Der Eisfürst von moonlily (Splitternde Erinnerungen) ================================================================================ Kapitel 6: Ein Stum zieht auf ----------------------------- Willkommen zu einem neuen Teil des Eisfürsten. *große Kanne Eistee mit Gläsern hinstell* Mit freundlichen Grüßen von Pegasus und dem Rest der Crew. ^_____^ (1) http://www.youtube.com/watch?v=Y_4515PnZmc David Garrett – Nothing else matters (2) http://www.youtube.com/watch?v=-mFxEwtyzz0&feature=related Illuminati – Immolation (3) http://www.youtube.com/watch?v=fZ-SdzSVECI Vanilla Ninja – Cool Vibes Kapitel 6 Ein Sturm zieht auf (1) Die Silvesternacht kam und ging, ohne dass sich irgendwelche Zwischenfälle ereigneten. Das Konzert, für das Joey Karten besorgt hatte, fand am 2. Januar im Domino Stadion statt und war ausverkauft. Seto war von der Vorstellung absolut begeistert und gehörte am Ende, nachdem der Geiger mehrere Zugaben gespielt hatte, zu denen, die am lautesten klatschten. „Und, wie fandest du es?“, wollte er wissen, als sie bei der Garderobe anstanden, um ihre Jacken zu holen. „Wie gesagt, sonst mache ich mir nichts aus klassischer Musik, aber das hat mir richtig gut gefallen. Besonders He’s a pirate. Da fällt mir ein, Fluch der Karibik könnten wir uns auch mal ansehen.“ „Wie, wenn mich dein Vater nicht in die Wohnung lässt?“ „Nächste Woche muss er für zwei Tage zu einem Hotelierskongress“, sagte Joey und zwinkerte ihm zu. Sie nahmen ihre Jacken vom Garderobenmädchen entgegen, zogen diese über und verließen das Stadion. Draußen schlug ihnen eisige Luft entgegen. Der Nachthimmel war klar, im hellen Licht des Mondes verschwand ein Teil der Sterne. Seto und Joey gingen gemütlichen Schrittes durch die Straßen. Ihr Wagen, oder genauer gesagt Mais Wagen, stand etwas abseits. Obwohl sie früh aufgebrochen waren, hatten sie wegen eines gleichzeitig stattfindenden Balles in Stadionnähe keinen Parkplatz mehr bekommen. „Joey?“ Der Blick des Braunäugigen richtete sich auf Seto. „Danke. Das war heute ein sehr schöner Abend.“ Er blieb stehen und wandte sich zu dem Angesprochenen. „Keine Ursache, Seto.“ „Ich meine mit ‚Danke’ nicht nur den heutigen Abend. Als CEO der Kaiba Corp war ich daran gewöhnt, eine Maske zu tragen. In der Geschäftswelt darf man seine Gefühle nicht offen zeigen, wenn man sich nicht angreifbar machen will. Und wenn man es doch wird ... dann endet das mitunter so wie bei mir.“ Sein Blick richtete sich zu Boden. „Wovon sprichst du?“ „Erinnerst du dich an den Abend, als du mich in der Hintergasse gefunden hast?“ „Natürlich“, nickte der Blonde irritiert. „Du sahst schrecklich aus. Aber du hast mir nie erzählt, wer dir das angetan hat.“ „Es war ... Die Schläger gehörten zu einem ehemaligen Geschäftspartner von mir“, begann Seto, ihm nun wieder fest in die Augen sehend. „Als sein Unternehmen Pleite ging, kaufte ich es zu sehr günstigen Konditionen und gliederte es in die Kaiba Corp ein. Er warf mir später vor, ich hätte ihn in den Ruin getrieben, um mir seine Firma einzuverleiben.“ „Und ... hast du das getan?“ „Nein. An seiner Misere war er ganz allein schuld. Ich habe ihm von ein paar Geschäften abgeraten, die er getätigt hat – und am Ende nur hinter ihm die Scherben aufgekehrt. Aber was ich eben eigentlich sagen wollte ... Bevor wir beide uns getroffen haben, Joey ... Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ehrlich gelacht habe.“ „Dabei steht dir ein Lächeln so gut“, meinte Joey leise und senkte rasch den Blick, als er merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Seto schluckte, hob die Hand und strich sachte über seine Wange. Ruhig erwiderte er den fragenden Blick aus den Topasaugen, beugte sich näher zu Joey und verschloss dessen Lippen mit seinen. Die Schmetterlinge in Joeys Bauch tanzten Tango. Seine Hände legten sich, nach Halt suchend, auf Setos Schultern, während sich ein Arm Setos um seine Taille schlang. Wie aus dem Nichts fegte der Wind heran, einen wütenden Schrei mit sich tragend. Die beiden lösten sich voneinander und sahen sich um. „Hast du auch gerade was gehört?“, sagte Joey. „War sicher nur jemand in der Nachbarschaft.“ Joey war sich dessen nicht so sicher, sagte aber nichts weiter dazu. Er wollte lieber Setos Umarmung genießen. „Sind das da Sternschnuppen?“, fragte dieser und deutete zum Himmel. Joey folgte seinem Blick. „Dann wünsch dir schnell was.“ Sie sahen nicht das sanfte Glitzern, das sich von den Sternschnuppen löste und in ihre Richtung schoss. Sie hörten nicht, wie jemand in der Ferne lachte. Seto fühlte nur, wie ihm etwas ins rechte Auge kam und kniff es leise stöhnend zusammen. „Was hast du?“ „Nichts ...“, er blinzelte mehrmals und versuchte den unbekannten Störenfried durch Wischen aus seinem Auge zu entfernen, wodurch er ihn nur noch tiefer schob. „Ich habe nur was ins Auge bekommen.“ Auf der Rückfahrt probierte er, wenn sie an einer Ampel hielten, jedes Mal, sein Auge davon zu befreien, in der Annahme, dass es sich um eine Wimper oder ein Sandkorn handelte. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Ja, doch.“ Seto klang ungehalten. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße nahe am Hotel und ließ Joey aussteigen. Immer noch blinzelnd, schloss er ab und folgte seinem Freund. „Kommst du nicht mit?“, fragte Joey, als sich Seto dem Hotel zuwandte. „Ich habe Mai versprochen, ihr den Schlüssel in die Küche zu legen.“ „Okay.“ Joey gähnte verhalten. „Entschuldige, ich bin todmüde.“ „Dann geh ins Bett. Schlaf gut.“ Erneut stahl sich die Röte auf das Gesicht des Jüngeren. „Bekomme ... ich einen Gutenachtkuss?“ Seto sah sich um und schüttelte dann zu Joeys Enttäuschung den Kopf. „Wir sind zu nahe am Hotel“, brummte er zur Erklärung. „Ach“, winkte Joey ab. „Mein Vater wird sich damit abfinden müssen.“ Er streckte sich und drückte Seto einen kurzen Kuss auf den Mund. „Schlaf schön, Seto.“ „Du auch.“ Joey drehte sich um und verschwand mit einem seligen Lächeln im Wohnhaus. Nachdem Seto den Schlüssel hinterlegt hatte, begab er sich in sein Zimmer vor den Spiegel und untersuchte sein Auge noch einmal ausführlich, ohne zu entdecken, was ihn die ganze Zeit quälte. In der Nacht wickelte er sich eng in seine Decke ein und doch wurde er das Gefühl nicht los, innerlich zu frieren. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Seto saß in seiner Garderobe auf der Couch, die Beine übereinander geschlagen und eine Tasse Tee in der Hand. Sein Mittagessen, Rinderfilet mit frischen Pilzen, stand noch gänzlich unberührt vor ihm auf dem niedrigen Tisch. Er lehnte sich tief aufseufzend zurück und ließ sich gegen die weiche Lehne sinken. Kaum hatte er die Augen geschlossen, tauchte das Bild seines blonden Filmpartners vor ihm auf und sah ihn sanft lächelnd an. Er wusste nicht, was er von ihm halten sollte. Genauso wusste er nicht mehr, was er über sich selbst denken sollte. Katsuya – nein, Jonouchi! – war immer eine Nervensäge. Wo er hingeht, verbreitet er Chaos. Er ist die Personifizierung des Chaos. Das genaue Gegenteil all dessen, was ich schätze! Und trotzdem ließ ihn der Kuss, den sie vor der Kamera getauscht hatten, nicht los. Es war verwirrend, auf irgendeine verquere Weise hatte es sich richtig angefühlt. Kurz war in seinem Kopf sogar der Gedanke aufgeflackert, wie es sich anfühlen würde, ihn richtig zu küssen, ohne ein Dutzend Filmleute um sich herumstehen zu haben, ohne dass einer von ihnen es spielte. Warum nur konnte er ihn nicht weiter verachten, wie er es bisher getan hatte? Letzte Nacht hatte er sogar von einem Spaziergang mit Kat ... Jonouchi geträumt. Das musste daran liegen, dass Ryou und Shizuka so viele romantische Szenen in die Geschichte eingebaut hatten. Sein Geist verwechselte im Schlaf schon Realität und Spiel und gaukelte ihm Gefühle vor, die gar nicht da sein konnten. Nicht da sein durften. (2) „Sind alle so weit?“, fragte Ryou nach der Mittagspause. „Äh … Wo ist Mokuba?“ „Den habe ich gerade noch Richtung Toilette laufen sehen“, meinte Rebecca und schob sich das letzte Stück Putenbrustsandwich in den Mund. „Gut, dann warten wir noch kurz.“ Die Minuten verstrichen, erst fünf, dann zehn. Ryou wurde ungeduldig und schickte Noah, um nach ihm zu sehen. Als er die Herrentoilette betrat, hörte er Würgegeräusche. „Mokuba, bist du das?“ „Noah?“, kam es kläglich aus der ganz rechts liegenden Kabine. „Mir ist so schlecht …“ „Hast du was Falsches gegessen? Mach doch bitte die Tür auf.“ Ein Klicken ertönte, das rote Besetzt-Zeichen wurde weiß. Mokuba stieß die Tür auf und wandte sich wieder der Toilettenschüssel zu. Dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Aus der Kabine strömte ein scharfer, beißender Geruch. Noah zog die Nase kraus, kippte das Toilettenfenster und näherte sich Mokuba. „Wie ist das passiert?“, fragte er noch einmal. Er zog den Schwarzhaarigen behutsam auf die Beine, reichte ihm ein paar Blatt Toilettenpapier, um sich den Mund abzuwischen und betätigte die Spülung. Mokuba zitterten die Knie, er musste sich auf ihn stützen, damit er das Waschbecken erreichte. Mehrmals spülte er sich den Mund mit kaltem Wasser aus, ehe er zu sprechen begann. „Zu viele ... Kekse“, sagte er leise. „Tse“, schüttelte Noah den Kopf. „Ich hab dich gewarnt, so viel zu essen. Lass uns kurz ins Studio gehen und Ryou Bescheid sagen, dann besorge ich dir Kamillentee und bringe dich in unseren Aufenthaltsraum.“ „Nein, es geht schon. Nur Kamillentee und was zu knabbern.“ Noah kicherte leise. „Du bist genauso ein Sturkopf wie dein Bruder, Mokuba.“ Im Studio nahmen sich Anzu und Shizuka seiner an und versorgten ihn mit Tee und Zwieback. Katsuya setzte sich neben ihn und legte den Arm um ihn. „Warum hast du das gemacht, Mokuba? Du weißt doch, dass dir schlecht wird, wenn du zu viele Schokokekse isst.“ „... Wegen Seto.“ „Hat er dich etwa geärgert?“, fragte Katsuya ungläubig. Nein, unmöglich. „Sonst darf ich immer seinen Bruder spielen. Warum diesmal nicht?“, murrte der Kleine. „Also hast du aus Frust so lange gefuttert, bis dir schlecht geworden ist“, schlussfolgerte er. „Ach, Mokuba, wir haben dir doch erklärt, warum Ryou und Shizuka dich nicht in die Geschichte geschrieben haben. Würde Kaiba sein Vermögen verlieren, wäre das Jugendamt ganz schnell da, um ihm das Sorgerecht für dich zu entziehen und dich in einem Heim oder bei Pflegeeltern unterzubringen. Wärst du damit glücklicher?“ „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht“, gestand Mokuba verschämt und trank von seinem Kamillentee. „Entschuldigt, dass ich euch jetzt so viele Umstände bereite.“ „Hauptsache, dir geht es besser“, sagte Katsuya und verwuschelte ihm die Frisur. „Können wir dann weiter drehen?“, erkundigte sich Rebecca. „Ich habe heute noch ein Fotoshooting.“ Katsuya knuddelte Mokuba noch einmal und überließ dann wieder Anzu und ihrem Märchenbuch das Feld. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ In den ersten Tagen waren die Veränderungen, die mit Seto vonstatten gingen, so minimal, dass niemand, nicht einmal er selbst, etwas bemerkte. Zwar war ihm öfter kalt und für die Nacht legte er sich eine Wolldecke auf sein Bett, aber das schob er auf eine herannahende Erkältung. Die seltenen Momente, in denen sie ungestört waren, nutzten Seto und Joey zum Kuscheln. Der Blondschopf hatte erfreut festgestellt, dass sein Eisdrache ziemlich kuschelbedürftig war, hatte man seinen Panzer erst einmal durchbrochen. Eines Abends, sein Vater war schon ins Bett gegangen (oder eher gefallen, nachdem er allein eine Flasche Rotwein geleert hatte), entschloss sich Joey, Seto noch einen spätabendlichen Besuch abzustatten. Er trat in den verschneiten Hof hinaus und sah zu den Fenstern des Angestelltentraktes hoch. Zu seiner Verwunderung stand der Brünette am offenen Fenster und sah nach draußen. „Hey, Seto, was machst du da? Es ist eiskalt.“ „Den Schnee beobachten“, antwortete er, ohne den Blick von den Flocken auf seinem Fensterbrett abzuwenden. Joey seufzte und schüttelte leicht amüsiert das Haupt. Manchmal hatte sein Freund schon seltsame Marotten. Er stieg die Treppen hoch, ging in Setos Zimmer und legte von hinten die Arme um ihn. „Mach das Fenster zu“, bat er ihn. „Du bist schon ganz ausgekühlt.“ „Ich möchte den Schnee beobachten.“ „Das kannst du auch bei geschlossenen Fenstern.“ „Aber nicht so gut“, widersprach Seto. „Hast du dir so eine Schneeflocke schon mal aus der Nähe angesehen? Jede von ihnen ist einzig-artig und jede so ... perfekt.“ In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. „Ist alles mit dir in Ordnung?“ „Mir geht es bestens“, sagte der Brünette. „Sei bitte trotzdem so lieb und mach zu.“ Joeys Lippen berührten seinen Nacken. „Ich möchte nicht, dass du morgen mit Grippe im Bett liegst.“ Seto versprach es ihm. Trotzdem saß er am folgenden Abend wieder am Fenster und sah den Schneeflocken zu, wie sie zu Boden schwebten. Die Eiskristalle übten eine seltsame Faszination auf ihn aus, die er sich nicht erklären konnte. Er begann sie mit Blumen zu vergleichen und meinte schließlich, keine der Blumen, die im Garten der Wheelers wuchsen, komme an die Schönheit einer Eisblume heran. „Was redest du da?“ Als Rosenliebhaber fühlte sich Joey verletzt. „Perfektes Aussehen ist nicht alles. Sie vergehen viel schneller als echte Blumen.“ „Stimmt ...“, murmelte Seto mehr für sich selbst. „Es müsste ewig Winter sein.“ „Das ist nicht dein Ernst.“ „War nur ein Scherz“, lenkte er rasch ein, als er Joeys bestürztes Gesicht sah. Ob Scherz oder nicht, der Winter schien entschieden zu haben, Seto seinen Wunsch zu erfüllen. Am 20. Januar schneite es den ganzen Tag und die Sonne, die nur wenige schmale Lücken in den Wolken nutzen konnte, um sich überhaupt zu zeigen, tauchte Domino in ein diffuses Zwielicht. Drei Tage später, während denen fast ununterbrochen Schnee gefallen war, gesellte sich ein eisiger Wind aus Nordosten dazu, der sich bis zum Abend in einen ausgewachsenen Schneesturm verwandelte. Am nächsten Morgen wurde in der Frühnachrichtensendung des städtischen Radios gemeldet, dass der Flughafen von Domino aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse geschlossen werde, Dutzende Flüge mussten abgesagt werden. Ähnlich problematisch sah es bei den Zügen aus, die Schienen waren stellenweise komplett vereist. Busse und Autos kamen selbst mit Schneeketten nur noch schlecht vorwärts. Immer mehr brachte das Wetter den Verkehr zum Erliegen und leerte die Innenstadt. Wer die Möglichkeit hatte, blieb zu Hause in der warmen Stube. Joey betrachtete das Wetter mit gemischten Gefühlen. Er freute sich natürlich, dass sich ihm so die Gelegenheit bot, seinen Geburtstag richtig feiern zu können, ohne zur Schule zu müssen, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass der Schnee nichts Gutes mit sich brachte. Als er Mai darauf ansprach, meinte sie, dass er auf jeden Fall damit Recht habe, was die Gästezahlen anging. Im Schwarzen Rotauge war dieser Tage kaum etwas los, die meisten Gäste waren abgereist, als die ersten Sturmwarnungen herausgegeben worden waren. Am 25. Januar wachte Joey, obwohl er seinen Wecker heute extra ausgeschaltet hatte, schon früh am Morgen auf und konnte beim besten Willen nicht mehr einschlafen. Seit Tagen kreisten seine Gedanken (neben dem Wetter) auch immer wieder darum, was ihm Seto zum Geburtstag schenken würde. Er tat schon die ganze Zeit so geheimnisvoll, weigerte sich zu Joeys steigender Verzweiflung jedoch, ihm wenigstens einen kleinen Hinweis zukommen zu lassen, um was es sich handelte. Jetzt ärgerte er sich umso mehr, auf den Vorschlag seines Vaters eingegangen zu sein, seine Geschenke erst am Abend bei der großen Party zu bekommen, die Jonathan und Mai für ihn geplant hatten. Die beiden hatten darauf bestanden, seinen Neunzehnten gebührend zu feiern, wenn schon die Feier seines Achtzehnten wegen der damals noch herrschenden Trauer um Mutter und Schwester ausgefallen war. Da Seto arbeiten musste (Jonathan fand selbst in dieser Flaute noch Aufgaben, mit denen er ihn zumindest für eine Weile von seinem Sohn fernhalten konnte), vertrieben sich Joey und Ryou die Zeit mit Kartenspielen. Kurz vor dem Mittagessen klarte es zum ersten Mal seit Tagen etwas auf, was sie gleich für eine Schneeballschlacht ausnutzten, von der sie eine halbe Stunde später nass und durchgefroren ins Haus zurückkehrten und sich in warme Decken gehüllt vor den Kamin setzten. Mai lachte lediglich amüsiert und machte ihnen eine große Kanne Kräutertee, um sie von innen wieder aufzuwärmen. „Wenn es so bleibt, können wir vielleicht noch zum Schlittschuhlaufen“, überlegte Joey und streckte die Hände näher an das Feuer, um sie zu wärmen. „Ich weiß nicht“, erwiderte Ryou bedächtig. „Mir erscheint es eher wie die Ruhe vor dem Sturm.“ (3) Wie Recht er damit behalten sollte, zeigte sich keine zwei Stunden später. Riesige, dunkle Wolken brauten sich über der Stadt zusammen und verfinsterten den Himmel, dass sie die Lampen anschalten mussten, um überhaupt etwas zu sehen. Hatten sie das Wetter der letzten Tage für schlimm erachtet, war dies nichts im Vergleich zu dem Unwetter, das nun über sie hinwegfegte. Der Sturm drückte Schnee und Hagel gegen die Fenster, dass die Gefahr bestand, er könnte sie damit zerschmettern. Kurz nachdem es drei Uhr geschlagen hatte, fuhr auf der Straße vor dem Hotel ein Pferdeschlitten vor, dem ein Mann, gekleidet in einen langen, silberweißen und mit hellblauen Perlen bestickten Mantel mit passender Pelzkappe, entstieg. Für die heutige Zeit ein sicher seltsam anmutendes Fortbewegungsmittel, in Anbetracht der Witterung jedoch eines der wenigen, mit denen man überhaupt vorwärts kam. Er ging gemessenen Schrittes auf das Hotel zu, als würde ihn der Sturm, der an seinem Mantel zog, überhaupt nicht stören. In der Eingangshalle wischte er sich mit einer lässigen Handbewegung den Schnee von Schultern und Kappe und betätigte die Messingglocke am Empfangstresen. Der Portier, der sich im Hinterzimmer einen Kaffee gegönnt hatte, fuhr von seinem Stuhl auf und eilte hinaus. „Guten Tag, werter Herr, ich heiße Sie herzlich im Schwarzen Rotauge willkommen“, sagte er, seine Überraschung über den unangemeldeten Gast mit einer tiefen Verbeugung verbergend. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ „Ich möchte ein Zimmer“, sagte der Fremde und blickte sich aufmerksam in der Halle um. „Selbstverständlich. Wünschen Sie ein bestimmtes? Wie lange möchten Sie bleiben?“ „Ich bleibe nur für eine Nacht.“ Der Portier rief die Zimmerbelegungsliste auf seinem Computer auf. „Dann habe ich für Sie eine sehr schöne Suite im ersten Stock. Wie ist bitte Ihr Name?“ „Maximillian Pegasus“, sagte dieser und legte einen Pass auf den Tresen. Der Portier übernahm aus diesem die Daten, speicherte ab und legte Pegasus ein in schwarzes Leder gebundenes Buch und einen Füller vor. „Würden Sie sich bitte in unser Gästebuch eintragen? Es ist eine alte Tradition unseres Hauses.“ Der Silberhaarige kam der Bitte des Mannes mit einem Lächeln nach und war gerade dabei, seinen Namen an die angezeigte Stelle zu setzen, als Jonathan aus seinem Büro kam. „Oh, ein neuer Gast. Willkommen, ich bin der Besitzer des Hotels, Jonathan Wheeler“, sagte er und schüttelte ihm die Hand. „Sie haben ein schönes Hotel.“ Pegasus sah sich um. „Ich bin sicher, hier werde ich mich wohl fühlen.“ „Vielen Dank. Entschuldigen Sie die Frage, aber ... Wie haben Sie es bei diesem Wetter geschafft, zu reisen? Der Flughafen ist gesperrt, wegen dieses fürchterlichen Sturms, Sie verstehen.“ „Ich verspreche Ihnen, dass der Sturm morgen aufhören wird“, sagte Pegasus. „Und was meine Reise anbelangt ... Mein Schlitten steht draußen. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie sich um meine Pferde kümmern würden.“ „Ähm ... selbstverständlich“, sagte Jonathan irritiert. „Haben Sie Gepäck?“ „Nur das hier“, erwiderte er und zeigte auf einen kleinen Koffer, den er neben sich abgestellt hatte. „Kaiba!“, wandte der Portier den Kopf zum Hinterzimmer, aus dem Seto kam. „Bring das Gepäck unseres neuen Gastes auf Zimmer 108.“ Er nahm den entsprechenden Zimmerschlüssel aus einem Schrank hinter dem Empfangstresen und reichte ihn Pegasus. „Einen angenehmen Aufenthalt in unserem Haus, Herr Pegasus.“ „Oh, den werde ich ganz gewiss haben“, meinte er und spazierte, den Schlüssel am Finger kreisend, zum Aufzug. Seto ächzte leise, als er den Koffer anhob. Er war lange nicht so leicht, wie er aussah. Was hat der eingepackt, Ziegelsteine? Er folgte Pegasus, betrat hinter ihm den Aufzug und drückte den Knopf für das erste Obergeschoss. Mit einem leisen Rattern schloss sich die Tür und der Lift setzte sich in Bewegung. Während der kurzen Fahrt musterte Seto den Mann neben sich unauffällig. Er war selbst groß, aber Pegasus überragte ihn noch etwas. Silbergraues Haar umrahmte ein attraktives Gesicht mit Augen in der Farbe von Bernstein, die belustigt zu ihm herüberblitzten. Rasch richtete sich Setos Blick wieder auf die Tür, die Sekunden darauf auf glitt und sie auf den Flur entließ. „Bitte hier entlang“, sagte er nach einem kurzen Räuspern und übernahm, wie er es inzwischen bei Gästen, die zum ersten Mal im Hotel eincheckten, gewohnt war, die Führung. Pegasus schloss mit wenigen Schritten zu ihm auf. „Arbeitest du schon lange hier?“, erkundigte er sich höflich. „Seit Anfang Mai.“ „Und macht dir die Arbeit Spaß?“ „Kann ... man so sagen.“ Seto blieb vor Zimmer Nummer 108 stehen, schloss auf und trat beiseite. „Ihr Zimmer, Sir.“ Pegasus schritt an ihm vorbei und sah sich aufmerksam in den Räumlichkeiten um. Über einen kleinen Vorflur gelangte man in den mit einer Sitzgarnitur und Fernseher ausgestatteten Wohnraum, von dem eine Tür zum Bad, eine weitere ins Schlafzimmer führte. Er ließ sich auf dem breiten Doppelbett nieder und strich über die rote Überdecke. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“ „Was ich bisher gesehen habe, gefällt mir sehr gut“, sagte Pegasus. Er sah auf und lächelte Seto an. „Stell den Koffer da hin.“ Er deutete auf einen kleinen Tisch und einen Sessel am Fenster. Seto setzte das Gepäck an der angegebenen Stelle ab, erleichtert, von dem schweren Koffer befreit zu sein. „Haben Sie noch einen Wunsch?“ „Magst du dich nicht eine Weile zu mir setzen?“ Pegasus klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Ich muss an die Arbeit zurück, Sir“, entschuldigte sich der Brünette. „Ach komm, die fünf Minuten wirst du doch haben. Du hast mich nach meinen Wünschen gefragt und mein Wunsch ist, dass du mir etwas Gesellschaft leistest.“ Der intensive Blick, mit dem er ihn dabei bedachte, sagte eindeutig, dass er nicht zu den Männern gehörte, die Widerspruch ohne weiteres zuließen. Seto nahm am anderen Ende des Bettes Platz. „Nein, nein.“ Pegasus wackelte mit dem Zeigefinger in der Luft, als schimpfe er ein kleines Kind aus und winkte ihn dann zu sich. „Hierher.“ Sein Gegenüber stieß einen leisen Seufzer aus und rutschte näher zu ihm, bis sie direkt nebeneinander saßen. „Schon besser. Ist Kaiba dein Vorname?“ „Mein Nachname, ich heiße Seto Kaiba.“ „Du gefällst mir“, sagte Pegasus und beugte sich näher zu ihm. Seto schluckte. Irgendwie jagte ihm dieser Mann einen kalten Schauer über den Rücken und gleichzeitig schaffte er es nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Auf eine seltsame Art und Weise war er von ihm fasziniert. Er zuckte zusammen, als er eine Hand über seine streichen fühlte. „Entschuldigen Sie“, er wunderte sich über seine belegte Stimme, „das Zimmer war einige Tage nicht belegt und ist durch das Wetter etwas ausgekühlt. Ich mache Ihnen die Heizung an.“ Als er Anstalten machte, sich zu erheben, hielt Pegasus ihn zurück. „Das ist nicht nötig. Mir ist nicht kalt. Oder sehe ich für dich aus, als würde ich frieren?“ Bernsteinfarbene Augen versenkten sich in blaue. Stumm schüttelte Seto den Kopf. Bedächtig, um ihn nicht zu verschrecken, hob der andere die Hand und strich ihm über die Wange. Ein weiterer Schauer durchlief ihn, Pegasus’ Finger waren kalt wie Schnee. „Du hast sehr schöne Augen. Ein außergewöhnlicher Farbton.“ Er umfasste das Kinn Setos, der langsam nicht mehr wusste, was er von dieser ganzen Dreistigkeit halten sollte. Er sollte aufstehen, ihm sagen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung sei ... aber er konnte nicht. Über seine Lippen kam lediglich ein leises Keuchen, als sich Pegasus noch etwas weiter vorbeugte, bis dessen Kopf auf gleicher Höhe mit seinem war und er heißen Atem an seinem Ohr spürte. „Ich bleibe nur für eine Nacht hier. Komm heute Abend zu mir.“ Vollkommen verdattert bemerkte Seto, wie ihm ein Geldschein in die Hand gedrückt wurde. So etwas war ihm während seiner ganzen Arbeitszeit hier noch nie passiert. Nun wurde es ihm aber doch zu viel. „Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie missverstehen da etwas“, sagte er und stand auf. „So etwas gehört nicht zu meinen Aufgaben. Mit Ihrer Erlaubnis begebe ich mich jetzt wieder an meine Arbeit.“ Pegasus hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte dich damit keinesfalls beleidigen. Überleg es dir, mein Angebot steht bis zu meiner Abreise.“ Immer noch nachdenklich kam Seto in die Eingangshalle zurück, wo ihn Joey mit einem vorwurfsvollen Blick erwartete. „Wo warst du so lange? Ich dachte, du wolltest uns beim Vorbereiten des Saales helfen.“ „Eben ist ein neuer Gast angekommen, den ich auf sein Zimmer bringen musste.“ „Sonst geht das doch immer so schnell bei dir.“ „Bei manchen dauert es nun mal etwas länger“, gab Seto schnippisch zurück. Er hatte jetzt keine Lust, mit Joey über seine Arbeitsmethoden zu diskutieren. „Okay, war ja nur ’ne Frage. Aber zur Feier heute Abend kommst du – oder hast du was anderes vor?“ „Ich komme ganz sicher, versprochen. Das lasse ich mir doch nicht freiwillig entgehen.“ Joey lächelte zufrieden, warf schnell einen Blick um sich und küsste ihn. „Gut. Wenn du nämlich nicht kommst, werde ich sehr böse auf dich werden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)