Der Eisfürst von moonlily (Splitternde Erinnerungen) ================================================================================ Kapitel 2: Zerfallene Träume ---------------------------- Vielen Dank an euch alle für eure Kommentare. ^____^ Und nun ohne Umschweife: Vorhang auf! (1) http://www.youtube.com/watch?v=vFomKMptUe0 Roran leaves – Eragon (2) http://www.youtube.com/watch?v=GFLMLHPVhaw Way of Live – Last Samurai OST Kapitel 2 Zerfallene Träume (1) Über ein Jahr war vergangen, seit Serenity und Susan Wheeler im Schneetreiben von der Straße abgekommen und tödlich verunglückt waren. Der Schnee, der in den ersten Wochen nach ihrem Tod das Grab bedeckt hatte, war bald von Krokus und Osterglocken vertrieben worden. Im Sommer hatte Joey ihnen Rosen gebracht, die er von den Rosenstöcken abgeschnitten hatte, welche hinter dem Hotel im Garten wuchsen. Früher hatten er und Serenity zusammen dort gearbeitet, nun kümmerte er sich allein um die Rosen. Im Herbst hatte er ihr Grab mit Chrysanthemen und bunten Blättern geschmückt und es den Winter über mit Lebensbaumzweigen abgedeckt. In diesen Monaten hatte man ihn selten draußen gesehen. Mit der gleichen Inbrunst, mit der er den Winter früher geliebt hatte, hasste er ihn nun, denn er hatte ihm die Menschen genommen, die ihm am wichtigsten waren. Seine Leistungen in der Schule waren seither gesunken, doch das kümmerte ihn nicht. Als es zu schneien begann, verkroch er sich bei Mai, die im Hotel seines Vaters als Köchin arbeitete, in der Küche und warf kaum einen Blick auf das Treiben der Flocken, das ihn früher so fasziniert hatte. Mai, die seit mehreren Jahren für die Wheelers arbeitete und mit Joey gut befreundet war, wusste nicht, wie sie den Jungen aufheitern sollte. An manchen Tagen, wenn die Kinder draußen lachten und sich mit Schneebällen bewarfen, schaffte sie es nicht einmal mit ihren besten Kuchenkreationen, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern und auch sein Vater verfiel immer wieder in Lethargie. Dann saß er still vor dem Feuer, eine Tasse mit dampfendem Tee neben sich, und starrte in die Flammen. Doch der Winter verging und als das Gras wieder unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kam und der Garten nach und nach wieder grün wurde, kehrte auch ein wenig von Joeys Lächeln zurück. Allerdings war es nicht mehr so frei und unbefangen wie früher und häufig lächelte er nur, damit sich seine Freunde keine Sorgen um ihn machten. Er stand nun im dritten Jahr der Oberschule, nur noch ein Jahr und er hatte seinen Abschluss in der Tasche. Nach dem derzeitigen Stand würde es nur ein knapp durchschnittlicher werden, für einen guten waren seine Noten immer noch zu schlecht, aber er bemühte sich wieder etwas mehr, seinem Vater zuliebe. Wenn dieser gerade nicht am Kamin saß und über sein Leben grübelte, vergrub er sich in seiner Arbeit und bescherte dadurch dem Hotel Zum Schwarzen Rotauge der Krise, die die Wirtschaft erfasst hatte, zum Trotz, einen beachtlichen Umsatz. Da die Arbeit immer mehr wurde und eines der Dienstmädchen wegen einer Hochzeit und kurz darauf festgestellter Schwangerschaft kündigte, entschloss sich Jonathan, eine Anzeige in der Zeitung zu schalten und nach einem neuen Hotelpagen zu suchen. (2) Seto Kaiba ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die große Penthousewohnung schweifen, die er bis vor kurzem sein Eigen genannt und in den letzten drei Jahren bewohnt hatte. Er fühlte sich immer noch außer Stande zu begreifen, wie es zu diesem absoluten Desaster hatte kommen können. Vor vier Jahren hatte ihn sein Ziehvater Gozaburo zu einer Wette herausgefordert, um sein geschäftliches Geschick auf die Probe zu stellen. Er hatte ihm die Summe von einer Million überlassen, die er innerhalb eines Jahres verzehnfachen sollte. Seto hatte einige kluge Investitionen getätigt und es so geschafft, nicht nur die Forderung Gozaburos zu erfüllen, sondern vielmehr seine ganze Firma zu übernehmen. Stück für Stück hatte er die Aktien der Kaiba Corp aufgekauft, bis er zum Mehrheitseigner geworden war. Gozaburo hatte daraufhin wutentbrannt die Stadt verlassen und war danach nicht mehr gesehen worden. Seto hatte die Firma vollständig umgekrempelt und drei Jahre lang mit großem Erfolg geführt, bis ... Ja, bis völlig unvorhergesehen diese Wirtschaftskrise hereingebrochen war. Praktisch über Nacht war der Wert der Aktien in den Keller gesunken und schließlich hatte er feststellen müssen, dass er bankrott war. Eine bittere Erkenntnis. Hatte er seit seiner Adoption mit zehn Jahren in purstem Luxus geschwelgt, auch wenn ihm Gozaburo bei seiner Erziehung sehr viel abverlangt hatte, blieb er nun in tiefster Armut zurück. Ebenso enttäuscht hatte er feststellen müssen, dass sich seine ehemaligen Geschäftspartner, von denen er viele als Freunde betrachtet hatte, von ihm abwandten und sich weigerten, ihm zu helfen. Die meisten hatten durch die Krise selbst genug Probleme und niemand war bereit, ihn bei sich einzustellen. Bei einigen hingegen schien es Schadenfreude darüber zu sein, dass er, der als Jugendlicher einen derartig steilen Aufstieg hingelegt hatte, nun von seinem Thron gezerrt wurde. Alles, was er noch besaß, hatte er in einem kleinen Koffer verstaut, den er in der Hand hielt. Unter seinem Arm klemmte die heutige Ausgabe der Daily Domino, einer städtischen Tageszeitung. Es war ein seltsames, ungewohntes Gefühl gewesen, sich durch den Anzeigenteil zu blättern mit der Absicht, eine Arbeitsstelle zu finden. Er, der große Seto Kaiba, der mit fünfzehn Jahren die Kontrolle über einen weltweit agierenden Konzern übernommen hatte, war nun mit achtzehn gezwungen, sich wie jeder andere Sterbliche dieses Planeten einen Job zu suchen, um sein Überleben zu sichern. Heute begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt und er hatte nicht vor, sich hängen zu lassen, auch wenn ihm das Leben einen ziemlichen Schlag ins Gesicht verpasst hatte. Das passte nicht zu ihm. Seto straffte sich, drehte sich um und schloss hinter sich die Tür. Jonathan war dabei die Post durchzugehen, als Mai an seine Bürotür klopfte. „Was ist denn?“ „Da ist ein junger Mann gekommen, der sich bei dir als Hotelpage bewerben möchte.“ „Lass ihn hereinkommen.“ Mai nickte ihm zu und verschwand, um den Besucher zu holen. Kurz darauf klopfte es erneut und ein junger Mann betrat das Büro. „Guten Tag, Mr. Wheeler.“ „Guten Tag. Ähm ... wie war noch der Name?“ „Seto Kaiba“, stellte er sich vor. Kaiba ... Da klingelte doch etwas bei ihm. Jonathan überlegte und betrachtete seinen potenziellen künftigen Angestellten genauer. Sportliche Figur, braune Haare, eisig blickende blaue Augen ... Ja, die hatte er schon einmal gesehen, nur dass damals ein hochmütiger Ausdruck in ihnen gelegen hatte. Als er Kaiba aus Versehen angerempelt hatte, gerade als dieser aus seiner Limousine steigen wollte, und stattdessen einen Satz in die nächste Pfütze gemacht hatte. Aus der Diskussion über den Ersatz für die beschmutzte Kleidung und das zerstörte Handy war schnell ein handfester Streit geworden, der für Jonathan mit einer Anzeige wegen Körperverletzung und einer saftigen Geldbuße ausgegangen war. Und jetzt stand er wieder vor ihm, doch die Situation war eine ganz andere. Jonathan warf einen Blick auf Setos Lebenslauf. „Hmm ... also gut, ich werde es mit dir versuchen, Junge. Als Hotelpage stehst du auf der untersten Stufe unserer Hierarchie. Du bringst die Koffer der Gäste aufs Zimmer und bei ihrer Abreise nach draußen, gibst den Gästen Auskunft auf ihre Fragen und kümmerst dich um alle anderen Tätigkeiten, die so nebenbei anfallen. Und solltest du auf die Idee kommen, dich mit einem unserer Gäste näher einzulassen, wirst du schneller hier rausfliegen als aus deiner Firma. Verstanden?“ Setos Mundwinkel verzogen sich nur minimal, bevor er nickte. Hätte er nicht das Geld so dringend gebraucht, wäre er nie auf die Idee gekommen, hier anzufangen. Wenn er denjenigen ausfindig machte, der für diese verdammte Krise verantwortlich war, den würde er in Grund und Boden verklagen – aber dafür brauchte er ja auch wieder Geld. Mist. „Gibt es noch Unklarheiten?“, erkundigte sich Jonathan, als Seto nicht antwortete und nur Löcher in seinen Schreibtisch starrte. „Nein.“ „Das heißt ‚Nein, Sir’“, korrigierte er ihn süffisant und entlockte Seto ein leises Knurren. Oh, er würde es genießen, sich an ihm zu rächen. „Nein, Sir“, wiederholte Seto, nachdem er sich in Gedanken zur Ruhe gemahnt hatte. „Mai!“ Selbige betrat Augenblicke später den Raum, als hätte sie vor der Tür gewartet. „Zeig Kaiba sein Zimmer und gib ihm dann seine Uniform.“ Die meisten Angestellten lebten wegen des Schichtdienstes in einem U-förmig angelegten Nebengebäude des Hotels, wo sich auch die Privatwohnung der Wheelers befand. Mai brachte Seto zu einem Raum im ersten Stock, der schlicht mit Bett, Schrank und Sitzgelegenheit samt Tisch eingerichtet war. Ade, du schöne große Couchgarnitur und extra breites Bett. Er fühlte sich ernüchtert. „Zieh dich um und dann komm runter, damit unser Portier dich einweisen kann, Seto“, sagte Mai. „Es wäre mir lieber, wenn Sie mich Kaiba nennen.“ „Was bist du denn für einer?“, kicherte Mai, doch das Lachen verging ihr schnell, als sie sein Gesicht sah. „Bitte, wie du meinst. Aber ich rate dir, dich unserem Chef und den Gästen gegenüber anders zu benehmen.“ Damit ließ sie ihn allein. Im Schrank entdeckte er mehrere Uniformgarnituren, in edlem Rot gehalten, dazu eine kleine Kappe. „Ich glaube nicht, dass ich das tue“, murmelte er und begann sich umzukleiden. „Also dann, bis morgen, Ryou“, verabschiedete sich Joey von seinem Freund, als sie an der Straßenecke waren, die zum Hotel abzweigte. „Wir sehen uns in der Schule.“ Ryou hob kurz die Hand und trottete dann in die andere Richtung davon nach Hause. Joey sah ihm lächelnd nach, bis er verschwunden war. Sobald von seinem besten Freund nichts mehr zu sehen war, erstarb das Lächeln auf seinen Lippen und der alte, leicht melancholische Ausdruck kehrte in seinen Blick zurück. Er wusste nicht, was er tun sollte. In letzter Zeit kam es öfter vor, dass sein Vater in seinen Tee einen Schuss Kognak mischte und Joey hatte den Eindruck, dass dieser Schuss mit jedem Mal größer wurde. Das machte ihm Sorgen. In seine Gedanken versunken, achtete er nicht auf die Straße und riss erschrocken den Kopf hoch, als er gegen jemanden stieß und nach hinten stürzte. Sein Rucksack rutschte ihm von der Schulter, als sein Hosenboden Bekanntschaft mit dem harten Pflaster des Weges machte. Verdattert setzte er sich auf und sah geradewegs in zwei blaue Augen, die ihn verärgert musterten. „Kannst du nicht besser aufpassen, wo du hinläufst, Köter?“, fragte Seto und machte sich daran, die Koffer aufzuheben, die ihm heruntergefallen waren, und auf dem Gepäckwagen zu verstauen. „Wie hast du mich eben genannt?“, fragte er und stand auf. „Du hast mich schon verstanden, Straßenköter. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss arbeiten.“ Die letzten Worte spie er fast aus, als wären sie Gift. Der erste Tag und wie sehnte er sich bereits jetzt nach seinem Schreibtisch zurück! Mr. Wheeler hielt ihn gehörig auf Trab, alle paar Minuten läutete die Messingglocke am Empfang und rief ihn, um für die Gäste die Koffer zu schleppen oder sonst irgendwelche Botendienste zu erledigen, für die sich kein anderer fand. Wie erniedrigend das alles war! Er hatte ein Heer von Angestellten befehligt und in zwei Stunden sollte er die beiden weißen Pudel von Frau Kazuoka Gassi führen. Die Welt stand Kopf. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor“, stellte Joey fest, als er ihn näher betrachtete. „So? Na, meinetwegen“, brummte Seto und wuchtete eine große Reisetasche auf den Gepäckhaufen. „Vater scheint ja echt dringend wen zu brauchen, wenn er so was Unfreundliches einstellt“, murmelte Joey und schlenderte zum Wohnhaus hinüber. Sein erster Weg, nachdem er Schulsachen und Jacke in sein Zimmer gebracht hatte, führte ihn in den Garten. Um den größten Teil des Gartens kümmerte sich der Gärtner, einzig die Beete, in denen die Rosen standen, pflegte Joey selbst. An diese durfte niemand sonst dran. Die Rosenstämmchen bildeten junge Triebe mit zartgrünen Blättern aus. Noch ein paar Wochen und sie würden in voller Blüte stehen. Er prüfte kurz, ob die Erde noch locker genug war und sie genug Wasser hatten und ging anschließend ins Hotel hinüber, um seinen Vater zu begrüßen. Dieser nickte ihm lediglich kurz zu und widmete sich dann sofort wieder seiner Arbeit. Der Junge schloss leise die Bürotür und überließ ihn seinem Schreibtisch. Besser er arbeitete, als dass er wieder trank und sich in seiner Trübsal vergrub. Letzteres tat Joey schon zur Genüge. In der Küche traf er auf Mai, die mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war. „Hi, Joey, wie war die Schule?“, fragte sie und blies sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus der Stirn, während sie den Teig für eine Pastete bearbeitete. „Wie immer, nix Besonderes.“ „Hast du schon unseren Neuzugang kennen gelernt? Es hat sich jemand auf die Anzeige deines Vaters gemeldet, als Hotelpage.“ „Ja, ich hatte die zweifelhafte Ehre.“ „Was soll das denn heißen?“ Mai sah von ihrem Teig auf, ohne das Kneten einzustellen. „Er sieht doch ganz süß aus.“ „Dann war das vielleicht der Grund, warum er die Stelle gekriegt hat. Sein Benehmen kann es jedenfalls nicht sein.“ „Also ...“, Mai räusperte sich. „Es gab ein paar Monate im letzten Jahr, da wirktest du auch nicht gerade so, als hättest du einen Knigge verschluckt und –“ „Was für Pastete gibt es denn heute?“ „Rehpastete“, antwortete die Köchin. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Joey das Thema wechselte, sobald sie auf diese Zeit zu sprechen kam. „Klingt lecker.“ Er hob den Deckel eines Topfes an. „Und das hier?“ „Die Gemüsesuppe für die Angestellten. Du kannst dir eine Kelle voll nehmen, wenn du magst, ich habe genug gemacht.“ Das ließ sich Joey nicht zweimal sagen. Wenn er aus der Schule kam, hatte er immer Hunger. Er setzte sich mit seinem Teller zu ihr an den Tisch und begann die Suppe zu löffeln. „So, was war das denn nun für eine zweifelhafte Ehre, die du mit dem Neuen hattest?“ „Ich hab ihn aus Versehen angerempelt und er hat mich als Köter beschimpft!“ „Ohh ... Und was hast du jetzt vor?“ „Ich gehe zu Vater und beschwere mich“, erwiderte Joey nach kurzem Überlegen. „Wenn er so unfreundlich ist, schadet das unserem Haus.“ „Na ja, schon ... Aber heute ist sein erster Tag.“ „Wäre ich ein Gast, hätte unser Hotel schon längst eine Beschwerde auf dem Tisch. Das hat Vater immer gepredigt, der Kunde ist König.“ „Lass ihm wenigstens ein paar Tage, um sich einzugewöhnen“, sagte Mai. „Okay, okay, meinetwegen“, zuckte Joey mit den Schultern. Seto fiel an diesem Abend wie tot ins Bett. So erschöpft hatte er sich selbst in den arbeitsreichsten Wochen vor Weihnachten nie gefühlt, wenn er praktisch nicht mehr aus seinem Büro heraus- und nach Hause gekommen war. Arme und Beine taten ihm von der ungewohnten körperlichen Arbeit weh und sein Rücken fühlte sich an, als wäre er mitten durchgebrochen. Er wusste nicht, wie viele Koffer er heute geschleppt hatte; eine achtköpfige Reisegruppe war gekommen und natürlich hatte jeder von ihm gefordert, dass sein Gepäck zuerst aus dem Kleinbus geholt wurde, mit dem die Gäste vom Flughafen abgeholt worden waren. Die Nacht war für Seto kurz, er musste früh heraus und seinen Platz an der Eingangstür einnehmen, bevor die ersten Gäste zum Essen in den Frühstücksraum des Hotels gingen. Er selbst konnte sich nur rasch bei Mai ein Käsebrot abholen und eine Tasse Kaffee trinken, für mehr ließ ihm Mr. Wheeler keine Zeit. Das Wissen, seinen einstigen Gegner nun nach Herzenslust durch sein Hotel scheuchen zu können und ihm die Arbeit zuzuteilen, bereitete ihm eine fast diebische Freude. Seto hörte bald auf zu zählen, wie oft die kleine Messingglocke am Empfang geläutet wurde, um ihm zu sagen, dass eine neue Aufgabe auf ihn wartete. Mit jedem Mal, dass er beim Portier oder bei Mr. Wheeler persönlich erschien, um seinen Auftrag abzuholen, wurde sein Unmut größer. Was tue ich hier überhaupt? Ich sollte, wenn schon nicht in meiner eigenen Firma, im Vorstand irgendeines Konzerns sitzen und mich mit wichtigen Themen beschäftigen und Entscheidungen fällen. Ich sollte die Aktienkurse studieren, statt den Leuten die Zeitung aufzubügeln. Es musste doch wenigstens eine Firma auf diesem verdammten Planeten geben, die ihn in einem höheren Rang einstellen wollte! Pling! Pling! „Kaiba, hierher!“, rief Mr. Wheeler. „Die Herrschaften möchten ihre Koffer heute noch aufs Zimmer gebracht haben.“ Seto brummte leise und begab sich zum Empfang, wo ein junges Ehe-paar aus Amerika mit einem Berg von Koffern und Reisetaschen auf ihn wartete. Als sich Seto am späten Nachmittag gerade eine kurze Pause gönnte, kam Michael, der Oberkellner des Restaurants, zu ihm und bat ihn, aus dem Garten schnell ein paar frische Blumen zu holen. Der Wagen des Floristen, der sie sonst lieferte, hatte einen Unfall gehabt. Miss-mutig ging er nach draußen und ließ sich vom Gärtner eine Rosenschere und einen flachen Korb geben. Er streifte durch die Gartenanlage und schnitt wahllos Flieder, Maiglöckchen und Bärlauchblüten sowie etwas Efeu ab. Sollten doch die Kellner sehen, wie sie daraus etwas für die Tische arrangierten, das war nicht seine Sache. Schließlich wandte er sich den Rosenbeeten zu. Die meisten Büsche und Rosenstöcke waren gerade erst dabei, Knospen zu bilden, nur bei einem weiß blühenden Rosenbusch waren sie schon etwas weiter. Seto wollte den zarten Blüten gerade mit seiner Schere zu Leibe rücken, als ihn ein entsetztes „Halt, nicht die Rosen, Kaiba!“ herumfahren ließ. Mai kam mit fliegenden Röcken auf ihn zu gerannt. „Was denn, ich denke, ich soll Blumen für das Restaurant schneiden.“ „Ja, schon, aber keine Rosen. Die gehören dem Sohn des Chefs.“ „Mr. Wheeler hat einen Sohn?“ Wird ja ein ziemlicher Milchbubi sein, wenn der sich wegen ein paar Blumen so anstellt, dachte Seto. „Du verstehst das nicht“, sagte Mai, „aber Joey hängt sehr an seinen Rosen. Außer ihm hat niemand das Recht, sich um sie zu kümmern.“ Er zuckte mit den Schultern, steckte die Schere in den Korb und machte sich auf den Rückweg ins Haupthaus der Hotelanlage, um die Blumen im Restaurant abzuliefern. Mai hatte ihn nach ein paar Schritten eingeholt und begleitete ihn zurück. „Du kannst Feierabend machen, wenn Michael die Blumen hat“, sagte sie. „Komm dann zu mir in die Küche, die andern haben schon gegessen.“ Sein Magen knurrte seit Stunden leise vor sich hin, außerhalb der kurzen Speisezeiten, die für die Hotelangestellten vorgesehen waren, war er vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen, irgendetwas zu essen. Jonathan Wheeler bedachte ihn mit einem unzufriedenen Blick, als er das Foyer betrat und fragte ihn, warum er so lange gebraucht habe, um einen einfachen Auftrag auszuführen. „Ich habe mich beeilt, so gut ich konnte. Ihr Garten ist groß, Sir“, erwiderte Seto, wobei er die letzte Silbe nur stirnrunzelnd über die Lippen brachte. „Geh jetzt, dein Essen wartet“, sagte Mr. Wheeler dann, nachdem er Seto noch einmal scharf angesehen hatte. Der Brünette hatte die Tür zur Küche noch nicht geöffnet, als er schon einen Schrei und ein darauf folgendes lautes Fluchen hörte. „Stell dich nicht so an“, drang Mais Stimme nach draußen. „Sonst machst du auch nicht so einen Terz.“ „Sonst rückst du auch nicht gleich mit Wasserstoffperoxyd zum Desinfizieren an“, gab eine männliche Stimme zurück. „Das brennt.“ „Das andere Desinfektionsspray ist aufgebraucht“, sagte sie. Seto öffnete die Tür einen Spalt breit und schob sich in die Küche. Wenn Mai für jemanden Krankenschwester spielte, bitte, aber er würde nicht warten, bis sie fertig war, um sein Essen zu holen. Vor ihr, den Rücken der Tür zugewandt, saß ein blonder Junge auf einem Schemel, baumelte mit den Füßen und murrte, wann immer Mai den großen Wattetupfer auf seine Stirn drückte. „Du kannst froh sein, dass das nicht genäht werden muss“, sagte sie. „Hmpf, ich möchte nur eine Woche erleben, in der du ohne einen blauen Fleck nach Hause kommst.“ „Ach, Mai, das war doch nichts weiter“, winkte er ab. „Bloß ’ne kleine Rauferei.“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf und klebte ihm ein großes Pflaster auf die Stirn. „So, fertig, du Rabauke.“ Mai sah auf. „Ah, Kaiba. Dein Essen steht da drüben im Backofen.“ Er nahm sich einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit dem Auflauf, den Mai zum Warmhalten in den Ofen zurückgestellt hatte. „Danke, Mai“, sagte Joey und betastete sein Pflaster. „Bleib von der Wunde weg. Und jetzt ab mit dir an die Hausaufgaben, Kleiner.“ Er hüpfte von dem Schemel herunter. Im gleichen Moment trat Seto von der heißen Ofentür zurück und fühlte Joeys Ellbogen im Rücken. Der Warnruf von Mai kam zu spät, ihre Füße gerieten durcheinander, sie stolperten, der Teller mit dem Essen flog durch die Luft und landete krachend auf den hellen Bodenfliesen. Seto und Joey strauchelten, versuchten sich noch an den Möbeln festzuhalten und stürzten ebenfalls. In einem heillosen Durcheinander kamen sie auf dem Fußboden auf. „Aaauuu ...“, jaulte Joey. „Du Tölpel, kannst du nicht besser aufpassen!“, blaffte Seto und rieb sich das Steißbein. Dann erkannte er den Jungen. „Du schon wieder!“ „Kaiba“, Mai stieß ihn vorsichtig an, „das ist –“ „Ich weiß, was das ist, ein ungeschickter Trampel!“ Er zog sein Bein unter denen von Joey hervor und erhob sich. „Hey, wie redest du mit mir!“, ereiferte sich Joey, der ebenfalls aufstand. „Ähm, Kaiba“, begann Mai erneut, „das ist Joey.“ „Schön für ihn.“ „Der Sohn deines Chefs.“ Stille. Seto blinzelte. Er hatte den Sprössling seines neuen Chefs nicht gerade als Trampel bezeichnet, oder? Der wütende Ausdruck in Joeys Gesicht sagte ihm eindeutig etwas anderes. „Entschuldige dich.“ „Bei wem?“ Der kühle Ausdruck kehrte in Setos Gesicht zurück. Er hatte sich noch nie bei jemandem für irgendetwas entschuldigt. „Bei mir“, gab Joey mit der gleichen Kälte in der Stimme zurück. „Wozu? Dank dir liegt mein Abendessen auf dem Boden.“ „Kaiba, Joey ist trotzdem Mr. Wheelers Sohn“, flüsterte ihm Mai zu. „Und?“ „Er kann dich feuern lassen.“ Man konnte fast sehen, wie die Rädchen hinter Setos Stirn arbeiteten. Er konnte es sich nicht leisten, seinen Job schon wieder zu verlieren. „Entschuldigung“, presste Seto zwischen seinen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wie bitte? Ich hab dich nicht verstanden.“ „Entschuldigung“, wiederholte Seto deutlicher. „Es ist immer noch Auflauf übrig, Kaiba“, versuchte Mai die Situation zu entschärfen. „Joey, Zeit für deine Hausaufgaben.“ Die beiden jungen Männer maßen sich mit einem letzten abschätzenden Blick, bevor Joey aus der Küche verschwand und Seto sich wieder dem Herd zuwandte, um wenigstens den Rest des Essens in seinen Magen zu bekommen. ♥ . ¸ ¸ . • * Ψ * • . ¸ ¸ . ♥ Katsuya räkelte sich, eine Tüte Chips auf dem Schoß, in einem der großen Sessel im Aufenthaltsraum des Filmstudios. „Entschuldigung“, klang Setos Stimme aus dem Fernseher. „Hach, das ist Musik in meinen Ohren“, seufzte Katsuya und spulte die Kassette zurück, um es sich noch einmal anzuhören. Er hatte sich die Aufnahme aus dem Schneideraum besorgt. „Jonouchi, hör endlich auf, dir diese Stelle anzusehen“, verlangte Seto, der mit einem Kaffee in der Hand darauf wartete, von seinem Fahrer abgeholt zu werden. „Das nervt.“ „Dich vielleicht, ich kann nicht genug davon kriegen. Ryou, Shizuka, wie soll ich mich nur bei euch dafür bedanken, dass sich der Eisklotz da drüben bei mir entschuldigen musste.“ Katsuya strahlte über das ganze Gesicht. „War doch nicht der Rede wert“, erwiderte Ryou lächelnd. „So, war es das?“ Ryou schluckte, als er Setos Blick Marke „Tod in Reichweite“ auf sich gerichtet sah. „Dann wird es sicher auch nicht der Rede wert sein, wenn ich dich und die Schwester dieses missratenen Köters ins nächste Krankenhaus befördere.“ Seto setzte die Kaffeetasse mit einem lauten Klirren auf der Glasplatte des Tisches ab und marschierte auf die beiden Drehbuchautoren zu. „Kaiba! Mich kannst du beleidigen, so viel du willst, das prallt an mir ab, aber lass Shizuka aus dem Spiel!“ „Und Ryou!“, mischte sich Bakura ein. Katsuya und Bakura sprangen von ihren Sitzen auf und stellten sich Seto in den Weg, die Fäuste geballt. Sie knackten mit den Fingerknöcheln. „Keinen Schritt weiter oder du bereust es, Kaiba“, zischte Bakura. „Seto, der Wagen wartet draußen“, platzte Mokuba herein. „Äh ... was ist denn hier los?“ „Nichts von Belang.“ Seto nahm seinen Mantel und verließ den Aufenthaltsraum. „Wir sehen uns morgen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)