Rattenprinzessin von -Broeckchen- (Von der Suche nach schwarzen Beeren) ================================================================================ Kapitel 3: Überfallen werden ---------------------------- Marcs Augen tränten. Sie tränten vom Gestank des Stofffetzens, den ihm einer der beiden Obdachlosen in den Munde gestopft hatte. Der Gestank wurde von einem unerträglich widerlichen Geschmack begleitet, der Marc inständig hoffen ließ, dass sich der Fetzen vorher an einem Körperteil des Bettlers befunden hatte, der wenigstens etwas weniger verdreckt als der Rest von ihm war, und nur aus Solidarität mit Allem Anderem am Körper so stank. „Oh, sieh mal, Bobby!“, meinte der ursprüngliche Besitzer des Stoffstücks gerade und hielt Marcs Personalausweis hoch. „Un Franzos'“, versuchte er den französischen Akzent seines Opfers nachzuäffen. „Bobby“ stimmte in sein Lachen ein. „Kein Wunder, dass er so geleckt aussieht!“, antwortete er. Marc enthielt sich jedes Kommentars. Er hatte sich von Anfang an nicht viel gewehrt, in der Hoffnung, dass sie ihn dann vielleicht sowohl am Leben lassen als auch nicht zu sehr misshandeln würden. Vor allem die Sache mit dem Leben war ihm delikat erschienen – schließlich hatten ihn Bobby und dessen Freund mit rostigen Küchenmesserklingen am Hals geweckt. Ihm war schlecht, so furchtbar übel, dass er Mühe hatte, seinen Mageninhalt nicht in das Tuch zu speien. Es war mit seinem eigenen Schal an seinem Mund fixiert worden, und so hätte ihm der Versuch wohl wenig Freude bereitet. Zusätzlich fiel es ihm schwer, sich auch nicht dem mit der Übelkeit einhergehendem Schwindel hinzugeben, sondern seine beiden Peiniger im Auge zu behalten. „Ich hab's, Karl!“, freute sich Bobby. „Hier – jede Menge lieblich raschelnder Scheinchen! Und 'ne Kreditkarte!“ Marcs Blick verfinsterte sich etwas. Er hatte ziemlich viel Geld auf einmal in Lyon abgehoben, um später nicht so leicht über seine Kreditkarte verfolgbar zu sein. Die Scheine – noch französische Francs – hielt er überall an seinem Körper versteckt, aber ausgerechnet gestern hatte er eine Portion davon in Pfund umgetauscht. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Alten nicht das restliche Geld an ihm wittern würden. „Na also!“, meinte Karl und grinste ein zahnstummelreiches, übelriechendes Grinsen, von dem Marc sich sofort abwenden musste, um sich nicht doch noch in seinen Knebel zu übergeben. „Wow, das ist ja ein hübsches Sümmchen!“ Die beiden beugten sich über die Scheine, die sich in einer recht gut versteckten Innentasche von Marcs Rucksack befunden hatten. Irgendwie erschien Marc das rote Abendsonnenlicht, dass die Zugräuber mit einer gewissen Weltuntergangsatmosphäre umhüllte, als äußerst passend für den Moment. Und es erinnerte ihn an etwas. Ach ja – er erinnerte sich daran, an die Ankunftszeit des Zuges in London gedacht zu haben. Daran, dass er diesen Zug ausgesucht hatte, weil er nachts eintreffen würde, geschätzte ein bis anderthalb Stunden nach Sonnenuntergang. Er schickte einen leicht verzweifelten Blick an Bobby und Karl vorbei aus der Öffnung im Wagon, und beugte sich leicht vor, um die Sonne erspähen zu können. Die gleißende Scheibe war auf einen schmalen Streifen über dem Horizont zusammengeschmolzen und würde sich vermutlich gleich in den Schatten des Globus verziehen – auch wenn der Himmel bestimmt noch relativ blau und hell sein würde, sobald der Zug eintraf. „Na, was interessiert dich denn da so, Missy?“, sprach eine grobe Stimme ihn an, und zu ihrem Ursprung aufsehend lehnte er sich wieder vorsichtig zurück, als wäre sein Magen eine bis zum Rand gefüllte Schale, die er besser nicht auskippen ließ. Karl stand vor ihm, und er hielt sein Küchenmesser in der Hand wie ein Junge sein Taschenmesser. Der graubraune Bart des Obdachlosen starrte vor Dreck und Essensresten, und einen Moment lang war sich Marc sicher, einen schwarzen Punkt von dort woandershin hüpfen gesehen zu haben. Das Gesicht des Mannes wirkte wettergegerbt und von der Straße zerschlagen, in Karls Augen befand sich etwas, das genauso gnadenlos wirkte wie das Leben vielleicht zu ihm gewesen war. Marc mochte ihn einfach nicht, und das voll und ganz – er hatte noch nie jemandem gegenüber so tiefe Abneigung empfunden. „Überlegst wohl schon, wie du am klügsten hüpfst, was, Missy?“, fuhr er fort und lachte hämisch. Marc gab ihm einen verwirrten Blick zur Antwort. „Verstehst du nich, wovon wir reden?“, meinte Karl, sich zu dem Franzosen herabknieend. Sein Halo aus widerwärtigen Gerüchen ließ Marc unwillkürlich würgen. „Wir sind keine Mörder, aber wir können auch nich' riskier'n, dass du bei der Londoner Polizei über uns plauderst.“ Der Brite klopfte lachend mit der rostigen Messerklinge gegen Marcs Brust. „Keine Sorge – wir töten dich nich'. Wir werfen dich nur bei voller Fahrt aus dem Wagon... wenn du überlebst, tun wir dir nichts.“ Das Sonnenlicht verebbte. Ein Schaben erklang aus einem der Container. Das abgerissene Duo wandte sich synchron dem Container zu. Von Marc, den sie durch ein paar gezielte Hiebe und Stofffetzen als Fesseln ruhig gestellt hatten, hatten sie ja nicht viel zu befürchten. „Scheiße!“, fluchte eine Männerstimme aus dem Container, auch wenn es weniger wie ein aufgeregter Fluch klang als wie eine schon recht häufig getroffene Feststellung. Die Obdachlosen warfen sich gegenseitig alarmierte Blicke zu, legten leise Marcs Sachen nieder und begannen, sich recht lautlos um den Container herumzubewegen, der von Marc abgewandt war. Beide hielten ihre Küchenmesser nun griffbereit, und bewegten sich stark genug im Rhythmus des Zugratterns, um ihre Geräusche dadurch zu tarnen. Aus dem verdächtigen Container erklang nun ein lautes, wiederholtes, metallisches Krachen. Vermutlich versuchte, wer auch immer da geflucht hatte, nun, sein ungewöhnliches Gefängnis zu verlassen. Und es klang auch ganz danach, als würde es ihm gelingen. Bobby und Karl warfen sich weitere vielsagende Blicke zu, und Marc erschreckten die Gedanken, die er bei ihnen vermutete. Natürlich – wenn jemand stark genug war, um sich aus einem solchen Container zu befreien, dann würde er für die beiden eine Bedrohung darstellen können. Sie fassten ihre Messer fester, und wirkten aufmerksamer und konzentrierter – wahrscheinlich würden sie alles daran setzen, den Ausbrechenden sofort auszuschalten. Marc runzelte die Stirn und begann, sich zu winden. Er musste den Typen im Container unbedingt davon abhalten, weiter herauskommen zu wollen, also gab er erstickte Rufe von sich und versuchte, mit den Füßen auf den Boden zu schlagen. Doch gerade, als der junge Franzose es geschafft hatte, seinen Knebel etwas herunterzustreifen, und etwas rufen wollte, hörte er das Ächzen der Containerluke, die unter der ständigen Krafteinwirkung nachgab. Noch nicht einmal die erste Silbe seiner Warnung hatte Marc vollendet, als sich ihm gegenüber ein dunkelhaariger Mann aufrichtete, der wohl gerade aus dem Container trat. Die Zeit fühlte sich abscheulich zähflüssig an, wie in Zeitlupe und doch viel zu schnell bewegten sich die beiden Obdachlosen auf den Mann zu, vollführten je eine halbe Drehung und schienen ihm die Messer in den Bauch zu rammen – da ihre Körper vom Brustbereich abwärts vor Marc verborgen waren, konnte er das nur vermuten. Der Moment dauerte viel zu lange. Marcs Ruf endete in einem kläglichen Laut, als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens einsah, und schockiert schaute er dabei zu, wie der Kopf des Mannes vor ihm nach vorn wegsackte und er aus Marcs Sichtbereich sank. Die Räuber – die Mörder – grinsten triumphierend. Mit einem Mal kippte alles. Die Zeit schien ihren zähen Fluss zu bemerken und entschloss sich scheinbar, ihn mit einem doppelt so schnellen Lauf wieder aufzuholen. Der Mann erschien erneut in Marcs Blickfeld, dem erstaunten Bobby einen kräftigen Tritt oder Stoß versetzend, der diesen wiederum nach unten beförderte. Karl wirkte einen Moment lang paralysiert vor Angst und Überraschung, dann schlug er panisch mit dem Messer nach dem Fremden, welcher mit einer fast ruhigen Bewegung sein Handgelenk ergriff und es kurz, aber heftig drehte, wobei sein Gegner ebenfalls unfreiwillig nach unten abtauchte. Marc, der nicht anders konnte, als wie ein Reh in den Autoscheinwerfer auf den Kopf des von ihm abgewandten Mannes zu starren, bekam nicht mehr zu sehen. Nur dumpfe, nach Kampf klingende Geräusche ertönten von dem Platz, an dem der Fremde sich schnell hin und her bewegte, bis auch diese verstummten und er stehen blieb, direkt neben der Einladeöffnung des Wagons. Marc konnte sich noch immer nicht bewegen. Schmerz, Schwindel und Übelkeit hatte er geradezu vergessen angesichts der überraschenden Wendung, die die Situation gerade genommen hatte. Hatten die beiden Obdachlosen nicht auf den Mann eingestochen? Hatten sie es versucht, aber nicht geschafft? Was auch immer der Grund dafür war – der Fremde hatte überlebt, und sah sich nun suchend im Güterwagon um. Es war ein relativ junger, vermutlich etwa 30 Jahre alter Mann des südländischen Typs. Sein langes, schwarzes Haar trug er etwas unter Schulterhöhe zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden – vermutlich damit es ihn nicht behinderte. In seinem durchaus hübschen Gesicht fiel vor allem die markante schmale, feine Nase auf, unter der ein gerader, breiter Mund den Eindruck machte, sich nur für wichtige Worte zu öffnen. Auch die dichten Augenbrauen und die dunklen Augen trugen dazu bei, dass der Fremde Entschlossenheit und Kompetenz ausstrahlte. Momentan trug er ein schlichtes Hemd (was sich darunter befand war für Marc nicht sichtbar), aber er angelte dann einen an alte Fuhrmannskleidung erinnernden Mantel aus dem Container, den er sich überwarf. Der Franzose konnte nicht anders, als kurz zusammen zu zucken, kaum dass ihn der durchdringende Blick des Fremden traf. Zielsicher kam dieser auf ihn zu und riss den stinkenden Stofffetzen von seinem Gesicht. Durch den Mantel war sein Bauch nicht zu sehen. „Marc Chevallier?“, fragte der geheimnisvolle Retter. Marc öffnete und schloss benommen den Mund, nickte dann aber leicht. „'Kostja' Peppino Saccharja Giovanni. Sehr erfreut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)