Bin ich vielleicht immer perfekt?“ Tristan trat ein und stellte sich zwischen die beiden. „Also ... nein“, gab der Sommerprinz zu. Auf seinen Wink hin verließen die Höflinge das Zimmer und ließen sie allein. „Und hast du mir bei unserem Kennenlernen nicht selbst erzählt, dass dich Perfektion langweilt?“ „Schon ...“ „Warum bestehst du dann darauf, Joey in ein Leben zu drängen, das er gar nicht führen will?“ „Danke, Tristan. Euer Hoheit, ich bin Euch ja dankbar, nur ... Ich möchte nicht in einer Traumwelt leben.“ „Ich hoffe nur, du weißt, worauf du dich da einlässt“, sagte Duke und reichte ihm die Karte, die er sogleich entrollte und die eingezeichneten Wege studierte, die gen Norden führten. Nach dem Frühstück genoss Joey ein letztes Mal die heiße Dusche, sich im Hinterkopf notierend, dass sein Vater für das Hotel vielleicht auch diese Duschköpfe mit Massagefunktion anschaffen sollte. Als er danach in sein Zimmer zurückkam, fand er neben T-Shirt und Hose eine Garnitur Motorradkleidung aus schwarzem Leder vor. „Was soll ich denn damit?“, murmelte er und schlüpfte probehalber in die Sachen hinein. Von der Tür kamen zwei anerkennende Pfiffe. „Wow, du siehst gut aus“, sagte Duke. „Wenn ich nicht schon Tris hätte ...“ Dieser warf ihm einen schiefen Blick zu, lachte dann aber, als sich sein Verlobter verlegen am Kopf kratzte. „Aber wozu brauche ich die?“ „Komm einfach mit“, sagte Tristan, legte den Arm um Dukes Hüfte und zog ihn mit sich. Joey schloss sich ihnen an und folgte ihnen nach draußen in den Vorhof des Schlosses. „Wir haben ein kleines Abschiedsgeschenk für dich vorbereitet.“ „Das ist ja ... der reine Wahnsinn!“, flüsterte er. Bewundernd ging er um das rot-schwarze Motorrad herum. „Und das wollt ihr mir wirklich schenken?“ „Zugegeben, ich trenne mich nicht gern von dem Baby, aber ja, sie ist für dich“, sagte Tristan und tätschelte liebevoll den Lenker. „Bei dir weiß ich meine Black Dragon in guten Händen.“ „Ich werde mich gut um sie kümmern.“ „Genug zu essen habe ich dir auch einpacken lassen“, sagte Duke. „Pass gut auf dich auf und wenn du deinen Seto gefunden hast, kommt mal bei uns vorbei.“ „Machen wir“, versicherte er den beiden. „Hey, Joey!“ Das Schlossportal wurde aufgerissen, Mana kam auf sie zugelaufen. „Wolltest du einfach gehen, ohne dich von mir zu verabschieden? Schäm dich.“ Beim Anblick der schmollenden Magierin lachten die drei jungen Männer. Joey wuschelte ihr durch die Haare. „Nein, natürlich nicht. Was wirst du denn jetzt machen?“ „Ich habe die Stelle als Hofmagierin bekommen“, strahlte sie. „Erst mal probeweise“, schränkte Duke ein. „Aber immerhin. Ich gratuliere dir, Mana. So, wird Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Also, Leute ... Vielen Dank für eure Hilfe. Wir sehen uns“, sagte Joey, setzte den Helm auf und schwang sich auf das Motorrad. Er löste die Kupplung und ließ die Maschine laut aufheulen, bevor er langsam die Auffahrt entlangfuhr. Noch ein letztes Mal winkte er seinen neuen Freunden vom Tor aus zu, dann war er verschwunden. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Puh, bin ich geschafft.“ Ryuji nahm dankend das Handtuch entgegen, das ihm einer der Helfer reichte, und wischte sich die Stirn ab. „Unser kleiner Ryou kann als Regisseur richtig anstrengend sein.“ „Da sagst du was.“ Honda schüttete sich den Rest aus seiner Wasserflasche über den Kopf und schüttelte sich, dass die Tropfen kreuz und quer durch die Gegend flogen. „Hey! Nur weil ich gleich unter die Dusche will, heißt das noch lange nicht, dass du mir eine verpassen sollst“, beschwerte sich der Schwarzhaarige. „Stell dich nicht so an, ist doch nur Wasser.“ Honda klopfte dem neben ihm Stehenden gutmütig auf die Schulter. „Wollen wir ins Hotel zurück? Es gibt bald Mittagessen.“ „Sag nicht, du hast schon wieder Hunger.“ Das Filmteam war für drei Tage nach Kyūshū, in die Stadt Kumamoto gefahren, um in der dortigen Burg und dem umgebenden Park die Außenaufnahmen für die Szenen im Schloss des Sommerprinzen zu drehen. Da November war und die Vegetation sich entsprechend nicht sonderlich grün zeigte, sollten diese anschließend am Computer nachbearbeitet werden. „Was kann ich dafür, wenn das Essen so gut ist“, verteidigte er sich, beförderte seine Flasche in den nächsten Papierkorb und ging einige Schritte. „Kommst du?“ Sie verließen den Schlosspark und begaben sich zu ihrem Mietwagen, den sie außerhalb der Anlage abgestellt hatten. „Du bist heute so still“, bemerkte Honda nach einer Weile. „Ich denke nach.“ Ryuji warf einen Blick in den Rückspiegel und fädelte sich in die linke Spur ein, um abzubiegen. „Und worüber, wenn ich fragen darf?“ „Bei der letzten Kussszene hättest du auf das bisschen Zunge auch verzichten können“, brummte er, „oder ... willst du mir damit irgendwas sagen?“ Sein Beifahrer lachte trocken. „Keine falschen Anschuldigungen, ich bin stockhetero.“ „Was heißt hier Anschuldigungen? Du hast mich geküsst.“ „Doch nur für die Szene – Bremsen!“ Honda warf sich in den Sitz zurück. „Pass auf den Verkehr auf, statt über so was mit mir zu diskutieren.“ „Ich passe auf, im Gegensatz zu dir, wie mir scheint. Im Drehbuch stand ‚Kuss’ als Anweisung. Das bedeutet für uns einen Filmkuss, wir tun nur so, als ob“, erklärte er gereizt. „Aber du hast deine Zunge eindeutig in meinen Mund geschoben!“ „Ach so ... Und deswegen zweifelt Mister Verschweigst-du-mir-was plötzlich an meinen Absichten?“, begann er lauthals zu lachen. „So ungefähr jedenfalls“, sagte Ryuji ein wenig leiser. „Das ist zu komisch“, kicherte sein Beifahrer. „Wirklich – ahhh, rote Ampel! – Achte auf die Straße, verflucht! Ich will heil im Hotel ankommen.“ „Ich finde das nicht so komisch.“ „Mal ehrlich“, sein Lachen hatte sich immer noch nicht wirklich beruhigt, „tut mir ja leid, dich da so furchtbar enttäuschen zu müssen, Ryuji, aber – da kommt was von links! - dieser Kuss war leider rein professionelle Schauspielerei.“ Allmählich machte sich auch auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen ein Grinsen breit. „Was heißt hier leider?“ „Sag bloß, es hat dir doch gefallen!“ „So würde ich das nicht nennen“, erwiderte er, leicht rot um die Nase werdend. „Aber so viel steht fest, die Mädchen werden deine Freundin beneiden.“ Kapitel 12: Herbstblätter ------------------------- (1) http://www.youtube.com/watch?v=dMsdON76Z_Y&feature=related Pirates of the Caribbean Soundtrack – At Wit’s End Kapitel 12 Herbstblätter (1) Joey genoss das Gefühl, die Vibration des Motorrads, einer Honda CBR 1100RR, unter sich zu spüren, das ihn mit jeder vergehenden Minute weiter nach Norden und damit näher zu Seto trug. Seine gute Stimmung bekam einen empfindlichen Knick, als er das Tal, in dem das Schloss des Sommerprinzen lag, verließ und auf die Straße gelangte, die in seiner Karte eingezeichnet war. Die Bäume, die sich zu beiden Seiten aufreihten, trugen statt sattgrüner Blätter ein buntes Kleid, in das sich neben dem Grün auch Gelb- und Rottöne mischten. Aber es war doch gerade erst Anfang Juli ... Oder war ihm die Zeit nur so kurz vorgekommen? Bei Yugi hatte er schließlich auch nicht gemerkt, wie schnell die Monate verstrichen waren. Das machte ihn nervös. Welcher Monat, welcher Tag war? September oder gar schon Oktober? Wie viel Zeit blieb ihm noch bis zum Winteranfang? Wenn er nun nicht rechtzeitig kam ... Daran wollte er nicht einmal denken. Die Lebensmittelvorräte waren für mehrere Tage bemessen, wie Joey bei seiner ersten Pause festgestellt hatte, ebenso hatte er eine warme Decke und Geld vorgefunden, um an den Tankstellen neues Benzin zapfen und Lebensmittel kaufen zu können. Die Nacht verbrachte er in einem kleinen Motel am Straßenrand, wo er sich noch einmal die Karte vornahm, die ihm Duke gegeben hatte. Nach dieser gab es drei Wege, die zum Gebiet des Eisfürsten führten. Beim ersten war auf halber Strecke ein Sumpf, den es zu durchqueren galt, weshalb Joey ihm keine weitere Beachtung schenkte. Ohne halbwegs gute Wege würde er da Schwierigkeiten haben, mit seiner Maschine durchzukommen. Wenn er immer dieser Straße folgte, kam er laut Karte auch hin, aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass ihn die Sicherheit, die diese Route versprach, Wochen kosten würde. Damit blieb nur noch die Route über den Wald, zu dem die Straße auf halber Strecke abzweigte. „Lieber über unebenes Gelände als in den Sumpf“, sagte er sich, rollte die Karte zusammen und streckte sich auf dem Bett aus. Joey wollte am nächsten Tag so früh es ging weiterfahren. Ah, da vorne ist ja der Turm, dann müsste gleich die Abzweigung zum Wald kommen. Endlich. Es war Nachmittag, in den vergangenen Stunden war die Landschaft immer bergiger geworden. Joey betätigte den Blinker und bog, dem Wegweiser folgend, nach rechts ab. Eine gute halbe Stunde und einen Stopp bei der Tankstelle später (die nächste war erst auf der anderen Seite des Waldes) erreichte er das Waldgebiet und drosselte sein Tempo. Die Straße war nass, es schien erst vor kurzem geregnet zu haben und das von den Bäumen herabgefallene Laub bildete eine rutschige Schicht auf dem Boden. Besonders in dieser einsamen Gegend wollte er es nicht riskieren, aus Leichtsinn bei seiner Fahrweise einen Unfall zu produzieren. Von der Sonne war während des ganzen Tages noch nichts zu sehen gewesen; sie versteckte sich hinter dicken, grauen Wolken, die aussahen, als wollten sie sich jede Minute eines kräftigen Regenschauers entledigen. Die Straße wurde nach kurzer Zeit schmaler und verengte sich auf eine Fahrbahn, gleichzeitig rückten die Bäume dichter heran. Ihre ausladenden, bunten Blätterdächer schluckten, was vom Tageslicht noch übrig war, was Joey zwang, das Licht anzuschalten, wollte er nicht blindlings durch die so entstandene Dämmerung fahren. Die Stunden verstrichen und immer noch war nicht das Ende des Waldes in Sicht. Dafür jedoch, wie er bei einem Blick auf die Tankanzeige bestürzt feststellte, ging sein Benzinvorrat langsam aber sicher seinem Ende entgegen. Einige Kilometer schaffte er noch, dann stotterte der Motor und erstarb. „Verdammt, das kann doch nicht wahr sein!“, rief er und trat frustriert gegen das Motorrad. „Wofür hab ich voll getankt? Der Kerl hat mir versichert, dass ich damit locker bis zur nächsten Tankstelle komme.“ Er nahm den Helm ab, hängte ihn an den Lenker und begann zu schieben. Die von den Bäumen hervorgerufene Dämmerung wurde von der Abenddämmerung abgelöst und ließ ihn noch mehr fluchen. Die Straße war immer schlechter zu erkennen und wenn er nicht bald auf eine Tankstelle oder ein Rasthaus stieß, sah es nach einer Nacht im Freien für ihn aus. Eine Stunde später war seine Befürchtung Gewissheit. Man sah kaum noch die Hand vor den Augen, seine Beine konnte er kaum noch spüren. Mit einem bitteren Seufzen gab er sich für heute geschlagen und verließ die Straße, um sich für die Nacht einen Platz am Straßenrand zu suchen. Das Motorrad lehnte er an den Stamm einer dicken Kiefer, unter der er eine Stelle von den trockenen Nadeln befreite und mit einem Ring aus kleinen Steinbrocken umgab. Schließlich wollte er sich mit dem Holz und Reisig, das es hier in rauen Mengen gab, nur ein kleines Lagerfeuer anstecken, um sich in der Nacht daran wärmen zu können, und nicht den ganzen Wald in Brand setzen. Wie er aus einer Zeitung an der Tankstelle erfahren hatte, war Oktober und für die nächsten Tage war kühles Wetter angesagt. Sobald das Feuer richtig prasselte, steckte er etwas Fladenbrot, Schinken und Käse auf einen abgebrochenen Ast und hielt diesen in die Flammen, um alles zusammen zu rösten. Beim ersten Abbeißen verbrannte er sich die Zunge an dem geschmolzenen Käse und hätte den Stecken mit seinem Essen um ein Haar ins Feuer fallen lassen. „Was machst du gerade, Seto?“, flüsterte er und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. „Ich vermisse dich.“ Die lange Reise forderte ihren Tribut und ließ ihn, kaum dass er sich nach dem Essen in seine Decke gehüllt hatte, einschlafen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Joey schlief tief und fest und bekam nicht mit, wie sich ihm Schritte näherten“, las Anzu. „Okay“, sagte Ryou. „Und jetzt kommen – Hey, wo ist Bakura schon wieder?“ Er sah sich nach seinem großen Bruder um, konnte ihn jedoch nicht am Set entdecken. Seinem Mund entwischte ein missgelauntes Knurren. „Das ist wieder typisch für ihn“, brummte er. „Nie ist er da, wenn man ihn braucht. Amelda, Honda, wärt ihr so nett und schaut kurz, wo er steckt?“ Sie hatten den Raum noch nicht zur Hälfte durchquert, als die Studiotür geöffnet wurde und Bakura gehetzt hereinstürmte, dicht gefolgt von Yami, der sich im Laufen rasch das Hemd richtig in die Hose stopfte. Ihre Kollegen verdrehten genervt die Augen. „Ich weiß, ich bin ’ne Minute zu spät dran“, keuchte er, „hab Yami schnell bei was geholfen.“ „Ich kann mir gut denken, was das war, Kura.“ Dieser sah seinen Bruder überrascht an. So wütend kannte er seinen kleinen Ryou ja gar nicht. „Könnt ihr nicht wenigstens mal für ein paar Minuten die Finger voneinander lassen? Ist das etwa zu viel verlangt?! Wie sollen wir unseren Zeitplan einhalten, wenn ständig jemand aus der Reihe tanzt.“ „Es war wirklich nur –“ „Lass dir das Gesicht abpudern und dann ab auf deinen Platz, ich will die Szene heute noch in den Kasten kriegen“, fauchte sein jüngerer Bruder. Die Arbeit als Regisseur tut ihm eindeutig nicht gut, dachte Bakura. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Der Wind frischte auf und riss die Wolken auseinander. Perlweiß präsentierte sich der Mond am Nachthimmel und tauchte den Wald in sein fahles Licht, wo er es schaffte, die Baumkronen zu durchdringen. Die Blätter an den Bäumen raschelten, wenn der Wind durch sie hindurchfuhr und übertönten dadurch die Geräusche der acht Männer, die durch das gefallene Laub liefen und sich der Kiefer näherten, unter der Joey schlief. „Sieh mal, Boss, da scheint sich wer verlaufen zu haben.“ „Ein süßes Bürschchen“, flüsterte der nächste. „Der wäre was für mich.“ „Schnauze, Allister“, kam es vom Anführer der Gruppe. Unter der Kapuze seines dunklen Mantels blitzten einige weiße Haarsträhnen hervor. Das Gewirr von Stimmen weckte Joey. Schlaftrunken hob er den Kopf, um die Geräuschquelle ausfindig zu machen und blickte sich um. „Ey, er ist wach, Boss.“ „Wie ... Wer seid ’n ihr?“, fragte Joey und gähnt ausgiebig. Er war mitten aus dem Tiefschlaf gerissen worden. „Die Fragen stelle ich. Wer bist du und was hast du in unserem Wald zu suchen?“ Der Anführer schlug seine Kapuze zurück, so dass Joey sein Gesicht sehen konnte. Er fühlte sich entfernt an seinen Freund Ryou erinnert, nur dass der Mann vor ihm ein paar Jahre älter zu sein schien, einen harten Zug um den Mund hatte und eher wie ein Straßenräuber aussah. „Entschuldigung, ich wusste nicht, dass der Wald euch gehört. Ich bin nur auf der Durchreise.“ „Auf der Durchreise? So so“, höhnte sein Gegenüber und taxierte ihn von oben bis unten. „Teure Sachen, die du da trägst, Kleiner, und das Motorrad sieht auch nicht gerade wie vom Schrotthändler aus. Du kommst mit uns.“ „Bitte was? Aber –“ „Ja?“ Joey konnte kaum so schnell schauen, wie der Weißhaarige aus seinem Gürtel ein langes Messer zog und es ihm mit einem maliziösen Lächeln an die Kehle setzte. „Hast du irgendwelche Einwände?“ „N-nein.“ Er schluckte schwer. „Dann auf mit dir. Rafael, du kümmerst dich um das Motorrad.“ „Mach ich, Bakura“, kam es von einem Muskelpaket von Mann mit kurzen blonden Haaren, die er sich mit Gel flammenartig hochgekämmt hatte. Er wandte sich der Maschine zu. „Äh ... Da ist anscheinend kein Benzin mehr im Tank.“ „Und? Dann schiebst du es eben. Was ist so schwer daran?“ Wo bin ich jetzt wieder reingeraten?, dachte Joey seufzend. Wäre ich Dummkopf nur nicht von der Straße abgebogen! Eine schöne Abkürzung. Mehr als eine Stunde stapfte er hinter Bakura und Allister her, die die Spitze der Gruppe bildeten. Die anderen umringten ihn, Rafael ging am Schluss, das Motorrad neben sich herschiebend. Joey wurde mit jedem Schritt mulmiger zumute. Bakura und seine Männer sprachen kein Wort, weder miteinander noch mit ihm und in der Dunkelheit konnte er kaum erkennen, wo es hinging. Der Mond war wieder von den Wolken verschluckt worden und das Licht der Laternen, mit denen sich die Räuber ausgerüstet hatten, reichte nur wenige Meter weit. Der Wald wurde mit der Zeit lichter, Birken, Pappeln und Lärchen lösten Kiefern und Ahorn ab. Die Männer folgten einem Trampelpfad, der sich über den mit niedrigen Büschen und Moos bewachsenen Boden wand und sie immer höher den Hang hinauf führte. „Gleich sind wir da“, sagte Bakura und grinste Joey an. Schon von weitem war das Feuer zu erkennen, das die zurückgebliebenen Räuber in ihrem Quartier entzündet hatten. Sie umrundeten einen gewaltigen Felsbrocken, der aus dem Hang ragte und wie die Bäume, die hier wuchsen, in ein unheimliches, flackerndes Licht getaucht wurde. Über einen natürlich entstandenen steinernen Torbogen gelangten sie in das Lager der Räuber. Der Berg gliederte sich hier in mehrere Terrassen, auf denen mehr als zwei Dutzend Jurten verteilt standen. Zwischen einigen waren Seile gespannt, auf denen Wäsche zum Trocknen hing. Die Bewohner des Jurtendorfes, unter denen auch ein paar Frauen waren, grüßten Bakura und seine Männer mit lautem Johlen. Dass sie Gewehre und Messer trugen, machte sie für Joey nicht unbedingt sympathischer. „Hey, Yami!“, rief Bakura und sah sich im Lager um. „Komm raus, du musst dir den Fang ansehen, den ich heute gemacht habe. Was ganz was Edles, könnte sogar der Sommerprinz höchstpersönlich sein. YAMI!“ Bakura packte Joey am Arm und zerrte ihn auf die oberste der drei Terrassenstufen. Im Gegensatz zum Rest des Lagers, wo sich die Jurten zum Teil dicht an dicht drängten, standen hier nur zwei. Beide waren etwas größer und mit bunten Mustern versehen, die Holztüren, die sie verschlossen, zierten feine Schnitzarbeiten. Joey hielt den Atem an, als die Tür der größten Jurte aufging und ein Mann in die Öffnung trat. Im ersten Moment meinte er, Yugi vor sich zu haben, doch das konnte unmöglich sein. Dieser war viele Kilometer weit weg und bei genauerem Hinsehen auch nicht so groß gewesen. Die Ähnlichkeit war dennoch verblüffend, genau die gleiche, ungewöhnliche Mischung bei der Haarfarbe, lediglich seine Augen waren etwas dunkler und seine gesamte Erscheinung reifer. Trotz der nächtlichen Kühle hatte er die obersten Knöpfe seines schwarzen Hemdes, das unter dem gleichfarbigen Mantel hervorsah, offen gelassen. Um seinen Hals hing eine silberne Kette, mehrere Ringe schmückten seine Finger. Er unterzog Joey mit kühlem Blick einer Musterung. „Du musst nicht so schreien, ich bin nicht taub. Ich weiß nicht, wen du da geschnappt hast, Bakura, aber das ist auf jeden Fall nicht der Sommerprinz.“ „Nicht?“, kam es enttäuscht von dem Weißhaarigen. „Aber trägt so was sonst nicht der Sommerprinz? Und der Helm hier –“ „Er ist es trotzdem nicht.“ Dann bemerkte er die leichte Ausbeulung in Joeys Brusttasche, fuhr mit den Fingern in diese und zog die Rosenbrosche hervor. „Oh, was haben wir denn da.“ „Bitte gib sie mir zurück“, brachte Joey mit bebender Stimme hervor. „Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Junge, niemand wird für mich Lösegeld bezahlen.“ „So? Dann ab mit dir in den Kochtopf, wenn du uns sonst schon nichts nutzt“, meinte Yami achselzuckend. Ein entsetzter Schrei drang über die Lippen des Braunäugigen, als er von zwei Räubern gepackt und Richtung Feuer gezerrt wurde. „Halt! Das könnt ihr doch nicht machen!“ „Nicht so hastig!“ Bakura entriss ihn den beiden und zog ihn zu Yami zurück. „Wenn das so ist, will ich ihn für mich haben. Zum Spielen.“ Die Art, wie er diese letzten Worte betonte und der anzügliche Blick, den er ihm dabei zuwarf, ließen Joey schwer schlucken. „Reiche ich dir etwa nicht mehr?“, fragte Yami und verschränkte beleidigt die Arme. „Du bist ja dauernd anderweitig beschäftigt.“ „Als Anführer habe ich nun mal mehr zu tun als andere, das habe ich dir von Anfang an gesagt. Meinetwegen vertreib dir mit dem Jungen ein wenig die Zeit – solange du nicht vergisst, zu wem du gehörst.“ Yami zog Bakura gebieterisch zu sich und küsste ihn. „Wie könnte ich das“, murmelte er gegen seine Lippen. „Schön, nachdem das geklärt ist ...“, Yami wandte sich von den beiden ab und rief der Köchin zu: „Haben wir noch Hasen?“ „Wie du siehst, ist mit Yami nicht zu spaßen, Kleiner“, sagte Bakura zu Joey. „Er hätte dich fast getötet. Aber wenn du mir Ärger machst, tue ich es selbst. Also fordere Yami nicht heraus und mich erst recht nicht.“ Er griff nach seinem Handgelenk und zog ihn zu seiner Jurte herüber. Einen Stoßseufzer auf den Lippen, trat Joey ein und sah sich um. In der Mitte des von einigen Lampen erleuchteten Raumes befand sich ein Tisch mit niedrigen Holzhockern, ein kleiner Eisenofen sorgte für Wärme. Der Fußboden war mit großen, kunstvoll geknüpften Teppichen ausgelegt, Kisten und Regale waren mit Beutestücken aus früheren Raubzügen voll gestopft. „Dann wollen wir’s uns mal gemütlich machen“, meinte Bakura und führte Joey zu einer aus Decken und unzähligen Kissen errichteten Bettstatt. „Ich halte das für keine gute Idee.“ „Ach komm, du musst doch nicht schüchtern sein.“ Sein Grinsen jagte Joey einen kalten Schauer über den Rücken. Bakura strich ihm über die Wange. „Wie heißt ’n überhaupt?“ „Joey ... Bakura, lass mich bitte gehen, ich habe noch etwas sehr wichtiges zu erledigen.“ „Allerdings, und zwar, mir eine schöne Nacht zu bereiten.“ Bakura stieß ihm gegen die Brust, so dass er rücklings auf das Lager fiel, und kniete sich über ihn. „Diese Nacht wirst du nicht so schnell vergessen.“ Der Blondschopf kam sich vor wie das Kaninchen vor der Schlange ... oder dem Wolf. Im nächsten Moment fühlte er schon ein paar Lippen auf seinen. Seine Kraft zusammennehmend, stieß er Bakura von sich. „Hast du sie noch alle? Ich hab Nein gesagt!“ „Schon vergessen, wer dich gerade gerettet hat?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hat es was damit zu tun, dass ich ein Mann bin?“ „Nein, aber ich bin schon fest vergeben!“ „Ich sehe deinen Freund hier aber nirgends, also stell dich nicht so an“, sagte er und leckte ihm über den Hals, während sich seine Finger am Reißverschluss der Lederjacke zu schaffen machten und diesen herunterzogen. Als er seine Hand unter Joeys T-Shirt schieben wollte, hielt dieser ihn zurück. „Bakura, ich meine es wirklich ernst. Ich bin unterwegs, um meinen Freund vor dem Eisfürsten zu retten, für das hier habe ich absolut keine Zeit und Lust schon gar nicht.“ „Und du schaffst es echt, einem die Lust zu nehmen mit deinem Gelaber.“ Er stand auf und warf ihm einen unwirschen Blick zu. „Was deinen Freund betrifft – vergiss ihn. Du wirst bei mir bleiben, Kleiner, ob nun als mein Betthäschen oder als neues Mitglied unserer Bande.“ Er ging zu dem Tisch in der Mitte des Zeltes und nahm sich einen grünen Apfel aus einer Schale, den er prüfend im Licht der Lampen drehte und auf schlechte Stellen untersuchte. „Ich bringe dir alles bei, was ich kann und das ist ’ne Menge. Und wenn du dann auf etwas triffst, was du haben willst“, er warf den Apfel in die Luft, zog in der gleichen Bewegung sein Messer aus dem Gürtel und spießte das fallende Obst damit auf, „dann nimmst du es dir einfach.“ Bakura teilte den Apfel in zwei Hälften und warf Joey eine davon zu, die er misstrauisch beäugte. „Nun iss schon, ist nicht vergiftet, wenn du das denkst“, sagte er und biss ein Stück von seiner Hälfte ab. Binnen kürzester Zeit war der Apfel verschwunden. Die ganze Aufregung und der lange Marsch hatten in Joeys Magen ein großes Loch hinterlassen. „Ich werde dich heute Nacht in Ruhe lassen, bei mir schlafen wirst du trotzdem.“ Der Räuber ließ sich neben ihm auf dem Lager nieder und drückte ihn in die Kissen. „Verhalt dich ruhig oder du machst Bekanntschaft mit meinem Messer.“ „Na endlich“, seufzte Seto erleichtert. Seine Lippen waren mittlerweile vor Kälte blau gefroren, er spürte seine Zehen und Finger kaum noch und wunderte sich, dass er überhaupt noch am Leben war. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er längst tot sein müssen, kein Mensch konnte ohne weiteres in dieser eisigen Kälte überleben. Dafür, dass er es dennoch tat, machte er zwei Dinge verantwortlich: Zum einen hielt ihn der Wunsch aufrecht, zu Joey zurückzukehren, zum anderen hatte er den Verdacht, dass Pegasus ihn am Leben hielt. So lange, bis er das Spiegelpuzzle für ihn gelöst hatte – was nicht in seiner Absicht stand, auch wenn mit jedem Tag, der verging, mehr Scherben wieder an ihren Platz fanden. Er hatte Siegfrieds Abwesenheit wie immer genutzt, um nach einem Ausweg aus dem Schloss zu suchen und sich durch das Laufen etwas aufzuwärmen und heute war er endlich fündig geworden. Vor ihm lagen die Stallungen, in denen er vor so vielen Monaten aufgewacht war. Die Pferde standen in ihren Boxen, fraßen ihr Futter und kümmerten sich nicht weiter um ihn. Prüfend ließ er den Blick über die Tiere schweifen. Wenn er eines von ihnen sattelte, müsste er gut von hier entkommen können und es ging schneller, als den ganzen Schlitten reisefertig zu machen, von dem er nicht einmal wusste, wie er ihn lenken musste. „Ich bin bald hier weg.“ Er schritt zu dem großen Tor, das nach draußen führte und zog es auf. Eisige Luft wehte ihm entgegen. „Auf Nimmerwiedersehen, Pe –“ Seto fühlte sich wie erschlagen. Sprachlos, nicht mehr wissend, was er sagen sollte, blickte er auf das Land, das vor ihm lag. Hohe Berge aus Eis und Schnee, so weit das Auge reichte. Kein Busch, kein Grashalm war zu sehen, nur Massen der glitzernden weißen Pracht. Es kam ihm vor, als wäre er in der Hölle gelandet, einer Hölle aus Eis. Er schlug das Tor zu, lehnte sich dagegen und fuhr sich fassungslos über das Gesicht. Der Blauäugige hatte geahnt, dass Pegasus ihn weit weg gebracht hatte, doch das hier ... das war das buchstäbliche Ende der Welt. Niedergeschlagen und vor Kälte zitternd kehrte er in den Spiegelsaal zurück. Er hatte gedacht, die Flucht würde einfach werden, wenn er erst einmal den Ausgang gefunden hatte. Das war ihm zwar gelungen, doch wie sollte er durch die Eiswüste den Weg zurück finden, ohne zu erfrieren? Als Pegasus mich geküsst hat, habe ich nichts mehr von der Kälte gespürt, überlegte er. Und wenn ich ... Eine Idee keimte in ihm und nahm Gestalt an, während er die Treppe ins Obergeschoss erklomm. Vor der Tür atmete er noch einmal durch, trat dann ein und wandte sich dem Bett zu, in dem Pegasus schlief. Ein Kuss, dann kann ich von hier verschwinden. Für Joey. Seto beugte sich über den Eisfürsten und berührte dessen eisige Lippen mit seinen. Einige Sekunden vergingen und er merkte, wie die Kälte aus ihm zu weichen begann. Zufrieden wollte er sich von ihm lösen – doch er konnte nicht. Etwas in ihm hielt ihn zurück, weigerte sich, den Kuss abzubrechen. Aber er liebte doch Jo ... Seine Augen schlossen sich, als er spürte, wie Pegasus den Kuss leicht erwiderte. Seto löste sich von ihm und schüttelte verwirrt den Kopf. Was mache ich überhaupt hier? Ich muss an meine Arbeit zurück. Der Spiegel muss fertig werden. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Katsuya beobachtete die Szene mit einem süßsauren Ausdruck im Gesicht. Er wusste, dass es zu dem Film gehörte, aber zu sehen, wie Seto wie paralysiert an Pegasus’ Lippen hing ... Etwas daran störte ihn gewaltig. An diesem Bild stimmte etwas für ihn nicht. Er schüttelte wild mit dem Kopf. Das bilde ich mir doch nur ein. Katsuya Jonouchi, mach dich nicht lächerlich, Seto Kaiba ist dein erklärter Erzfeind! Wenn er dem nur noch selbst Glauben schenken könnte! Sein Weltbild war während der vergangenen Wochen gewaltig ins Wanken ge-raten. Mein Erzfeind ... und trotzdem, warum küsst er ihn so und nicht mich? Er spielt meinen Freund und küsst fremd. Wär er wirklich mein Freund, hätte er längst eine Ohrfeige sitzen ... Oh Mann, sind die bald mal fertig?! „Hey, Ryou, so geht das aber nicht!“ Der Angesprochene wandte sich mit einem Grummeln um und fixierte Ryuzaki und Haga, die auf ihn zugeschritten kamen. „Was ist jetzt wieder?“ „Das fragst du noch? Ihr dreht ein Special und wir kommen wieder nicht vor! Eine Unverschämtheit ist das!“, regten sich die beiden auf. Der junge Regisseur überlegte eine Weile und lächelte dann. „Ihr wollt also eine Rolle?“ „Ja!“ „Gut, ihr bekommt eine, aber ich will hinterher keine Beschwerden von euch hören.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Joeys Blick glitt zu Bakura herüber, der neben ihm lag und schnarchte, als würde er einen ganzen Wald zu Kleinholz verarbeiten. In jedem seiner Atemzüge schwang der Geruch von zu viel Wodka und anderem Schnaps mit, der dem Blondschopf beinahe den Magen umdrehte. Den Räubern war heute ein großer Überfall auf eine Reisegruppe gelungen, den sie am Abend gebührend – will heißen mit lautstarkem Gesang und Tanz bei reichlich Alkohol – gefeiert hatten. Bakura war erst vor einer guten halben Stunde in seine Jurte getorkelt, hatte seinen unfreiwilligen Mitbewohner dabei geweckt und noch gemurmelt, dass er und Yami sich schon vergnügt hätten und er beruhigt schlafen könne. Er selbst war eingeschlafen, kaum dass er sich die Decke über den Körper gezogen hatte. Für Joey dagegen war seither nicht mehr an Schlaf zu denken. Bakuras Schnarchen und seine Überlegungen, wie er ihm am besten entkam, hielten ihn wach. Seine Ankunft im Räuberlager war über eine Woche her und er war mehr als froh, dass es ihm bisher gelungen war, sich Bakura weitgehend vom Hals zu halten. Weitgehend, nun ja ... Joey seufzte. Tagsüber war es nicht leicht, mit diesem weißhaarigen Griesgram auszukommen, der ihn, wenn er sich schon nicht als Räuber betätigen wollte, an alle möglichen Hausarbeiten trieb. Nachts dagegen – und er wusste nicht, was schlimmer war – mutierte Bakura zu einem kuschelbedürftigen Etwas, das sich im Schlaf dicht an ihn schmiegte und ihn als Kuscheltier benutzte. Nur dass man einem Kuscheltier normalerweise kein Messer an den Hals hält, dachte er. Wird Zeit zu gehen. Er griff nach Bakuras Ärmel und zog diesen mit langsamen, bedächtigen Bewegungen erst ein Stück von sich fort, um das Messer aus der unmittelbaren Nähe seines Halses zu bringen, und dann nach oben. Mit der freien Hand angelte er nach einem der größeren Kissen, die um sie verteilt lagen, schob sich selbst an den Rand des Bettes und das Kissen an seinen Platz. Bakuras Arm, den er ebenso vorsichtig darauf sinken ließ, schlang sich gleich besitzergreifend darum. Mit leisen Schritten entfernte er sich und nahm seinen Mantel und den Rucksack. Als Bakura gemerkt hatte, dass er nur leichte Sommerkleidung und den Motorradanzug trug, hatte er ihn mit Pullover, Hosen und einem langen Mantel, ähnlich wie er einen trug, ausgestattet. Er war ja kein Unmensch – und hatte keine Lust, sich dank Joey eine Erkältung einzufangen, wenn sie ein Bett miteinander teilten. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass Bakura tief und fest schlief, schob er die Tür einen Spalt weit auf und zwängte sich hindurch. Im Lager war es ruhig, sah man von dem Schnarchkonzert ab, das aus den Jurten und von jenen drang, die an Ort und Stelle vom Schlaf übermannt worden waren. Joey schlich von einer Jurte zur nächsten, immer darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen und die Räuber so zu alarmieren. Geht ja einfacher, als ich dachte, frohlockte er, als er fast den Torbogen erreicht hatte, der den Ausgang des Lagers markierte. Sein Fuß trat auf etwas Weiches und im nächsten Augenblick war ein lautes, lang gezogenes Jaulen zu hören. Joey fuhr erschrocken herum und sah sich einem Paar hellblauer Augen gegenüber. Der Husky entblößte seine Zähne und knurrte ihn zornig an. Warum mussten sich Yamis Hunde ausgerechnet heute ihren Schlafplatz draußen suchen, statt wie sonst in seine Jurte zu gehen, war Joeys letzter Gedanke, bevor der Husky zu bellen anfing, in das die anderen zwei einstimmten. „Psst, seid doch leise, Jungs. Brave Hundchen!“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ruhe, verdammt, ich will schlafen!“ „Was soll dieser Krach?“ Der Blick des Blondschopfs richtete sich gehetzt auf die obere Terrasse, wo Bakura aus seiner Jurte kam, die Haare zerzaust und sich den Schlaf aus den Augen reibend. „Joey? Was machst du da, komm sofort hierher! Ich habe dir gesagt, du sollst nachts nicht im Lager rumstromern.“ Statt einer Antwort drehte sich Joey um und lief so schnell er konnte. Wenn er jetzt nicht floh, wo die meisten Räuber noch von den Nachwirkungen des Alkohols außer Gefecht gesetzt waren, wann dann. Er war noch nicht weit gekommen, da fühlte er, wie sich eine Hand hart wie eine Schraubzwinge um sein Handgelenk schloss, gleich darauf wurde er zu Boden geworfen und von einem schweren Körper in den Staub gepresst. „Wie kannst du es wagen“, zischte ihm Bakura ins Ohr. „Du hast mich verraten, dafür wirst du bezahlen. Ich schneide dir den Hals ab.“ „Bakura, ich –“ „Spar dir deine Erklärungen, Joey.“ Er stand auf, riss ihn dabei auf die Beine und zerrte ihn ins Lager zurück, dessen Bewohner durch den Lärm inzwischen alle erwacht waren. „So, so, du wolltest also fliehen.“ Yami hatte sich vor seiner Jurte auf einem Hocker niedergelassen und sah ihn finster an. „Dachtest wohl, wir merken nichts. Er gehört dir, Bakura, was willst du mit ihm machen?“ Den Weißhaarigen traf ein verzweifelt flehender Blick aus braunen Augen. „Erst mal in den Kerker mit ihm“, knurrte er. „Über seine Strafe mache ich mir morgen früh Gedanken.“ „Tu das, mein Schöner.“ „Bakura, Yami, nein – Lasst mich doch erklären!“, rief Joey und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen Bakuras Griff. „Du hast schon mehr als genug geredet.“ Am Rand der Räubersiedlung, auf Höhe der untersten der drei Terrassen, lag eine Höhle, zu der Bakura seinen Gefangenen zog. Im Schein der Fackel konnte Joey ein hohes Tor am Ende der Höhle und zwei Holztüren zu dessen Seiten ausmachen. Die rechte davon wurde geöffnet und er in die Zelle dahinter gestoßen, deren Boden mit einer Schicht Stroh bedeckt war. Durch ein vergittertes Loch in der Decke und ein kleines Fenster in der Tür drang frische Luft in die Zelle. „Da drin kannst du verrotten.“ Bakura schlug die Tür hinter ihm zu und ließ ihn in der Dunkelheit zurück. Joey ließ sich an der Wand entlang zu Boden gleiten und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Ich könnte mich ohrfeigen! Ahhh!“ „Geht das auch leiser?“, dröhnte eine tiefe Stimme von rechts. Joey sah sich in seiner Zelle um, konnte in dem schwachen Licht, das der Mond durch die Öffnung in der Decke schickte, jedoch niemanden sehen. „Wer ist denn da?“ „Ich bin nebenan. Geh an deine Tür, dann kannst du mich sehen.“ In dem schwachen Licht der Fackel, die am Eingang der Höhle in einer Halterung steckte, konnte Joey nur ein großes blaues Auge erkennen, das sich gegen die Gitterstäbe des Tores drückte. „Ich bin Joey und wer bist du?“ „Mein Name ist Aios. Bakura hält mich hier gefangen.“ „Mich hat er auch eingesperrt, als ich versucht habe zu türmen.“ „Was seinen Besitz angeht, ist er sehr eigen.“ „Ich bin aber niemandes Besitz!“, wurde Joey lauter. „So wenig wie ich. Aber jetzt versuch noch etwas zu schlafen, der Tag bricht bald an.“ Oh je, da hat sich Joey in was reinmanövriert. Ob er da wieder rauskommt und wie es mit Seto weitergeht ... Das erfahrt ihn beim nächsten Mal. ^^ *Kirschstreuselkuchen hinstell* *wieder ins Studio wusel* Kapitel 13: Äußere Kälte, inneres Feuer --------------------------------------- Ein neuer Freitag, ein neues Kapitel. ^^ Für alle, die sich für Chaseshipping, also Duke x Tristan interessieren, habe ich auch noch etwas anzubieten: Spieglein, Spieglein an der Wand ... http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/273368/236155/ Aber nun genug von mir, ich wünsche euch viel Spaß. ^________^ Und bitte ... *räusper* Bringt mich am Ende nicht um. (1) http://www.youtube.com/watch?v=0a1pGyZf-QQ Twilight – The Power of One (2) http://www.youtube.com/watch?v=-Rpx0VgpTLY&feature=related X-Ray Dog – The Vision (3) http://www.youtube.com/watch?v=ygVRwbN060c&feature=related Deeper than deep (4) http://www.youtube.com/watch?v=LOeXQDq_fdg GVR Music – Ashielf Extended Kapitel 13 Äußere Kälte, inneres Feuer (1) Pegasus klappte die Luke auf, die auf das Dach seines Palastes führte, und streckte Seto die Hand entgegen, um ihm bei den letzten Stufen der steil nach oben führenden Treppe zu helfen. Der Brünette musste aufpassen, dass er auf den mit Eis bedeckten Stufen nicht abrutschte und einen unwürdigen Abgang in die Tiefe hinlegte. Er trat neben den Eisfürst, der den Arm ausstreckte und eine ausgreifende Bewegung machte. Der Blick auf das Land war schlichtweg atemberaubend. Sie waren von hohen, mit Schnee bedeckten Bergen umgeben, die in der Nachmittagssonne wie Diamanten glitzerten. „Beschreibe es, Seto“, forderte Pegasus ihn auf. „Ich kann nicht. Es ist ... ich finde keine Worte dafür.“ „Weißt du, was der Winter ist? Wer es ist? Ich bin es.“ Seto bückte sich und hob etwas Schnee auf. „Die Schneeflocken, sie sind so ... perfekt.“ Pegasus wandte sich ihm zu. „Wir sind am Ende der Welt, Seto. Niemand kann hierher kommen, außer uns beiden.“ „Küsst mich noch einmal“, bat er und sah ihn an. Pegasus’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Willst du auf einem Sturm mit mir fliegen? Willst du auf Wind und Schnee reiten? Und das Spiegelpuzzle ... Ich wette, du könntest es in einem Monat schaffen, wenn du nicht schläfst. Und dann ... dann werde ich dir noch einen Kuss geben.“ Bakura verschränkte die Arme vor der Brust und sah Joey durchdringend an. „Ich habe es dir schon tausendmal gesagt. Beim ersten Mal musst du nicht selbst rauben, du siehst uns nur zu.“ „Ich habe Nein gesagt und ich bleibe dabei“, sagte er und erwiderte den Blick mit gleicher Intensität. „Es ist falsch und ich werde nicht auf irgendwelche Leute schießen, es sei denn, sie schießen auf mich.“ „Aber unser Leben bietet so viele Vorteile. Wir sind reich –“ „Und von allen gejagt. Ich werde kein Räuber, ich muss Seto finden. Etwas anderes interessiert mich nicht.“ Bakura schüttelte den Kopf und lachte leise. „Den Jungen, der dich verlassen hat?“ „Er hat mich nicht verlassen“, widersprach Joey. „Der Eisfürst hat ihn entführt.“ „Er hat ihn nicht entführt. Dein Seto hat dich verlassen und das auch noch für einen älteren Mann. Denk mal darüber nach.“ Kurz legte sich ein Schatten über das Gesicht des Jungen. „Das stimmt nicht. Ich muss ihn retten.“ „Wieso solltest du? Warum nimmst du die ganze Mühe auf dich?“ „Weil ich ihn liebe und er mich.“ Bakura ging einige Schritte, bis er zur Zellenwand kam, drehte um und ging den gleichen Weg zurück. „Wenn er dich liebt“, überlegte er dabei, „warum ist er dann mit ihm gegangen?“ „Pegasus hat sein Herz erkalten lassen. Er ist nicht er selbst.“ „Und du denkst, du kannst es wieder erwärmen?“ Joey, der ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, nickte ihm zu. „Ich werde es auf jeden Fall versuchen.“ Bakura sah ihn scharf an, stürmte mit zwei Schritten zu ihm und drückte ihn gegen die Mauer. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie bösartig, wie stark der Eisfürst ist? Glaubst du allen Ernstes, du könntest gegen ihn bestehen, Joey? Du liebst ihn – Du machst dir selbst was vor! Ich werde dich nicht gehen lassen, du wirst hier bleiben.“ Er stieß Joey auf die Strohschütte, die ihm als Bett diente, und verließ die Zelle. „Ich werde zu ihm kommen, verlass dich drauf!“, rief er Bakura nach. Die Schritte des Räubers verklangen. „Du bist dir also sicher, dass du zum Eisfürst willst?“, durchbrach Aios’ Stimme nach einer Weile die Stille. „Ganz sicher. Ich lasse Seto nicht in seinen Händen.“ „Es gäbe da eventuell eine Möglichkeit, aber dafür müsstest du mich hier rausholen. Ich kenne den Weg zu Pegasus und kann dich hinbringen.“ „Du kennst ihn? Das wäre ja super. Was muss ich tun?“ „Ich bin angekettet und Bakura trägt die Schlüssel immer bei sich an einer Kette an der Hose. Du musst sie ihm abnehmen und versuchen, in meine Zelle zu gelangen.“ „Hmm ...“ Er sah sich in dem kleinen Raum um. Der direkte Weg über die Türen ist mir versperrt und Bakura rückt die Schlüssel sicher nicht freiwillig raus. Aber ... Joey musterte die Mauer, die ihre Zellen voneinander trennte und kratzte an dem Mörtel, mit dem die Steine zusammengefügt worden waren. Er nahm den Suppenlöffel zur Hand, mit dem er sein Mittagessen gegessen hatte, kniete sich auf den Boden und begann zu schaben. (2) „Sehr schön, wieder eine an ihrem Platz“, murmelte Seto zufrieden und betrachtete den stetig kleiner werdenden Haufen Spiegelscherben. „Bald bin ich fertig.“ Je länger er an dem Spiegel arbeitete, umso interessanter fand er die Scherben. Jedes der Bruchstücke war einzigartig, keines glich dem anderen. Fast konnte man sagen, sie hätten eine eigene Persönlichkeit. „Eine Frage, Seto.“ Der Angesprochene drehte sich um und sah sich Pegasus gegenüber. „Wer ist der Junge, über den du immer sprichst?“ „Junge?“ Seto kratzte sich verwirrt am Kopf. „Das ... weiß ich nicht mehr.“ „Sicher?“ „Ja ... Wie sah er aus?“ „Also ...“, Pegasus überlegte kurz, „ich würde nicht sagen, er war hässlich. Aber er ist Vergangenheit. Die Zukunft bin ich. Du ... bist anders als die anderen, Seto.“ Er drehte sich um und ging, wobei er mit seinem langen Mantel einige Scherben von dem sauber aufgeschichteten Haufen herunterfegte, die Seto leise brummend aufhob. Er vergisst ihn mehr und mehr. Bald wird er sich an sein früheres Leben nicht mehr erinnern. Pegasus stieg die Treppe hinauf und bog in einen der Gänge ab. Nach dem langen Schlaf brauchte er etwas Bewegung, um in Schwung zu kommen. Es war November, nicht mehr lange und seine Herrschaft begann wieder. Und sobald er den wiederhergestellten Spiegel hatte, würde sie ewig währen. Niemand würde ihn noch aufhalten können, keiner seiner Brüder. Ein dicker Riegel aus Eis blockierte die Tür, vor der er nach einer Weile stehen blieb. Als er mit der Hand darüber strich, verschwand dieser und gab den Weg zum Ostflügel frei. Im ganzen Schloss gingen seine Diener ihrer Arbeit nach, nur zu diesem Bereich war ihnen der Eintritt strengstens untersagt. Sie sollten nicht wissen, was sich in den Kammern und Gängen verbarg. Sobald er über die Schwelle getreten war, hüllte blau schimmerndes Dämmerlicht Pegasus ein. Langsamen Schrittes wanderte er durch die verlassenen Gänge und blickte in ein paar der kleineren Räume hinein, bis er in einen großen Saal gelangte. An den Wänden standen riesige, unförmige Eisblöcke. An einigen schritt er achtlos vorbei, bei manchen wischte er den Schnee fort, der von der Decke herabgerieselt war, und betrachtete sie nachdenklich. „Mako Tsunami ... Du warst der Erste“, flüsterte er. Umgeben von Eis ruhte der junge Fischer in einem ewigen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen würde. Das war die Strafe, die Pegasus für all jene verhängt hatte, die am Spiegelpuzzle gescheitert waren. Neben ihm befanden sich ein Junge mit einer großen gelben Brille und einer, der während der ganzen Zeit, die er in Pegasus’ Schloss gelebt hatte, nur von Dinosauriern gesprochen hatte. „So viele ... Es waren so viele und alle haben es vergeblich versucht. Aber du wirst nicht versagen, Seto. Das darfst du nicht. Ich möchte nicht, dass du auch hier landest, bei den anderen.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (3) „Wie jetzt, das war alles?“, fragte Haga enttäuscht und zog seine Jacke zurecht. „Wir haben doch kein Wort gesagt!“, beschwerte sich auch Ryuzaki. „Du hast uns betrogen, Ryou! Du hast uns eine Rolle versprochen.“ „Die habt ihr auch gekriegt, oder?“ Der Regisseur trank seinen Kaffee aus und warf den leeren Becher in den nächsten Papierkorb. „Ihr wolltet von mir eine Rolle und wir haben euch nachträglich ins Drehbuch geschrieben.“ „Wir stehen die ganze Zeit nur blöd rum und machen Pantomime.“ „Ihr sagtet nur was von einer Rolle“, antwortete Shizuka und klappte den Stuhl zusammen, auf dem sie während der Dreharbeiten gesessen hatte. „Von einer Sprechrolle war nie die Rede, Jungs – also haben wir unser Versprechen nicht gebrochen.“ „Aber – Wartet nur, euch hetze ich meine Insektenkönigin auf den Hals!“ Haga hob die Faust und fuchtelte drohend damit herum, womit er den anderen nur ein Lachen entlocken konnte. „Jetzt mach dich mal nicht lächerlich. Geht euch umziehen, wir sind für heute fertig.“ Damit ergriff Bakura die beiden und schob sie aus dem Studio hinaus. „Du gehst schon, Kura?“, wandte sich Ryou an seinen Bruder. „Ich dachte, wir machen noch kurz die Besprechung für morgen.“ „Keine Zeit, Kleiner, ich bin mit Yami verabredet. Bis morgen!“ „Ich wünschte, er würde seine Arbeit ein wenig ernster nehmen“, seufzte er und machte sich daran, seine Sachen zusammenzupacken. „Hey, Kats, willst du nicht auch nach Hause?“ „Ja, gleich.“ Katsuya sah sich in den Kulissen des Eispalastes um. „Das ist echt beeindruckend, was du hier hast aufbauen lassen, Ryou.“ „Danke, aber die Szenen werden ja noch nachbearbeitet“, winkte er lächelnd ab. „Damit der Eiseffekt auch stimmt.“ „Mach dich nicht kleiner als du bist“, sagte Katsuya und klopfte gegen die Wandverkleidung. „Eigentlich schade, dass wir nicht in einem richtigen Eispalast drehen können. Das wäre toll.“ „Zum einen wäre das zu teuer, zum anderen müsste es dafür kälter sein. Dann könnten wir draußen ein Set aufbauen, aber so, wie es jetzt ist, würde das Eis keinen Tag überstehen. Für November ist es dieses Jahr viel zu warm.“ „Das stimmt leider. Letztes Jahr hatten wir um diese Zeit schon den ersten Schnee.“ Von beiden kam ein bedauerndes Seufzen. Ryou drehte seinen Arm, um einen Blick auf seine Armbanduhr werfen zu können. „Oh, ich muss los. Ich will Shizuka heute Abend zum Essen ausführen, da darf ich sie nicht warten lassen.“ „Ach, mein Schwesterchen braucht erst mal ein bisschen Zeit, um sich hübsch zu machen, nur keine Panik.“ Der Blonde ging zu seinem Schwager in spe, wie Ryuji ihn seit einer Weile bezeichnete, schlang ihm einen Arm um den Hals und nahm ihn so in den Schwitzkasten. „Und du wirst schön artig sein und ihr nicht zu nahe kommen.“ „S-sicher doch, Kats“, keuchte Ryou. „Wie immer.“ „Dann ist ja gut.“ Mit seiner Antwort zufrieden, ließ er ihn los. Der Weißhaarige atmete tief durch und rieb sich den Hals. Wenn Jou wüsste, was wir sonst noch machen ... Große Brüder können so anstrengend sein. Er packte seine Sachen und verließ rasch das Studio, bevor Katsuya auf den Gedanken kam, ihm noch weitere Ermahnungen zukommen zu lassen. Dieser bedachte ihn mit einem letzten warnenden Blick, bis hinter ihm die Studiotür zuschlug, und spazierte zur Spiegelsaalkulisse weiter. Jede der kunstvoll gebrochenen Scherben war mit einer kleinen, versteckt angebrachten Ziffer versehen, die es dem Requisiteur und seinen Helfern erleichterte, sie an ihren Platz im Spiegel zu setzen. Nicht dass Seto auch nur eine Scherbe mehr eingesetzt hatte, als im Drehbuch vorgeschrieben war. Katsuya hob ein paar Scherben auf und ließ sie durch die Hände gleiten. „Bring mir ja nichts durcheinander!“, drang Setos frostige Stimme von der Tür herüber. Der Blonde, eben noch in Gedanken versunken gewesen, ließ erschrocken die Scherben fallen und sah auf. „Habe ich dem Hündchen etwa Angst eingejagt?“ „Du bist der Letzte, der mich erschrecken könnte, Kaiba“, erwiderte er in gewohnter Manier. Nur weil ihn der Kerl in letzter Zeit verwirrte ... und ihm häufiger im Kopf herumspazierte, würde er sich von ihm noch lange nicht einschüchtern lassen. „Das sah eben ganz anders aus.“ „Du bildest dir was ein. Was machst du überhaupt noch hier, hattest du nicht rumgetönt, du hättest heute so ein wahnsinnig wichtiges Treffen mit diesem Presseheini?“ „Dieser Presseheini, wie du ihn nennst, arbeitet rein zufällig für eine sehr wichtige amerikanische Zeitschrift und hat mich förmlich angebettelt, ihm einen Interviewtermin zu gewähren.“ „Den du ihm, großzügig, wie du bist, eingeräumt hast.“ „Meine Fans sind an mir interessiert.“ „Ja, weil du auch kein bisschen eingebildet bist“, flötete Katsuya. „Nur meine Frage hast du mir noch nicht beantwortet: Was machst du hier?“ „Hatte was vergessen“, brummte Seto und bückte sich, um unter einen Tisch zu sehen. „Muss ja wichtig sein, wenn du deshalb riskierst, zu spät zu deinem kostbaren Interview zu kommen.“ „Mein Textbuch“, brummte er, ohne seine Suche zu unterbrechen. „Würde es dir was ausmachen, mir mal dabei zu helfen?“ „Wenn du lieb ‚Bitte’ sagst ...“ „Jonouchi, ich hab es eilig!“ „Schon gut, alter Eisklotz.“ Schmollend machte sich Katsuya auf die Suche nach dem Buch. „Wo hattest du es zuletzt?“ „Irgendwo hier, ich habe kurz vorm Dreh noch mal reingesehen.“ „Genauer geht das nicht zufällig, oder?“ „Wenn ich wüsste, wo es ist, müsste ich wohl kaum danach suchen.“ „Mann, hast du wieder eine Laune. Gibt es bei dir auch Tage, an denen du kein wandelnder Eisberg bist? Pegasus tut mir echt leid, mit dir eine Kussszene spielen zu müssen.“ „Was soll das heißen?“ „Dass du es nicht mal da schaffst, etwas aufzutauen und so etwas wie Leidenschaft zumindest vorzuheucheln, wenn du schon keine empfindest“, erklärte Katsuya und tauchte, das gesuchte Objekt in der Hand, hinter dem Spiegel auf. „Hab es.“ Seto riss das Buch an sich, funkelte ihn kalt an und wandte sich ab, um zu gehen. „Wäre es zu viel verlangt, dich bei mir zu bedanken?“ Als sich der Brünette zu ihm umdrehte, schluckte er. In seinen Augen lag ein schwer zu definierender Ausdruck, ein Teil des Eisblicks, mit dem er ihn so häufig bedachte, und zugleich züngelten Flammen in den blauen Iriden. Katsuya rührte sich um keinen Millimeter, während Seto auf ihn zuschritt und schließlich direkt vor ihm stehen blieb. „Kaiba?“, fragte er noch, dann spürte er eine Hand in seinem Nacken und gleich darauf ein Paar Lippen, das sich gegen seine drängte. Seine Schultern zuckten für einen Moment unkontrolliert, die Augen weit aufgerissen, starrte er sein Gegenüber an. Ich nehm alles zurück, dass er leidenschaftslos küsst. Seine Augen schlossen sich, genießend ließ er sich in den Kuss fallen, doch da hatte sich Seto schon wieder von ihm gelöst und blickte ihn, ein anzügliches Grinsen auf den Lippen, an. „War dir das leidenschaftlich genug für einen Kuss?“ Er ließ ihm keine Zeit für eine Antwort, drehte sich auf dem Absatz um und ging. Erst als die Tür ins Schloss fiel, rührte sich Katsuya wieder. „Was war das jetzt?“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (4) Laut pfeifend fegte der Sturm um die Felsen und durch die Höhle, so dass Joey froh um die Bewegung war, die ihm seine Grabungsarbeiten verschafften. Er verbrachte Stunden damit, den Mörtel mithilfe seines Löffels oder eines spitzen Steins aus den Ritzen zu kratzen und so Stück um Stück die Steine zu lockern, die seine Zelle von der seines Nachbarn Aios trennten. Während dieser recht eintönigen Arbeit überlegte er, wie er es am besten anstellte, an die Schlüssel zu kommen, die Bakura verwahrte. Selbst wenn er in Aios’ Zelle gelangte, waren da immer noch die Ketten, die ihn dort festhielten und sie beide an der Flucht hinderten. Wobei ich froh sein kann, dass Bakura mich nicht auch angekettet hat. Das Geräusch von Schritten ließ ihn aufhorchen und in seiner Arbeit innehalten. Jemand näherte sich seiner Zelle. Hastig putzte er den mit Mörtelresten beschmierten Löffel an seinem Mantelsaum ab, warf ihn auf den Teller und schob die Pritsche an die Wand zurück, die er zwischenzeitlich als Schlafgelegenheit erhalten hatte. Mit einem letzten, kurzen Blick, um zu prüfen, ob seine Arbeitsstätte gut verdeckt war, ließ er sich darauf fallen und setzte eine unbeteiligte Miene auf. Gerade noch rechtzeitig, wie er Sekunden darauf beim Klicken des Schlüssels feststellte. Zu seiner Verwunderung war es jedoch nicht Bakura, der seine Zelle betrat, sondern der ehrenwerte Anführer der Räuber höchstpersönlich. Ein grimmiger Ausdruck lag in Yamis Gesicht. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“ „Ich habe mit dir zu reden.“ Er öffnete die rechte Hand und brachte die Rosenbrosche zum Vorschein, die Bakura Joey abgenommen hatte. „In dieser Brosche steckt Magie. Ich will wissen, was es damit auf sich hat.“ „Sie hat früher meiner Schwester gehört, jetzt ist es meine“, gab Joey Auskunft und streckte verlangend die Hand danach aus. „Sie gehört mir.“ Yamis Hand schloss sich um das Schmuckstück und entfernte es aus der Reichweite des Blonden. Dieser schüttelte den Kopf. „Das tut sie nicht. Du magst sie im Augenblick vielleicht haben, aber sie gehört dir nicht. Das hat sie nie und das wird sie auch nie.“ „Ach, ist das so?“ „Yami“, verlegte er sich nun aufs Bitten, „diese Brosche ist das Einzige, was ich von meiner Schwester habe. Sie ist tot. Für mich ist es ein sehr wertvolles Erinnerungsstück an sie.“ Der Anführer der Räuber verdrehte die Augen, wandte sich ab und ging drei Schritte bis zum anderen Ende der Zelle, drehte um und ging die Strecke zurück. Seine Augen wanderten zu dem vergitterten Loch in der Decke, durch welches der Wind ein paar verwelkte Blätter wehte. Einige Male überschlugen sie sich noch, dann verlangsamten sich ihre Bewegungen, bis sie das letzte Stück sanft zu Boden segelten. „Menschen ...“, sagte er leise. „Menschen sterben die ganze Zeit über. Sie tun immer so, als würden sie ewig leben, als würde so etwas wie der Tod für sie nicht existieren, aber früher oder später sterben sie doch. Das ist nicht zu ändern. Weder bei den Menschen und Tieren noch bei den Pflanzen. Ich kann auch nicht die Blätter davon abhalten, im Herbst von den Bäumen zu fallen. Das gehört zu ihrer Natur.“ „Ich weiß selbst, dass sie nicht zurückkommen wird.“ Joey senkte den Kopf und verkrampfte die Hände ineinander. „Ich möchte doch nur etwas von ihr bei mir haben. Kannst du das nicht verstehen? Wenn deine Zeit gekommen ist und du gehen musst ... Willst du nicht auch, dass dein Geliebter etwas von dir bei sich hat, um sich an dich zu erinnern?“ Dieses Mal war es an Yami, zu Boden zu schauen und tief zu seufzen, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Doch ... Was ich eigentlich sagen wollte ... In dieser Brosche steckt Hitze. Das, was er fürchtet.“ „Was wer fürchtet?“, fragte Joey verwundert. „Der, nach dem du suchst. Der Mann, der deinen Freund entführt hat.“ „Kennst du ihn?“ „Ihn kennen? Besser als mir lieb ist. Er ist mein Bruder.“ „Warum überrascht mich das nicht wirklich“, murmelte Joey. „Deine Brüder Yugi und Duke habe ich auch schon kennen gelernt – aber ihr vier seht euch gar nicht ähnlich, abgesehen von Yugi und dir.“ „Wir hatten verschiedene Mütter“, antwortete er. „Ach so. Nur was ich nicht verstehe ... Pegasus ist ein Fürst.“ „Und ich nur ein einfacher Räuber! Wolltest du das damit sagen?“, fuhr ihm Yami dazwischen. „Es sollte anders sein, nicht wahr? Ist es gerecht? Nein! Er ist einfach zu mächtig.“ „Lässt du mich gehen, Yami? Mir ist klar, dass es schwer wird, aber ich muss Seto finden. Ich muss wenigstens versuchen, ihn vor Pegasus zu retten.“ „Du bist kein Gegner für ihn, und ... Bakura würde mir nicht vergeben, wenn ich dich einfach so ziehen lasse. Aus irgendeinem Grund hat er einen Narren an dir gefressen und das, obwohl du dich ihm die ganze Zeit über verweigert hast ... oder vielleicht gerade deswegen“, überlegte er. „Bakura ist daran gewöhnt, zu bekommen, was er haben will.“ „Warum hast du ihm überhaupt erlaubt, mich bei sich zu behalten? Hattest du keine Angst, dass ich auf seine Anmache eingehe?“ Nicht dass ich das je freiwillig tun würde, fügte er in Gedanken hinzu. Es sei denn ... Hmm, das wäre doch eine Möglichkeit. Aber die hebe ich mir für den Fall auf, dass es wirklich nicht anders geht. „Er hat einen ziemlichen Appetit“, lachte Yami leise, „Ich muss häufig das Lager verlassen oder mich hier um meine Arbeit kümmern. Das frustriert ihn natürlich und das ist nicht gut für meine Männer, die dann unter ihm und seinen Launen zu leiden haben. Da ist es mir lieber, wenn er sich zwischendurch bei wem anders vergnügt. Hier, fang!“ Er warf Joey die Brosche zu, die dieser auffing und an sich drückte, mehr als erleichtert, sie wiederzuhaben. Sein dankbares Lächeln mit einem Nicken quittierend, verließ er die Zelle und sperrte hinter sich ab. Bakura marschierte mit großen Schritten durch das Lager, den Sturm ignorierend, der an seinen Haaren und seinem Mantel riss. Dicke Regentropfen lösten sich aus den Wolken und schlugen ihm entgegen. Die Männer und Frauen, die im Räuberlager zurückgeblieben waren, um anderen Arbeiten nachzugehen, zogen sich bei seinem Anblick rasch in ihre Jurten zurück. Bei dem Gesichtsausdruck, den er aufgesetzt hatte, war der momentan wütende Sturm nur ein laues Lüftchen gegen den, der in seinem Inneren tobte. Wer mit ihm zusammenlebte, tat gut daran zu lernen, seine Launen zu erkennen, wollte derjenige am Leben bleiben. Allister packte Rafael, der kurz nach Bakura ins Lager kam und eine aufgeplatzte Lippe hatte, am Arm und zog ihn in seine Jurte. „Was hat Bakura? Er sieht so nach Weltuntergang aus.“ „Das trifft es in etwa. Unser Plan mit der Reisegruppe ist ganz gewaltig nach hinten losgegangen.“ „Wie jetzt? Ich dachte, das wär ’ne sichere Sache? Unser Informant meinte doch, es wären nur ein paar Frauen –“ „Dummerweise hat er uns verschwiegen, dass es sich dabei um den Jahresausflug des Vereins für weibliche Selbstverteidigung handelte“, knurrte Rafael und tupfte sich mit einem Tuch das Blut von der Lippe. „Unser lieber Bakura hat ein Veilchen kassiert. Von einer Frau.“ „Autsch. Dann wundert mich seine Laune überhaupt nicht mehr.“ „Wenn unser Informant noch nicht getürmt ist, wird er den morgigen Tag nicht mehr erleben, fürchte ich. Hoffentlich schafft Yami es, ihn zu beruhigen.“ „Also ... da gibt es ein kleines Problem“, sagte Allister zögernd. „Was für ein Problem?“ „Hast du’s vergessen? Yami trifft sich heute mit den anderen Bandenchefs wegen des Revierstreits.“ „Dann ist er gar nicht hier?“, fragte Rafael entsetzt. Am anderen Ende der kleinen Siedlung gelangte Bakura gerade zu derselben Erkenntnis, als er Yamis Zelt verlassen vorfand. Auf dem Tisch lag eine Notiz seines Liebsten, der sich schon gedacht hatte, dass er nicht an das Anführertreffen denken würde. „Er ist übermorgen zurück? Übermorgen?!“ Ein zorniger Schrei entfuhr ihm. Und was sollte er solange machen, Däumchen drehen und hoffen, dass sein Groll von selbst verrauchte? Der silberne Samowar, in dem Yami immer seinen Tee zubereitete, wurde vom Tisch gefegt, rollte über den mit Teppichen ausgelegten Boden und blieb neben dem Bett liegen. In einer blitzschnellen Bewegung zog Bakura sein Messer aus dem Gürtel und warf es auf eines der Kissen, in das es sich bis zum Griff bohrte. Beim Herausziehen riss er ein großes Loch in den Stoff, dass die Federn, mit denen es gefüllt war, herausquollen. Das genügte zwar längst nicht, um den ganzen Frust loszuwerden, der sich bei ihm während des Rückwegs von ihrem missglückten Überfall angestaut hatte, aber es war wenigstens ein Anfang. Wenn doch nur Yami da wäre ... Er verließ die Jurte und trat in den strömenden Regen hinaus. Sein Ärger vergrößerte sich wieder, als er sah, dass alle Türen fest verschlossen waren. Offenbar wollte heute keiner der Räuber als Ersatz für Yami herhalten. Aber ich hab ja noch ... Er machte sich auf den Weg zur Kerkerhöhle. Heute ist er fällig. Joey grinste triumphierend und hob den Stein heraus. Nur noch eine Nacht, maximal morgen noch ein paar Stunden und das Loch würde groß genug sein, dass er in Aios’ Zelle schlüpfen konnte. [i9Fehlen bloß noch die Schlüssel, aber dafür müsste mich Bakura mal wieder besuchen kommen. Er hörte Schritte in der Höhle und verschloss das verräterische Loch hastig mit den Steinen, die er neben sich aufgestapelt hatte. Der Schlüssel knackte im Schloss. Joey ließ sich auf die Pritsche fallen und lehnte sich an die Wand. Wow, das nenne ich aber mal Expresslieferung!, dachte er, als Bakura hereinkam und die Tür hinter sich schloss. Der Ausdruck im Gesicht des anderen fegte ihm das Lächeln jedoch in Sekundenschnelle vom Gesicht. Will er mich jetzt doch umbringen? Hilfe, ich will noch nicht sterben! Ich bin viel zu jung dazu. „Hallo, Bakura. Wie ... nett, dass du mich besuchst.“ Dieser kam mit einem diabolischen Grinsen näher und musterte ihn wie ein Wolf seine nächste Mahlzeit. In Joey stieg Angst auf. Wenn er es schaffte, an ihm vorbeizutauchen und ihm dabei den Schlüssel abzureißen ... Er erhob sich aus seiner sitzenden Position und machte sich bereit loszusprinten, sobald sich die Möglichkeit ergab. „Ich dachte mir, es wäre an der Zeit, bei dir vorbeizuschauen und zu sehen, wie es dir so ... geht“, erwiderte Bakura mit einem dunklen Lächeln und leckte sich über die Lippen. „Ganz okay, ich will nur hier raus“, kam die nervöse Antwort des Blonden, der seine Hände dazu wie einen Schutzschild vor sich hob. Er wich einen Schritt zur Seite in Richtung der Zellentür, Bakura folgte ihm, drehte sich so mit ihm. Ein weiterer Schritt und noch einer – Umdrehen und nichts wie weg hier! Er fuhr herum, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, da fühlte er etwas Schweres an seinem Rücken, das ihn zu Boden riss. Die Luft entwich seinen Lungen, als er mit dem Gesicht über den Steinboden schrammte. „Wolltest du schon wieder abhauen, Kleiner?“, raunte Bakura ihm ins Ohr, riss ihm die Arme nach hinten und packte sie mit einer Hand. „Das solltest du schön bleiben lassen, wenn du weißt, was gut für dich ist.“ Er stieg von ihm herunter, wie Joey am plötzlich fehlenden Gewicht auf seinem Rücken merkte. „Hoch mit dir!“ Als er dieser Aufforderung nicht sofort nachkam, wurde er grob auf die Beine gezogen und von seinem Gegenüber zurückgedrängt, bis er gegen die Pritsche stieß und darauf landete. „Bakura, was –“ „Halt einfach deine Klappe“, zischte der Weißhaarige und presste seine Lippen auf Joeys. Sich über ihn kniend und ihn so an seinem Platz festhaltend, fuhr er mit der Hand unter den Pullover des Blondschopfs und strich über dessen warme Haut. Er hatte lange genug gewartet, heute würde er sich holen, was er wollte. Dem von ihm Überrumpelten entfuhr ein Keuchen, als er über seinen Hals leckte und ihm den Mantel von den Schultern schob, um sich mehr Platz zu schaffen. Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, was genau Bakura da mit ihm vorhatte. Wie beruhigend, dachte er voll Sarkasmus, umbringen will er mich schon mal nicht, dafür will er mich flachlegen. Aber herhalten will ich weder für das eine noch für das andere! Bakuras Hand wanderte weiter seinen Körper hinab, streifte seinen Schritt, was Joey die Zähne zusammenbeißen ließ. Der Räuber sollte ja nicht auf den Gedanken kommen, ihm könnte diese Behandlung gefallen. Okay, denk nach, Joey ... Eine Zunge strich über sein Ohrläppchen. Mistkerl! ... Ich brauche die Schlüssel. Er wandte den Kopf zur Seite, um bessere Sicht zu haben, auch wenn er Bakura dadurch unfreiwillig mehr Platz an seinem Hals verschaffte, den dieser sofort ausnutzte, um mit seiner Zunge darüber zu fahren. Jetzt kapier ich, was mit diesem Spruch gemeint ist. Bakura streifte ihm den Pullover über den Kopf und leckte über seine Brustwarzen. War es hier drin so kalt oder lag die Gänsehaut doch an etwas anderem? Der Geist ist willig, aber ..., er biss sich auf die Lippe, um ein erneutes Keuchen zu unterdrücken, während er merkte, wie sein Blut Richtung Körpermitte strebte, das Fleisch ist schwach. Als wollte er ihn streicheln, ließ Joey seine Hände über Bakuras Seiten gleiten und tastete dabei nach den Schlüsseln, bis er an seinem Gürtel fündig wurde. Sie davon zu lösen, war dagegen nicht ganz so einfach, zumal Bakura ihn mehrmals unterbrach, um sich ungeduldig Mantel und Hemd auszuziehen. „Scheint dir doch zu gefallen“, grinste Bakura und strich über die leichte Erhebung, die sich in Joeys Hose gebildet hatte. Jetzt aber Beeilung!, war seine unausgesprochene Antwort darauf. Er löste den Haken, mit dem die Schlüssel befestigt waren, bemüht, sie nicht gegeneinander schlagen zu lassen, und stopfte sie schnell in seine Hosentasche. Sehr schön ... und wie werde ich ihn jetzt los? Ich wusste, ich hab was bei meinem genialen Plan vergessen, mit ihm will ich doch gar nicht – Joey überlegte fieberhaft – oder so gut es ihm in seiner gegenwärtigen Lage möglich war –, wobei er hilflos mit ansehen musste, wie sich Bakura an dem Verschluss seiner Hose zu schaffen machte. „Du musst keine Angst vor mir haben, Joey, ich beiße nicht ... sehr oft“, murmelte er. *an der Seite der Kinoleinwand versteck* Ja, also ... Wie gesagt, bringt mich bitte deshalb nicht um, sonst erfahrt ihr nicht, wie es weitergeht. ^^ Kapitel 14: Mosaik aus Kristall ------------------------------- *mit neuem Kapitel wedel* Willkommen zum nächsten Teil des Eisfürsten. ^___^ Hier hat sich der Sturm einigermaßen beruhigt, im Studio tobt er noch ... und das gerade im mehrfachen Sinne. ^^ (1) http://www.youtube.com/watch?v=FlfAOSYOs4E&feature=related Two Steps from Hell – Love and Loss (2) http://www.youtube.com/watch?v=0oIoX8JLL0o&feature=related Future World Music – Obsession (3) http://www.youtube.com/watch?v=XTjsBVKm9Ro&feature=PlayList&p=1A719681A1F50451&index=2 Eragon Soundtrack – Fortune Teller Kapitel 14 Mosaik aus Kristall (1) Unruhig rutschte Seto auf dem Stuhl, auf welchem er sich niedergelassen hatte, um beim Dreh der Szene zuzusehen, hin und her, seine Finger schlugen im Sekundentakt gegeneinander. Seine Miene wurde immer abweisender, der Blick, mit dem er Bakura und Katsuya bei ihrem Spiel beobachtete, gewann mit jeder vergehenden Sekunde an Kälte. Natürlich hatte er gewusst, dass diese Szene existierte, schließlich hatte er sich das gesamte Drehbuch durchgelesen, um sich angemessen auf seine Rolle vorzubereiten. Ihm war klar gewesen, dass diese Verführungsszene früher oder später an der Reihe war und trotzdem ... In ihm stieg der Wunsch auf, Bakura ganz langsam und genüsslich den Hals umzudrehen. Er wusste nicht, was schlimmer war, Bakura dabei zu sehen, wie er Katsuya überall an seinem Körper berührte oder dass dem Blondschopf das auch noch sichtbar zu gefallen schien. Die Beule in seiner Hose sprach auf jeden Fall für sich, die konnte er nicht spielen. Die Faust des brünetten Schauspielers ballte sich. Seine Fingernägel gruben sich in sein Fleisch, als er hörte, wie Katsuya ein Stöhnen entwich. Er verstand nicht, dass Yami nicht längst eingeschritten war und der Sache ein Ende bereitet hatte. Ist es ihm egal, wenn sich Bakura mit einem andern einlässt, und sei es nur vor der Kamera? Am liebsten hätte er es selbst getan und wäre dazwischen gegangen. Was aber sollte er dann als Grund nennen. Sie hatten sich geküsst, ja, aber feststand, sie waren nicht zusammen und er hatte somit keinerlei Berechtigung, sich einzumischen, selbst wenn er tausendmal eifersüchtig war – Er lachte leise, als ihn diese Erkenntnis wie mit einem Hammerschlag traf. Ich bin auf Bakura eifersüchtig ... Wegen Katsuya. Wer hätte das früher gedacht – Argh, hört endlich auf zu knutschen! Bakura machte sich derweil daran, seinem Kollegen die Hose zu öffnen, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, dass er Setos Inneres damit gefährlich zum Brodeln brachte. Gedanklich hatte er sich schon lange aus dem Studio entfernt. Statt Joey sah er seinen Freund Yami in seinen Armen liegen und ihm bittende Blicke zuwerfen, ihn nicht zu lange zu quälen. Was zu viel war, war zu viel. Seto wandte sich ab und marschierte so schnell er konnte aus dem Studio. Wenn er nicht hier raus kam, würde ein Unglück passieren, das wusste er. Da zog er es doch vor, sich für eine halbe Stunde beim Kendo abzureagieren und seinem Ärger auf diese Weise etwas Luft zu machen. Er bekam nicht mehr mit, wie Katsuya Bakura eine schallende Ohrfeige verpasste, damit dieser endlich in die Realität außerhalb ihres Schauspiels zurückkehrte und von ihm abließ. Nachdem der Weißhaarige von Yami wegen einer „dringend zu besprechenden Angelegenheit“ aus dem Studio gezerrt worden war, ordnete der genervte Jungregisseur eine halbstündige Pause an. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Ein lautes, plötzliches Pochen an der Tür ließ den Räuber verwirrt aufsehen. „Bakura, bist du hier?“ Allister stürzte herein. „Bakura – Ohh!“ „Ist irgendwas?“, fuhr dieser seinen Untergebenen an. „Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin.“ „’tschuldige, aber ... Elanas Jurte steht in Flammen und wir kriegen das Feuer nicht unter Kontrolle! Wir brauchen deine Hilfe!“ „Kriegt ihr nichts ohne mich auf die Reihe?“, knurrte Bakura, löste sich aber zu Joeys Erleichterung von ihm und griff nach seinem Mantel. Die Zellentür schlug hinter den beiden Räubern zu. Sie hatten die Höhle noch nicht verlassen, da war Joey schon in seine Kleider geschlüpft und dabei, die Steine aus der Mauer zu nehmen. Länger konnte er unmöglich warten. Wenn Bakura merkte, dass er die Schlüssel nicht mehr hatte, musste er so weit wie möglich von hier weg sein und das am besten mit Aios, denn ohne guten Führer war er in dieser Einöde aufgeschmissen. Das Loch, welches er in den vergangenen Wochen geschaffen hatte, war gerade so groß, dass er in die benachbarte Zelle schlüpfen konnte. „Aios, ich komme jetzt rüber, okay?“ „Und die Räuber?“, drang die dunkle Stimme durch das Loch. „Die sind von ihrem Feuer abgelenkt, eine bessere Gelegenheit werden wir nicht kriegen – und ich hab die Schlüssel von Bakura.“ Sich noch einmal vergewissernd, dass er sowohl die Schlüssel und seinen Rucksack als auch die Brosche bei sich trug, ließ sich Joey auf die Knie sinken und kroch durch die Wandlücke. Die Höhle, in der er sich wiederfand, war gewaltig, mindestens doppelt so groß wie die Vorhöhle mit den zwei kleinen Zellen. Durch die Ritzen im Fels fiel nur wenig Licht herein, so dass Joey Mühe hatte, etwas zu erkennen. „Man sieht ja gar nichts ... Au!“ Er rieb sich das Schienbein, mit dem er gegen etwas Hartes gestoßen war, einen Felsen wahrscheinlich. „Wo bist du?“ „Direkt vor dir, Joey.“ „Äh ... Ich seh dich aber nicht, wenn ich ehrlich bin. Ist so dunkel hier drin.“ „Warte, ich mache die Fackeln an. Erschreck dich aber bitte nicht, wenn du mich siehst.“ „Erschrecken?“ „Du wirst es gleich sehen.“ Joey konnte knapp den Schrei unterdrücken, indem er sich beide Hände vor den Mund schlug. Eine blaue Stichflamme tauchte die Höhle kurz in gleißendes Licht und entzündete die Fackeln, die in eisernen Halterungen an der Wand befestigt waren. Die Augen des Blonden weiteten sich vor Fassungslosigkeit. Was er für einen Stein gehalten hatte, an dem er sich gestoßen hatte, war in Wahrheit eine große Zehe. Langsam wanderte sein Blick höher, über ein Bein, den mächtigen Körper hinauf. Er musste einige Schritte zurücktreten und seinen Kopf in den Nacken legen, um bis zum Kopf seines Gegenübers hinaufsehen zu können. „D-du ... du bist Aios? Ein ... Drache?“ „So ist es, Joey. Ich freue mich, dass wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht sehen können.“ „T-tu mir bitte n-nichts“, stammelte er, unfähig, den Blick von dem Drachen zu nehmen, dessen Schuppen im Fackellicht weiß und hellblau schimmerten. „Warum sollte ich? Wir sind doch Freunde“, entgegnete Aios. „Aber jetzt sei so gut und nimm mir die Ketten ab, wir haben nicht viel Zeit.“ Er streckte seinen Fuß vor. Erst jetzt bemerkte Joey die schweren Fesseln aus Eisen, die über Ketten mit den Wänden verbunden waren. „Ja, natürlich.“ Er zog die Schlüssel aus seiner Hosentasche und begann sie der Reihe nach auszuprobieren, bis er die passenden für die verschiedenen Schlösser gefunden hatte, mit denen die Ketten gesichert waren. „Das ist schon viel besser“, sagte der Drache, als zuletzt auch seine Vorderläufe wieder frei waren. „Aber wie kommen wir hier raus? Kannst du das Tor eintreten?“ „Das habe ich schon versucht, dafür ist es zu massiv. Du musst es von draußen öffnen. Geh besser ein paar Schritte zur Seite.“ Joey nickte ihm zu und zog sich an den Rand der Höhle zurück. Der Drache holte mit seiner Pranke aus und rammte sie gegen die kleine Tür, die in das Tor eingelassen war und Bakura als Durchgang diente, wenn er Aios besuchen wollte. Das Holz flog krachend und splitternd aus seiner Fassung. Joey kletterte über die Bruchstücke nach draußen. Neben dem Tor entdeckte er einen Hebel, den er umlegte. Der Querbalken, mit dem es gesichert war, glitt zur Seite, das Tor öffnete sich langsam. Aios schritt heraus und sog tief die frische Luft in seine Lungen. „Das tut gut, endlich wieder frei. Los, steig auf meinen Rücken.“ „Auf dei –“ „Du willst doch zum Eisfürst und der schnellste Weg ist, wenn wir fliegen.“ „Keine Bewegung, ihr beiden!“ Bakura stand im Eingang der Höhle, sein Mantel war angesengt, und funkelte die beiden Ausbrecher an. „Also hat mich mein Gefühl nicht getäuscht, dass was nicht stimmt. Jetzt bist du dabei, meinen Drachen zu stehen, Joey ‚Ich-werde-niemals-ein-Räuber’ Wheeler!“ „Wenn dir das Rauben so gefällt, solltest du eigentlich kein Problem damit haben, wenn ich dich ausraube“, erwiderte er kühl. „Niemand bestiehlt einen Räuber oder er bekommt das zu spüren“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, zog sein Messer aus dem Gürtel und stürmte auf den Blonden zu, der sich unter ihm wegduckte. Bakura fuhr herum und wollte zu einer zweiten Attacke ansetzen, als Aios ihm die Waffe aus der Hand schlug. Schreiend stürzte er sich daraufhin auf den Braunäugigen. „Ihr werdet hier bleiben, alle beide! Von so einem Träumer wie dir lasse ich mich nicht bestehlen!“ Nun wurde es auch Joey zu viel. Mit einem gezielten Treffer versenkte er seine Faust in Bakuras Magen. Der Räuber sank keuchend auf die Knie. „Was glaubst du, was du da tust?“, presste er hervor. „Nur das, was du mich gelehrt hast – mich zu wehren.“ „Dich zu wehren? Pah!“ „Du hast immer nur daran gedacht, was du willst und jetzt denke ich zur Abwechslung daran, was ich will. Und das ist, Seto zu finden. Leb wohl, Bakura, und grüß Yami von mir.“ Aios senkte seinen Körper so weit herab, dass Joey über seine Hinterbeine auf seinen Rücken steigen konnte. Als er saß, die Beine fest hinter die Flügel geklemmt und die Arme um den Hals des Drachen geklammert, nahm Aios Anlauf und breitete in dem Augenblick, da sie die Höhle verließen und nach draußen kamen, seine Schwingen aus. Die Luft zischte kalt an Joey entlang, während sie höher stiegen und das Räuberlager, über dem der Rauch der halb verbrannten Jurte lag, hinter sich ließen. Der weiße Drache stieß ein freudiges Brüllen aus. Nach all den Monaten, die ihn Bakura gefangen gehalten und als Reittier benutzt hatte, war er frei und konnte in seine Heimat zurückkehren. Hätte Joey nicht beide Hände gebraucht, um sich festzuhalten, hätte er sich liebend gern die Ohren zugehalten. Der Drache machte mit seinem Schrei einen infernalischen Lärm. Gut zwei Stunden vergingen, während sich die Landschaft unter ihnen veränderte, schroffer und felsiger wurde, begraben unter einer dicken Schneeschicht. Sie landeten in einem Wald am Rand eines riesigen, zugefrorenen Gewässers, bei dem es sich, wie Aios seinem Begleiter erklärte, um den Baikalsee handelte, im Süden von Sibirien. „Und was sollen wir hier?“ „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, für den selbst ich bei voller Fluggeschwindigkeit drei Tage brauche, Joey. Du wirst Proviant benötigen, den bekommen wir am besten hier. Der Lachs ist eine Delikatesse.“ „Der See ist zugefroren“, bemerkte er. „Und du glaubst, ich könnte kein Loch in das Eis schlagen?“, lachte Aios. „Lass das nur meine Sorge sein. Wie wäre es, wenn du in der Zwischenzeit ein Bad nimmst? Nicht weit von hier gibt es eine heiße Quelle.“ „Gut ... wenn du meinst“, zuckte er mit den Schultern und machte sich in die angegebene Richtung auf, wo er nach einem kurzen Fußmarsch auf die Quelle stieß. Joey legte seine Kleider ab und ließ sich genüsslich aufseufzend in das Wasser sinken. Auf dem Rückweg stieg ihm bereits der Duft von gebratenem Fisch in die Nase. Aios hatte ein Feuer entzündet und die Fische, auf Äste gespießt, darum verteilt. Ein weiteres Dutzend Fische lag neben ihm im Schnee. „Du kommst genau rechtzeitig zum Essen“, begrüßte er ihn. „Der gebratene Fisch ist für dich. Lass es dir schmecken.“ Joey, dem von der Flucht der Magen knurrte, ließ sich dies nicht zweimal sagen und griff zu. Was übrig blieb, wickelte er in ein Tuch, um es für später aufzuheben. „Also dann“, sagte Aios, nachdem sie das Feuer gelöscht hatten und Joey wieder sicher auf seinem Rücken saß, „auf nach Norden!“ (2) Seto hob die letzte Scherbe auf, die von dem einstmals so großen Haufen übrig geblieben war, und fügte sie an ihren ursprünglichen Platz im Spiegel ein. Er trat einen Schritt zurück, um seine Arbeit besser betrachten zu können. „Ich bin fertig, Pegasus“, sagte er und wandte sich dem Mann zu, der hinter ihm stand und ihn während der letzten halben Stunde bei seiner Arbeit beobachtet hatte. Auf die Lippen des Eisfürsten legte sich ein leichtes Lächeln, er schüttelte den Kopf. „Keiner ist dem Ziel je so nahe gekommen wie du, Seto. Ich wusste doch, du bist besonders. Aber er ist noch nicht fertig.“ „Was meinst du? Er ist komplett. Ich habe getan, was du wolltest.“ Setos Blick folgte Pegasus, der um ihn herumging, sich vorbeugte und den Spiegel aus der Nähe musterte. „So scheint es auf den ersten Blick“, er richtete sich wieder gerade auf, „doch es scheint ein Stück zu fehlen.“ Die auf Augenhöhe liegende Stelle, die er meinte, war winzig, nicht größer als eine getrocknete Linse und auf den ersten Blick leicht übersehbar. Und dennoch hat er es gemerkt, stellte Seto zerknirscht fest. „Wo ist es? Ich habe es überall gesucht ... Hast du es versteckt? Oder hast du es verloren?“ „Nein, es ist hier“, widersprach Pegasus. „Ich habe viele Jahre damit verbracht, die Bruchstücke wieder zusammenzutragen und alle befinden sich hier.“ „Aber es ist nicht da“, beharrte Seto auf seiner Meinung. Der andere seufzte nur, wandte sich ab und ging. „Du bist noch nicht für den letzten Kuss bereit, Seto.“ „Es ist nicht da, ich habe eine Woche danach gesucht“, rief er ihm nach. Die Augen auf die kleine Lücke gerichtet, strich Seto vorsichtig, um keine der Scherben versehentlich aus ihrem Platz zu lösen, über den Spiegel. „Ich finde dich“, flüsterte er, „und wenn ich den ganzen Palast dafür noch einmal auf den Kopf stellen muss.“ (3) Joey schlug den Mantelkragen hoch und zog sich den Schal höher ins Gesicht. Sie flogen durch dichtes Schneetreiben, die Landschaft unter ihnen war kaum auszumachen. Die Eiskristalle drangen durch jede noch so kleine Ritze in seiner Kleidung und ließen ihn vor Kälte zittern und mit den Zähnen klappern. Wie hat Seto das bloß die ganze Zeit ausgehalten? Hoffentlich ... Wenn er das nun nicht überlebt hat und erfroren ist ... Ahh, gar nicht erst dran denken, Joey! Seto lebt noch! Seit über zwei Tagen waren sie fast ohne Pause unterwegs. Wenn Joey essen oder schlafen musste, tat er dies auf dem Rücken des Drachen. Je weiter sie nach Norden kamen, umso weniger sahen sie von der Sonne. Es war Dezember, die Wintersonnenwende stand kurz bevor und die einzige Helligkeit, abgesehen von den wenigen Minuten, in denen sie etwas von der Sonne sahen, kam von den blassblau leuchtenden Polarlichtern, die sich in breiten, schleierartigen Streifen über den Himmel zogen. Unter anderen Umständen hätte Joey diesen einmaligen Anblick, der sich ihm hier bot, gern genossen. Jetzt, da das Ziel in greifbarer Nähe lag, begann die Angst in ihm aufzusteigen. Sowohl Yugi als auch Duke und Yami hatten ihn gewarnt, sich auf einen Kampf mit Pegasus einzulassen. Seine Gedanken kreisten beständig um die Frage, wie er es anstellen sollte, Seto von ihm wegzuholen. Er glaubte nicht, dass der Eisfürst ihn freiwillig würde gehen lassen. Ein Stück voraus wurde es heller, bald darauf hatten sie den Schneesturm hinter sich. Joey wischte sich mit einer Hand den Schnee vom Mantel und aus dem Gesicht. „Wie weit ist es noch?“, fragte er Aios. „Jetzt dauert es nicht mehr lange, morgen früh sollten wir da sein. Bevor du dich schlafen legst, möchte ich dir allerdings noch eine Geschichte erzählen. Vielleicht hilft sie dir bei dem, was du vorhast.“ „Und was für eine Geschichte?“ „Es gibt eine alte Legende. Der Wind hat sie mir erzählt“, begann Aios. „Vor eintausend Jahren erschuf der Teufel einen magischen Spiegel. Er war wunderbar anzusehen, mit einem goldenen Rahmen, der von Runen bedeckt war und zeigte denjenigen, der sich darin ansah so klar wie ein Bergsee. Diesen Spiegel schenkte der Teufel den vier Jahreszeiten, damit sie sich darin betrachten konnten. Als erstes trat der Frühling vor den Spiegel und sah die Essenz dessen, was seine Zeit ausmacht: Freude, Licht und das Versprechen von Leben. Dasselbe sahen Sommer und Herbst, als sie sich vor den Spiegel stellten. Als Letzter trat der Winter aus der Reihe hervor. Doch als er sich vor den Spiegel stellte und hineinblickte, reflektierte dieser eine kalte Welt, die von Schnee bedeckt wurde. Eine Welt, die in Schlaf versunken war, ohne Leben. So war es bestimmt worden und so sollte es sein. Jede Jahreszeit hatte zu der Zeit, in der sie regieren sollte, ihre Macht. Blühte und grünte alles, während die ersten drei Jahreszeiten das Zepter führten, so sorgte der Winter dafür, dass die Welt für einige Zeit zur Ruhe kam und sich erholen konnte. Es herrschte Harmonie. Dies wusste der Teufel und so hatte er den Spiegel mit einem Fluch belegt. Der Winter trat immer öfter vor den Spiegel und in ihm wuchs der Wunsch, der Herr über die anderen Jahreszeiten zu werden und sich über sie zu erheben. Er stahl den Spiegel und brachte ihn fort in seinen Palast. So wurde er zum Eisfürsten und die Welt wurde kalt. Doch dann merkte er, dass etwas an seinem Plan nicht stimmte. Frühling, Sommer und Herbst existierten immer noch und weigerten sich, sich ihm zu unterwerfen. Also brachte er den Spiegel in den Himmel, um von diesem die Bestätigung zu erhalten, dass der Winter herrschen sollte. Als er sich dem Himmel näherte, kämpfte das Gute gegen das Böse, das in dem silbrigen Glas wohnte. Der Spiegel wackelte immer stärker in den Händen des Eisfürsten, bis er in tausende und abertausende Splitter zerbrach. Diese fielen auf die Erde, überallhin. Sie wurden auf der ganzen Welt verstreut. Einige von ihnen flogen Menschen ins Auge und ließen sie die Welt als kalten, hässlichen Ort sehen. Andere Menschen wurden in der Brust getroffen und ihr Herz erkaltete. Seit der Spiegel zerbrochen ist und Pegasus somit seine Macht eingebüßt hat, reist er in jedem Winter durch die Welt, auf der Suche nach den verlorenen Splittern. Erst wenn der Spiegel wieder zusammengefügt wird, erhält er seine volle Macht zurück.“ „Aber was hat Seto damit zu tun?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ „Du meinst ...“ „Ich fürchte, so ist es. Schlaf noch ein wenig, in ein paar Stunden sind wir da.“ Drei Tage. Seto ließ sich auf dem Boden nieder und zog die Beine an seinen Körper, um sich besser warm zu halten. Drei Tage lang hatte er den Palast durchsucht, hatte das Unterste zuoberst gekehrt und doch hatte er das, wonach er so verzweifelt suchte, nicht gefunden. Auch Siegfried hatte auf seine Nachfragen lediglich geantwortet, das letzte Spiegelstück befinde sich im Palast, ob er zu blind sei, es zu sehen. Er sah zu dem Spiegel hoch. Wie die Scherben trotz des Dämmerlichts glitzerten ... fast wie die Sterne. Wann habe ich das letzte Mal zu ihnen hochgesehen?, fragte er sich unwillkürlich. Diese eine, sternklare Nacht ... Als ich etwas im Auge hatte. „Kann das sein ...“, flüsterte der Brünette und sprang auf. „Nun, Seto, hast du den Splitter schon gefunden?“ Pegasus schritt die letzten Stufen der Treppe hinunter und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. „Ich ... Ich bin das fehlende Stück“, sprach er seinen Gedanken ungläubig aus. Sein Gegenüber nickte lächelnd. „Aber ... Wie soll ich ihn dann aus meinem Auge bekommen, um den Spiegel zu vervollständigen?“ „Das kannst du nicht. Nicht du selbst.“ „Dann sag mir, wie ich ihn herausbekommen soll.“ „Es ist einfach, Seto.“ Pegasus strich ihm über die Wange. „Es braucht dazu nur einen weiteren, letzten Kuss. Denk darüber nach, in einer Stunde komme ich wieder.“ Joey gähnte verschlafen und blinzelte. Die Hände waren ihm vor Kälte klamm, es fiel ihm schwer, sich auf dem Rücken des Drachen festzuhalten. Der Himmel war klar und tiefschwarz, so dass sich die unzähligen Sterne, die sich in den Weiten des Alls tummelten, noch deutlicher abhoben und den beiden Reisenden zusammen mit dem fast vollen Mond den Weg leuchteten. Sie befanden sich über dem Meer, auf dem Eisschollen und Eisberge trieben „Guten Morgen, Joey. Gut geschlafen?“, fragte Aios. „Ja ... den Umständen entsprechend.“ „Das ist ... schön.“ „Alles in Ordnung mit dir, Aios?“ „Es ist nichts. Der lange Flug hat mich nur mehr erschöpft, als ich anfangs dachte. Meine letzte Reise dieser Länge ist eine ganze Weile her.“ In einiger Entfernung tauchte die Küste einer Insel auf. „Wir haben es fast geschafft, Joey.“ Aios schlingerte leicht, korrigierte seinen Flug jedoch gleich wieder durch ein kräftigeres Flügelschlagen. „Bist du sicher?“, fragte der Blonde besorgt. „Ich habe dich so weit gebracht, da ... kann ich dich ja wohl jetzt nicht hängen lassen.“ Joey beugte sich etwas zur Seite und beobachtete, wie sie die eisige Küste überflogen, vorbei an Hügeln und Bergen aus Schnee und Eis und weiter ins Landesinnere eindrangen. Dabei entging ihm nicht, dass jeder Flügelschlag, den Aios tat, schwächer war als der vorherige. Ein Keuchen drang aus dem Maul des Drachen. „Aios?“ „Dort ... vorne“, schnaufte er und deutete auf etwas, das wie eine bizarre Formation von umgedrehten Eiszapfen aussah, „da liegt Pegasus’ Schloss.“ Sie wurden langsamer, verloren an Höhe. Der Boden kam näher und näher. „Ich ... ich kann nicht mehr.“ Aios hatte Mühe, die Landung abzufedern, damit Joey nicht zu sehr durchgerüttelt wurde. „Es tut mir leid, Kleiner. Ich wollte dich doch ... bis zum Schloss bringen, aber ... seine Macht ist hier zu stark für mich. Näher kann ich nicht heran.“ „Aber du hast mir damit sehr weitergeholfen“, antwortete er und schlang zum Dank die Arme um den Hals des Drachen, bevor er von seinem Rücken glitt und auf dem von Eis bedeckten Boden landete. „Den Rest schaffe ich allein, ruh dich aus, mein Freund, und vielen Dank für alles.“ Joey schulterte seinen Rucksack und machte sich, den Blick fest auf den Palast seines Gegners gerichtet, auf den Weg. . Kapitel 15: Entscheidung in der Arktis -------------------------------------- Langsam, aber sicher geht es aufs große Finale zu. ^_______^ *heiße Schokolade austeil* (1) http://www.youtube.com/watch?v=prji4CZCI88&feature=related Memoires of a Geisha – Mulan’s Theme (2) http://www.youtube.com/watch?v=gFmxTJyM9VQ&feature=related Future World Music – The Quest (3) http://www.youtube.com/watch?v=45FnaBo8Ybk&feature=PlayList&p=1A719681A1F50451&index=14 Eragon – War’s not over yet (4) http://www.youtube.com/watch?v=nL5bT1oZdnY SClub 7 – Never had a Dream come true Danke schön an für die Hilfe beim letzten Stück. Kapitel 15 Entscheidung in der Arktis (1) Den Kopf gesenkt und tief im Kragen seines Mantels verborgen, wanderte Joey durch den Schnee, sank bei jedem Schritt, den er tat, weiter ein, was ihm das Vorwärtskommen zusehends erschwerte. Der Wind wehte ihm Eis und Schneeflocken ins Gesicht, die ihn wie Nadeln stachen. Je näher er dem Palast kam, desto öfter hörte er eine gehässige Stimme im Heulen des Windes, die ihm zuflüsterte, zu verschwinden, wenn ihm sein Leben lieb sei. Er habe hier nichts zu suchen. Bald ging ihm der Schnee bis zu den Knien und er hatte das Gefühl, dem Palast noch kein Stück näher gekommen zu sein. „Spiel keine Spielchen mit mir, Pegasus!“, rief er gegen den stärker werdenden Wind an, die Hände entschlossen zur Faust geballt. Ich werde ihn dir nicht kampflos überlassen! Niemals! Mit zitternden Fingern zog er die Brosche aus seiner Manteltasche. „Bitte hilf mir, Schwesterchen. Hilf mir, Seto zu finden.“ Der Sturm zerrte an ihm, versuchte ihn zurückzudrängen. Sich halb seitlich vorwärts bewegend, um ihm weniger Angriffsfläche zu bieten, setzte Joey seinen Weg unbeirrt fort. Er war nicht so weit gekommen und hatte die halbe Welt durchwandert, um jetzt umzukehren. Schlitternd und immer wieder ausrutschend überquerte er den großen, zugefrorenen See, der ihn noch von seinem Ziel trennte. Vor ihm erhob sich das Schloss des Eisfürsten, gleichermaßen schön wie unheimlich anzusehen. Die Mauern, die hohen, spitz zulaufenden Türme, die Treppen, alles war von Eis und Schnee überzogen. Am Himmel darüber schwebten Schleier aus Polarlicht und tauchten es in einen sanften, bläulichen Schimmer, der fast darüber hinwegtäuschte, wie grausam sein Bewohner war. Über eine geschwungene Rampe gelangte Joey zum Schlossportal, in dessen Nähe er sich hinter einem dicken Eisbrocken versteckte und die Lage ausspähte. Der Eingang wurde von zwei Eisbären bewacht, denen er ungern zwischen die Pranken laufen wollte. Mehrmals musste er wieder in die Schatten zurückweichen, bis es ihm gelang, sich an ihnen vorbei- und durch den Innenhof zu schleichen. Der Schnee knirschte leise unter seinen Schuhsohlen, während er die breite Treppe erklomm, die zum Haupteingang führte. Schön, dachte er und sah sich in der Eingangshalle um. Drin bin ich schon mal. Jetzt muss ich nur noch Seto finden. Gedankenverloren starrte Seto auf die leere Stelle im Spiegel. Ein Kuss nur ... ein Kuss und er hatte das Rätsel gelöst, an dem er so lange gesessen hatte. Das Mosaik würde endlich vollständig sein, die Scherben würden wieder ein perfektes Bild ergeben. War es denn da zu viel verlangt, einen weiteren Kuss mit Pegasus zu tauschen? Er lehnte sich gegen die Säule, an deren Fuß er saß und schloss die Augen. Nein, zu viel verlangt war es nicht ... und dennoch hielt ihn etwas davon ab, aufzustehen und zu ihm zu gehen. Er fragte sich, warum er so lange gebraucht hatte, um zu erkennen, wo sich das letzte Stück des Spiegels befand. Dass er selbst es in sich trug, seit jener sternklaren Nacht. „Ich muss mich endlich entscheiden“, murmelte er. Die Stunde, die Pegasus ihm eingeräumt hatte, war fast verstrichen. (2) Die Gänge, durch die der Blonde lief, erschienen ihm endlos und nach wie vor hatte er keine Spur von Seto gefunden. Er öffnete jede Tür, an der er vorbeikam und blickte in die Räume. Nach ihm zu rufen, traute er sich nicht. Bei Eisbären als Torwächter wollte er nicht wissen, woraus Pegasus’ Palastwache bestand. Als er auf den Saal stieß, der den Wölfen als Quartier diente, hielt er erschrocken den Atem an. Was hält der sich noch alles? So leise es ihm möglich war, schlich er sich durch den Raum, nervöse Blicke auf die Tiere werfend, die unruhig schliefen. Erst nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, wagte er wieder normal zu atmen. „Seto, wo bist du?“, seufzte er und eilte weiter durch die Gänge. Inzwischen wusste er kaum noch, wo er sich überhaupt im Schloss befand. Alles sah gleich aus, erhellt von Dämmerlicht, und kam ihm wie ein riesiges Labyrinth aus Eis vor. Die wievielte Tür war das jetzt? Bei einhundertvierundachtzig hatte er zu zählen aufgehört. Der Saal, den er betrat, war groß, achteckig und von einer Galerie umgeben, zu der eine geschwungene Treppe hinaufführte. Links von ihm stand ein hoher Spiegel, doch es war nicht das magische Objekt, das Joeys Aufmerksamkeit fesselte, sondern der Mann, der einige Meter davon entfernt an eine Säule gelehnt dasaß und teilnahmslos in den Raum starrte. „Seto!“ Erschöpft von dem langen Marsch, aber unendlich glücklich, ihn endlich gefunden zu haben, stolperte er die letzten Schritte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. „Endlich. Ich dachte schon, ich komme zu spät.“ Langsam hob der Brünette den Kopf und blinzelte. Er konnte sein Gegenüber nur unscharf erkennen, obgleich er ihm so nahe war. Jetzt, da er wusste, dass sich der Spiegelsplitter in seinem Auge befand, stach er wieder und verursachte ein stetiges, leichtes Brennen. „Wer ... wer bist du?“ „Was ist mit dir passiert?“, flüsterte er besorgt und strich ihm über die Wange. „Was ist mit deinen Augen? Sie sehen so ... kalt aus. Du musst dich doch an mich erinnern. Du musst!“ Seto schüttelte verwirrt den Kopf und sah zur Seite. „Du musst von hier verschwinden, bevor er dich findet. Er wird dich töten.“ „Nein, ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen.“ Die Hand an sein Kinn legend, zwang er Seto, sich ihm wieder zuzuwenden. „Nach Hause? Wo ist das ... Ich kenne dich nicht.“ Sein Blick verlor sich, streifte ziellos durch den Raum und über den Blonden, bis er an dessen roten Sneakern hängen blieb. Er hob seine blasse Hand und strich darüber. „Die kenne ich. Ich habe sie gekauft.“ „Ja, das hast du“, lächelte Joey sanft und rieb ihm über die Arme. „Du bist ja ganz durchgefroren.“ „Du bist ... Du bist Joey.“ Setos Blick klärte sich. Pure Erleichterung durchströmte den Blonden, dass er ihn erkannt hatte. Männer weinen nicht hieß es. In diesem Augenblick dachte er an vieles, aber sicher nicht daran, sich der Tränen zu schämen, die ihm über das Gesicht rannen und in Setos Mantel sickerten. Allein dafür, dass er ihn wieder in die Arme schließen konnte, hatten sich all die Mühen gelohnt. Plötzlich fühlte er sich von einer starken, unsichtbaren Kraft erfasst, die ihn von Seto wegriss, durch den Raum wirbelte und gegen eine Säule am anderen Ende des Saales schleuderte. Keuchend schlug er auf dem Fußboden auf, kreidebleich im Gesicht und am ganzen Körper zitternd. Sein Freund sah sich hektisch um. „Wo bist du, Pegasus? Hör auf damit!“, schrie er und stand auf. Ein Wirbel aus Schneeflocken entstand in der Saalmitte, aus dem der Eisfürst trat, den blonden Eindringling kalt musterte und sich dann Seto zuwandte. „Denkst du, ich lasse ihn hier einfach so reinkommen und dich mitnehmen? Was für eine Beleidigung meiner Intelligenz!“ Ein leises Stöhnen drang aus der Ecke, in der Joey lag. Ihm war kalt ... so kalt wie noch nie in seinem Leben, als würde sich sein Blut langsam zu Eis verwandeln. Seine Haut verlor an Farbe, wurde immer blasser, Schneeflocken fielen auf sie, ohne dass sie schmolzen. „Hör auf, du tötest ihn ja!“, wandte sich Seto flehend an den Eisfürsten. „Ich werde aufhören – und ihn leben lassen, wenn es unbedingt sein muss. Alles, was du tun musst, ist, mich zu küssen.“ Ein verächtlicher Ausdruck legte sich um Setos Mundwinkel. „Nein.“ Auf diesen Trick würde er nicht noch einmal hereinfallen. „Sei kein Narr“, lachte Pegasus, ohne davon abzulassen, Joey Stück für Stück einzufrieren. Ein feines Gespinst aus Schneeflocken legte sich über sein Gesicht und verdichtete sich mit jeder Sekunde. „Ich will nicht ihn. Ich will dich. Was ist dir wichtiger, Seto? Dein Leben oder seines? Ein Kuss von mir und er lebt.“ Er grinste böse. „Nimm dir so viel Zeit, wie du willst. Auch wenn er stirbt.“ Die finsteren Blicke, die ihm der Brünette zuwarf, schienen an ihm abzuperlen wie das Wasser von einem Lotusblatt. „Er stirbt, Seto.“ Pegasus hob den Arm. „So wie vor ihm seine arme Mutter und seine Schwester!“ „Hör auf!“ Die Schneeflocken auf Joeys Gesicht verschmolzen miteinander zu einer dünnen Eisschicht. „Ich erinnere mich gut an ihren letzten Atemzug.“ „Ich tue es!“, rief Seto verzweifelt. „Aber töte ihn nicht.“ Als er dies hörte, breitete Pegasus lächelnd die Arme aus. Nach einem hastigen Blick auf Joey, der unter dem Eis Mühe hatte, noch zu atmen, überwand Seto die wenigen Schritte, die zwischen ihm und dem Eisfürsten lagen und ließ sich von ihm umarmen. „Es wird nur kurz wehtun“, versprach Pegasus und küsste ihn. Seto wollte schreien, doch er konnte nicht. Die Stimme versagte ihm, als der Schmerz durch seinen Körper jagte, eiskalt und glühend zugleich. Der Spiegelsplitter löste sich aus seinem Auge und fiel auf Pegasus’ bereitgehaltene Handfläche. Seine Sicht trübte sich, seine Beine gaben nach. Der Blauäugige verlor das Bewusstsein und sank zu Boden. Der Eisfürst schenkte ihm vorerst keine weitere Beachtung. Er hatte, was er wollte. Aus seinem Schlaf konnte er ihn auch später noch erwecken. Er genoss das Triumphgefühl, das in ihm aufstieg, als er den Raum durchquerte. Vor dem Spiegel blieb er stehen, musterte ihn noch einmal und setzte dann den letzten Splitter an seinen Platz. Ein Knacken wie vom brechenden Eis eines Flusses war zu hören. Die Bruchkanten glühten weiß und schlossen sich. Der Spiegel fügte sich wieder zu einer Einheit zusammen. „Möge die ganze Welt vereisen. Möge der Winter ewig sein!“, rief der Eisfürst lachend. In strahlender Vollkommenheit präsentierte sich der Spiegel vor ihm, die Oberfläche glatt und ohne jeglichen Riss, der darauf hätte schließen lassen, dass er noch vor wenigen Sekunden aus Tausenden von Bruchstücken bestanden hatte. Stille. Dunkelheit. Joey hörte nichts, sah nichts. Er schwebte nur in einem endlosen Meer, fernab von allem, glitt immer tiefer in die Bewusstlosigkeit. Der Tod wartete schon auf ihn, winkte ihm lachend zu und ließ seine Sense durch die Luft sirren. „Joey! Joey, du musst aufwachen!“, hörte er Yugis Stimme rufen. „Öffne die Augen!“, schloss sich Duke an. „Was ... was ist denn?“, murmelte der Braunäugige, hob die Lider und sah sich um. Vor ihm tauchten die Brüder des Eisfürsten mit ihren Gefährten auf. „Du musst zurück.“ Tristan sah ihn eindringlich an. „Beeil dich.“ „Na los, du weißt, was du zu tun hast!“, sagte Yami. „Enttäusch mich nicht, Kleiner.“ Bakura zwinkerte ihm zu. Um ihn wurde es hell, er wandte sich ab – und fand sich mitten in einem verschneiten Wald wieder. „Hallo, Joey.“ Beim Klang der sanften Stimme schluckte er und drehte sich langsam um. Keinen Meter von ihm entfernt stand seine Schwester und sah ihn lächelnd an. Er wagte sich kaum zu rühren. Wenn das nur eine Illusion war ... Aber eine Illusion, die ihn umarmte? „Ich hab dich so vermisst, Kleines“, flüsterte er, ebenfalls die Arme um sie legend. „Wo sind wir?“ „An einem Ort zwischen den Welten, zwischen der Welt der Menschen und der Totenwelt.“ Serenity löste sich von ihm und musterte ihn genau. „Ich muss dir etwas sagen und ich habe nicht viel Zeit.“ „Aber jetzt, wo ich dich endlich gefunden habe, da –“ Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und gebot ihm so zu schweigen. „Bitte weine nicht mehr um mich, Joey. Du musst weitergehen und dein Leben leben. Du kannst es, du bist nicht allein. Lass ihn dir nicht wegnehmen.“ „Aber Pegasus ist so stark und ich –“ „Du bist nicht schwach, rede dir das nicht ein. Du bist durch die halbe Welt gereist, nur um Seto zu finden. Wenn es einen Menschen gibt, der stark ist, bist du das, großer Bruder.“ „Kann ich dich wirklich alleine lassen?“ „Ich bin nicht allein, Joey“, antwortete Serenity. „Mum ist bei mir, und Opa. Ich soll dich von ihnen grüßen ... Irgendwann werden wir uns wiedersehen, aber jetzt musst du gehen.“ Sie legte ihm die Rosenbrosche in die Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. (3) Das Eis, das sein Gesicht bedeckte, begann zu schmelzen und brach auseinander. In tiefen Zügen sog Joey den frischen Sauerstoff in seine Lungen, bewegte den Kopf leicht zu den Seiten, bevor er die Augen aufschlug und die Schneeflocken fortblinzelte, die sich in seinen Wimpern verfangen hatten. Über sich sah er nichts als Weiß. Serenity ... War das alles nur ein Traum? Er hob den Kopf etwas und zuckte zusammen. Wenn ja, tat dieser Traum verteufelt weh. Langsam fuhr er mit der Hand an seinen Hinterkopf und richtete sich, dieses Mal um einiges vorsichtiger in seinen Bewegungen, auf. Sein Blick streifte durch den Saal und blieb an Pegasus hängen, der ganz versunken in die Reflektion zu sein schien, die ihm der wiederhergestellte Spiegel zeigte. „Na warte“, flüsterte er und erhob sich, die Rosenbrosche fest mit der Hand umschlossen. „Pegasus! Stell dich mir!“ Die Worte des Blondschopfs rissen den Eisfürsten aus der Betrachtung seiner selbst. Er fuhr herum und sah ihn überrascht an. „Was tust du da, ich habe dich doch eingefroren.“ „Wie du siehst, habe ich deinen Zauber gebrochen.“ Ein kaltes Lächeln schlich sich auf die Lippen des Silberhaarigen. „Du glaubst wohl, du wärst stark genug, gegen mich anzukommen, du Dummkopf.“ „Das glaube ich nicht, das weiß ich.“ „Narr!“ Pegasus riss den Arm in die Höhe, woraufhin sich unter lautem Knacken ein großer Eiszapfen von der Decke löste, sich waagerecht ausrichtete und auf Joey zuschoss. Dieser wich entsetzt aus, strauchelte auf dem glatten Fußboden und stürzte. Das Eisgeschoss schlug kaum eine Handbreit von ihm entfernt auf den Boden und hinterließ eine tiefe Delle. Noch ehe er wieder auf die Beine gekommen war, hatte sein Gegner schon den nächsten Zapfen auf ihn gerichtet. „Du wirst mir nicht entkommen.“ Der Junge rollte sich zur Seite, um dem tödlichen, spitz wie eine Klinge zulaufenden Eis zu entgehen, kam dabei auf seine Füße und hastete durch den Saal, nur weg von Pegasus, fort aus dessen Reichweite. Seine Gedanken überschlugen sich, wie er gegen ihn bestehen und sich und Seto heil hier herausbringen sollte. Konnte er es überhaupt schaffen? Ein weiterer Eiszapfen zerbarst an der Säule, hinter die er hechtete, über ihn ergoss sich ein Schauer aus Schnee und kleinen Eissplittern. Pegasus folgte ihm langsamen Schrittes, ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen und blickte ihn siegessicher an. Was bildete sich dieser gewöhnliche Mensch ein, ihn herauszufordern. Ihn, den Herrscher über das Eis! „Ergib dich!“, rief er, als Joey mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Mit einer Handbewegung lenkte er ein halbes Dutzend neue Eiszapfen auf ihn. Drei verfehlten ihr Ziel, die anderen aber bohrten sich durch den Stoff seines beim Laufen aufgegangenen Mantels und hefteten diesen an die Wand. Joey zog und zerrte an dem Kleidungsstück, versuchte sich zu befreien. Zwecklos, er saß fest. Pegasus trat dicht an ihn heran und betrachtete ihn von oben bis unten. „Du bist also der Bruder der Kleinen, die ich mir vor zwei Jahren geholt habe.“ „Warum hast du sie umgebracht?“, stieß Joey hervor. „Sie hatte dir nichts getan.“ „Wer herrschen will, muss jene vernichten, die ihm dabei im Weg stehen“, erwiderte er schulterzuckend. „Sie war so ein liebes Mädchen ... Süß, unschuldig, jung ... und von meinen Brüdern dazu ausersehen, mich zu vernichten.“ Sein Gegenüber sah ihn perplex an. „Sie war ... was?“ „Wie drückte Duke es noch aus ... Sie trage die Flamme der Liebe bei sich. Die hat ihr herzlich wenig genützt. Und jetzt haben sie wohl geglaubt, sie könnten dich an ihrer Stelle schicken. Dachtest du wirklich, du könntest Seto mit dir nehmen? Ich bin der Eisfürst.“ „Du bist nicht der Eisfürst.“ Mit einem kräftigen Ruck riss Joey seinen rechten Arm los, ohne sich um das Loch zu kümmern, das nun in seinem Mantelärmel klaffte. Pegasus bemerkte indessen den silbern funkelnden Gegenstand, den sein Gegner in der soeben befreiten Hand hielt, und griff danach. „Was hast du da?“ Doch kaum dass er die Brosche berührt hatte, ließ er sie auch schon wieder mit einem Keuchen los, als hätte er sich verbrannt. Joeys Finger schlossen sich noch fester um das Schmuckstück. „Was ist das für ein Teil? Und was soll ich denn sein, wenn nicht der Eisfürst?“, fragte Pegasus, mit dem Arm einen Halbkreis nach hinten beschreibend. Der Blonde folgte seiner Bewegung mit den Augen und schluckte kurz, als er den Eiszapfen sah, der auf ihn zielte, fasste sich dann aber. Er wollte sich ihm gegenüber nicht schwach zeigen. Der Eisfürst sollte nicht denken, dass er schon gewonnen hatte. „Du weißt nichts von wahren Gefühlen, Pegasus. Dein Herz ist kalt und hart, du hast keine Ahnung davon, was für brennende Gefühle die Liebe in einem Menschen auslösen kann. Nein, du bist nicht der Eisfürst. Du bist nur der Winter“, sagte er mit klarer Stimme. Tiefe Entschlossenheit lag in seinem Blick, als er Pegasus die Brosche auf die Brust drückte. Dem Eisfürst entfuhr ein ersticktes Keuchen. Das Silber fühlte sich so seltsam an, so ... warm, unglaublich warm. „Und der Winter vergeht!“, rief Joey. Der Druck auf dem Brustkorb des Silberhaarigen wurde stärker. Er sah an sich herunter, seine Augen weiteten sich beim Anblick der Brosche, die rötlich glühte, als käme sie direkt aus dem Feuer. Der Eiszapfen, mit dem er seinen Gegner hatte töten wollen, entglitt seiner Kontrolle und stürzte zu Boden, wo er zersplitterte, genauso wie jene, die Joey an der Wand festgehalten hatten. Nach Atem ringend, stolperte Pegasus rückwärts, von dem anderen verfolgt, der ihm die Brosche weiter auf die Brust presste. „Aufhören“, keuchte er. Von der Stelle ausgehend, wo ihn das Schmuckstück berührte, breitete sich eine immer stärker werdende Hitze in ihm aus, schoss durch sein Fleisch, jagte durch seine Adern bis in sein Innerstes hinein. „Er vergeht.“ Joeys Worte klangen in seinen Ohren wie ein Urteil. Er strauchelte und fiel, nicht verstehend, was mit ihm geschah. Was war dieses warme Gefühl, das er spürte? Schwer atmend blieb er liegen, unfähig, sich zu bewegen. So schwach hatte er sich noch nie gefühlt. Die Brosche wieder fest umklammernd, wandte sich Joey von ihm ab und stürzte zu Seto hinüber, der reglos am Boden lag. Er strich ihm traurig die Schneeflocken aus dem Gesicht, die sich dorthin verirrt hatten, und zog ihn in seine Arme. „Jetzt bin ich doch zu spät gekommen. Es tut mir leid, dass ich nicht eher da war, Seto. Ich wollte nicht, dass es so endet. Ich ... Ich liebe dich doch.“ Joey vergrub sein Gesicht an der Halsbeuge des anderen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er wollte nicht glauben, dass alles umsonst gewesen sein sollte. „Was ... hast du gesagt?“, murmelte eine ihm vertraute Stimme nahe an seinem Ohr und brachte ihn dazu, aufzusehen. Blaue Augen musterten ihn mit einem leicht irritierten Ausdruck wie von jemandem, der gerade aus dem Tiefschlaf geweckt worden war. Fahrig wischte sich Joey über die Augen. „Ich liebe dich, Seto Kaiba“, wiederholte er und registrierte erleichtert das Lächeln, das sich daraufhin auf dem Gesicht dem Brünetten ausbreitete. „Ich dich auch.“ Seto zog ihn zu sich herunter, um ihn zu küssen und versank in den braunen Augen, die er so lange hatte entbehren müssen. Mit einem leisen Seufzen ließ sich sein Freund in den Kuss fallen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (4) „Und Cut! Das war perfekt, ihr zwei!“, rief Ryou überglücklich. „Äh ... Katsuya? Seto?“ Die beiden reagierten nicht. Ryuji lachte leise. „Scheint, als wäre unser Plan aufgegangen.“ „Mehr als aufgegangen.“ Shizuka wischte sich eine kleine Freudenträne aus dem Augenwinkel. „Das zweite ‚Ich liebe dich’ und Setos Antwort standen gar nicht im Drehbuch.“ Ryou zuckte lächelnd mit den Schultern und erhob sich aus seinem Regisseurstuhl. „Lassen wir sie eine Weile allein“, beschloss er. Die zwei Hauptdarsteller bekamen von dem Trubel um sie herum nichts mit, auch nicht davon, wie Pegasus leise aufstand und das Set verließ, um sich etwas zu erfrischen, bevor es an den Dreh der abschließenden Szenen ging. Katsuyas Zunge strich über die Lippen des anderen, bat sie, sich ihm zu öffnen. Kurz flackerte in Setos Hinterkopf die Frage auf, ob das überhaupt so im Drehbuch vorgesehen war, da lenkten ihn auch schon zwei Hände ab, die über seine Arme und Schultern strichen und ihn näher an den Körper des Braunäugigen zogen. Seine Finger vergruben sich in den blonden Haaren. Als sie sich voneinander lösten, zeigten ihre Wangen trotz der ganzen Schminke, die sie blass und vor Kälte zitternd aussehen lassen sollte, eine deutliche Rottönung. „Es ist vorbei“, fuhr Katsuya – nun wieder ganz nach Drehbuch – in seinem Text fort, „der Eisfürst ist ge – Nanu, wo sind die alle hin?“ „Falscher Text“, brummte Seto und räusperte sich, um seine Verlegenheit zu überspielen. „Nein, schau dich mal um! Es ist keiner mehr im Studio. Ist schon Mittagspause?“, wunderte sich der Blondschopf, was dem anderen ein leises, amüsiertes Lachen entlockte. „Kannst du auch an was anderes als an Essen denken?“ „Und woran beispielsweise?“ „Wie wär’s damit?“ Seto grinste ihn an und zog ihn zu sich herunter, um ihn erneut zu küssen. Von Katsuya kam ein überraschtes Keuchen. Er hatte mit einigem gerechnet, nur nicht damit, die Lippen seines einstigen Erzfeindes so schnell wieder auf seinen zu spüren ... oder an seinem Hals, zu dem sie sich bald darauf verirrten. Er musste sich mit einer Hand auf dem Boden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und auf den Brünetten zu fallen. „Dann war das ... eben ernst gemeint, dass du in mich ... also ... dass du mich liebst?“, murmelte er nach einer Weile. „Irgendwie ... Unerklärlicherweise ... Ja.“ „Wer hätte das gedacht, Drache ... Dass ausgerechnet wir zwei –“ „Wenn du das auch nur einer Menschenseele verrätst, bist du tot“, zischte Seto, wieder seinen kalten Blick aufsetzend, der wirkungslos an dem anderen abperlte. Katsuya schüttelte lachend den Kopf. „Ich seh schon, leicht wird das sicher nicht mit dir. Was hältst du davon, wenn wir zusammen Mittag essen?“ „Mit dir und deinem endlosen Appetit wird es sicher auch nicht einfach“, konterte Seto und erhob sich. Allmählich wurde ihm der harte Fußboden doch etwas zu unbequem. „Touché“, sagte Katsuya und stand ebenfalls auf. „Du kannst Französisch?“ „Ich bin kein Dummkopf, Kaiba, auch wenn das immer deine Meinung von mir war. Aber jetzt brauch ich erst mal was zu futtern. Kommst du nun mit oder nicht?“ „Nein ... ich bleibe noch etwas hier.“ „Schade, aber wie du meinst“, antwortete er und ging. Der Brünette ließ seinen Blick nachdenklich über das verlassene Set schweifen. Er konnte immer noch nicht glauben, was er gerade getan hatte. So viel zu meinem Vorhaben, ihm das alles zu verschweigen, dachte er. Aber jetzt ist es zu spät. Als Yami sah, dass Katsuya auf den Ausgang des Studios zueilte, um sich nach dem unerwarteten Liebesgeständnis seines Filmpartners ein paar Sandwichs zur Beruhigung seines flatternden Magens zu holen, zog er sich rasch in eine Ecke zurück und wartete, bis der Blonde um die Ecke verschwunden war. Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Sieht aus, als hätte ich unsere Wette gewonnen, Kura. Die nächsten Wochen darf ich allein bestimmen. Von wegen, sie sind nur scharf aufeinander und wollen nicht mehr.“ Katsuya wandelte wie auf rosa Wölkchen durch die Gänge des Filmstudios, ein seliges Lächeln im Gesicht. Er hatte Kaiba geküsst ... und Kaiba hatte ihn geküsst ... zweimal. Und er hatte nicht abgestritten, verliebt zu sein – in ihn! „Wie konnte das nur passieren“, kicherte er leise und betrat den Aufenthaltsraum, wo er sich zum Büffet begab, das dort für die Schauspieler aufgebaut war. Dass er nicht allein war, bemerkte er erst, als er sich mit seinem voll beladenen Teller verschieden belegter Sandwichs in einem der Sessel niederließ und sich das erste in den Mund schob. „Oh, ihr seid ja alle hier. Warum habt ihr nicht gesagt, dass schon Pause ist?“ „Wir wollten euch zwei Hübschen nicht stören“, flötete Mai. Katsuya räusperte sich und senkte seinen Blick rasch wieder auf sein Essen, in der Hoffnung, dass die anderen nicht mitbekamen, wie er rot anlief. „Hey, ist doch kein Grund, sich zu schämen“, sagte Ryuji und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber wo hast du unsern guten Seto gelassen?“ „Hatte keinen Hunger“, nuschelte er zwischen zwei Bissen. „Im Gegensatz zu dir.“ Shizuka lächelte ihren Bruder fröhlich an. „Darf man schon gratulieren?“ „Wozu?“, fragte er und bemühte sich um eine unbeteiligte Miene. „Na, zu dir und Seto natürlich. Ihr seid doch jetzt zusammen, oder?“ „Noch nicht so wirklich ...“, antwortete Katsuya und bemerkte ein paar Sekunden zu spät, dass sein Mund – wie so häufig – wieder einmal schneller als sein Kopf gewesen war. „Äh ... ich meine, da ist doch gar nichts zwi –“ „Ist okay“, unterbrach ihn Honda. „Wir wissen Bescheid, was mit euch zwei los ist, Jou, schon ’ne ganze Weile. Wenn das mit euch was wird, unseren Segen habt ihr jedenfalls.“ „Ja, ähm ... Danke.“ Der Blonde wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Gut, er hatte sich in letzter Zeit für seine Verhältnisse etwas komisch verhalten, aber war es so offensichtlich gewesen? Andererseits war er erleichtert, dass seine Freunde die Lage akzeptierten und sich anscheinend sogar darüber freuten. „So, genug Pause gemacht.“ Ryou stand auf und klatschte in die Hände. „Zurück ans Werk. Lasst uns diesem Märchen ein würdiges Ende verpassen.“ Ich bin wahrscheinlich nicht die Einzige, die lange auf diesen Moment gewartet hat. ^______^ Kapitel 16: Heimkehr -------------------- *seufz* Der Eisfürst geht nun mit großen Schritten dem Ende entgegen. Zwei Kapitel stehen noch aus und dies ist das erste. ^^ Ich wünsche euch viel Vergnügen damit. (1) http://www.youtube.com/watch?v=zr2BOgbk9RI&feature=related Robbie Williams – Feel (2) http://www.youtube.com/watch?v=vJPPcYG1Ehw&feature=related Vangelis – Eternal (3) http://www.youtube.com/watch?v=1aCSukvsBCA&feature=related Brand X Music – Endless Seas Kapitel 16 Heimkehr (1) Zehn Minuten später hatte sich das Filmteam wieder am Set des Eispalastes eingefunden. Oder eher gesagt, fast das ganze Team, denn ein gewisser brünetter Hauptdarsteller glänzte durch Abwesenheit. „Hat niemand Kaiba Bescheid gesagt, dass die Pause zu Ende ist?“, fragte Ryou, der sich schon auf seinem Regiestuhl niedergelassen und das Drehbuch zur Hand genommen hatte. „Um die Lautsprecherdurchsage zu überhören, müsste er in der letzten halben Stunde taub geworden sein“, meinte Anzu. „Wahrscheinlich ist er noch mal schnell zur Toilette gegangen oder so. Er kommt sicher gleich.“ „Egal wo er ist, ohne ihn können wir jedenfalls nicht weiterdrehen.“ „Ich gehe mal gucken, ob ich ihn finde“, bot Mokuba an und hüpfte von der Couch herunter. „Bin gleich zurück.“ „Aber beeil dich bitte!“, rief ihm der Regisseur noch seufzend nach, dann schwang die Tür hinter ihm zu. „Wie soll man so einen Film drehen, wenn sich die Darsteller ständig verdrücken?“ Der Schwarzhaarige eilte durch die verschlungenen Gänge des Filmstudios und suchte nach seinem Bruder. Im Aufenthaltsraum war er nicht, ebenso wenig auf der Toilette oder in der Maske. Als nächstes kam er in den Flur, wo sich die Garderoben der Schauspieler befanden und klopfte an die Tür zu Setos Räumlichkeiten. Ein dumpfes „Komme gleich“ drang durch das Holz zu ihm. Ohne weiteres Zögern trat Mokuba ein. „Hier steckst du also“, sagte er, sich im Raum umsehend, aus welcher Ecke die Stimme seines Bruders gekommen war. „Hast du die Durchsage von Ryou nicht gehört? Es geht weiter.“ „Hmm? Doch, hab ich.“ Der Brünette saß in einem breiten weißen Sessel, den Kopf nach hinten gelehnt und die Augen geschlossen. Für einen Außenstehenden sah er aus, als würde er sich entspannen, doch wenn man ihn wie Mokuba sehr gut kannte und ein wenig genauer hinsah, fiel auf, dass sich seine Finger in den Stoff des Sesselbezuges krampften. „Seto?“, fragte der Junge und kam näher. Als er zur Antwort nicht mehr als ein unwilliges Brummen erhielt, lehnte er sich neben ihn an den Rand des Sessels und begann ihn leicht im Nacken zu kraulen. „Was ist los mit dir, großer Bruder? Seit wann bist du so nervös? Hat es was mit Katsuya und eurem Kuss zu tun?“ Die Lider des Blauäugigen hoben sich minimal. „Ich bin nicht nervös, Mokuba“, stellte er klar. „Jaaa ... Das sehe ich. Dein kleines, versehentliches Geständnis vorhin war zu süß.“ „Ich könnte mich dafür ohrfeigen, das gesagt zu haben.“ „Aber warum das denn?“ „Wir reden hier immerhin von Katsuya Jonouchi! Meinem erklärten Erzfeind – neben Yami ...“ Mitten in seiner Rede stockte Seto. Als würde es nicht reichen, dass ich mich selbst zu belügen versuche und das auch noch schlecht, jetzt lüge ich sogar meinen Bruder an! „Und? Wo ist das Problem?“, fragte Mokuba. „Hast du mir nicht zugehört?“ Nun öffnete Seto seine Augen richtig und wandte den Kopf herum, um seinen Bruder ansehen zu können. „Ich verstehe nicht mehr, was mit mir los ist, was ich denken soll. Einerseits gab es keinen Tag, an dem wir nicht aneinander geraten sind, aber ... Ich meine ... Als er diese Tanzszene mit Marik hatte und dann später das mit Bakura ... Da hätte ich die zwei umbringen können für all das, was sie mit ihm gemacht haben. Was ist nur in mich gefahren?“ „Also, wenn du mich fragst, einer von Amors Pfeilen und eine gehörige Portion Eifersucht.“ Bei dem missmutigen Ausdruck, der daraufhin in Setos Gesicht trat, begann er zu lachen. „Du siehst aus, als hätte ich dir gerade den Weltuntergang verkündet.“ „Trifft es das nicht? Ich, Seto Kaiba, empfinde etwas für diesen Kö ... für Katsuya.“ „Seto, Seto ...“, schmunzelte der schwarzhaarige Junge und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Du redest genauso wie Yami vor einem Jahr, als er merkte, dass er in Bakura verliebt ist.“ „Aber das war doch ganz etwas anderes.“ „Nein, das ist genau dasselbe wie bei dir und Katsuya. Ihr meintet, ihr könntet euch nicht riechen, habt euch immer gestritten ... Und jetzt merkt ihr, dass es sich bei euch beiden völlig anders verhält.“ „Nur warum? Ich kann mir das nicht erklären.“ „Muss es für alles logische Schlussfolgerungen geben?“, antwortete Mokuba. „Die Liebe kannst du nicht rational erklären oder in feste Regeln pressen. Sie macht, was sie will.“ „Wo hast du diese klugen Sprüche her?“ „So was Ähnliches hat Mai neulich gesagt, als wir uns darüber unterhalten haben, wann ihr zwei es endlich merkt.“ „Soll das heißen, es wissen alle darüber Bescheid?“, fragte der Brünette entsetzt. „Mal ehrlich, so wie ihr umeinander herumgeschlichen seid, dachtet ihr ernsthaft, wir würden das nicht mitkriegen?“ „Und es ... es stört dich nicht, dass ich mich in einen anderen Mann verliebt habe?“, fragte Seto und runzelte die Stirn. „Warum lachst du?“ „Bei Yami und Bakura stört es mich nicht und bei dir erst recht nicht. Ich möchte, dass du glücklich bist! Und wenn du das mit Katsuya wirst, dann freue ich mich für euch. Ich hätte nie gedacht, dich je derart unsicher zu erleben, Seto. Diese Seite solltest du mal Katsuya gegenüber zeigen, dann würde er dich sicher nicht mehr als Eisschrank bezeichnen.“ „Damit er mich damit ärgern kann?“ „Das würde er sicher nicht tun. Erinnerst du dich noch an den Anfang des Films, als ihr die Szene nach dem Konzertbesuch gedreht habt? Wir haben vor ein paar Tagen darüber geredet und dabei ist ihm rausgerutscht, dass er das jetzt ernst meinen würde, was er damals laut Drehbuch sagen musste ... Also dass er dich gerne mal ehrlich lächeln sehen würde.“ „Das hat er gesagt?“ „Ja“, lächelte Mokuba. „Na los, zeig ihm, wie du wirklich bist, Seto. Du bist so ein lieber Mensch, aber andern gegenüber immer so kühl. Ich würde mich auf jeden Fall sehr freuen, wenn aus euch beiden was wird. Gib dir einen Ruck.“ „Hmm ...“, brummte Seto und erhob sich aus dem Sessel. „Wir werden sehen. Aber jetzt lass uns gehen, Ryou wird schon warten. Seitdem er Regie führt, hat er sich ziemlich verändert, findest du nicht?“ „Er hat gelernt, sich besser durchzusetzen, ja. Geschadet hat es ihm jedenfalls nicht, finde ich“, erwiderte der Jüngere und beeilte sich, seinem Bruder zu folgen, der mit großen Schritten seine Garderobe durchquerte und in den Flur hinaustrat. „Da seid ihr ja endlich.“ Ryou atmete auf, als die beiden ins Studio kamen. „Habt ihr euch verlaufen oder wo wart ihr so lange?“ „Wir mussten noch was besprechen.“ Mokuba ließ sich neben Noah auf dem Sofa nieder und griff nach seiner heißen Schokolade. Bei dem nasskalten Wetter, das jetzt draußen herrschte, kam ihm diese Leckerei gerade recht. „Und das konntet ihr nicht während der Pause regeln?“, fragte der Weißhaarige mürrisch. „Aber jetzt lasst uns keine weitere Zeit verlieren. Wir machen da weiter, wo wir vor der Pause aufgehört haben, also direkt bei der Kussszene.“ Mit einem stummen Seufzen begab sich Seto an seinen Platz auf dem Fußboden und zog Katsuya zu sich. Zum dritten Mal an diesem Tag berührten sich ihre Lippen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (2) Langsam, blinzelnd lösten sich die beiden voneinander. „Du hast geweint, Joey“, stellte der Brünette fest und strich ihm über die feuchte Wange. „Meinetwegen?“ „Ich dachte, du wärst tot“, schniefte er und schlang seine Arme um Setos Hals. Dieser strich ihm beruhigend über den Rücken. „Du solltest mich besser kennen. Ich lasse mich von nichts und niemandem unterkriegen, auch von Pegasus nicht.“ „Apropos ... was wird jetzt aus ihm?“ Die beiden richteten ihren Blick auf den bewusstlosen Eisfürst. Seit er von der Kraft getroffen worden war, die in der Rosenbrosche geschlummert hatte, hatte er sich nicht mehr gerührt. „Meinst du, er ist tot?“, überlegte Joey. „Nein, das glaube ich nicht. Den Winter gibt es schon so lange wie diese Welt. Aber du hast ihn geschwächt. Ich glaube, wir haben nichts mehr von ihm zu befürchten.“ Die Tür öffnete sich und Siegfried hoppelte herein. Entsetzt sah er zwischen dem am Boden liegenden Eisfürst und dem wieder vereinten Paar hin und her. „Mein Herr!“, rief er. „Ihr Unholde, was habt ihr ihm angetan?“ „Reg dich ab, Siegfried, dem geht’s bestimmt gut“, meinte Seto, stand auf und klopfte sich den Schnee von den Kleidern. „Wer ist das? Der kommt mir bekannt vor“, sagte Joey. „Das“, er deutete auf den Schneehasen, der sich besorgt über Pegasus beugte und seine Pfote an dessen Hals legte, um den Puls zu überprüfen, „ist Pegasus’ Haushofmeister.“ „Der ist ja süß.“ „Das würdest du nicht sagen, wenn du monatelang von ihm herumgescheucht worden wärst, um diesen bescheuerten Spiegel zusammenzusetzen.“ „Er hat dich ...“ Der Blonde sah zu Siegfried und begann lauthals zu lachen. „Du hast dich von einem Hasen ... Hahaha! Entschuldige, aber das ist zu komisch, Seto.“ „Finde ich gar nicht.“ Der Brünette verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Ach, jetzt schmoll doch nicht. So einen kleinen Scherz musst du mir schon erlauben. Ach ja, der Spiegel ... Unterwegs habe ich gehört, er sei die Quelle von Pegasus’ Macht. Sollten wir ihn dann nicht besser zerstören, damit er kein weiteres Unheil anrichten kann?“ „Ein guter Vorschlag“, sagte er und wandte sich mit seinem blonden Freund dem Spiegel zu. Seto hob einen Eiszapfen auf, um ihn in das Glas zu rammen. Bevor er jedoch auch nur einen Schritt getan hatte, öffnete sich der Boden unter dem Spiegel und zog diesen, begleitet von einem schaurigen Lachen, in die Tiefe. „Scheint als hätte der Hersteller was dagegen gehabt“, murmelte Joey. Nach seinem Duell mit dem Eisfürst war er froh, nicht auch noch gegen den Teufel antreten zu müssen. Sollte der sein Geschenk nur wieder an sich nehmen und sich schwarz ärgern, dass seine Pläne nicht aufgegangen waren. „Mein verehrter Herr“, jammerte Siegfried. „So sagt doch etwas, ich bitte Euch.“ „Vielleicht sollten wir ihm helfen, ihn in sein Zimmer zu bringen“, schlug Joey vor. „Für uns ist er ja keine Gefahr mehr und –“ „Lasst ihn in Ruhe!“, fauchte Siegfried dazwischen. „Ich brauche eure Hilfe nicht.“ „Aber wie willst du ihn die Treppen hochkriegen?“, fragte Seto. „Selbst wenn du dich in einen Wolf verwandelst, wirst du das kaum schaffen.“ Siegfried musterte ihn beleidigt und stellte sich auf die Hinterläufe. Das silberne Halsband, das er trug, erglühte und sandte ein blendendes Licht aus. An der Stelle, wo sich eben noch der Hase befunden hatte, stand ein junger, in Silbergrau gekleideter Mann, dessen Haare einen pinkfarbenen Ton aufwiesen. An seinem rechten Handgelenk schimmerte ein silbernes Armband. „Habe ich je behauptet, nur eine Möglichkeit zur Transformation zu besitzen? Das hier ist meine eigentliche Gestalt“, sagte er und kniete sich neben Pegasus, um ihn aufzuheben. „Siegfried ...?“ Der Eisfürst kam langsam zu sich. „Bring mich hier weg.“ Er schlang die Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm die Treppe hinauf in seine Gemächer tragen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Siegfried versuchte nicht zu schnaufen, während er die Treppe Stufe für Stufe erklomm. Natürlich hatten sie die Stelle vorher ausführlich geprobt, schon allein um zu sehen, ob er Pegasus mit dem schweren Pelzmantel überhaupt heben konnte. Er gehörte nicht gerade zu den Menschen, die regelmäßig ins Fitnessstudio gingen und Gewichte stemmten, aber was nahm man(n) nicht alles auf sich, um seinem Angebeteten wenigstens einmal ganz nahe zu sein. Er konnte sich ohr-feigen. Die Dreharbeiten waren fast abgeschlossen und noch immer hatte er es nicht über sich gebracht, ihn nach einem Treffen zu fragen. Dabei war es doch gar nicht so schwer und seit einer knappen Stunde schien selbst bei Katsuya und Seto der Himmel voller Geigen zu hängen. Er seufzte leise und war, als er den Blick auf Pegasus senkte, froh, die Kamera im Rücken zu haben, so dass sie die leichte Röte nicht einfangen konnte, die sich um seine Nase herum bildete. Der Weißhaarige hatte die Augen wieder geschlossen und sich, ein Lächeln auf den Lippen, an seine Brust geschmiegt. Wenige Stufen vor dem oberen Treppenabsatz stutzte Siegfried auf einmal. Das macht er nicht grad wirklich, oder?, dachte er, doch die feder-leichten Berührungen in seinem Nacken ließen keinen Zweifel. Pegasus kraulte ihn unauffällig. Während sein Herz einen Freudensprung nach dem anderen vollführte, bemühte er sich, das letzte Stück der Treppe noch einigermaßen würdevoll hinaufzustolpern und durch die Tür zu kommen, die sich vor ihnen auftat. Er war erst erleichtert, als sich selbige wieder hinter ihnen schloss und sie so für einen Augenblick vor ihren Kollegen verbarg. „Pegasus ...“, er schluckte und räusperte sich leise, als der Mann in seinen Armen nicht reagierte. „Maximillian, wir sind da, die Szene ist fertig.“ „Schon?“ Pegasus blinzelte, sah zu ihm auf und murmelte: „Schade.“ „W-wie?“ Pegasus stupste ihm mit dem Finger gegen die Nasenspitze. „Du siehst richtig süß aus, wenn du so rot anläufst, Siggy“, lachte er. „Wie schaut es aus, hast du heute nach Feierabend schon was vor?“ „Nein ... Woran hast du denn gedacht?“ „Ich hab da letztens einen wunderbaren alten Burgunder gefunden und wollte dich fragen, ob wir den zusammen trinken wollen. Oh, und nenn mich Max oder Maxie, wie du möchtest, nur nicht bei meinem vollen Vornamen, den mag ich nicht so gern.“ „Pegasus, Siegfried, wo zum Kuckuck seid ihr?“, erklang Ryous Stimme von der anderen Seite der Tür. „Also nach Feierabend?“, fragte Siegfried und setzte den anderen auf dem Boden ab. „Ich werde vor deiner Garderobe auf dich warten.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Tja ...“, Joey wandte sich Seto zu, „wollen wir zwei uns auf den Heimweg machen?“ „Nichts wie weg hier“, nickte dieser. „Wo steht dein Schlitten?“ „Schlitten?“ „Schlitten, Hubschrauber oder was weiß ich. Du wirst ja nicht die ganze Strecke gelaufen sein.“ „Nein, nur ...“, zögerte Joey. Wie soll ich ihm das mit dem Drachen beibringen? Ist Aios überhaupt schon wieder einsatzfähig und wenn er dann gleich zwei Menschen tragen muss ... „Nur was? Willst du andeuten, wir haben keine Möglichkeit, von hier wegzukommen?“ „So würde ich das nicht unbedingt nennen.“ „Joey ...“, Seto atmete tief durch und sprach mit angestrengt ruhiger Stimme weiter, „als du unterwegs warst, hast du dir da irgendwelche Gedanken gemacht, wie du beziehungsweise wir nach Hause kommen?“ „Schon, nur ... Wie sieht es denn mit einem Vorschlag von dir aus? Ich hab mich immerhin quer durchs Land geschlagen, um zu dir zu kommen.“ „Du tust gerade so, als hätte ich gefaulenzt. Hast du eine Ahnung, was für eine Arbeit es war, diesen Spiegel zusammenzusetzen? Und überhaupt –“ „Ruhe da unten!“ Die beiden sahen zu der Galerie auf, an deren Brüstung Siegfried stand und sie missgelaunt betrachtete. „Mein Herr braucht seine Ruhe und ihr macht hier so einen Lärm. Verschwindet endlich.“ „Würden wir ja gern“, sagte Seto. „Wenn du uns verrätst, wie wir das anstellen sollen.“ „Was weiß ich. Das ist nicht mein Problem.“ „Kannst du uns nicht mit Pegasus’ Schlitten nach Domino zurückbringen?“, fiel Joey ein. „Oder ihn uns wenigstens ausborgen?“ „Sehe ich aus wie ein Taxiunternehmen?“, gab Siegfried pikiert zurück. „Verschwindet oder ich hetze die Wölfe auf euch, die hatten ein paar Tage nichts zu fressen.“ Damit drehte er sich um und begab sich zu Pegasus zurück, um sich um ihn zu kümmern. „Hat der wieder eine Laune“, brummte Seto. „Aber jetzt lass uns gehen, ich kann diesen Palast nicht mehr sehen.“ „Ach, und ich dachte, wir machen noch eine Schlossbesichtigung“, lachte Joey und folgte ihm aus dem Saal. (3) Außerhalb des Schlossgeländes und somit von Pegasus’ Machtbereich rief der Blondschopf nach Aios. Wenige Minuten später landete der Drache neben ihnen und jagte Seto mit seiner imposanten Erscheinung eine Mischung aus Überraschung und kurzzeitigem Schreck ein. „D-das ist dein Transportmittel?“, fragte er, um sich zu vergewissern, dass er nicht unter Halluzinationen litt, hervorgerufen durch seinen zu langen Aufenthalt in der Kälte des Nordpols. „Ja, wenn du es so nennen willst, Seto. Hallo, Aios. Hast du dich gut erholt?“, begrüßte Joey den Drachen. „Mir geht es wieder bestens, Kleiner – und wie ich sehe, hast du deinen Freund gefunden.“ „Das habe ich und ... wir haben eine Bitte an dich. Kannst du uns von hier wegbringen? Es reicht, wenn du uns bis zur nächsten größeren Stadt bringst, von dort aus können wir uns alleine weiter durchschlagen.“ „Das ist kein Problem. Steigt einfach auf meinen Rücken.“ Seto warf dem Drachen einen skeptischen Blick zu, nicht sicher, was er von dieser Beförderungsmethode halten sollte. Angesichts der Tatsache, dass dies ihre augenscheinlich einzige Möglichkeit war, diesem ungastlichen Ort zu entfliehen, machte er sich dann aber doch daran, auf den weißen Drachenrücken zu klettern. Sobald beide sicher saßen, breitete Aios seine Flügel aus, nahm Anlauf und schoss mit ihnen in den Himmel hinauf. Unter ihnen wurde die Eisinsel immer kleiner und kleiner und bald waren sie mitten über dem Meer. Joey erzählte von dem, was er unterwegs erlebt hatte, den Orten, die er gesehen und den Menschen, die er getroffen hatte und lenkte Seto damit unbewusst ab. Diesem wurde gerade klar, dass zwischen einem Drachen und einem Flugzeug, bei dem man sich bequem in seinem Sitz zurücklehnte, doch ein kleiner Unterschied bestand, besonders in Sachen Höhenangst, die ihm bisher immer ein Fremdwort gewesen war. Die Erschöpfung forderte schließlich ihren Tribut und ließ die beiden einschlafen. Als sie etliche Stunden später wach wurden, war die Landschaft unter ihnen immer noch weiß, doch eindeutig dichter bewaldet. „Wo sind wir gerade?“, fragte Joey verschlafen. „Mitten über den sibirischen Wäldern“, gab Aios Auskunft. „Weck deinen Freund, wir werden in Kürze landen.“ „Aber die nächste Stadt muss doch noch meilenweit entfernt sein.“ Aios lächelte ihn lediglich kurz an und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Kurs zu, den er eingeschlagen hatte. Nicht lange nachdem Seto, dessen Magen wie der von Joey schon seit einer Weile knurrte, geweckt worden war, landeten sie auf einer Lichtung mitten im Wald. „Machen wir eine Rast?“, fragte er. „Wir warten auf jemanden“, erklärte der Drache. „Sie haben mir Nachricht gesandt, dass sie euch treffen möchten.“ „Sie? Wer sind sie?“ „Das werdet ihr bald erfahren.“ Minutenlang standen sie in der Kälte, die Mäntel eng um sich geschlungen und sahen sich um. Ein mehrfaches Blitzen zwischen den Bäumen, ähnlich wie bei einem Gewitter, ließ sie aufmerken und den Blick nach Süden richten. Auf das Gesicht des Braunäugigen legte sich ein ebenso überraschter wie erfreuter Ausdruck. Einträchtig nebeneinander hergehend und in dicke Mäntel gehüllt, kamen ihnen Yugi, Duke, Tristan, Yami und Bakura entgegen geschritten. Letzterer schob das Motorrad neben sich her, das er Joey abgenommen hatte. „Du hast es also geschafft“, sagte Duke, als sie vor den beiden stehen blieben. „Ja, das habe ich. Verzeiht mir die Frage, Euer Hoheit ... aber was macht Ihr in dieser Einöde? Und euch hatte ich hier genauso wenig erwartet, Yugi und Yami.“ „Einen Tag nach deiner Flucht aus meinem Lager habe ich mich mit meinen Brüdern getroffen, um über die Lage zu beraten“, erwiderte Yami. „Wir waren uns darin einig, dass es so nicht weitergehen kann und dass es für uns drei beschämend ist, nicht gegen Pegasus’ Treiben anzugehen, während ein gewöhnlicher Mensch – entschuldige, Joey – die ganze Welt durchquert, um ihn zu stellen.“ „Also haben wir uns auf den Weg gemacht“, fügte Yugi an. „Doch du bist uns zuvorgekommen. Aios hat uns schon die gute Nachricht von deinem Sieg über den Eisfürst übermittelt.“ „Wir möchten uns bei dir bedanken, dass der Bann, der auf ihm lag, endlich gebrochen ist. Bakura!“ Yami wandte sich seinem Geliebten zu und winkte ihm. Dieser näherte sich ihm mit dem Motorrad. „Muss das wirklich sein?“, murrte er. „Reicht es nicht, dass er mir Aios gestohlen hat?“ „Du kriegst deine Entschädigung, wenn wir zu Hause sind“, versprach ihm Yami augenzwinkernd. „Ich habe mir die ganze nächste Woche frei genommen.“ Bei dem Grinsen, das der Räuber zur Antwort an den Tag legte, konnte sich Joey schon denken, wie die Entschädigung aussehen würde, von welcher der Anführer der Räuberbande eben gesprochen hatte. „Hier, hast du’s wieder, sogar voll getankt.“ Bakura übergab ihm das Motorrad und drückte ihm neben seinem eigenen einen weiteren schwarzen Helm für Seto in die Hand. „Danke, Bakura. Das ist sehr nett von dir“, sagte Joey. „Nur stecken wir mitten in der Einöde, bis zur nächsten Stadt ist es noch ein gutes Stück und ich kann Aios nicht auch noch Gepäck zumuten.“ „Das ist der zweite Grund, weshalb wir euch aufgesucht haben.“ Das Lächeln des kleinen Frühlingsmagiers wurde noch breiter. „Wir werden euch ein Portal nach Domino öffnen, so seid ihr in ein paar Sekunden da.“ „Echt? Vielen Dank, euch allen. Dann heißt es jetzt wohl, endgültig Abschied zu nehmen.“ „So endgültig nun auch wieder nicht“, lachte Duke. „Wir sind die Herren der Jahreszeiten, schon vergessen? Einer von uns ist immer in der Nähe.“ „Und sobald es Dukes Zeit erlaubt, werden wir euch in Domino besuchen kommen“, sagte Tristan. „Ihr seid immer bei uns willkommen.“ Nach ein paar ausgiebigen Abschiedsumarmungen, bei denen auch Aios nicht ausgelassen wurde, setzten sich Joey und Seto die Helme auf und schwangen sich auf das Motorrad. Yugi, Duke und Yami stellten sich in einem Halbkreis auf und legten ihre rechten Hände aufeinander. Die Luft am anderen Ende der Lichtung begann wie bei einem Feuer zu wabern, durchsetzt mit silbernen Lichtreflexen. Der Blonde ließ den Motor kurz aufheulen, nickte seinen Freunden noch einmal dankbar zu und gab Gas. Der Schnee stob auf, spritzte zu den Seiten. Ein Prickeln breitete sich auf der Haut der beiden aus, als sie auf das Portal zufuhren und es durchstießen. Für einige Sekunde kam es ihnen vor, als würden sie durch flüssiges Glas fahren, sie sahen nichts als Weiß um sich herum ... Im nächsten Moment setzte das Motorrad auf Asphalt auf. Joey bremste und blickte sich um. Sie befanden sich wieder auf der Brücke, wo ihre Reise vor fast einem Jahr ihren Anfang genommen hatte. „Wir sind zurück“, flüsterte er und wandte sich zu Seto um, der ihm unter dem Visier zulächelte. Mit jedem Meter, den sie jetzt zurücklegten, kam ihnen ihr Abenteuer mehr und mehr wie ein langer Traum vor. Und doch, die Beweise, dass es sich nicht um einen solchen gehandelt hatte, sahen sie überall und fuhren sogar auf einem von ihnen. In der Stadt hatte sich einiges verändert. Geschäfte waren verschwunden, dafür residierten andere, ihnen unbekannte in den Räumen. Sie stießen auf Gebäude, die sie nicht kannten, die sich bei ihrer Abreise zum Teil noch im Rohbau befunden hatten. Domino war dabei, sich von der Krise zu erholen, die einst die Wirtschaft erschüttert hatte. Die Innenstadt war voller Menschen, die letzte Einkäufe für das anstehende Weihnachtsfest machten, von überallher wehten ihnen Weihnachtsmusik und der Duft von Süßwaren entgegen – was ihren knurrenden Bäuchen nicht gerade entgegenkam. Sie schlängelten sich mit dem Motorrad durch die überfüllten Straßen, vorbei an bunt dekorierten Schaufenstern, quengelnden Kindern, die von ihren Eltern weiter gezogen wurden, und jungen Paaren, die auf dem Weg zu einer Party oder einem Rendezvous waren. Auf dem Marktplatz, den sie überqueren mussten, stand ein großer Weihnachtsbaum, von oben bis unten mit großen, bunten Kugeln und Kerzen aufgeputzt. Joey drehte eine Runde um den Platz und bog dann in die Straße ein, die zum Hotel führte. Die letzten paar hundert Meter, die noch zwischen ihm und seinem Zuhause lagen, kamen ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er das Motorrad vor dem Haupteingang des Hotels parkte und er und Seto abstiegen. Sie nahmen ihre Helme ab und klemmten sie sich unter den Arm. „Bereit?“, fragte der Brünette. „Wenn du es bist ...“ Die Hände ineinander verschränkt, betraten sie das Hotel. Der Portier schaute von seiner Arbeit am Computer auf, um zu sehen, was für Gäste ihnen der frühe Abend da hereingebracht hatte und glaubte, eine Fata Morgana vor sich zu haben. „D-das ist ja ... Mai! Jonathan!“ Er sprang von seinem Stuhl auf, nach dem Hotelbesitzer und der Köchin rufend. Immer wieder flog sein Blick ungläubig zu den beiden soeben Angekommenen. Die Tür zum Direktionsbüro öffnete sich und Mai steckte den Kopf heraus. „Was machst du für einen Krach, willst du die restlichen Gäste, die wir noch haben, verscheuchen?“ „Nein, nein, aber guck doch!“, rief der Portier ungeduldig, bis sie seinem zum Eingang deutenden Finger folgte. „JOEY! SETO!“, kreischte sie, riss die Tür vollends auf und stürzte durch die Eingangshalle. Die beiden jungen Männer fanden sich in einer stürmischen Umarmung von ihr wieder. „Hey, ist ja gut. Wir sind wieder da.“ Joey tätschelte ihr unbeholfen den Rücken und drückte sie ein Stück von sich weg, um sie besser betrachten zu können. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, darüber konnte auch die größere Menge Schminke nicht hinwegtäuschen, die sie jetzt benutzte. Sie rückte den Kragen ihres Kostüms zurecht. „Was hast du da an?“, fragte er verblüfft. „Ich meine, es steht dir super, aber wo ist deine Schürze ge –“ Zweimal durchschnitt lautes Klatschen die Luft. Seto und Joey hielten sich die Wange. „Was fällt euch beiden ein, einfach so wegzulaufen!“, fauchte Mai. Ihre erste Überraschung war verflogen und machte nun dem Ärger Platz, der sich bei ihr in den vergangenen Monaten angestaut hatte. „Habt ihr mal an uns gedacht? Wir waren außer uns vor Sorge, wussten nicht, was mit euch war! Wir dachten, ihr wärt beide im Fluss ertrunken!“ Sie hämmerte gegen Joeys Brust. Dieser ließ es eine Weile ruhig geschehen, bis er sie in die Arme zog. „Psst ... Es tut uns sehr leid, dass wir euch so viele Sorgen gemacht haben. Ich wollte es euch ja sagen ... aber dann hättet ihr mich nie weggelassen und ich musste doch Seto finden“, murmelte er. „Wo ist Dad? Geht es ihm ... gut?“ „Er ist sehr launenhaft geworden“, seufzte sie. „Manchmal schreit er das ganze Haus zusammen, wenn er zu viel getrunken hat, pöbelt unsere Gäste an, sofern wir gerade welche haben ... Die letzten paar Tage hat er meistens still in seinem Wohnzimmer oder hier am Kamin gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Ich ... ich hab mein Bestes gegeben, um das Hotel zu halten ... aber ich kann langsam nicht mehr. Ich schaff das nicht mehr, alles zu verwalten und zwischendurch in die Küche zu springen, damit dort auch alles läuft ...“ Mai klammerte sich weinend an ihn, erleichtert, endlich nicht mehr die sein zu müssen, die allen den Rücken stärkte, die die Belegschaft immer und immer wieder ermunterte, nicht aufzugeben und mit der Arbeit fortzufahren. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen, ohne dass sie sich darum kümmerte, dass sie ihr ganzes Makeup verschmierten. „Du bist jetzt nicht mehr allein, Mai. In Zukunft können wir beide dir dabei helfen“, sagte Joey. „Und jetzt möchte ich Dad sehen.“ Sie sind endlich wieder zu Hause in Domino. ^_____^ Nur in was für einem Zustand sie Joeys Vater vorfinden werden ... Das sehen wir am Freitag im Epilog. ^.~ *Kekse verteil* Epilog: Wo die Liebe hinfällt ----------------------------- Nun ist es also so weit, der Epilog ist online. Ich wünsche euch ein letztes Mal viel Spaß mit unseren Lieben. ^_____^ *große Eistorte aufstell* *heiße Schokolade ausschenk* (1) http://www.youtube.com/watch?v=TQ0uFEUTHdk&feature=PlayList&p=512DC3E6076C2FAB&index=2 X-TV Soundtrack – Simply one Desire Epilog Wo die Liebe hinfällt Mai nickte ihm zu, wischte sich die Tränen aus den Augen und machte sich mit ihnen auf den Weg über den verschneiten Innenhof des Angestelltentraktes. Jonathan saß in einem Sessel am Kamin, eine warme Decke über den Beinen und eine halbvolle Flasche Rotwein neben sich auf dem Tisch stehen. „Jonathan“, begann Mai, „da ist jemand, der dich sehen möchte.“ „Wieder der Arzt? Er soll sich zum Teufel scheren“, brummte er. „Was interessiert der mich mit seinem Gefasel ...“ „Ich bin es, Dad. Joey.“ „Lüg mich nicht an, mein Sohn ist vor einem Jahr gestorben.“ „Bitte dreh dich wenigstens zu mir um“, sagte der Blondschopf. „Ich bin es wirklich.“ Etwas Unverständliches in seinen Dreitagebart brummend, wandte sich der Hotelbesitzer umständlich in seinem Sessel herum. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, die Augen eingefallen und glasig. „J-Joey? Das bist ... wirklich du?“ Die Decke rutschte von seinen Knien, als er aufstand und mit leicht schwankenden Schritten auf ihn zuging. Joey nickte nur, unfähig, im Augenblick etwas zu sagen. Seine Gedanken schossen wild durcheinander, die Freude über ihre Heimkehr mischte sich mit bitteren Selbst-vorwürfen und der Erschütterung darüber, was aus seinem Vater geworden war. Das hatte er nicht gewollt. Hätte er auch nur im Entferntesten geahnt, was er mit seinem Weggang anrichten würde ... Doch hier zu bleiben und Seto einfach seinem Schicksal zu überlassen, war für ihn ebenso wenig eine Option gewesen. Zu seiner Erleichterung nahm ihn Jonathan in den Arm und drückte ihn lange und fest an sich. Dann erst bemerkte er Seto, der bislang still neben Mai gestanden und dem Wiedersehen von Vater und Sohn zugeschaut hatte. „Du!“, zischte der Hotelbesitzer und deutete auf seinen Angestellten. „Du hast meine ganze Familie ins Unglück gestürzt!“ „Dad ... Dad!“ Joey packte seinen Vater, um ihn davon abzuhalten, sich auf Seto zu stürzen und Dinge zu tun, die er später sicher bereuen würde. „Du bist fristlos entlassen!“, schrie er, mit seinem Sohn ringend, der die Arme um ihn geschlungen hatte. „Es ist alles deine Schuld! Dass er gegangen ist, dass unser Hotel nicht mehr läuft, alles! Lass mich los, Joey, verflucht, ich will ihn endlich in die Finger kriegen, diesen kleinen Drecksack.“ „Es war nicht Setos Schuld. Hör auf ... hör auf, bitte.“ Er sah Jonathan beschwörend an und wartete, bis er sich beruhigt hatte und er ihn ohne Gefahr loslassen konnte. Joey entfernte sich ein paar Schritte von ihm. „Dad, ich bin weggelaufen, um ihn zu finden und das habe ich. Es war allein meine Entscheidung.“ „Nur ... warum?“ Seto trat neben den Blondschopf und legte ihm einen Arm um die Schultern. „Weil Ihr Sohn und ich uns lieben.“ „Und es ist uns egal, was du dazu sagst“, fügte Joey hinzu und schlang seinerseits einen Arm um Setos Hüfte. Er dachte nicht daran, sich von seinem Vater einschüchtern zu lassen. „Ich muss mich erst mal setzen“, sagte Jonathan, von der Situation vollständig überrumpelt. Mai verschwand in die Küche, um einen starken Kaffee aufzubrühen und etwas zu essen für sie herzurichten. Nachdem sie sich gestärkt hatten, begannen die beiden abwechselnd über das zu berichten, was ihnen widerfahren war. Mai und Jonathan hörten ihnen staunend zu und unterbrachen sie hin und wieder, um Zwischenfragen zu stellen. „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ Jonathan musterte das Paar, das aneinander gekuschelt auf der Couch saß. „Eure Geschichte klingt so unglaublich, dass sie schon wieder wahr sein könnte.“ „Das ist sie“, antwortete Joey und gähnte. „Ab ins Bett“, sagte Mai. „Ihr habt einiges hinter euch.“ Wie zur Bestätigung gähnte der Blonde gleich nochmals herzhaft, löste sich aus Setos Umarmung und stand, seine Hand nehmend, auf. „Gute Idee, ich bin hundemüde. Schlaft schön“, erwiderte er und verließ mit seinem Freund das Wohnzimmer. „Also dann ...“, Seto sah ihn unschlüssig an und hauchte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Bis morgen früh, Joey.“ Er wandte sich im Flur ab, um sich in sein Zimmer im Angestelltentrakt zu begeben – sofern es nicht inzwischen von jemand anderem besetzt war –, doch Joey hielt ihn zurück. „Möchtest du vielleicht ... bei mir schlafen?“, fragte er und lächelte, als sein Gegenüber zur Antwort nickte. Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinauf. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ „Damit hatte ihr eines großes Abenteuer sein Ende gefunden und das nächste wartete bereits auf sie. Jonathan begab sich, nachdem Joey ein ernstes Wort mit ihm gesprochen hatte, in Therapie, um seine Sucht zu bekämpfen und übertrug seinem Sohn solange die Leitung des Hotels. Mit der tatkräftigen Unterstützung von Seto und einer gemeinsam ausgeklügelten Werbekampagne gelang es Joey innerhalb weniger Monate, das Schwarze Rotauge wieder an die Spitze der Hotels von Domino zu katapultieren. Den beiden Rosenstöcken, die zur Geburt von Joey und Serenity gepflanzt worden waren, fügten sie im Frühling einen dritten für Seto hinzu, dessen Blüten cremefarben waren. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben und streiten sie sich noch heute.“ Anzu schlug das Märchenbuch zu und sah lächelnd in die Runde ihrer vier Zuhörer, die sich nun, da das Märchen sein Ende gefunden hatte, wieder gegen die Couchpolster sinken ließen. Die Kamera blendete aus und der Abspann erschien auf der Kinoleinwand. Die Plätze in der Balkonloge, von wo aus Seto, Katsuya und die anderen den Film verfolgt hatten, waren verlassen. Sobald die letzten, in Eisblau gehaltenen Namen der Beteiligten verschwunden waren, schloss sich der rote Vorhang und das Licht wurde langsam heller, um den Augen des Publikums, das zur Premiere des Films geladen worden war, keinen Lichtschock zu verpassen. Beifall brandete im Kinosaal auf. Shizuka und Anzu betraten als Erste die Bühne, die der Leinwand vorgelagert war, verbeugten sich kurz und begaben sich dann an den Bühnenrand, um den anderen Schauspielern Platz zu machen. Nacheinander folgten ihnen ihre Kollegen, sanken in eine Reverenz und nahmen den Applaus des Publikums entgegen, welcher mit jedem Darsteller weiter anschwoll. Als Letzter, nachdem sich auch Seto und Katsuya in die Mitte ihrer Freunde und Kollegen begeben hatten, kam Ryou die kleine Treppe herauf und stellte sich neben sie. Er kratzte sich verlegen am Kopf, als Yami ihm einen großen Blumenstrauß überreichte und seine Freunde in den Beifall einfielen, mit dem er bedacht wurde. Die Hände der Schauspieler fanden sich zu einer letzten gemeinsamen Verbeugung zusammen. „Ein voller Erfolg“, flüsterte Mai Pegasus zu. „Aber bekommen wir in der Realität auch unser Happy End?“ „Ich hab meines schon bekommen“, sagte er und warf Siegfried einen versonnenen Blick zu. „Und was unsere zwei Turteltauben ... äh Turteldrachen angeht, nur Geduld, meine Liebe“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf ihre beiden jungen Kollegen, die dem Publikum zuwinkten. „Ich glaube, sie sind auf dem besten Weg.“ Seto und Katsuya hielten sich, seit sie die Bühne betreten hatten, an der Hand. Der Blondschopf strahlte geradezu vor Glück. In den vergangenen Wochen, in denen der Film geschnitten und fertig bearbeitet worden war, hatten er und Seto sich fast täglich getroffen und etwas miteinander unternommen. Stück für Stück waren sie sich dabei näher gekommen, hatten den anderen besser kennen gelernt und entdeckt, dass man das, was sie früher so aneinander gestört hatte, auch als liebevolle kleine Macken des anderen ansehen konnte, mit denen sich leben ließ. Mokuba war durch das ganze Haus gehüpft, als sie ihm erzählt hatten, dass sie es ernsthaft miteinander versuchen wollten. Er hatte Katsuya gleich ganz begeistert in die Familie aufgenommen und danach Shizuka angerufen, um ihr und Ryou zu ihrem genialen Einfall mit dem Märchen zu gratulieren, das letztendlich der Auslöser für alles gewesen war. Wenn sie sich nicht eingemischt hätten, wer wusste, ob die zwei es jemals geschafft hätten, sich zu vertragen, geschweige denn zu merken, dass zwischen ihnen etwas anderes bestand als ewig währende Feindschaft. Bisher hatten sie den beiden Frischverliebten noch nicht erzählt, dass sie es mit der Auswahl des Märchens hauptsächlich darauf angelegt hatten, sie zusammenzubringen. Wütend wie noch vor ein paar Monaten würden sie gewiss nicht darauf reagieren, da waren sie sich sicher, doch ebenso wussten sie auch, dass vor allem Seto es überhaupt nicht mochte, wenn jemand versuchte, sich in sein Leben einzumischen, und sei es noch so sehr zu seinem Besten gedacht. Katsuya wandte sich mit einem sanften Lächeln seinem Freund zu und betrachtete ihn. Mit diesem oft brummigen Drachen an seiner Seite würde es sicher nicht immer leicht werden, aber das Wort „unmöglich“ hatte er schon vor langem aus seinem Wortschatz gestrichen. „Hey, wollt ihr da Wurzeln schlagen?“, riss Ryujis Ruf ihn aus seinen Betrachtungen. „Die Limousine wartet nicht ewig und sonst geht die Premierenparty ohne uns los.“ „Wir kommen ja“, erwiderte Seto, winkte ihrem Publikum, das sich inzwischen von seinen Sitzen erhoben hatte und ihnen zum Abschied stehende Ovationen schenkte, noch einmal zu und verließ dann mit Katsuya und den anderen die Bühne. Draußen vor dem Kino schlug ihnen kalte Nachtluft entgegen. Es war eine Woche vor Weihnachten und der Winter hatte sich – sogar passend zu ihrem Film, wie sie gescherzt hatten – pünktlich eingestellt und die Stadt unter einer dichten Schneedecke begraben. In dicke Mäntel gehüllt, bestiegen sie die wartenden Fahrzeuge, die in einer langen Reihe vor dem Kino standen, um zum Filmstudio zurückzufahren, wo heute Abend die Premierenfeier stattfinden sollte. „Wie kommt es eigentlich, dass du immer die teuren Limousinen kriegst?“, fragte Katsuya, als er sich neben Seto in die weichen Lederpolster gekuschelt hatte. „Tja, wenn man der spezielle Liebling ist ...“, erwiderte Seto geheimnisvoll und zog ihn näher zu sich. „Du und der Liebling?“ Er betrachtete ihn skeptisch und zog die Brauen hoch. „Wie willst du denn zu der Ehre kommen?“ „Männer mit einer eisig-kühlen Aura wirken anziehend – hat bei dir doch auch funktioniert.“ Katsuya stupste ihn an, erwiderte dann jedoch das Grinsen des Brünetten. „Aber gegen das Feuer sind auch sie machtlos“, sagte er und zog Seto in seine Arme, um ihn zu küssen. Isono, der für die beiden den Chauffeurdienst übernommen hatte, warf einen Blick in den Rückspiegel, lächelte und fuhr die Trennscheibe zum Fahrerraum hoch, um ihnen mehr Privatsphäre einzuräumen. Niemand von ihnen bemerkte die Sternschnuppe, die am sternklaren Himmel ihre glühende Bahn zog. Oder war es am Ende doch ein Splitter aus dem Spiegel des Eisfürsten? ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ ENDE 14.12.2008 – 14.10.2009 *schnüff* *Vorhang zuzieh* Damit ist das Märchen vom Eisfürst beendet. Die Arbeit an dieser Geschichte hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, sowohl vor als auch hinter den Kulissen. Manchmal haben sie mich zwar halb in den Wahnsinn getrieben, aber mit dem Ergebnis unserer Dreharbeiten bin ich überglücklich und ich hoffe, es hat euch gefallen. Zum Abschluss noch ein paar Danksagungen: Zum Ersten geht mein Dank an , mit der ich viel über diese FF diskutiert habe und die jederzeit eine Anregung parat hatte, wenn ich an einer Stelle festhing. *Blumen überreich* Zum Zweiten bedanke ich mich herzlich bei all meinen Kommentarschreibern und Lesern! Ihr seid toll! *_________* In diesem Sinne verabschiede ich mich vom Eisfürst und hoffe, wir lesen uns wieder. Moonlily Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)