Der Eisfürst von moonlily (Splitternde Erinnerungen) ================================================================================ Kapitel 9: Täuschung und Wahrheit --------------------------------- *Eisbecher verteil* Vielen Dank für eure lieben Kommentare. Und jetzt viel Vergnügen mit dem zweiten Teil von Joeys Aufenthalt bei unserem kleinen süßen Frühlingsmagier. *unter Yugis Geschoss wegduck* Yugi: „Ich bin nicht süß!“ Na, der hat wieder eine Laune. ^^° (1) http://www.youtube.com/watch?v=tloVx_b-YIs King Arthur – All of them Kapitel 9 Täuschung und Wahrheit „Okay, dann kommen wir jetzt zu der Szene, wo die Köchin ihren Chef zu überzeugen versucht, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Mai, bist du so weit?“ Ryou wandte sich der Blondine zu, die sich von der Maskenbildnerin rasch noch einmal das Gesicht abpudern ließ, um unter dem Licht der Scheinwerfer nicht zu glänzen. „Komme gleich“, winkte sie ihm lächelnd zu und zupfte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Tsubasa, füll noch mal Shirous Glas nach, das ist schon wieder leer“, wies der Regisseur den jungen Mann an, der für die Requisiten verantwortlich war. Shirou, der Joeys Vater spielte, saß in einem großen Sessel am Kamin und starrte abwesend in die vor sich hin tanzenden Flammen. Er hob kaum den Blick, als Tsubasa in das Glas, das neben ihm stand, kalten schwarzen Tee goss, der bei den Dreharbeiten anstelle von Whiskey verwendet wurde. „Können wir dann?“, fragte Ryou, als Mai ihren Platz am Rand des Filmsets eingenommen hatte. „Ich bin so weit. Shirou?“ Er antwortete nicht. „Hey, Shirou, träumst du?“ Trübe Augen sahen zu ihr auf. „Wasn .... Was ’n llos ...“, lallte er. Mai wich bei der Duftwolke, die ihr entgegenschlug, ein paar Schritte zurück. „Puh, du riechst ja wie eine ganze Schnapsdestille.“ „Wie bitte?“ Ryou sprang von seinem Stuhl auf, marschierte zu ihnen und musterte Shirou argwöhnisch. Der Gestank, der seinem Mund entströmte, war unverkennbar alkoholisch und das laute Rülpsen, das er hören ließ, machte es nicht besser. Einer Ahnung folgend, griff Ryou nach dem Whiskeyglas und roch daran. „Aber das ist ja gar kein Tee.“ Er fuhr herum. „Requisite! Ich will eine Erklärung und das schon vorgestern! Was macht der Whiskey hier?“ „I-ich kann mir ... d-das gar ni-nicht erklären“, stammelte Tsubasa hilflos, während der sonst so ruhige Weißhaarige einen Sturm von Beschimpfungen auf ihn niederhageln ließ. Katsuya und Honda nahmen sich in der Zwischenzeit des Betrunkenen an, um für ihn ein ruhiges Plätzchen zwecks Ausnüchterung zu finden. Die Szene wurde am folgenden Tag nachgedreht. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ (1) Über den vielen Spielen, die sich in Yugis Haus stapelten, merkte Joey kaum, wie die Zeit ins Land zog. Jeden Tag gab es Erdbeeren und Kirschen zu essen und an jedem Morgen kam Yugi mit mindestens einem neuen Spiel an, das sie noch nicht ausprobiert hatten. Er fühlte sich gut, fröhlich und unbeschwert wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Und doch ... Manchmal, besonders wenn er abends im Bett lag und zur Zimmerdecke hochsah, überkam ihn das Gefühl, dass etwas fehlte. Dass er etwas vergessen hatte – etwas Wichtiges. Wenn er mit Yugi am Ufer des Flusses saß, um zu angeln oder sie sich im Garten um die Beete kümmerten und die Erdbeeren mit Wasser versorgten, dachte er nach und versuchte dahinter zu kommen, was es war, was er vergessen hatte. Yugi wollte er deswegen nicht fragen, er hatte das Gefühl, dass er ihm nichts sagen würde. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm nicht einfallen, als hätte etwas diese Erinnerung mit besonderer Gründlichkeit aus seinem Gedächtnis gelöscht. „Du, Yugi ...“, fing Joey eines Nachmittags, als sie mit einer Partie Monopoly beschäftigt waren, an. „Ja?“ Er sah von den Spielgeldscheinen auf, die er sortierte. „Was ist denn?“ „Also ... Bisher war ich ja immer hier im Haus oder im Garten, aber ... ich bin doch schon fast erwachsen und da dachte ich, ich könnte mal einen Ausflug machen. In die nächste Stadt zum Beispiel.“ Das süße Lächeln, mit dem er Joey sonst immer bedachte, verschwand von seinen Lippen. In seinen Augenwinkeln schimmerte es verdächtig feucht. „Du ... du willst von mir weg?“, kam es weinerlich von Yugi. Joey schluckte, als er ihn so sah. „Nein, ich meine ... Wir können natürlich zusammen in die Stadt fahren, ich dachte nur –“ „Du bist so undankbar!“, fuhr Yugi auf. „Ich spiele mit dir, gebe dir von meinen Erdbeeren ab und du denkst nur daran, wie du von mir wegkommst! Du bist soooo gemein.“ „Yugi ...“ Er berührte den Kleineren, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte, sachte an der Schulter. „Du bi-bist selbstsüchtig“, bekam Joey zwischen den Schluchzern zu hören. „Entschuldige, war eine blöde Idee von mir, in die Stadt zu wollen. Bitte vergiss es einfach.“ Yugi sah auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort. „Okay ... Darf ich dir noch ein bisschen die Haare kämmen, um mich zu beruhigen?“ „Darfst du“, erwiderte Joey lächelnd, auch wenn ihm dieser Tick des anderen so langsam auf die Nerven ging. Ihm die Haare mit dem Elfenbeinkamm zu kämmen, bevor sie sich abends in ihre Zimmer zurückzogen, war eine von Yugis Lieblingsbeschäftigungen geworden, wie es schien. Sobald der Kamm durch die blonden Strähnen fuhr, besserte sich die Stimmung des Bunthaarigen merklich und er begann, leise zu summen. Joey entspannte sich nach einer Weile und beschloss, die Frage nach einem Ausflug auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Seto lief wie ein Tiger im Käfig im Spiegelsaal herum, warf hin und wieder einen kurzen Blick auf den Scherbenhaufen, der ihm im Zwielicht entgegenfunkelte, wandte sich ab und setzte seine unruhige Wanderung fort. Seit Stunden versuchte er schon, den Weg aus dem Palast zu finden. Oder waren es Tage? Er konnte es nicht sagen. Da er keinen direkten Blick auf die Sonne hatte und sich das bläuliche Zwielicht nie änderte, hatte er keinerlei Anhaltspunkt, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, ob heute Dienstag oder Freitag, Tag oder Nacht war. Kurz nachdem sich Pegasus in seine Gemächer zurückgezogen hatte, hatte auch er dem Spiegelsaal den Rücken gekehrt und versucht, den Gang wieder zu finden, durch den sie bei ihrer Ankunft gekommen waren. Doch dies war längst nicht so leicht, wie er es sich gedacht hatte. Jeder Gang sah aus wie der vorherige, der gleiche Aufbau, die gleiche weiße Farbe, die von der feinen Schicht Eiskristalle herrührte. Hinzu kam, dass er sich nur langsam vorwärts bewegen konnte. Der Fußboden, gleichfalls mit Eis gesprenkelt, war stellenweise rutschig wie Schmierseife und hatte schon mehrfach mit Setos Gesäß Bekanntschaft gemacht. „Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen“, knurrte Seto. „Soll sich Pegasus seinen blöden Spiegel doch alleine wieder zusammenpuzzeln oder sonst wo reinschieben. Eisfürst hin oder her, der kann mich mal kreuzweise.“ Er sah sich um und nahm aufs Geratewohl den nächsten Gang. Aus diesem eisigen Gefängnis würde er sich nur mit Glück befreien können. Nach einer Weile weitete sich der Gang in eine große, höhlenartige Halle. Setos Schritte wurden langsamer, bis er neben einer der Stützsäulen stehen blieb. Ein Stück von ihm entfernt lagen sechs große Wölfe mit hellgrauem Fell und schliefen. Neben ihnen lag ein Haufen sauber abgenagter Knochen, an einigen Stellen wies der Fußboden dunkelrote Flecken auf. Der Brünette fragte sich lieber nicht, ob es sich dabei um tierische oder menschliche Überreste handelte. So leise er konnte, schlich er an ihnen vorbei, ohne sie aus den Augen zu lassen. Erst als er im nächsten Gang um die Ecke gebogen war, atmete er auf. Mehr denn je hätte er sich ohrfeigen können, Pegasus gefolgt zu sein. Er hätte wie geplant zu Joeys Geburtstagsfeier gehen sollen und was tat er? Ließ sich wie ein kleiner Junge von Pegasus auf dem Schlitten mitnehmen und stolperte jetzt im Halbdunkel durch endlose Gänge. Er wäre jedoch nicht Seto Kaiba gewesen, hätte er sich durch diese Umstände entmutigen lassen. Irgendwo in diesem Labyrinth gab es einen Weg nach draußen und den musste und würde er finden. Ein Weg nach draußen in die Freiheit ... zu Joey. Er öffnete seinen Mantel ein wenig und betrachtete die rote Rose, die in der Innentasche steckte. Obwohl seit seiner Entführung Monate vergangen waren, wenn er Pegasus’ Aussage Glauben schenken konnte, war sie bisher nicht aufgeblüht, was vermutlich an den unwirtlichen Temperaturen hier lag. Zitternd schloss er den Mantel rasch wieder, um sich selbst und die Blüte vor dem Einfluss der Kälte zu schützen und setzte seine Suche nach einem Ausgang fort. Kurz darauf knurrte er frustriert. Er befand sich wieder im Spiegelsaal. Seto war im Kreis gelaufen. „Gib dir keine Mühe“, sagte eine männliche, selbstgerecht klingende Stimme. „Wer einmal im Palast des Eisfürsten weilt, kommt nicht mehr hinaus.“ Der Angesprochene sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. „Wer spricht denn da?“ „Hier unten, du Trottel!“, kam die Antwort postwendend. „Den Trottel verbitte ich mir und –“ Seto stockte, als sich sein Blick nach unten richtete. Vor ihm saß ein schneeweißer Hase, dessen Fell an der rechten Seite einen schmalen rosa gefärbten Streifen aufwies. Der Blauäugige verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn mit seinem berühmten Eisblick, doch das Tier rührte sich nicht von der Stelle. „Dich kenn ich doch. Du warst im Hotelpark, als Joey und ich spazieren waren!“ „Nett, dass du dich an mich erinnerst, Kaiba.“ „Einen Störenfried mit so einer ungewöhnlichen Fellzeichnung vergisst man nicht. Wie kommst du hierher?“ „Ich wohne hier, was denkst du denn?“ „Dann gehörst du also zu ihm“, meinte Seto und deutete mit einem Kopfnicken nach oben, in die Richtung, wo er Pegasus’ Zimmer vermutete. „Ich bin gewissermaßen sein Haushofmeister. Du darfst mich Siegfried nennen“, erwiderte der Hase würdevoll und beschnupperte das Hosenbein des Brünetten. „Und jetzt husch mit dir an die Arbeit.“ „Wie. Bitte?“ Seine Augenbrauen zuckten gefährlich. „Du kleines Mistvieh, das mir nicht mal ans Knie reicht, wagst es, mir Befehle zu erteilen?“ „Wenn dir meine Gestalt nicht passt, kann ich auch eine andere annehmen.“ Das silberne Halsband, das der Hase trug, begann plötzlich zu strahlen, so hell, dass sich Seto abwenden und den Arm vor die Augen schlagen musste. Als er sich wieder zu Siegfried umdrehte, schluckte er schwer. Der Hase war verschwunden, dafür stand nun ein ausgewachsener Wolf vor ihm – gleichfalls mit einem Streifen Rosa im weißen Fell und einem silbernen Band um den Hals. Siegfried fletschte die Zähne und knurrte ihn an. „Ist dir das immer noch zu klein?“, fragte er mit dunkler Stimme. „Also ... nein.“ „Dann mach, dass du an deine Arbeit kommst. Der Spiegel setzt sich nicht von selbst zusammen.“ Seto warf ihm einen letzten eisigen Blick zu, ließ sich neben dem Scherbenhaufen nieder und griff nach dem erstbesten Spiegelstück. Pegasus ... Wenn ich dich finde, werde ich dich nicht küssen, dann erwürge ich dich! ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Siegfried griff nach seiner Flasche Evian und trank einen Schluck von dem Wasser. Er hatte sich immer noch nicht ganz damit abgefunden, dass er einem Hasen seine Stimme leihen sollte. Ein putziger, kleiner Hase – wenn das nicht schädlich für seinen Ruf war ... Wenigstens hatte Ryou ein Einsehen gehabt, dass sich Seto sicher nicht vor einem Hasen fürchten würde und sein Einverständnis gegeben, aus Pegasus’ Haushofmeister einen richtigen Gestaltwandler zu machen. Er warf einen Blick auf den Silberhaarigen, der es sich mit einem Latte macchiato auf einem Stuhl bequem gemacht hatte und in seinem Textbuch blätterte. Wie schade, dass sie sonst so wenig bei den Dreharbeiten miteinander zu tun hatten. Siegfried war schon seit einiger Zeit am Überlegen, ob er Pegasus nicht mal um ein privates Treffen außerhalb des Filmstudios bitten sollte, eventuell zu einem Glas Rotwein. Ryou trat neben Pegasus und räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. „Ähm, Pegasus, wegen deines Schlafzimmers ...“, begann er nervös, „könnten wir da nicht ein bisschen weniger –“ „Kommt nicht infrage!“, unterbrach dieser den Jüngeren. „Du hast mir den rosa Pelzmantel nicht erlaubt, okay! Aber bei meinem Schlafzimmer lass ich mir nicht reinreden.“ „Wovon redet er?“, wandte sich Seto an Shizuka, die zur Antwort bloß mit den Schultern zuckte. Dabei wusste sie nur zu gut, welchen Kampf Ryou mit Pegasus gehabt hatte, als es um die Einrichtung der Kulisse gegangen war. Volle vier Stunden war die Diskussion zwischen ihnen hin und her gegangen, bis sie sich geeinigt hatten. „Ich wusste gar nicht, dass du Angst vor Hasen hast, Kaiba.“ Katsuya gesellte sich zu ihnen, für seine nächste Szene bereits fertig eingekleidet und durch die Maske gegangen. Das Textbuch hatte er sich unter den Arm geklemmt. „Sehr witzig, Köter, dass ich nicht lache. Wenn du das Drehbuch richtig gelesen hättest, wüsstest du, dass das lediglich gespielt war, genau wie dieser Kuss mit Pegasus.“ Er schüttelte sich, als er daran dachte. „Ich und Angst vor einem Hasen. Apropos, wo steckt das Vieh überhaupt?“ „Na, da is –“, Katsuya deutete auf die große Box, in welcher der Hase von der Tiertrainerin transportiert wurde, „oh ...“ Die vergitterte Tür stand weit offen. „Ryou, der Hase ist ausgebüxt!“, rief Shizuka ihrem Freund zu. „Ja, geht denn heute alles schief?!“, fluchte dieser genervt. Pegasus blieb seelenruhig sitzen und schlürfte weiter seinen Latte macchiato, während sich der Regisseur, der Kameramann und die Schauspieler sowie der Requisiteur auf die Suche nach dem verschwundenen Tier machten. Es amüsierte ihn, in was für ein Chaos so ein kleines Häschen doch ein ganzes Studio stürzen konnte. Etwas kratzte an seinem Hosenbein. „Da steckst du also“, lachte er amüsiert und hob das Tier auf seinen Schoß, um ihm den Kopf zu kraulen. „Sie suchen schon überall nach dir, Kleiner. Hey, ihr könnt aufhören zu suchen, er ist bei mir!“ Katsuya, der unter ein paar aufgestapelten Stühlen nachgesehen hatte, stieß sich den Kopf, als er aufstand. Sich die Stelle reibend, drehte er sich zu Pegasus um. „Halt ihn ja fest, bis er wieder in seiner Kiste ist.“ „Keine Sorge, das – Iiiieee!“, schrie er wie von der Tarantel gestochen. Pegasus packte den Hasen im Genick, hielt ihn von sich weg und sprang von seinem Sitz auf. „Er hat mich angepinkelt!“ „Böser Hase! Ganz böser Hase!“, schimpfte Shizuka, die ihm das Tier abnahm und in seinem Käfig verstaute. „Siegfried hat mich angepinkelt“, jammerte Pegasus, der auf sein mit Hasenpipi besprenkeltes Kostüm starrte. „Bitte? Was hab ich denn damit zu tun?“ „Du teilst dir mit ihm die Rolle.“ „Das ist kein Argument“, entgegnete Siegfried beleidigt und zog sich schmollend zurück. „Argh ... Ruhe!“, schrie Ryou. „Wenn ich nicht schon längst weiße Haare hätte, würde ich sie euretwegen garantiert jetzt kriegen! Pegasus, geh zu Hitomi und lass deinen Mantel in Ordnung bringen. Alle andern auf ihre Plätze.“ ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Ein lautes Knacken ließ Joey von seinem Tun hochschrecken und den Blick auf die Tür richten. Er lauschte in die Stille, bis er sicher war, dass Yugi nicht gerade auf dem Weg zu ihm war. Er nahm seinen Bleistift wieder zur Hand und vollendete den Satz, den er auf einen kleinen Zettel notiert hatte. Ich gehöre nicht hierher! Diese vier Worte drückten aus, wie er sich im Augenblick fühlte. Er wusste nicht, woher dieser Gedanke so plötzlich gekommen war, aber er hatte das Gefühl, dass dieses Haus nicht der Ort war, an dem er sein sollte, nicht der, an den er gehörte. Es klopfte, hastig ließ Joey den Zettel in seiner Hosentasche verschwinden, gerade noch rechtzeitig, bevor Yugi das Zimmer betrat. „Zeit für den Mittagsschlaf, Joey.“ „Och, nicht schon wieder“, brummte er. „Yugi, ich bin kein Kleinkind mehr.“ „Dabei ist das die schönste Zeit im Leben eines Menschen“, antwortete er, schlug die Bettdecke zurück und wartete, bis Joey grummelnd aufgestanden war und sich hingelegt hatte. „Ich nenne es den Frühling des Lebens.“ „Wie lange bin ich eigentlich schon bei dir?“, fragte Joey, nachdem er zugedeckt worden war. „Was soll das heißen, wie lange?“, erkundigte sich Yugi irritiert. „Du warst schon immer hier. Dein ganzes Leben lang.“ „Aber –“ „Nicht reden, jetzt wird geschlafen. Ich gehe in der Zwischenzeit zum Fluss und angle uns was für heute Abend.“ Joey schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt, so dass er sehen konnte, wie Yugi das Zimmer verließ. Diese ständige Bevormundung durch den anderen war auch etwas, das ihm auf die Nerven ging. Sobald die Schritte im Flur verklungen waren, schlüpfte er aus dem Bett und zog den Zettel aus der Hosentasche, um ein besseres Versteck dafür zu finden. Suchend sah er sich im Raum um und beschloss dann, ihn in eine Box zu legen, die Rommeekarten enthielt, da sie diese nur selten benutzten. Er hob den mit einer Sonne bemalten Deckel ab und stutzte. „Aber das ist ja ...“ Zwischen den beiden Kartenstapeln lag ein mehrfach zusammengefalteter Zettel, ähnlich dem, den er in der Hand hielt. Er nahm ihn heraus und entfaltete ihn. Ich gehöre nicht hierher! Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. Joey war sich sicher, diese Worte heute zum ersten Mal geschrieben zu haben, aber das war eindeutig seine Handschrift. Er besaß keine Erinnerung daran, schon einmal eine gleich lautende Notiz verfasst zu haben und doch hielt er sie in Händen. Aufgeregt lief er durch das Zimmer und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Wenn es diesen Zettel gab ... hatte er noch weitere geschrieben? Er marschierte kreuz und quer durch den Raum, drehte Kissen um, sah unter der Kommode und dem Schrank nach, nahm sein Bett auseinander, schaute in jede Ritze, warf die Kuscheltiere und Spiele durcheinander ... Aus jedem halbwegs versteckten Winkel beförderte er kleine Papierstücke zutage und innerhalb kurzer Zeit hatte er über zwanzig dieser Zettel zusammen. Jeder von ihnen verkündete ihm die gleiche Nachricht: Ich gehöre nicht hierher! Fassungslos starrte er auf den Haufen. Was geht hier vor? Was verheimlicht Yugi mir? Und wie ich ihn kenne, wird er alles wieder wegwischen und mich zum nächsten Schlaf ins Bett stecken. Aber das lasse ich mir nicht länger von ihm gefallen! Er wollte Antworten und das jetzt! Und ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass er sie in Yugis Zimmer finden würde. Auf Wunsch des Bunthaarigen hatte er dessen Schlafzimmer nie betreten, aber wenn er ihm wirklich etwas verheimlichte – Joey ließ die Zettel auf die Bettdecke zurückfallen und verließ auf leisen Sohlen den Raum. Das Zimmer, das Yugi bewohnte, lag am Ende des Flurs. Nachdem sich der Blondschopf mit einem Blick durch das Küchenfenster versichert hatte, dass sein Freund noch am Fluss mit Angeln beschäftigt war, huschte er zu Yugis Zimmer und öffnete die Tür extra vorsichtig, um ein Knarren zu vermeiden. Manchmal, so hatte er festgestellt, hatte der Kleine äußerst gute Ohren. Die Zimmereinrichtung unterschied sich nur durch die hellblaue Farbe der Möbel von Joeys. Schränke und Regale waren bis zur Decke mit Spielen voll gestopft. Neben einem Pyjama mit Wolkenmotiven saß ein weißer Plüschdrache auf der Bettdecke. Einen Moment lang kam es Joey vor, als würden die blauen Augen des Drachen ihn traurig ansehen. Blaue Augen ... Kannte ich nicht jemanden, der solche Augen besitzt? Augen wie das Meer ... Mein eisiger Drache ... Auf einem schwarzen Kissen ruhend, das auf einem kleinen Tisch am Fenster lag, entdeckte er voller Verwunderung nicht nur seine roten Sneaker, sondern auch die Rosenbrosche, die ihm seine Schwester hinterlassen hatte. „Ob Yugi sie im Fluss gefunden hat?“, murmelte er, schlüpfte in die Schuhe und drehte die Brosche in seinen Hände. „Rosen ... Ich muss mich erinnern ... ich – Seto!“, rief er aus und schlug sich die Hand vor den Mund, um flüsternd fortzufahren. „Seto ... wie konnte ich so gedankenlos sein und dich vergessen? Dabei war ich doch aufgebrochen, um dich zu finden – ich muss hier weg, sofort!“ Joey steckte die Brosche in seine Hosentasche und verließ das Haus. Er wollte sich nicht länger als nötig hier aufhalten und Zeit mit Umziehen verschwenden. Wo aber sollte er von hier aus hingehen? Noch während er überlegend in verschiedene Richtungen sah, fiel ihm ein, was er in Yugis Garten vermisst hatte. „Alle Blumen, die in den ersten Monaten des Jahres blühen, sind hier versammelt“, sinnierte er. „Aber warum fehlt dann ausgerechnet die Königin der Blumen? Sind denn hier keine Rosen? Gerade die Blume fehlt, die mich immer mit ihm verbunden hat. Seto ... bist du doch nicht mehr auf dieser Welt? Habe ich mich ... die ganze Zeit geirrt?“ Er ließ sich auf alle viere sinken und betrachtete den dunklen Boden. In seine Augen traten Tränen. „Du bist irgendwo da unten, nicht wahr? In der kalten, feuchten Erde, wo ich dich nicht erreichen kann.“ Seine Faust schlug auf die Erde, in der seine Tränen versickerten. „Seto ...“ Verwirrt sah er, wie direkt vor ihm das Erdreich zu wackeln begann. Er blinzelte, um besser zu sehen, was da vor sich ging, als auf einmal eine grüne, dornige Ranke hervor schoss und sich um sein Handgelenk wand. „Was –“ Weitere folgten, schlangen sich um seine Arme, Beine und seinen Oberkörper, drückten ihn nach unten und fixierten ihn so am Boden. Vergeblich versuchte Joey sich von den Ranken zu befreien. „Was soll das, was geht hier vor?“ Eine Ranke mit einer roten Rose schob sich in sein Blickfeld, die ihre Blätter entfaltete und ein kleines Gesicht offenbarte. „Hab keine Angst, Joey, wir wollen dir helfen. Wir wissen, wo er ist“, flüsterte die Rose sanft. „Du meinst Seto? Ist er ... tot?“ „Nein, wir waren unter der Erde. Dort ist er nicht. Er kam hier vor Monaten vorbei, zusammen mit dem Eisfürst.“ „Wo sind sie jetzt?“ „Nirgendwo. Er ist der Winter und der ist vergangen. Ihm ist der Frühling gefolgt.“ „Aber Pegasus muss ihn doch irgendwo hingebracht haben. Bitte sagt mir, wo ist er hin?“, fragte Joey. „Zu seinem Palast im Norden, wo alle Hoffnung stirbt“, antwortete die Rose. „Wenn du zum Eisfürst willst, musst du durch jede Jahreszeit gehen, ehe du zu ihm kannst. Wenn du ihn allerdings nicht bis zum Winteranfang erreichst, wird Seto sterben.“ Die Rosenranken lösten sich von ihm und wichen zurück. Joey stand auf und klopfte sich die Erde von den Knien. „Du willst also gehen.“ Er drehte sich um und erblickte Yugi. „Ich muss. Seto braucht mich.“ „Du kannst den Eisfürsten nicht bezwingen, das ist hoffnungslos“, seufzte er. „Woher willst du das wissen, Yugi? Kennst du ihn?“ Der Bunthaarige senkte den Blick zu Boden. „Ich bin der Magier des Frühlings und Pegasus ... Er ist mein Bruder. Ich weiß, wie gefühllos er ist, bis ins Mark. Ich habe ihn beobachtet, wie er Jahr für Jahr nach mehr Macht strebt.“ „Ich muss ihn trotzdem finden.“ „Ist er das wirklich wert, dieser Seto?“, fragte er und musterte ihn. Joeys Mund verzog sich zu einem sanften Lächeln. „Ja, das ist er. Das ist er auf jeden Fall. Er hat mich ins Leben zurückgeholt.“ „Also gut. Erinnerst du dich noch daran, wie ich dich damals ins Leben zurückgeholt habe, als ich dich aus dem Fluss gezogen habe? Unterschätze niemals die Macht eines Kusses.“ „Das werde ich nicht. Leb wohl, Yugi.“ Er wuschelte ihm durch die Stachelfrisur und sah sich um. „Ähm ... Kannst du mir sagen, wo Norden liegt?“ Yugi kicherte leise und zog einen kleinen, in Silber gefassten Kompass hervor. „Hier, damit du den Weg nicht verlierst“, sagte er und gab ihn Joey. „Ich wünsche dir viel Glück.“ „Vielen Dank, Yugi. Ich werde gut drauf aufpassen. Leb wohl.“ Den Blick auf den Kompass gerichtet, verließ Joey den Garten und machte sich wieder auf den Weg zum Palast des Eisfürsten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)