The Mirror Of The Ancients von CaroZ (Miragia-Trilogie 2) ================================================================================ Kapitel 1: Invitation (inkl. Vorwort) ------------------------------------- Vorwort: Der Hund ist noch da, aber seine Ohren sind schmalzig. Nicht weniger schmalzig ist stellenweise der Inhalt dieses TSC-Sequels aus meinem damals angelegten eigenen FF7-Next-Universum. Viele kennen es und erinnern sich dunkel ... andere nicht ... öhm ... Egal, ich will nicht wieder so lange labern. Also, "Mota" erntete vor allem Kritik wegen vielen Anglizismen und zuviel Rückgriff auf die englische Sprache. FF7 tendiert dazu, aber ich hab es damals offensichtlich übertrieben. Genauso tendiert FF7 (ich rede immer nur vom Spiel, ne?) dazu, sich in allem eher Unbedeutenden an unsere Welt anzugleichen. Da liegt der zweite Hase im Pfeffer, denn das wird hier ebenfalls zu sehr ins Auge springen. So jedenfalls die Hauptkritikpunkte. Rein storytechnisch hat aber kaum jemand gemeckert, was mich bis heute stolz macht. Doch trotzdem ist es ALT. Nicht zu vergleichen mit dem, was heute dabei rauskäme. Aber ich werkel nicht gern an beendeten Dingen rum, insofern bleibt "Mota" völlig unberührt vom Wandel der Zeit in archaischem Schreibstil bestehen. Man weiß ja nie, ob sich nicht trotzdem noch der eine oder andere dafür begeistert :) In diesem Sinne danke fürs Reinschauen und - trotz aller im Weg liegenden Steine - gute Unterhaltung. Ach ja, wem Anlehnungen an Philosophen, Poeten, Künstler etc. ins Auge springen, ruhig mal bescheid sagen. Mich interessiert noch heute, wem das auffällt.^^ - - Es regnete. Mit stetem ununterbrochenem Prasseln schlugen Tropfen an die Fensterscheiben, als suchten sie nach Durchlass. Skylar Goodsworth hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, sofort nachdem er ins Haus gelangt war, um dem Regen zu entkommen. Er hängte seinen Mantel auf und schüttelte sich Wasser aus dem blonden, allmählich ergrauenden Haar. Es war kalt, und die Wolken türmten sich in Massen am Himmel. Besseres Wetter war also vorläufig nicht in Sicht. Sowieso war es für Skylar ein Phänomen, warum es in Gongaga ständig regnete – zumal die Stadt gar nicht so weit nördlich lag. Im Vorbeihasten am Briefkasten war ihm noch ein Ende weißen Papiers ins Auge gefallen, also hatte er den Zettel schnell noch gepackt und sich erst dann in Sicherheit gebracht. Jetzt, als die Tinte darauf allmählich verlief, stellte er fest, dass der Brief an ihn gerichtet war. Private Message Skylar Goodsworth Heavy Transport Machines Company 2735 Ride-Off Gongaga Town Er rückte seine Lesebrille zurecht. Das Papier war durchweicht und die Tinte stark verwischt, aber die Schrift erkannte er trotzdem. Er griff nach seinem Brieföffner, schlitzte damit den Umschlag auf und faltete den Inhalt, einen linierten Bogen, auseinander. Interessant, dass man sich in so weiter Ferne noch an ihn erinnerte. Es waren seit dem letzten Besuch ganze fünf Jahre vergangen .... December the 28th, 4:43 p.m. Es liegt zwar nicht in meiner Absicht, dich bei deiner wichtigen Tätigkeit zu stören, Vater, aber ich denke doch, dass es noch etwas gibt, das ich dir mitteilen muss. Wir planen derzeit ein Treffen in Nibelheim, für das es einen besonderen Anlass gibt, falls ich das nicht vollkommen falsch verstanden habe. Nein, keine Angst ... es handelt sich laut Berichten nicht um das WELTRETTUNGS-FEST, das jährlich an diversen Wochentagen in der Gold Saucer abgehalten wird .... Wir werden uns hoffentlich alle einfinden. Du solltest auch dort sein. In Bezug auf mein familiäres Leben habe ich nämlich auch noch etwas zu erzählen, das du interessant finden wirst. Wenn du mir bis zum 4. Januar eine schriftliche Benachrichtigung zukommen lassen könntest, dass du dabei sein magst, hole ich dich ab – du findest den Weg ja sowieso nicht. Das war soweit alles. Eigentlich hoffe ich doch, mit dir rechnen zu können. Auch von Aeris viele Grüße hier aus Kalm Cloud P.S.: Schaff dir endlich ein Telefon an. Ein Treffen. Etwas Interessantes in Bezug auf Clouds familiäres Leben. Skylar runzelte die Stirn. Er drehte sich um, angelte vom Nebentisch einen unbeschriebenen Briefbogen für die Antwort und versuchte mit der anderen Hand, von irgendwo hinter sich einen Tintenschreiber zutage zu fördern. Da er seinen Schreibtisch vor einigen Tagen umgestellt hatte, griff er wieder einmal ins Leere und fiel fast vom Stuhl. Immer diese Tollpatschigkeit – und nun, da er rasch auf die 58 zuging, artete sie noch mehr aus. Sein Sohn dagegen .... Cloud war kein bisschen ungeschickt. Er hatte von seinem Vater allerhöchstens das Aussehen geerbt. Den gesuchten Stift entdeckte Skylar einige Minuten später in einer Schublade und steckte sich sofort das Ende zwischen die Zähne, um eine schlaue, fremdwortreiche Antwort zu formulieren. Draußen goss es immer noch mit steigender Stärke, und ein dumpfes Grollen rollte von Osten her herauf. Andernorts dagegen schien die Sonne. Junon war in strahlendes goldenes Licht getaucht, als das Beobachtungsschiff der AVALANCHE, die Tiny Bronco, nahe des Wassers landete. Seit der endgültigen Vernichtung der Shin-Ra Corporation vor acht Jahren war Junon das Hauptquartier der AVALANCHE, einer Organisation, die nunmehr für Weltfrieden kämpfte. Ihr Präsident und sein Pilot verließen eben das kleine Flugzeug und führten auf dem Weg ins Innere des großen Gebäudes im hinteren Teil eine kurze Unterhaltung. „Sag mal, haste eigentlich auch gelesen, was da in Bone Village wieder los sein soll?“, fragte der Präsident und eilte mit großen Schritten voraus. „Hmpf, ja, hab’ ich .... die machen es sich doch nur selber schwer mit ihren beschissenen Ausgrabungssteuern, wenn du mich fragst! Man kann ja nicht gerade behaupten, dass sie nicht genügend Arbeitsmittel hätten!“ „Naja, das dauert halt ’ne Weile mit den Lieferungen, seit die Firma nach Gongaga versetzt worden is’. Schon ’ne blöde Sache, aber sollen wir deswegen vielleicht ’nen Angriff gegen Gongaga starten? Ich glaub’ eher nich’.“ Beide betraten den Fahrstuhl, der Pilot betätigte den Schalter. „Und was sagste zu diesem Treffen in Nibelheim? Gehste da auch hin?“ „Sofern du mir freigibst, natürlich. Ich will mir auf keinen Fall irgendwas entgehen lassen. Und was ist mit dir?“ „Ich werd’ mal sehen, ob sich das zeitlich machen lässt“, antwortete der Präsident der AVALANCHE. Mit einem leisen Rattern rasteten die Hebwerke ein, die Tür öffnete sich. Die sauberen Gänge, die wie immer nach gefilterter Luft rochen, hießen die beiden Männer willkommen. „Dann gehe ich jetzt“, sagte der Pilot und wandte sich in eine andere Richtung. „Hm, warte mal, Cid!“ Er blieb stehen. „Ja? Ist noch was?“ „Sag mal ... soll ich eigentlich Marlene mit zu dem Treffen nehmen?“ „Warum denn nicht? Ist sie zurzeit so anstrengend?“ „Mensch, sie is’ jetzt bald ’ne Jugendliche. Du ahnst ja nich’, was die so im Kopf haben! Anstrengend is’ noch gar kein Ausdruck. Und jünger wird man ja schließlich auch nich’.“ Barret schüttelte fast bekümmert den Kopf. „Das Treffen ist doch die ideale Abwechslung zum Alltagstrott. Und wenn sie sich langweilt, wird es sie auch nicht umbringen.“ „Da haste mal wieder Recht. Naja, dann geh mal .... bis später.“ „Mach’s gut.“ Die beiden trennten sich und eilten also raschen Schrittes in beide Richtungen der sterilen Gänge davon. Kapitel 2: Meeting ------------------ Fünfter Januar. Natürlich war der Brief früher eingetroffen. Die Postübertragung ging immer schneller vonstatten. In Gongaga fiel der Sprühregen wie jeden Tag im Winter ohne Unterlass. Skylar stand direkt vor dem kleinen Friedhof, dem vereinbarten Treffpunkt, den Mantel eng um den fröstelnden Leib gezogen. Von seiner Nasenspitze tropfte das Regenwasser herab, als er den Kopf senkte und im trüben Licht der Abenddämmerung versuchte, die Inschriften auf den beiden Grabsteinen ganz vorn zu lesen ... sie waren innerhalb der acht Jahre gleichermaßen rasch verwittert und hatten Flechten angesetzt. Es handelte sich um die Grabmale von Clouds Freunden Zack und Sephiroth. Vor beiden lagen ein paar zerpflückte weiße Blüten, halb vom sich sammelnden Wasser bedeckt, als würden sie ertrinken. Das war schon eine seltsame Sache mit den beiden, erinnerte sich Skylar. Vom Freund zum Feind und umgekehrt. Die weiße Taube, die aufgeplustert auf einem Zweig über den Grabsteinen saß und ihn beäugte, sah er nicht. Skylar wandte sich ab und bemerkte nun die schmale, schemenhafte Gestalt, die sich aus nebliger Ferne rasch auf ihn zu bewegte. Um die Schultern war eine offenbar nicht sehr gut wärmende Jacke gezogen. Der Fremde hatte beide Hände in den Taschen vergraben und warf hin und wieder einen raschen Blick hinter sich. Skylar wartete und sah ihm geduldig entgegen, während der Regen an ihm herunterrann. Die Dunkelheit legte sich allmählich wie ein Schleier über die kleine Stadt. Der Mann mit der langen Jacke blieb endlich in einigen Metern Entfernung vor Skylar stehen und hob den Kopf. „Na also, da bist du ja. Diesmal hast du tatsächlich nicht getrödelt.“ „Für wie vertrottelt hältst du deinen alten Herrn eigentlich?“, fragte Skylar beinahe anklagend. Er machte einen Schritt vorwärts, legte beide Hände auf die Schultern seines Sohnes und betrachtete ihn. Das Gesicht war immer noch genau wie seins ... wie hätte es sich auch verändern sollen? Der einzige Unterschied war die einfach nicht vergehen wollende Jugend, die aus den Zügen sprach, die hellen glänzenden Augen und die Umrahmung aus widerspenstigem hellblonden Haar, die dem ganzen Gesicht einen sehr intelligent wirkenden Ausdruck verlieh. „Mein Gott, Cloud ... gehen die Jahre eigentlich links und rechts an dir vorbei?“ „Ich glaube schon“, antwortete Cloud. Dann zeigte sich in seiner ausdruckslosen Miene erstmals ein Lächeln. „Komm jetzt. Wir brauchen ja nicht hier im Regen zu stehen.“ Skylar versuchte, mit ihm Schritt zu halten, während das Wasser vom schlammigen Boden hochspritzte. „He, wie kommen wir überhaupt hin?“ „Was denkst du?“, antwortete sein Sohn, ohne sich umzudrehen. „Wir fliegen. Die AVALANCHE, wo ich arbeite, hat uns freundlicherweise ihren zuverlässigsten Piloten überlassen, um uns nach Nibelheim zu bringen.“ „Ach! Doch nicht etwa der, von dem ich gerade denke, dass er es als Einziger sein könnte?“ „Doch, vermutlich schon.“ Die Tiny Bronco, ein kleineres Aufklärungsflugzeug, verfügte zwar über die begehrte Tarnvorrichtung, aber in einer harmlosen Stadt wie Gongaga war es überflüssig, diese zu aktivieren. Die Maschine tauchte schließlich hinter dem Schleier aus Regen und Nebel auf, geduldig auf die Passagiere wartend, wie es schien. Trotz ihres eindrucksvollen Doppelleitwerks war sie weit weniger respekteinflößend als die monströse Highwind, Cids allerliebstes Stück. „Da bin ich ja beruhigt, das ist ja nur ein kleines Teilchen“, kommentierte Goodsworth. „Wie kommt man da rein?“ „Hier lang.“ Cloud wartete, bis er den Weg gefunden hatte. Der Pilot, namentlich Cid Highwind, hatte es wesentlich eiliger. „Je dunkler es wird, desto länger dauert’s“, erklärte er und ließ die Motoren an. „Ich freue mich ebenso, dich zu sehen“, antwortete Skylar und nahm letztlich irgendwo Platz. „Du bist ja ganz schön alt geworden.“ „Wie charmant von dir, das zu sagen.“ „Irgendetwas muss man schließlich feststellen, wenn man jemanden wiedertrifft, den man lange nicht gesehen hat“, erwiderte Cid und hielt die Zigarette zwischen zwei Fingern, die andere Hand wie ein Dach darüber, damit sie im Regen nicht ausging. „Es wäre wohl kaum passend gewesen, wenn ich etwas gesagt hätte wie: Junge, du bist aber groß geworden! Zeiten ändern sich.“ Die Tiny Bronco rollte vorwärts und hob sich im fast rechten Winkel vom Erdboden. „Was treibst du eigentlich die ganze Zeit?“ „Was schon? Ich bin Buchhalter. Ich bin in einer Firma tätig, die Bone Village, Midgar und andere Städte mit Baumaterialien und Maschinen versorgt.“ „Weiß ich, das hat Cloud mir alles längst erzählt.“ „Hm. Wie gut zu wissen.“ Cloud, der neben Skylar saß, schwieg und sah hinaus. „Wie geht es Shera?“, fragte Skylar weiter. „Tja ... sie arbeitet auch. Hm, seit ich bei AVALANCHE bin, sehen wir uns nur noch abends. Trotzdem verstehen wir uns zurzeit wirklich gut.“ Cid schob sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen und flog eine Kurve. „Dauert nicht mehr lange, wir sind gleich da. Die anderen warten bestimmt schon alle.“ „Wo treffen wir uns eigentlich genau?“, wollte Skylar wissen. „In Tifas Haus“, übernahm Cloud die Antwort. „Weil uns Vincents Villa so spät abends und bei so unschöner Witterung einfach zu .... ungemütlich ist.“ „Verständlich, wenn man euren anschaulichen Beschreibungen von der Inneneinrichtung Glauben schenken darf.“ Ruhig glitt das kleine Flugzeug auf den Luftströmungen dahin, mal durch gutes und mal durch schlechtes Wetter. An kaum einem Ort konnte man jedoch die Sterne sehen – die Wolken waren dafür zu massiv. Schließlich waren weit unten der Nibelberg und die zahlreichen kleinen, gezackten Felsen zu sehen. Der Kurs senkte sich Richtung Boden. Cloud warf einen Blick auf seine Uhr. „Wir sind noch pünktlich.“ „Natürlich sind wir pünktlich, wenn ich euch fliege.“ „Danke sehr, dass du uns hergebracht hast.“ „Kein Problem.“ Sie kletterten der Reihe nach aus dem Flugzeug. In Nibelheim regnete es zwar nicht, aber die geheimnisvolle Atmosphäre schien nie von dem kleinen Dorf weichen zu wollen. Es war so dunkel, dass man kaum die Erleuchtung hinter den Fenstern sehen und als Orientierungspunkte benutzen konnte. Cid ging voraus, seine Schritte klangen dumpf auf dem Stein. „Dieses verdammte Dorf ist einfach unheimlich. Wird es hier immer so dunkel, dass man seine Hand nicht mehr vor Augen sieht?“ „Ja, wie überall“, antwortete Cloud, an zweiter Stelle, gleichmütig. „Nur sind andernorts Laternen angebracht.“ Vor einer Tür hielt er an. „Bleibt stehen, hier wohnt Tifa, wisst ihr das nicht?“ „Tagsüber weiß ich das schon“, ließ sich Cid vernehmen, von dem nicht mehr zu sehen war als das glühende Ende seiner Zigarette. Cloud klopfte dreimal an und wartete. Von innen näherten sich rasche Schritte. Dann wurde die Tür schwungvoll aufgerissen. Die drei sahen ins erleuchtete Innere der Wohnung – und auf Tifa, welche direkt vor ihnen stand. Sie trug eine feine rosafarbene Seidenbluse und hatte sich das lange dunkle Haar hochgesteckt. Folglich sah sie nicht mehr aus wie Tifa, .... sondern wie irgendjemand anderes. „Ihr seht alle drei ziemlich nass aus“, kommentierte sie. „Kommt rein.“ Sie ließ die Tür offen, ging aber schon wieder zurück zum Wohnzimmer. Sie rannte nicht ... nein, sie ging. Cloud starrte etwas perplex hinterher. „Das soll Tifa sein?!“, stieß Cid endlich hervor. „Unser Wildfang? Habt ihr sie schon mal so gesehen?“ „Sie ist Geschäftsfrau“, sagte Cloud, um sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen, „Botschafterin. Sie muss sich, hm, stilvoll kleiden und benehmen. Na los, gehen wir rein.“ Sie schlossen die Tür hinter sich. Die freundliche helle Wärme und der eigentümlich harzige Geruch des Hauses empfingen sie, das Regenwasser sammelte sich inzwischen auf den Fliesen. Cloud befreite sich von seiner durchnässten Jacke, hängte sie an einen Haken und ging ins Wohnzimmer, ohne auf die anderen beiden zu warten. Tifa stand in der Küche und summte ein Lied. So etwas wie Stress oder Hektik war ihr entweder fremd, oder sie versteckte es mit einer meisterhaft guten Technik. „Was machst du denn da schon wieder?“, wollte Cloud wissen. „Was ich mache? Jetzt sieh doch mal genau hin. Das sind Käsehäppchen. Hast du noch nie Käsehäppchen gesehen, Cloud?“ „Hast du denn jetzt Zeit für so etwas?“, fragte er. „Ich denke, jemand hat hier etwas höchst Spektakuläres zu erzählen, deshalb das Treffen! Du tust eher so, als würdest du eine Party vorbereiten!“ „Hm, ja, warum denn auch nicht? Ich habe nichts Spannendes zu sagen. Du aber schon, wie mir zu Ohren gekommen ist. Familiäre Angelegenheit, soso.“ Er schaute misstrauisch drein. „Wie kann sich so etwas denn wie ein Lauffeuer über die Distanz von Kontinenten verbreiten? Ist mir wirklich ein Rätsel. Schön, dann brauche ich ja sowieso kein Geheimnis daraus zu machen.“ „Nein, das brauchst du auch nicht“, flötete sie und steckte geschickt kleine Käsewürfel auf Zahnstocher. „Aber sag mal, warum hast du Aeris dann nicht gleich mitgebracht?“ „Naja, eigentlich wegen der .... Nebenwirkungen, wenn man das so nennen kann. Sie hat gesagt, dass sie nicht fliegen mag. Du weißt ja, wir wohnen jetzt in Kalm ... Ich glaube, sie weiß am besten, was gut für sie ist. Ich werde ihr den ganzen Abend dann bis ins kleinste Detail erzählen, dann wird sie zufrieden sein.“ „Ja ja, sicher, das wird sie.“ Noch ein Würfel – noch ein Zahnstocher. Weintraube drauf ... „Wenn man mal fragen darf, wer hat eigentlich diese höchst suspekte Ankündigung vor?“ „Vincent“, antwortete Tifa. Zahnstocher, Käse, Traube. „So, wirklich? Und ... wie geht es ihm derzeit?“ „Hm, davon kannst du dich ja nachher selber überzeugen. Ich gehe nur hin und wieder mal nach ihm sehen. Er kapselt sich immer so ab, weißt du ... trauert immer noch seiner Lukretia hinterher. Ich gehe ab und zu mal hin ... abends, wenn er schon auf ist. Er schläft ja tagsüber, total witzig. Setzt aus eigenem Antrieb aber keinen Fuß vor die Tür. Weißt du, Cloud, man muss ihm wirklich alles sagen. Habe ich dir schon die Geschichte erzählt, als ich einmal zu ihm rüberkam und es war so kalt, dass ich dachte, mir wächst ein Eiszapfen von der Nase? Die Heizung hat nicht funktioniert. Er hat es zwar bemerkt, wollte sie aber nicht wieder in Ordnung bringen und hat sich im zweiten Stock versteckt, weil Wärme ja bekanntlich nach oben steigt, und ich bin fast aus den Latschen gekippt vor Lachen, als er dann diese Erkältung bekommen hat ... ach ja, diese alte Kamelle hab’ ich dir schon mal per E-Mail zukommen lassen, glaube ich ... ist wirklich komisch. Naja. Hast du eigentlich Red schon gesehen?“ Cloud sah schnell hoch, da er merkte, dass sie ihren Redefluss im Ansatz einer Frage an ihn unterbrochen hatte. „Hm? Nein, habe ich nicht ... wo sind denn alle?“ „Oben.“ Tifa deutete mit der Nase zur Zimmerdecke, immer noch Käse auf Zahnstocher steckend. „Greif dir Skylar und Cid und geh hoch. Wenn ich hier fertig bin, komme ich auch.“ „Ah ja.“ Er warf den Käsehäppchen noch einen letzten skeptischen Blick zu, dann verließ er die Küche und fand Cid und Skylar ratlos herumstehend vor. „Kommt mit nach oben“, sagte Cloud. „Wir bekommen gleich zu hören, was hier eigentlich so Tolles los ist.“ Barret hielt Marlenes Handgelenk fest und zog sie hinter sich her durch die trübe Finsternis Nibelheims, auf Tifas Haus zusteuernd. „Jetzt hab dich doch nich’ so! Glaubste, die erkennen dich nich’?“ „Papa, das ist wirklich voll peinlich. Ich bin nicht mal richtig geschminkt, weil du mir keine Zeit gelassen hast!“ „Is’ wirklich nich’ meine Schuld, liebes Kind, wir haben nun mal keine Zeit.“ „Aber was sollen die anderen denn von mir denken? Mein Gott – ich kann sie bestimmt alle nicht mehr auseinander halten!“ „Wieso denn nich’? Cid is’ der mit der Zigarette, Cloud is’ der, an dem alles stachelig is’. Red is’ der, der aussieht wie ’ne Mischung aus Löwe, Tiger und Hund ....“ Sie verdrehte die Augen, was in der Dunkelheit nicht zu sehen war. „Trotzdem ist das Ganze doch total abgefuckt!“ „Das Ganze is’ was?“, hakte er nach. „Ach, nichts. Papa, ich will wieder nach Hause. Ich kann doch ein Taxi nehmen.“ „Sei nich’ albern! Du kennst doch die anderen, zumindest Tifa!“ „Ich habe sie acht Jahre lang nicht zu Gesicht bekommen!“, zischte Marlene und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Dieser Versuch war nicht eben von Erfolg gekrönt. Barret hielt sie fest und klopfte kräftig an die Tür. „Nich’ mal ’ne Klingel hat sie. Wird sich wohl nie ändern.“ Neben Tifas Klavier standen genau zwei Menschen, als Cloud die oberste Stufe erreichte. Beide glaubte er, nicht zu kennen. Das eine war eine junge Frau von ... tja, schätzungsweise vierundzwanzig Jahren, die ebenfalls in einer Bluse steckte, in welcher noch dazu ein Kugelschreiber an der Brusttasche hing. Das andere war ein Mann in einem grünen Pullover, der mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt dastand. „Äh“, sagte Cloud und sah sich ratlos um ... Als die junge Frau ihn bemerkte, erhellte sich ihr eher gelangweilter Gesichtsausdruck. „Cloud! Du bist ja da! Oh, ich freue mich, dich wieder zu sehen!“ Sie machte einen kindlichen Hüpfer und rannte zu ihm hin. Da glaubte er, etwas Bekanntes an ihr zu entdecken. „Du bist doch nicht ... Yuffie ...?“ Sie grinste breit. „Wer soll ich denn sonst sein? Hast du mich etwa nicht erkannt?“ „Ich muss gestehen, dass das zuerst nicht der Fall war, nein ... du hast dich ziemlich verändert ...“ „Tja, tja, so ist das. Ich kann mich noch lebhaft erinnern, als ich euch noch als Substanzjägerin Yuffie um die Beine gerannt bin. Mann, was war ich früher kindisch! Ich hoffe, ihr nehmt mir das alles nicht mehr übel!“ „Ich denke, nach acht Jahren nicht mehr“, antwortete Cloud großzügig. Dann wanderte sein Blick zu ihrem Begleiter. „Wenn das hier Yuffie ist, dann musst du Reeve sein.“ „Das stimmt“, sagte der ehemalige Cait Sith und ließ die Wand los, um Cloud einmal wieder selbst die Hand zu schütteln. „Aber du siehst immer noch aus wie früher.“ „Das behaupten alle. Was macht ihr beiden eigentlich beruflich?“ „Ich betreibe Substanzimport und –export in Wutai“, sagte Yuffie, „und er ist mein Aufsichtsführender. Wirklich, einen besseren Job hätte ich nirgendwo bekommen können. Ich habe tagtäglich mit Substanz zu tun!“ „Auf die bist du wohl immer noch genauso wild wie früher.“ „Ja, das denke ich schon.“ Inzwischen erreichten auch Cid und Skylar das obere Stockwerk. „Hier seid ihr also alle.“ Cloud sah sich nach Nanaki um, den Tifa doch eigentlich auch erwähnt hatte, aber ihr vierbeiniger Freund schien gar nicht anwesend zu sein. Im nächsten Moment verkündeten rasche Schritte auf der Holztreppe Tifas persönliches Erscheinen, und sie hielt ihr Tablett in der Hand. „Gott sei Dank, ihr Lieben, die Käsehäppchen sind noch fertig geworden! Das hier auf der anderen Seite ist übrigens etwas anderes, meine Eigenkreation ... ich nenne es Kleine Dinger Mit Schokolade. Probiert sie doch mal. Wenn ihr etwas zu trinken möchtet, husche ich rasch mal in den Keller und .... hm, Momentchen mal .... du, Cloud?“ „Was ist?“ Er konnte den Blick nicht von den Kleinen Dingern Mit Schokolade abwenden. Mit ihnen stimmte etwas nicht. „Könntest du mal schnell rübergehen und Vincent holen? Ich bin fast sicher, dass er unseren Termin vergessen hat, wie auch alles andere. Zeit hat für ihn keine Bedeutung. Sag ihm, er soll sich gefälligst beeilen, ja?“ „Ist gut.“ Endlich konnte er den Blick losreißen. Hoffentlich kostete die Kreation niemand. Auf dem Weg nach unten stieß er fast mit Barret zusammen, der eine sich windende Jugendliche mit zerzaustem dunklen Haar an der Hand festhielt. „Ist das etwa Marlene?“, fragte Cloud fassungslos, ohne ein Wort der Begrüßung zu verlieren. „Ja, das isse, alter stacheliger Freund! Wo sind’n alle?“ „Oben.“ „Lass meine Hand los, Papa!“, zeterte Marlene und stolperte auf den Stufen hinterher. „Das ist wirklich voll peinlich, was du hier abziehst!“ „Nein, was du abziehst, is’ peinlich“, hörte Cloud noch Barrets Stimme im Treppenhaus widerhallen. Vielleicht würde er selbst auch in ein paar Jahren mit so einem Problem zu kämpfen haben ... aber mit welchem speziell, das würde er erst in einigen Monaten erfahren. Er und Aeris waren sich darüber einig, dass sie sich überraschen lassen wollten, was es wurde. Geistesabwesend hielt er im Flur an, nahm seine immer noch tropfende Jacke und machte sich noch einmal auf den Weg hinaus in die Dunkelheit, gerade hinüber zu Vincents Villa, welche düster und fast bedrohlich aus dem Nebel aufragte. Eine einzige Aufforderung ist also nicht genug ... von mir aus, dann statten wir dem Guten eben mal einen kleinen Besuch ab. Die Dielen, allesamt um einiges älter als Cloud, knarrten sofort unheilvoll, als er seinen Fuß darauf setzte. Seine Jacke war beinahe getrocknet ... aber das Haus ... es sah immer noch so furchterregend aus. Wie vorteilhaft, dass Cloud inzwischen keine Furcht mehr kannte. „Vincent? Vincent, bist du auf oder schläfst du? Ich bin’s, Cloud!“ Er ließ die Hände sinken und lauschte. Keine Antwort. Irgendetwas im Dachgebälk ächzte und ein leises Kratzen war in einiger Entfernung zu hören – vielleicht weitere kleine Hausbewohner. Was soll’s. Er machte sich eben auf den Weg ins Nebenzimmer, um den Keller und damit auch Vincents Schlafzimmer aufzusuchen (Tifa hatte doch gesagt, er sei nachtaktiv – dann musste er doch längst wieder wach sein!), als er eben von dort wieder das kratzende Geräusch hörte. Cloud blieb vor der offenen Tür zur Kellertreppe stehen und griff aus einer alten Gewohnheit heraus zu seinem Rücken – aber nun befand sich dort kein Schwertheft. Wozu auch? „Cloud?“ Er zuckte zusammen. War das Vincents Stimme? Sie klang vollkommen heiser. „Was ... was ist denn?“ „Bleib da stehen, Cloud“, antwortete die Stimme von tief unten, wo sie hohl widerhallte. „Komm auf keinen Fall runter.“ „Bist du’s, Vincent?“, hakte Cloud vorsichtig nach. „Ja. Warte.“ Seine Schritte auf den Holzstufen näherten sich von tief unten. Cloud wich ein Stück vom Eingang zurück. Er sah zuerst den Schatten, dann die Silhouette von Vincents hagerer Gestalt, die vor ihm auf der Stufe stehen blieb. „Gut, dass du hier bist, Cloud. Habe ich viel vom Treffen verpasst?“ Seine grellrotfunkelnden Augen richteten sich auf die von Cloud, wieder einmal so, dass man nichts in ihnen lesen konnte. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete Cloud und musterte ihn argwöhnisch. Vincent hatte sich im Großen und Ganzen nicht verändert, war allerhöchstens ein wenig abgemagert. Sein abgewetzter roter Umhang lag immer noch um seine knochigen Schultern, als würde er ihn nicht einmal zum Schlafen abnehmen. Das strähnige schwarze Haar hatte stark an Glanz und Glätte verloren. Insgesamt fiel Cloud nur ein einziger Ausdruck ein, um Vincents Erscheinungsbild für diesen Moment zu beschreiben: mitgenommen. „Ich muss euch unbedingt etwas zeigen, Cloud“, fuhr er jetzt fort. „Etwas, das ich im Keller gefunden habe. Es ist beunruhigend. Es ist sogar sehr beunruhigend, aber ihr solltet es euch selber ansehen. Es tut mir Leid, dass ich mich verspäte.“ Er hustete fast asthmatisch. „Komm, beeilen wir uns.“ Seine Klauen schlossen sich um Clouds Handgelenk und zogen diesen nachdrücklich von der Kellertür fort. Cloud folgte widerspruchslos. Was auch immer Vincent im Keller entdeckt hatte, er wollte, dass die anderen so rasch wie möglich davon erfuhren ... Das schwere Tür schloss sich hinter ihnen, und beide eilten wieder hinaus in die Dunkelheit. Kapitel 3: Beyond The Invisible ------------------------------- „Und dann sage ich: ‚Merkst du gar nicht, wie kalt es ist?’, und er sagt: ‚Doch, das liegt an der Heizung’, und ich sage wieder: ‚Warum tust du denn nichts dagegen?’ und er –“ Tifa unterbrach die Erzählung kurz, um sich noch ein Kleines Ding Mit Schokolade in den Mund zu stecken. „Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern!“, rief Marlene dazwischen. „Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich an keinen von euch erinnern kann!“ „Das macht doch nichts, Mäuschen“, antwortete Tifa, die Süßigkeit in eine Wange geschoben. „Damals warst du doch noch ganz klein. Warte mal, bis Cloud mit Vincent wieder hier ist, dann gucken wir mal nach, was eigentlich los ist.“ Als Gastgeberin genoss sie die Aufmerksamkeit all ihrer Besucher, auch wenn jene in weiser Voraussicht die Finger von den Käsehäppchen ließen. Marlene stand, in ihre modischsten Designerklamotten gezwängt, schmollend in einer Ecke und verfolgte die Party eher gelangweilt. Was nützten ihr Geschichten über Leute, an die sie sich nicht erinnerte? „Jedenfalls“, fuhr Tifa fort, woraufhin sich alle Augenpaare wieder ihr zuwandten, „sagt er dann: ‚Warum soll ich das machen, bei diesem alten Haus lohnt sich das gar nicht mehr.’ Ich beginne mich schon zu fragen, wie man so antriebslos sein kann, und behaupte: ‚Vincent, merkst du denn nicht, dass man sich in dieser Hütte den Allerwertesten abfriert, wenn im Winter die Heizung –’ ...“ Sie hielt inne und drehte sich um. „He, habt ihr das eben gehört? Das war doch die Haustür. Ich gehe mal schnell aufmachen, ja?“ Sie sprang von ihrem kleinen Stuhl auf und wetzte die Treppe hinunter. Vom Cosmo Canyon aus war es relativ unweit bis nach Nibelheim, das Problem war vielmehr das Transportmittel. Es gab keinen Zug, es gab keine Luftfähre. Es gab nur eins: Eine sehr, sehr anstrengende Wanderung zu Fuß. Es war also kein Wunder, dass Nanaki alias RedXIII viel zu spät zum Treffen kam. Er zählte jetzt 55 Jahre, was für ein Wesen seiner Spezies immer noch ein Teenager war – wenn auch ein reiferer als zuvor. Zusammen mit seinem Vater Seto beschützte er, wie es vorgesehen war, den Cosmo Canyon, seine Heimat. Und dort war es ruhig ... beachtlich ruhig .... „Na endlich, ich hatte mich schon gefragt, wo ihr bleibt“, sagte Tifa und schloss die Tür hinter Cloud und Vincent. „Wollt ihr mit nach oben kommen und ein paar – ?“ „Dazu ist keine Zeit“, unterbrach sie Vincent, völlig ohne Eile oder Hast in seine Stimme zu legen, lediglich darauf hinweisend, dass er etwas Anderes für dringender hielt. Tifa kicherte vergnügt. „Du bist schon ganz heiser! Ich hab’ doch gesagt, du solltest unbedingt deine Heizung reparieren!“ „Das ist nicht der Grund, weswegen meine Stimme gelitten hat“, erklärte er geduldig. „Hol die anderen.“ Sie zuckte die Schultern. „Na gut, wie du willst ... warte einen Moment.“ Cloud war geneigt, ihr zu folgen, blieb dann aber doch neben Vincent im Flur stehen. Von letzterem ging eine unbekannte Anspannung aus, die den Schwertkampflehrer der AVALANCHE sichtlich nervös machte ... „Kannst du denn nicht wenigstens mir verraten, was du gefunden hast? Oder ist es eine Überraschung?“ „Überraschung.“ Vincent wandte nicht den Blick von der Inneneinrichtung des Hauses ab, als er antwortete: „Wenn du es so ausdrücken willst ... ja. Allerdings eher nicht im positiven Sinne.“ Ein Anflug von sarkastischer Belustigung huschte über sein ruhiges, wenig ausdrucksvolles Gesicht, von dem momentan für Cloud nicht viel zu sehen war. „Wenn ich nicht so naiv gewesen wäre, dann wäre ich jetzt auch nicht heiser.“ Cloud schnitt eine Grimasse. „Du machst mich ziemlich neugierig mit diesen Andeutungen, weißt du das?“ Vincent schwieg. „Ist es vielleicht ein kleines Etwas, mit dem man die Heizung wieder zum Funktionieren bringen kann?“ Ein freudloses Kichern. „Hm ... keine schlechte Idee, Cloud ... nein.“ „Was dann?“ „Wart’s ab.“ Der Reihe nach kamen alle Gäste die Holztreppe herabgetrottet. Marlene musste an beiden Armen festgehalten werden. „Es kann losgehen“, verkündete Tifa. „Zeig uns deine Entdeckung.“ Nanaki sah nichts. Er hatte das Dorf weniger dunkel in Erinnerung ... Seine Sinne waren immerhin fein genug, um Schritte und leise Stimmen zu hören, die sich hinüber in Richtung der dunkeln Villa bewegten. Und dort – das war eine brennende Zigarette! „Wartet!“, rief er. „Ich bin’s!“ „Agh!“ Fast wäre Cloud über den Vierbeiner gestolpert. „Wo kommst du denn auf einmal her?“ „Begrüßt man so einen alten Freund?“, gab Nanaki zurück und rieb sich die Nase, welche Cloud mit dem Knie gerammt hatte, mit einer Pfote. „Nein, ganz sicherlich nicht ... aber über einen alten Freund stolpert man im Normalfall auch nicht!“ „Ich bin ein bisschen zu spät, weil ich zu Fuß kommen musste. Sagt mal ... wohin geht ihr?“ „Du kannst gleich mitkommen. Wir wollten jetzt gerade das große Geheimnis ansehen gehen.“ „Das, von dem in der Einladung die Rede war?“ „Anscheinend ja.“ „Dann sollten wir uns beeilen.“ Cloud griff nach einer von Nanakis Haarsträhnen und führte ihn in die richtige Richtung. Vincent lehnte das Tor an und wartete, bis alle es passiert hatten, bevor er es wieder schloss. In der Tür blieb Tifa, die den Trupp nun anführte, wie alarmiert stehen. „Hier stimmt irgendetwas nicht ...“ Nanaki schnaubte durch die Nase. „Hier liegt ein ganz beißender Geruch in der Luft.“ „Das ist Chlorgas“, erklärte Vincent. Ein jeder drehte sich in der Finsternis zu ihm um. „Und woher kommt das?“, wollte Cloud wissen. „Doch nicht etwa aus der ...?“ „Das hat nichts mit meiner Heizung zu tun“, sagte Vincent nachdrücklich. „Ich habe etwas im Keller gefunden.“ „Ja, das wissen wir doch, aber was hast du gefunden? Einen Haufen Chemikalien?“ „Ja ... das auch. Aber noch etwas anderes. Mein Problem sind nur diese chemischen Gase. Ihr hört ja, dass ich heiser bin ... ich war dort unten, und ihr wisst sicherlich, wie das mit dem Chlorgas ist.“ „Ich weiß es nicht“, murmelte Yuffie, und ihre hohe Stimme durchbrach die Stille des alten Hauses auf eine Gänsehaut erregende Weise. „Chlorgas“, erläuterte Cid, „ist eine chemische Verbindung, die sofort mit Wasser reagiert – sie bildet dann die uns wohl bekannte, stark ätzende Salzsäure. Unser Körper besteht zu etwa neunzig Prozent aus Wasser. Es ist also nicht empfehlenswert, sich in die Nähe von Chlorgas zu begeben, wenn man nicht größtenteils zu Salzsäure werden will.“ „Ich habe es zum Glück noch rechtzeitig bemerkt“, fügte Vincent hinzu. „Die Augen brennen, und wenn man Luft holt, dann spürt man, wie sich die Schleimhäute auflösen ... ich gehe auf keinen Fall noch einmal hinunter. Ich verätze mir sonst die Lungen und auch alles andere.“ „Hiiiiilfe!“ Yuffie war zurück gewichen. „Ich will nicht, nein!“ „Keiner geht dort runter, bis wir den Raum durchgelüftet haben. Ich weiß nur nicht, wie wir das anstellen sollen.“ „Was is’ das überhaupt für’n Raum?“, hakte Barret nach. „Unter der Bibliothek gibt es eine Falltür. Sie befindet sich halb unter dem Bücherregal. Nicht einmal Sephiroth dürfte sie damals gefunden haben.“ „Und Hojo?“ „Ich weiß es nicht.“ Cloud trat nunmehr als erster über die Türschwelle. „Das müssen wir herausfinden. Wir müssen unbedingt wissen, was dort ist.“ Er schnupperte und spürte das markante Kitzeln im Rachen. „Und das Gas ... das kriegen wir da schon raus.“ Kapitel 4: Things Start Moving ------------------------------ Die einzige verfügbare Macht, die das Problem würde lösen können, war die AVALANCHE. Mithilfe irgendeiner Technologie, welche die Friedenseinheit von den Überresten den Shin-Ra Corporation übernommen hatte, musste es möglich sein, Gas aus einem unterirdischen Raum zu entfernen, der keine direkte Verbindung zur Oberfläche hatten. Aber Hojo und sein Team hatten damals schon eine Menge Arbeit geleistet ... Barret und Cid beschlossen sofort, sich um die Arbeit zu kümmern und diese simple Angelegenheit zu regeln. Zu diesem Zweck machten sie sich mit der Tiny Bronco, die noch mitten auf dem Dorfplatz geparkt stand, auf den Weg zum HQ. „Ich hätte vielleicht auch etwas bewerkstelligen können“, sagte Skylar Goodsworth wenige Minuten nach dem Aufbruch der beiden. „Ich meine, immerhin arbeite ich bei der Heavy Transport Machines Company.“ „Und was hat das mit unserem Problem zu tun?“, wollte sein Sohn wenig interessiert wissen. Skylar schwieg. Entgegen aller Hoffnungen war Tifa noch einmal zurück zu ihrem Haus gerannt, um ihre Käsehäppchen und die Kleinen Dinger Mit Schokolade zu holen, damit ihr Besuch beim Warten nicht verhungern konnte. Niemand machte den Fehler, etwas von den Spezialitäten zu probieren. In der großen Halle, wo auch der eingestaubte Flügel stand, saßen nun alle Zurückgebliebenen auf Stühlen und zündeten reihenweise Kerzen an, nur um den Raum zu erhellen – der Strom war vorübergehend ausgefallen. Cloud saß mit herabhängenden Schultern vor dem Piano Forte und starrte in die kleine gelbe Flamme der Kerze, die auf dem Tastendeckel stand und langsam in Wachs zerfloss. „Eine wundervolle Atmosphäre“, kommentierte Reeve, „und so sagenhaft still.“ Yuffie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich möchte mal wissen, was passieren würde, wenn ich in den Keller und den unbekannten Raum klettern und dabei einen Säureschutz oder so tragen täte.“ „So etwas existiert nicht“, antwortete Vincent aus einer anderen Ecke des Saales leise. „Und selbst wenn, damit wärst du nur gegen eine einzige Gefahr gewappnet. Es können sich noch andere Gase dort unten befinden. Um eines zu nennen, da wäre das Kohlenstoffmonooxid, Teil des von uns so geliebten Morbolgases, das sich dreihundertmal stärker an den Blutfarbstoff Hämoglobin bindet als Sauerstoff ... du würdest, müsstest du es einatmen, schon nach Sekunden das Bewusstsein verlieren und binnen kürzester Zeit ersticken. Wir könnten dich noch nicht einmal wiederbeleben. Ich werde es jedenfalls nicht wagen, den Keller wieder zu betreten, solange wir nicht sicher sind, dass sich da unten nichts Bedrohliches mehr in der Luft befindet.“ Seine roten Augen blinzelten trübe in die Dunkelheit. „Deswegen werden wir jetzt warten, bis Cid und Barret mit einer Lösung zu uns zurückkommen.“ Die Zeit floss zäh dahin. Nach wenigen Stunden des Schweigens riskierte Tifa einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ihr Lieben ... es ist mitten in der Nacht.“ „Ist mir egal“, antwortete Cloud schläfrig. „Ich will wissen, was da unten ist. Vincent, hast du denn eigentlich ... gar nichts gesehen?“ Es dauerte einen Augenblick, bis die Antwort kam. „Doch“, sagte Vincent. Er fügte jedoch keine näheren Erklärungen hinzu. „Und was war da? Muss man dir heute eigentlich alles aus der Nase ziehen?“ „Metall. Eine Menge Metall ... Schalter und Hebel und solche Sachen. Es sah aus wie eine Maschine, und die Hülle glänzte sonderbar.“ „Das Raumschiff, mit dem JENOVA auf die Erde gekommen ist!“, rief Yuffie begeistert. Sie erntete einen merkwürdigen Blick von Vincent, den sie im fahlen Mondlicht unglücklicherweise nicht deuten konnte. „JENOVA hatte kein Raumschiff. Sie kam mit einem Meteor, soviel ich weiß ... und sie ist außerdem niemals in diesem Haus gewesen.“ „Dann ist es vielleicht eine Zeitmaschine!“ „Das wäre cool“, stimmte die sichtlich gelangweilte Marlene zu. „Ich glaube, dann würde ich in die Vergangenheit reisen und die Vorfahren meines Geschichtslehrers umbringen.“ Eine lange Pause entstand. Irgendwann jedoch sagte Tifa: „Ich bin verdammt müde.“ Vincent verstand die Pragmatik dieser Aussage sehr wohl. Es bedeutete: Ich will ins Bett, und zwar sofort. Er stand auf. „Komm mit. Ich hoffe nur, dass du dich nicht fürchtest, alleine in einem dunklen Zimmer. Davon könntest du schlagartig wieder hellwach werden ...“ „Jetzt würde ich durch nichts wieder hellwach werden“, grummelte die Botschafterin des mittleren Kontinents und lehnte sich schwer gegen seine magere Schulter. „Zeig mir den Weg, mach schon.“ Vincent hielt noch ein weiteres Mal inne und starrte die anderen an. „Wollt ihr auch schlafen gehen?“ Yuffie und Cloud wechselten einen Blick. „Du bleibst auf, nicht wahr?“, wollte Letzterer wissen. „Ich bin nachtaktiv. Ich kann nicht schlafen, wenn es draußen dunkel ist. Das macht mich unruhig, nervös ... du weißt schon.“ Das war erst so, seit Hojo einige seiner Experimente an Vincent durchgeführt hatte, welche ihn zu etwas machten, das in überdeutlichem Maße an einen Vampir erinnerte. Eigentlich war der einzige Unterschied, dass Vincent Valentine tatsächlich Blut hasste. Er fürchtete sich zwar nicht davor, leckte sich aber noch nicht einmal den Finger ab, wenn er sich geschnitten hatte. Demzufolge konnte er es nicht leiden, von Cid humoristischer Weise gelegentlich als ein Vampir bezeichnet zu werden. Als Tifa im Bett lag – in irgendeinem der vorhandenen –, gesellte sich Vincent wieder zu den Anderen. Je heller der Mond durch das Fenster schien, desto reger wurde deutlich sein Verhalten. Er war munter. Schließlich kratzte Cloud die Reste seiner Wachskerze vom Deckel und klappte diesen nach oben. Die schwarzen und weißen Tasten des Flügels blitzten ihm reizvoll entgegen. „Soll ich ein wenig spielen?“ „Weck Tifa nicht auf“, erinnerte ihn Reeve. „Sie schläft doch wie ein Stein.“ „Trotzdem ... –“ Er unterbrach sich und verharrte reglos. „Sagt mal ... habt ihr das gehört?“ „Das Flugzeug kommt zurück?“, fragte Yuffie alarmiert. „Nein, nein, kein Flugzeug ... hat nicht jemand etwas geflüstert oder so ...?“ Möglicherweise war die düstere Atmosphäre Schuld, der kalte Mondschein und das riesige unheimliche Haus – Cloud bekam eine Gänsehaut. Am helllichten Tage wäre ihm das sicher nicht passiert. „Hast du denn verstanden, was er oder sie gesagt hat, Reeve?“, fragte er und war verwundert über seine leicht zitternde Stimme. „Nein, nicht genau. War vielleicht auch nur Einbildung ... ich meine, dass es hier Gespenster gibt, das wissen wir ja alle ...“ Bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, sprang Nanaki auf die Füße und duckte sich in eine Ecke neben dem Flügel. Seine starre Schwanzspitze zuckte. „Red?“ Cloud stand vom Stuhl auf und hockte sich in Augenhöhe zu seinem verängstigten Kameraden. „Stimmt was nicht?“ Ein leises Jammern war die Antwort, und der Vierbeiner legte beide Vorderpfoten über die Augen. „Holt mir ein Licht!“, befahl Cloud hastig. „Ich kann nichts sehen!“ Skylar kam mit einem Kerzenhalter zu ihm und reichte ihn seinem Sohn. „Was hat denn der Kleine?“ „Keine Ahnung.“ Vorsichtig streckte Cloud die Hand in die Richtung aus, in welcher ihm Nanakis schrägliegende Augen entgegenfunkelten. „Komm schon, Red. Es ist nichts passiert. Hast du dir weh getan?“ „Cloud ... da ist etwas ...“ Ganz dünn und ungewohnt panisch klang die Stimme von Hojos ehemaligem Forschungsobjekt. Normalerweise war Nanaki ein Sinnbild des Mutes ... „Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete Cloud. Ein seltsamer dumpfer Ton erklang plötzlich. Es hörte sich an, als hätte jemand die Saite eines Basses angeschlagen, war aber wesentlich lauter und hallte sekundenlang nach. Niemand wagte sich zu regen. „Was ... was war das?“, wisperte Skylar in die Düsternis. Eigentlich hoffte er kaum auf eine Antwort. Der Ton kam erneut, noch lauter und so intensiv, dass der Fußboden vibrierte. Es gab nichts auf der Welt, das einen solchen Laut erzeugen konnte – außer vielleicht eines Basses, wie bereits erwähnt, aber erstens gab es in der Shin-Ra-Villa kein Instrument neben dem alten Flügel und zweitens wäre kein Bass so furchtbar laut gewesen. Nanaki hatte sich ganz klein gemacht. „Es kommt aus dem Keller“, stellte Vincent fest, „was immer es auch ist.“ „Oh, toll“, kommentierte Skylar. „Also sitzt dort außer dieser Maschine wohl noch ein Monster mit Saiten dran, die es zupft und für Musik hält, oder so ...“ Cloud rollte die Augen. „Blödsinn. Das Geräusch wird vermutlich nur von diesem Gerät verursacht. Wenn Cid und Barret bald zurück sind, können wir es ja bald schon sehen ... wenn alles funktioniert.“ Er strich Nanaki mit den Fingerspitzen über das Stirnhaar. „Komm da raus, Red. Was auch immer im Keller ist, es kann nicht heraus.“ Nanaki schüttelte den Kopf. „Ich habe das Gefühl, es ist schon draußen.“ Mit einem leisen Wimmern kam er aus der Ecke hervorgekrochen. Cloud erhob sich langsam und überlegte, was dieser letzte Satz bedeuten sollte, als ein bekannteres Geräusch die wiedergekehrte Stille durchschnitt: Die Triebwerke der Tiny Bronco. „Sie kommen!“, rief Yuffie, und die Erleichterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Gemeinsam traten alle vor die Tür, außer Tifa, die offensichtlich überhaupt nichts von dem sonderbaren Spuk bemerkt hatte, und hielten in der Dunkelheit Ausschau nach den Lichtern des kleinen Flugzeugs. Es hatte einige Zeit gedauert, vom technischen Leiter der AVALANCHE die notwendige Technologie anzufordern. Obwohl Barret der Präsident der Friedenseinheiten war und Cid der erste Ingenieur – wenn alles über den Sachverständiger lief, konnten solche Angelegenheiten eben Stunden in Anspruch nehmen ... vor allem mitten in der Nacht. „Tut uns Leid, dass es so lange gedauert hat“, murrte Barret in die Finsternis. Seine Tochter Marlene warf ihm einen genervten Blick zu. „Hier passieren seltsame Dinge“, flüsterte Vincent. „Beeilen wir uns.“ „Wir können“, warf Yuffie ein, „doch von hier verschwinden und morgen früh am helllichten Tage weitermachen – wenn es weniger unheimlich ist!“ „Das können wir nicht“, widersprach Vincent. „Dazu ist es vielleicht zu spät ... wir müssen unbedingt wissen, was da unten ist!“ „Dann fangen wir jetzt an“, sagte Cid, erkennbar an seinem glühenden Zigarettenstummel. „Ihr müsst mir helfen. Wir haben eine dichte Leitung aus flexiblem Material dabei, aber damit würden wir jede Luft aus dem Keller entfernen, also ein Vakuum erzeugen ...“ „Dann müssen wir anschließend wieder Sauerstoff hineinleiten?“ „Vielleicht nicht. Sauerstoff fällt doch nach unten, weil er schwerer ist als die meisten anderen Luftbestandteile. Es müsste also genügen, die Falltür, von der du gesprochen hast, offen zu lassen.“ Vincent nickte. „Kommt mit, schnell.“ Kapitel 5: Just One More Step ----------------------------- „Solange der Strom noch ausgefallen is’, können wir nich’ anfangen.“ Barret stand im kleinen Nebenzimmer rechts des Eingangs vor der fest verschlossenen Kellertür. „Hast du denn keinen Notstromgenerator?“ In Vincents regloser Miene zeigten sich plötzliche Zweifel, wenn auch nur für einige Sekunden. „Ich ... bin nicht sicher.“ „Wenn überhaupt, dann befindet er sich wahrscheinlich auch im Keller“, stellte Cloud nüchtern fest. „Das dürfte die Sache erheblich erschweren.“ „Das is’ ja, als würde man eine Kiste mit einem Brecheisen öffnen wollen, das in der Kiste liegt ...“ Die Drei wechselten einen ratlosen Blick. „Bleibt hier“, murmelte Barret schließlich. „Ich glaube, da gibt’s was, das man machen kann ...“ Cid, Yuffie und Skylar saßen neben dem kleinen mottenzerfressenen Bett, auf welchem Tifa ausgestreckt wie eine Eidechse auf dem Bauch lag und leise schnarchte. Ihre rosafarbene Seidenbluse war ziemlich zerknittert. „Was ist denn so Aufregendes passiert?“, wollte der Pilot der AVALANCHE mit unverhaltener Neugier wissen. „Nur Geräusche“, antwortete Yuffie. „Allerdings seltsame Geräusche“, fügte Skylar hinzu. Er starrte stumpfsinnig auf das Bettlaken und warf nur kurz einen Blick hinüber. Cid bohrte weiter: „Und ihr seid ganz sicher, dass sie aus dem Keller kamen?“ „Sind wir nicht. Das hat Vincent gesagt.“ „Hm. Nun ja, Vincent kann man in den meisten Fällen ruhig glauben. Wahrscheinlich ist er selbst ziemlich beunruhigt wegen dieses Etwas in seinem Haus.“ Eine kurze nachdenkliche Pause folgte, bis Barret von außen die Tür öffnete. „Hier seid ihr! Hab’ schon nach dir gesucht, Cid. Das Problem is’ der Strom. Wir müssen die Maschine irgendwie anschmeißen, aber es gibt keine Energie.“ „Habt ihr denn die Leitungen schon gelegt?“, hakte Cid nach, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben. „Nee, noch nich’ – aber wenn’s denn soweit is’, können wir dann nich’ erst mal die Batterie der Tiny Bronco anzapfen?“ Cids Augen verengten sich um wenige Millimeter. „So, also das ist der Plan – verstehe. Mein Flugzeug ist mal wieder die letzte Rettung ... aber das müsste funktionieren. Machen wir’s.“ Er stand auf und schickte sich an, Barret zu folgen. „Moment mal!“, rief Skylar plötzlich. „Wenn wir die Batterie dabei verbrauchen, dann wird die Tiny Bronco nicht mehr fliegen, oder?!“ Schon befürchtete er, am nächsten Tag nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheinen zu können. „Natürlich fliegt sie dann noch“, antwortete Cid, „mach dir mal keine Sorgen. Unser Maschinchen hier hat fast denselben Motor wie das Flugzeug.“ „Und was soll das bitteschön heißen?“ „Ich erkläre es dir.“ Cid blieb vor Clouds Vater stehen wie ein Lehrer, der versucht, einem dummen Schüler etwas beizubringen. „Weißt du, die Batterie wird nur dazu genutzt, den Motor in Gang zu bringen, also ihn anzulassen. Danach läuft der Motor, die sogenannte Lichtmaschine, allein weiter und lädt dabei die Batterie wieder auf. Auch unser Gerät, mit dem wir das Gas absaugen, wird die Batterie also wieder soweit aufladen, dass sie den Motor der Tiny Bronco anschmeißen kann, und wir müssen nicht hier versauern. Kapiert?“ „Kapiert“, antwortete Skylar, der eigentlich nichts verstanden hatte. „Na dann, fangt mal an.“ Nach wie vor standen Cloud und Vincent schweigend vor der Kellertür. Barret näherte sich ihnen von hinten, Cid trottete hinter ihm her. „Das Problem is’ gelöst“, sagte er. „Jetzt müssen wir aber erst mal die Leitungen legen.“ „Gut. Dann los.“ Vincent schob den Riegel der Metalltür zurück, welche zu einem Tunnel tief hinein in die massive Steinwand führte – der Keller unterhalb der Shin-Ra-Villa. Sofort stieg ihnen der stechende, ätzende Geruch des Chlorgases in die Nasen, aber nicht nur das. Da war noch etwas. Noch viel mehr. Und alles drängte nach draußen ... Cloud wich taumelnd zurück, als sich etwas auf ihn stürzte, das er nicht sehen konnte. Es war wie eine Flüssigkeit, die ihm jemand über den Kopf goss, die an ihm herunterrann und bis tief in seine Organe kroch. Er schnappte nach Luft, stieß mit dem Rücken gegen die Wand und krümmte sich fröstelnd zusammen. Wenige Sekunden später öffnete er die Augen und sah, wie Cid und Barret das Rohr, welches aus einem elastischen Metall zu bestehen schien, durch die Kellertür immer weiter nach unten schoben. Cloud selbst lag auf dem Rücken, seine Glieder waren kalt und schlaff und er fühlte, dass ihm Flüssigkeit aus der Nase über die Lippen lief. Als er sie mit der Zunge berührte, konnte er schmecken, dass es Blut war. „Was ... was war das ...?“ Zitternd bemühte er sich, irgendwie auf die Beine zu kommen. Seine beiden Freunde Cid und Barret schienen immer noch eifrig dabei, ihre Arbeit zu beenden. Eine kalte klauenbewehrte Hand legte sich fest wie ein Schraubstock um sein Handgelenk. „Cloud, sei ganz ruhig. Du hast es gespürt, oder?“, flüsterte Vincent. „J-ja.“ Es musste ganz offensichtlich sein. „Ich habe es gespürt ... was war es, Vincent?“ „Es wollte die ganze Zeit nach draußen, schätze ich, und war schon zum Teil entkommen, als ich das erste Mal die Falltür geöffnet habe ... nun ist es weg, vollkommen.“ „Kommt es zurück?“ „Ich weiß nicht.“ Cloud starrte Vincent in die funkelnden roten Augen und befreite sich dann schnell von seinen metallenen Fingern. „Ich glaube, ich kannte es. Ich kann mich nur nicht erinnern, wo ich diesem Gefühl schon einmal begegnet bin.“ Vincent sagte nichts, reichte Cloud aber ein Taschentuch, um das Blut abzuwischen. „Wir sind fertig!“, rief Cid. Er kniete immer noch vor dem Kellereingang und vermied es, tief Luft zu holen. „Das Gas ist draußen, alles was dort unten war. Die Kellerräume werden sich jetzt allmählich wieder mit frischer Luft füllen.“ „Soll’n wir die anderen holen?“, bot sich Barret an, ohne die Tür in der Wand aus den Augen zu lassen. „Ich mache das“, murmelte Cloud, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über das Gesicht und zog sich an einem dicht stehenden Stuhl hoch. „Geht’s dir gut? Du siehst ’n bisschen angegriffen aus, seit wir von diesem Dingens überschwemmt wurden ... willste dich nicht lieber einen Moment ausruhen?“ „Nein, Barret. Es geht mir gut, und ich werde auf alle Fälle mit in den Keller gehen.“ Cloud straffte die Schultern und verließ schnellen Schrittes das Nebenzimmer. Zwar pochte es noch schwach in seinen Schläfen und eine leichte Trübung seines Blickfeldes stellte sich ein, seitdem er losgegangen war, aber er war sichtlich entschlossen, sich keinerlei Beeinträchtigungen anmerken zu lassen. Jedenfalls nicht jetzt. Neben Tifas Bett standen immer noch Yuffie und Skylar Goodsworth. Die Gastgeberin schnarchte vernehmlich vor sich hin und nahm keine Notiz von der stärker werdenden Aufregung um sich herum. Oder tat sie das doch? Hin und wieder zuckte sie im Schlaf zusammen und gab ein leises Geräusch von sich, das irgendwie ... nach einem weinenden Eichhörnchen klang. Die Beistehenden drehten sich kollektiv um, als sich die Tür wenige Zentimeter öffnete. „Ich bin es“, flüsterte Cloud von draußen. „Wir können in den Keller gehen, es ist jetzt sicher.“ „Ich komme mit runter!“, antwortete Yuffie sofort und eilte zu ihm hin. „Los doch, wir müssen diesen geheimen Ort untersuchen!“ Clouds Blick wanderte zu Tifa, die mittlerweile verdreht und unruhig unter der zerschlissenen Wolldecke lag. Ihr langes dunkles Haar glänzte im zur Tür hereinfallenden Licht. „Vater, bleibst du bei ihr?“ „Ich lasse sie schon nicht aus den Augen“, antwortete Skylar fest. „Danke. Und sag Reeve, Marlene und Red Bescheid, damit sie wissen, wo wir sind. Sie sollen zusammen bleiben, denn in diesem großen dunklen Haus ist es leicht, sich zu verlaufen.“ Goodsworth’ leicht gelangweilte Miene verzerrte sich jäh zu einem breiten Grinsen. „Mach dir um Himmels Willen nicht so viele Gedanken! Von mir hast du das jedenfalls nicht!“ Cloud schnaubte leise und drehte sich um. Voller Abenteuerlust folgte ihm Yuffie nach draußen und in Richtung Keller. „Vincent, vielleicht solltest du zum Arzt gehen, wenn du morgen immer noch Halsschmerzen von diesem Chlorgas hast“, sagte Cid, während er die Leitungen wieder einholte. „Sei nicht albern, Cid.“ Vincents Stimme klang fürchterlich heiser und abgenutzt. „Bin ich nicht. Wie lange warst du da unten?“ „Nicht lange genug, um ins Gras zu beißen. Ich werde mich davon schon erholen, mein Freund, denn ich bin einfach zu jung zum Sterben.“ Nachdrücklich zog er mit einer metallenen Fingerspitze seinen völlig ungerade verlaufenden Haarscheitel nach. „Und wenn ihr jetzt mit mir kommt ... dann vergesst nicht, dass ich euch vor dem gewarnt habe, das sich dort unten befindet.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dass du uns gewarnt hast“, antwortete Cid und tat unwissend. „Wir werden natürlich alle dir die Schuld geben, wenn jemand umkommt.“ Vincent war klug genug, den Sarkasmus zu bemerken. „Ich glaube, in nächster Zeit werde ich euch nichts mehr von meinen Entdeckungen erzählen. Nicht einmal, wenn ich eine Substanz auffinde, mit der man JENOVA in eine mit Steinpilzen jonglierende Kokosmakrone verwandeln kann. Vielen Dank auch.“ Mit einem Klicken schloss sich der Deckel des Koffers, in welchem die Ausrüstung verstaut worden war. „Fertig“, murmelte Barret, der sich aus der Neckerei der beiden alten Freunde nur zu gern heraushielt. „Alles wieder eingeräumt. Jetzt kann’s aber wirklich losgeh’n.“ Wie auf ein geheimes Kommando betraten Cloud und Yuffie das Zimmer und schauten gleichermaßen erwartungsvoll in die Runde. Es war alles bereit ... „Gehen wir jetzt endlich?“, drängelte Yuffie. „Möglichst noch bevor die Sonne wieder aufgeht?“ „Es ist bei Dunkelheit sicher schön unheimlich“, kommentierte Cid und blies etwas Zigarettenrauch in Gestalt eines formschönen Kringels hervor. „Der Strom ist immer noch weg, da unten funktioniert das Licht nicht.“ „Taschenlampen“, kam es von Cloud. „Hervorragende Idee.“ Cid nahm eine weitere Tasche, die er und Barret mitgebracht hatten, vom Boden hoch und untersuchte deren Inhalt. „Ah ja. Zwei Stück haben wir. Es ist ratsam, dicht zusammen zu bleiben.“ „Ich will eine!“, verlangte Yuffie und streckte fordernd die Hand aus. Einige Sekunden lang waren die Augen der anderen Vier geduldig auf sie gerichtet. Dann begriff die junge Frau, was von ihr erwartet wurde. „Oh, hoppla ... haha. Ich werde wohl nie erwachsen. Also, äh ... wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne eine der beiden Taschenlampen tragen. Bitte“, fügte sie hoffnungsvoll hinzu. „Es geht doch, Yuffie!“ Mit einem aufmunternden Nicken reichte Cid Yuffie eine Taschenlampe und gab die andere Vincent. „Du musst uns den Weg zeigen.“ „Dann los.“ Vincent schaltete die Lampe an und ging voraus. Seine Schritte hallten hohl im Treppenhaus wieder, obwohl die Stufen aus Holz bestanden. Zusammen mit dem Licht entfernte er sich in die Tiefe. „Kommt“, sagte Cloud motivierend und folgte dann selbst als erster. Einer nach dem anderen gingen Yuffie, Barret und Cid hinterdrein, ließen jedoch die Kellertür weit offen, um im Notfall nach oben flüchten zu können. Kapitel 6: Going Underground ---------------------------- Kalte Finsternis umgab sie. Das Licht der Taschenlampen schien einen Kampf gegen die riesigen Schatten zu führen, die ihre Körper warfen. Kein Laut war zu hören. Einige kleine Tiere huschten in ihre Schlupfwinkel, als der grelle Schein sie berührte. Hier und da wurde das Licht von kleinen blinkenden Augen zurückgeworfen. „Bleibt bei mir“, sagte Vincent ruhig. „Wir sind jetzt neben der Tür, die zu den Särgen führt. Wir müssen in die Bibliothek.“ Cloud schluckte. Er hatte keine Angst, das sicher nicht ... aber er spürte nun wieder die kalten, tastenden Finger jenes seltsamen Gefühls, das er bereits kannte. Es war haargenau dasselbe. Nur was war es? Er konnte sich einfach nicht erinnern. Aber das musste er ... Problemlos fand Vincent die Tür, ohne seine Taschenlampe darauf zu richten. Das wäre auch überflüssig, denn er konnte hervorragend im Dunkeln sehen. Bei seinen Experimenten hatte Hojo Vincents Augenhinterränder mit einer lichtzurückstrahlenden Fläche versehen, wie sie Katzen und anderen nachtaktiven Tieren von Natur aus zueigen war, dem sogenannten Tapetum lucidum. Sich zu orientieren war somit für Vincent kein Problem. „Wir sind da. Kommt rein und bleibt stehen, damit ihr nicht durch die offene Falltür fallt, verstanden? Cloud, nimm die Taschenlampe.“ Wie in Trance nahm Cloud die Lampe entgegen und hielt sie gesenkt in einer Hand. Immer klammer und fester wurde der Griff dieser aggressiven Emotion – es war, als wolle ES ihn ersticken. Trauer. Vielleicht Depression ... etwas in dieser Richtung musste es sein, aber es verhielt sich wie ein Ton, der durch einen Verstärker ein Vielfaches an Kraft gewinnt. Ein so intensives, fast greifbares Gefühl war Cloud – wie bereits erwähnt – erst ein einziges Mal zuvor begegnet, und jetzt war es beängstigend, denn es ließ ihn nicht mehr los. Ein leises hölzernes Geräusch erklang. „Ich habe die Leiter angelehnt“, sagte Vincent. „Leuchtet bitte hier her mit der Lampe. Ja, genau dort. Das ist die Falltür, hier neben dem Regal. Ich habe sie nie zuvor gesehen.“ „Wir müssen annehmen, dass sie sich schon immer hier befindet, und wir sie nur übersehen haben“, ließ sich Cid vernehmen. Seine Zigarette glühte. „Naja, wie auch immer. Vincent, geh runter. Wir kommen nach.“ „Das will ich hoffen“, war die Antwort, dann kletterte Vincent behände die Leiter hinunter. Cloud blieb als Letzter zurück, stark darauf konzentriert, den eisernen Griff des ES niederzuringen. „Wartet, ich – ich komme gleich.“ „Wow!“, ertönte Yuffies Stimme von unten, vielfach von vermutlich weit entfernten Wänden zurückgeworfen. „Cloud, beeil dich! Das musst du sehen ... hier ist es ganz unglaublich dunkel!“ Da bin ich mir sicher, dachte jener mit einem Anflug von Sarkasmus. Entschlossen ballte er die Hände zu Fäusten und stieg zitternd die Holzleiter hinab in noch tiefere Düsternis. Als er unten war, setzten seine Füße auf Metallboden auf. Und er sah nichts. Seine Taschenlampe vermochte überhaupt kein Licht zu spenden in dieser undurchdringlichen Finsternis, und genauso wenig konnte er Yuffies Lampe irgendwo erkennen. War er allein? War er gefangen? Sein Herz pochte immer schneller, und er spürte das Pulsieren der Arterien am Hals. „Wo seid ihr?!“ Niemand antwortete ihm. Inzwischen wusste er auch nicht mehr, wo die Leiter stand. Schweiß brach ihm aus – zum wiederholten Male, wie es schien, denn nun rannen bereits Tropfen an seinen Wangen herab. Auf einmal ging das Licht an. Es war wie ein Schock, wie ein elektrischer Schlag. Das Licht war hell, und die Ringmuskeln in Clouds Augen protestierten schmerzhaft, als es an ihnen lag, die Pupillen innerhalb von Sekundebruchteilen auf das Minimum zu verengen. „Na also. Ich sagte doch, es funktioniert.“ Dies war die Stimme von Cid, ganz in der Nähe. „Wa-was hast du gemacht?“, brachte Cloud stotternd hervor, ohne schon wieder etwas sehen zu können. „Dies hier drüben ist der Notstromgenerator. Da er sich hier unten befindet, müssen zumindest Menschen vor uns diesen Raum entdeckt haben.“ „Das ist anzunehmen“, antwortete Vincent unbeeindruckt, „denn schließlich wurde dieser Raum von Menschen gemacht, wenn mich nicht alles täuscht.“ Für einige Augenblicke noch waren sie alle geblendet, dann klärte sich schließlich ihre Sicht. Der unterirdische Raum war riesig – kaum zu glauben, dass er tatsächlich noch unter dem Keller der Nibelvilla lag. Die Wände waren hoch und rund geschwungen, wodurch das Zimmer die Form einer Blase erhielt, und sie glänzten wie silberne Seide. Es war geradezu außerweltlich. Welchen Zweck erfüllte dieser Raum? „Es ist beeindruckend, nicht wahr?“, vergewisserte sich Vincent. „Ich war überwältigt und hätte mir sicherlich mehr Zeit zum Betrachten gelassen, wenn nicht alles an mir geneigt gewesen wäre, eine chemische Bindung mit Cl2 einzugehen. Oh, ja ... so etwas habe ich wirklich noch nie gesehen ...“ „Ich will dich ungern unterbrechen“, wagte sich Barret vorsichtig dazwischen, „aber haste nich’ gesagt, dass du hier eine ... Maschine geseh’n haben willst?“ „Hm ...“ Vincent blinzelte und sah sich nachdenklich um. „Doch, habe ich ... aber ... sie stand hier drüben.“ Ohne ein Geräusch zu verursachen ging er nach links und blieb dicht an der Wand stehen. „Das verstehe ich nicht. Der Raum war hier noch nicht zu Ende. Es folgte ein Tunnel, an dessen Ende ich Schalter und solche Dinge sehen konnte. Ich werde mich doch nicht ... getäuscht haben ..?“ Völlig ratlos starrte er die glitzernde Wand an. Dann streckte er die Hand aus, und sofort schien das massive Material zurückzuweichen – wie Quecksilber zerfloss es, allerdings nach links und rechts statt zu Boden, und gab den Weg in eine Art Grotte frei. Weit hinten schimmerte etwas matt in gelblichem Licht. „Das war es“, gab Vincent leise von sich. Es war ihm völlig unbegreiflich, auf welche Weise sich der Weg nun zu erkennen gegeben hatte. „Ist das aufregend!“ Yuffie umklammerte fest ihre Taschenlampe, die sie nun eigentlich nicht mehr benötigte, und blieb dicht neben dem Ex-Turk stehen. „Hast du Angst, Vincent?“ „Nicht unbedingt. Sagen wir, ich bin etwas nervös. Vielleicht auch beunruhigt. Aber verängstigt? Nein.“ „Eher is’ Cloud verängstigt“, stellte Barret fest. „Sieht ziemlich geschwitzt aus, der Arme.“ Cloud, der immer noch neben der Leiter stand und sich keinen Zentimeter gerührt hatte, kämpfte mit Schrecken und Aufregung. Er holte tief Luft und sagte: „Ich finde nur, dass es hier drinnen immer noch ein wenig stickig ist. Anscheinend war noch nicht genügend Sauerstoff nachgeflossen.“ Langsam näherte er sich den Anderen und damit auch dem offenen Tunnel. Zur selben Zeit fühlte er den Griff des ES zurückkehren: Es legte beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Cloud stieß ein schwaches Röcheln aus und schüttelte sich. „He, alles in Ordnung?“ Alarmiert packte Barret Cloud bei der Schulter. „Himmel, du bekommst wirklich nich’ genug Luft, oder?“ Bei Barrets Berührung war der Druck augenblicklich verschwunden. „Es ist nichts“, log Cloud. „Lass uns gehen.“ Zwar war er alles andere als erpicht auf einen längeren Aufenthalt in diesem Keller, dazu noch so tief unter der Erde und dem übrigen Haus, aber er wollte sich erinnern, der Sache auf den Grund gehen. Fast schon waren Vincent, Yuffie und Cid am anderen Ende des Tunnels angekommen. Und dort ... stand eine Maschine. Sie sah nicht aus wie eine Maschine, die irgendein Mensch gebaut hatte. Ihre Außenhülle glänzte genauso eigenartig wie die Wände des Raumes. „Also doch von Außerirdischen!“, rief Yuffie hocherfreut. „Schade, dass die anderen das nicht sehen können!“ Cloud betrachtete die Maschine voller emotionaler Aufgewühltheit. Das reflektierte Licht an der gewölbten Seite sah aus wie eine Träne, die aus einem Auge floss. Das matte Blau war eine Farbe des Elends, und ein todunglücklicher Seufzer lag ungehört in der Luft ... Wie aus einem Reflex heraus griff sich Cloud an den Hals und stöhnte gequält, aber er konnte nicht verhindern, dass ES ihn packte und mit solcher Brutalität auf ihn wirkte, dass er glaubte, von diesem Etwas verschluckt zu werden. Vor seinen Augen flimmerte es, und eine Woge aus Schmerz und Kummer überrollte ihn. Langsam wurden die Lichter dunkler, verloschen vor seinen Augen, und er merkte nicht, wie er langsam zu Boden ging. ES erdrückte ihn, hielt sein Herz fest in einer geballten Faust und zermalmte es. Woher konnte es nur kommen? Soviel Tränen, soviel Leid ... soviel Hass und soviel Zorn auf einmal. Kälte und Schwärze hüllten ihn unnachgiebig ein wie bleierne Decken. „Cloud! Verdammt noch mal ... Cloud, jetzt rühr dich doch!!“ Völlig außer sich umklammerte Barret Clouds reglose Gestalt und schrie sie verzweifelt an. Erfolglos ... „Lass ihn los, Barret!“, zischte Vincent. „Du wirst ihn noch umbringen! Leg ihn hin und geh weg von ihm!“ Verstört kam Barret dieser Aufforderung nach, was mit deutlichem Zögern verbunden war. „Aber er fühlt sich ganz kalt an ... was is’ denn bloß mit ihm?!“ „Das wirst du nicht erfahren, wenn du ihn vorher erdrückst!“, gab Vincent scharf zurück, schob Barret zur Seite und beugte sich über Cloud. Kurz darauf sagte er: „Zunächst gibt es nichts zu befürchten ... es ist deutlich zu sehen, dass er atmet.“ Cloud öffnete kaum merklich den Mund. „I-i-ich ... Vwwwwwincent …..?“ „Cloud, ich verstehe dich nicht besonders gut. Sei ruhig und atme tief durch ...“ „Nnnnein.“ Er schaffte es, seine Hand auf den Arm von Vincent zu legen, und fragte flüsternd: „Hast du ... es nicht gespürt ...?“ „Was meinst du?“, hakte Vincent sichtlich irritiert nach. „Du meinst doch nicht wieder dieses ... Ding, oder?“ Cloud nickte. Langsam nahmen seine Lippen wieder eine gesündere Farbe an. „Als wir noch oben waren, und es kam raus ... da hast du es doch auch gespürt.“ „Ja, habe ich ... aber nicht hier unten, Cloud. Nichts. Gar nichts.“ „Wovon quatscht ihr?“, wollte Yuffie wissen, die hinter Barret stand und neugierig über dessen Schulter schaute. „Redet doch wenigstens etwas lauter!“ „Nicht der Rede wert, wirklich.“ Vincent schob einen Arm unter Clouds Rücken und half ihm, sich aufzusetzen. „Nicht gleich aufstehen, in Ordnung? Warte noch, bis du dich besser fühlst.“ Am ganzen Leib zitternd ließ Cloud Vincent los und starrte auf den makellosen Boden, auf welchem er saß, und aus seinen Ohren tropfte Blut. Er verstand nichts. War er der Einzige, der ES fühlte? Diese furchtbare, erstickende Traurigkeit ... jetzt wusste er, woher er sie kannte. Er wusste es ganz genau. Ihm wurde übel, als er sich daran erinnerte. „Geht es jetzt wieder?“, fragte Cid ihn sanft. Anstatt zu antworten, ließ sich Cloud nach vorn auf die Hände sinken. Er würgte heftig, und ein dünnes Rinnsaal trüber, schaumiger Flüssigkeit kam heraus. „Ah ja“, kommentierte Yuffie und machte einen Schritt nach rückwärts. „Sag doch gleich, dass dir schlecht ist. Niemand versteht so etwas besser als ich.“ Letzteres sollte eine Anspielung auf ihre andauernde Reisekrankheit sein. Ob Cloud das lustig fand oder nicht, seine Antwort darauf blieb ein überaus teilnahmslos wirkender Blick. „Tut mir Leid ... aber es ... es lässt mich nicht in Ruhe ...“ „Wir müssen von hier weggehen“, sagte Vincent unruhig. „Ihr wisst so gut wie ich, dass hier etwas nicht stimmt. Draußen waren wir uns da alle sicher, aber hier unten scheint Cloud der Einzige zu sein, der es wahrnimmt – vielleicht wird er gewarnt, durch irgendetwas. Schnell, lasst uns verschwinden.“ „Ich weiß, was das für ein Gefühl ist“, murmelte Cloud weiter, während er sich auf die Beine hoch zerren ließ. „Als sich Sephiroth bei mir ausgeweint hat ... damals, als er zusammen mit seiner Schwester auf unserer Seite war ... da hat es mich auch gepackt. Es war dasselbe ...“ Niemand ging näher darauf ein, und auch niemand verstand die Verbindung, die es zwischen diesen beiden Ereignissen geben sollte. Sie hielten Cloud fest, jeder irgendwo, und hasteten zurück zur Leiter, um nach oben zu entkommen. Der Rest des unterirdischen Reiches musste wohl oder übel zu einem anderen Zeitpunkt näher untersucht werden. Vincent warf einen misstrauischen Blick hinab, bevor er die Falltür zufallen ließ und aus der Bibliothek floh. Kapitel 7: Waking Up -------------------- Tifa schreckte hoch. „Whaaaaaa! Oh Himmel, ich – ich hatte einen fürchterlichen Alptraum!!“ Neben ihrem Bett saß Nanaki und stupste ihre zitternde Hand mit seiner feuchten Nase an. „Keine Angst. Alles ist in Ordnung.“ Er wedelte aufmunternd mit dem Schwanz. Unruhig ließ die Botschafterin ihren Blick durch das dunkle Zimmer schweifen. „Wo sind Cloud und die anderen ...?“ „Die sind im Keller. Sie wollten sich das doch ansehen.“ „Waaaas? Die sind da runter … ohne mich?“ „Du hast fest geschlafen.“ „Ihr hättet mich wecken sollen!“ „Du hast sehr fest geschlafen ... dich zu wecken hätte vielleicht Stunden in Anspruch genommen.“ Tifa straffte die Schultern, strich seufzend ihre Seidenbluse glatt (vergeblich) und schwang sich aus dem Bett. „Naja, ist jetzt wohl auch egal ... wie spät ist es?“ „Kurz vor Vier“, antwortete der Vierbeiner und gähnte herzhaft, wobei er seine spitzen glitzernden Zähne entblößte. „Die sind bestimmt gleich wieder da ...“ „Also hat das geklappt, das mit dem Gas? Haben sie es vorher abgeleitet?“ „Ja. Ja, das haben sie.“ Bevor Tifa die Tür öffnen könnte, war Skylar derjenige, der sie aufstieß, allerdings von der anderen Seite. „Oh, hoppla. Hallo, Tifa, bist du ausgeschlafen?“ „Mehr oder weniger, danke der Nachfrage ... wo kommst du denn her?“ „Ich wollte mir nur noch ein Käsehäppchen holen. Red war ja bei dir. Tja, wie du sicher gehört hast, sind ein paar von uns in den Keller runtergeklettert, und zwar Vincent, Barret, Cid, Yuffie und Cloud. Mal abwarten, wann sie wieder raufkommen. Vielleicht ist es so interessant da unten, dass sie gar nicht zurück wollen.“ Tifa rieb sich die Augen, während sie in Richtung Tür taumelte. „Ich muss eine Menge verpasst haben ... muss gleich mal zu ihnen stoßen, ja ...“ „Ähm ... Tifa, warte lieber.“ „Aber wozu denn?“ „Erstens stimmt mit diesem Keller etwas ganz und gar nicht, und zweitens ...“ Er warf einen zweifelnden Blick zur Tür. „... hat Cloud mich gebeten, auf dich aufzupassen.“ „Auf mich?“ Tifa lachte, aber es war ein spöttisches, hysterisches Lachen. „Der spinnt ja wohl!“ Sie erwischte flink einen Zipfel von Skylars Pullover und zerrte seinen Besitzer daran aus dem Weg. „Ich werde ja wohl noch gehen dürfen, wohin ich will! Hey, Red ...“ Flüchtig drehte sie sich um. „Kommst du mit?“ Nanaki schüttelte den Kopf. „Ich will nicht. Ich habe Angst. Ich meine, normalerweise habe ich keine Angst ... aber vor diesem Keller fürchte ich mich so sehr, dass ich es überhaupt nicht beherrschen kann!“ Dies erschreckte Tifa dann doch. Wenn selbst Nanaki sich fürchtete, musste tatsächlich etwas ... falsch sein. „Wenn das so ist, dann ... gehe ich lieber auch nicht.“ Sie blieb stehen, starrte aber immer noch zur Tür hin, als würde sie abwarten, was als nächstes geschah. Die Welt hatte eine seltsame, überirdische Farbintensität angenommen. Alles im finsteren Treppenhaus leuchtete ihm entgegen, und Lichtblitze zuckten vor seinen Augen vorüber. „Wo sind wir ...?“, murmelte Cloud kaum hörbar. „Auf dem Weg nach oben“, antwortete Cid. „Nicht bewegen, wir halten dich schon fest. Gleich sind wir draußen.“ Irgendjemand packte Cloud von hinten, und die Bewegung lief nur verschwommen und schemenhaft innerhalb seines Sichtfeldes ab. Eine schwere Tür wurde aufgestoßen. Dünnes Licht fiel von oben herab. „Mach die Tür zu, Yuffie!“, hörte er Barret rufen. „Ja, ganz zu! Und jetzt komm!“ Seine Freunde, die ihn mit schraubstockartigem Griff auf ihren Armen trugen, eilten weiter, blieben dann aber einzeln in Abständen von Sekundenbruchteilen irgendwo stehen, scheinbar um einen Gegenstand herum, und ließen Cloud behutsam nach unten sinken. Alsdann lag er auf einem weichen Untergrund, der das Bett sein musste, in welchem Tifa geschlafen hatte, denn es roch eindeutig nach ihrem Parfum Blossom Kiss. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann berührte ihn irgendjemand sanft an der Wange. Eine Hand, von welcher Wärme ausging. „Cloud ... kannst du mich hören? Sag doch was, Cloud!“ Er blinzelte. Dann kam schlagartig Leben in ihn. Das flaue Gefühl verflog, und die bunten Farben wichen dem düsteren Dunkelgrau, das in der Shin-Ra-Villa vorherrschte. „Tifa?“ „Seht ihr? Er antwortet mir!“ Cloud blickte in die Gesichter der Anderen, die alle im Halbkreis um das Bett herumstanden, und setzte sich ruckartig auf. „Natürlich antworte ich, und jetzt starrt mich nicht an, als sei ich kurz davor, mein Leben auszuhauchen!“ „Cloud, erzähl uns, was du da unten gesehen hast, als du ... zusammengekracht bist“, bat Yuffie. „Wir wollen das so gerne wissen!“ „Wir müssen das wissen“, bekräftigte Cid. „Wenn in diesem Geheim-Keller wirklich so etwas wie ein durchsichtiges Monster drinsteckt, dann –“ „Kein Monster“, unterbrach Cloud scharf. „Es ist viel mehr ein ... Gefühl. Ein lebendiges Gefühl.“ „Umso schlimmer. Gegen so etwas können wir nicht kämpfen.“ „Vielleicht“, fügte Reeve hinzu, „ist es aber auch so, dass Cloud sich mit irgendwas infiziert hat. Oder irgendeine Chemikalie hat noch auf ihn gewirkt. Oder ... es war wirklich nur Sauerstoffmangel.“ Barret schüttelte entschieden den Kopf. „Ich weiß doch, wie Leute ausseh’n, die an Sauerstoffmangel leiden. Die kippen um, ihre Lippen färben sich blau und sie sind eben blass wie Leichen. Na gut, Cloud war auch blass wie ’ne Leiche ... aber seine Augen haben geleuchtet, ihm is’ Blut aus ’n Ohren getropft und außerdem hat er gekotzt. Das is’ eindeutig kein Sauerstoffmangel, und wenn’s ’ne Chemikalie gewesen wär’, dann müsste die doch auf uns alle gewirkt haben.“ „Barret hat Recht“, stellte Yuffie fest. „Wie dem auch sei.“ Cloud stand vom Bett auf und schob die anderen energisch von sich, um zur Zimmertür zu gelangen. „Jetzt geht es mir bestens. Nichts passiert.“ „Also auch keine Krankheit“, murmelte Skylar. „Dann hätte er sich erstaunlich schnell wieder erholt ...“ Langsam folgten die anderen Cloud die breite Treppe herunter. Draußen vor den Fenstern rötete sich am Horizont ein blassgrauer Himmel, was den Anbruch eines strahlenden Tages verkündete. Nanaki schniefte. „Dieses Haus steckt auch ohne den Keller schon voller Chemikalien, wisst ihr das eigentlich?“ „Das Einzige, was ich gerade weiß“, antwortete Tifa, und ihre Schritte knarrten auf den Dielen, „ist, dass wir dieses Treffen hier allmählich beenden können. Natürlich müssen wir die Angelegenheit auf jeden Fall weiter untersuchen, aber ... eigentlich wollte ich nachher noch zur Arbeit ...“ „Du dürftest ja wenigstens ausgeschlafen sein“, bemerkte Reeve. „So sehr erholsam ist der Schlaf unter einem Dach wie diesem hier nun auch nicht gerade.“ Sie blieben alle unten in der großen Halle stehen. Auf dem Holztisch rechts des Eingangs stand noch das Tablett mit den Käsehäppchen und ein letztes Kleines Ding Mit Schokolade, welches Yuffie schlussendlich noch unbemerkt in ihrem Mund verschwinden ließ. „Also schön“, durchbrach Cid die einheitliche Stille, „wer kommt alles mit in der Tiny Bronco?“ „Wir müssen die Batterie zuerst wieder einbau’n“, erinnerte Barret. „Ja, ich weiß. Ich kann das ja schnell erledigen, während die Passagiere schon mal einsteigen.“ Cloud berührte den Arm von Skylar. „Komm, Vater. Sonst musst du in diesem alten Gemäuer hier zurückblieben, und ich glaube nicht, dass du das willst.“ „Cloud.“ Goodsworth hielt im Gegenzug den Ärmel seines Sohnes fest. „Du wolltest uns doch etwas mitteilen, oder? Stichwort Familiäres Leben?“ Cloud schwieg. Sein Blick traf den von Tifa, und diese kannte die Neuigkeit bereits. „Nichts weiter.“ „Nichts?“ „Gar nichts.“ Verwirrt ließ Skylar ihn los. „Das verstehe ich nicht. Aber wie du meinst ...“ „Es war nicht wichtig.“ Cloud griff in seine Jackentasche und holte einen kleinen runden Gegenstand hervor, mit welchem in der Hand er sich nun an Vincent wandte. „He, Vincent ... ich habe hier etwas, von dem ich glaube, dass du es haben solltest.“ Zwar hielt Cloud die Faust geschlossen, aber Vincent blinzelte kaum merklich und sah hindurch. „Sephiroths Transfer-Substanz. Du glaubst, dass ich sie brauche?“ „Mehr als ich auf jeden Fall. Du bist hier gefangen, wenn etwas nicht stimmt ... du kannst Chocobos nicht leiden, und Tifa ist äußerst selten überhaupt zu Hause. Du musst eine Möglichkeit haben, schnell von hier wegzukommen, falls du ... in Schwierigkeiten bist.“ „Weißt du, Cloud …“ Er seufzte ganz leise. „Ich glaube eigentlich nicht, dass mir hier irgendetwas passieren kann, zumal niemand weiß, dass ich hier wohne oder dass ich überhaupt ... noch existiere. Aber ich schätze dein Geschenk. Danke.“ Cloud schnitt eine Grimasse. „Sei um Gottes Willen nicht so förmlich! Was ist denn bloß los mit dir?“ „Wenn du nicht willst, dass ich Danke sage, was willst du denn dann?“, entgegnete Vincent mit leicht schmollendem Unterton. „Eigentlich nur, dass du hier so allein nicht eingehst. Mit der Substanz könntest du wenigstens mal rausgehen und dieses tote Dorf verlassen, vielleicht kannst du uns mal besuchen ...“ „Ah ja. So läuft also der Hase. Verstehe. Na gut, Cloud ... werde ich machen.“ Er lächelte. „Gut. Dann ist das geklärt. Wir verschwinden jetzt und lassen dich schlafen, du alter Freak.“ Damit wandte sich Cloud an den Rest seiner Kameraden. „Wenn ihr soweit seid, kommt mit. In ein paar Stunden muss ich wieder Unterricht geben, und ich muss mich konzentrieren.“ Während sie das Haus verließen, wurde Cloud sich unbewusst noch einmal der dunklen Aura bewusst, die ihn zu verfolgen schien. Sie umstrich ihn wie eine Katze die Beine desjenigen, der sie streichelte. Kurz darauf aber überkam den Ausbilder der AVALANCHE jedoch wieder die bleierne Müdigkeit, und er zwang sich, jenes seltsame Gefühl gänzlich zu ignorieren. Langsam ging hinter den Nibelbergen die Sonne auf. Kapitel 8: New Day, New Trouble ------------------------------- Am frühen Morgen schienen bereits Sonnenstrahlen durch die samtenen Vorhänge. Cloud saß auf der Bettkante und starrte auf die tief schlafende Aeris neben sich herab. Sie war nun bereits im fünften Monat und zeigte eine kaum merkliche Rundung, hatte jedoch in den acht Jahren, die er nun mit ihr zusammen lebte, kein Bisschen von der Schönheit eingebüßt, die den Cetra von Natur aus zueigen war. Und auch seine Liebe zu ihr hatte sich während der Zeit allerhöchstens verstärkt. Es war ein unvorstellbares Glück, dass sie zu ihm hatte zurückkehren können ... Wohlbedacht leise verließ er das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu, um sich beizeiten auf den Weg zum HQ der AVALANCHE zu machen, wo ein weiterer Arbeitstag beginnen würde. Im Gewerbe der Friedenseinheit übernahm Cloud einen wichtigen Job: den des Ausbilders. Er hatte Schüler. Die jungen Leute strömten der AVALANCHE ebenso zu wie vor einigen Jahrzehnten noch der Shin-Ra Corporation, und sie brauchten eine möglichst umfassende Einweisung. Im Badezimmer auf dem Klodeckel saß bereits der getigerte, aber fast ganz schwarz aussehende Maine Coon-Kater Nox. Er war zusammen mit Cloud und Aeris in das Haus in Kalm eingezogen, da Aeris sogleich den Wunsch geäußert hatte, ein Tier um sich zu haben – zum einen Teil, weil sie die Nähe anderer Lebewesen schätzte, zum anderen, um Clouds Abwesenheit den ganzen Tag lang besser überstehen zu können. Nox war ein anschmiegsamer Geselle. Anfangs noch ein winziges plüschiges Kätzchen, war er zu einem imposanten und stolzen Vertreter seiner Spezies herangewachsen, mit leuchtend gelben Augen und einem langen buschigen Schwanz. „Na, mein Bester? Du bist natürlich lange nicht so müde wie ich. Ich weiß ja, dass ihr Katzen siebzehn Stunden des Tages mit Schlafen verbringt ...“ Cloud unterdrückte ein Gähnen und schüttelte sich. „Zwei Stunden ... hätten es nicht ein paar mehr sein können? Ich werde mich wohl kaum konzentrieren können.“ Während er sich mit dem feuchten Tuch das Gesicht abwischte, strich ihm der Kater laut schnurrend um die Beine. Das flauschige Fell kitzelte Cloud an der nackten Haut. „Nox, jetzt geh weg ... ich hole dir gleich dein –“ Er unterbrach sich. Und ließ das Tuch sinken. Auf leisen Pfoten trottete Nox zur Zimmertür hinaus, während Cloud immer noch ins Waschbecken hinunterstarrte. Gerade war ihm eingefallen, was er während der zwei Stunden Schlaf, die er in dieser Nacht nur hatte haben können, geträumt hatte. Er hätte es beinahe völlig vergessen. Nun erschienen die Bilder wieder klar vor seinen Augen ... Vermutlich war es der Keller unter der Shin-Ra-Villa, jener, den Vincent neu entdeckt hatte. Die Glasverspiegelung an den Wänden und das fluoreszierende Licht, das von keiner Lampe stammte, sorgten für dieselbe unwirkliche Atmosphäre, und sogar der Geruch nach Chemikalien war erschreckend real. Inmitten dieses Umfelds befand sich diese Maschine mit all ihren Hebeln, und aus den zahlreichen kleinen Klappenöffnungen an der Unterseite quollen lange Schatten heraus, die über den Boden krochen und Cloud umzingelten. Er wusste ganz genau, dass sie jenes seltsame Gefühl darstellten, das stets danach trachtete, ihn in seinen eigenen Tränen ertrinken zu lassen. Er floh. Er hatte kein Schwert, keine Substanz, keine Kraft. Und der Keller endete nicht. Immer dunkler wurde das Zimmer, immer mehr drohte das Licht aufgesaugt zu werden und zu ersticken, genauso wie Cloud in seiner Traurigkeit. Dabei war es doch nur ein Alptraum, und das wusste er genau ... Schlussendlich war es ganz dunkel und finster, und die Schatten mussten ihn längst eingekreist haben. Vielleicht war auch ihretwegen das Licht verschwunden. Jedenfalls bekam Cloud keine Luft, obwohl nichts ihn berührte – er konnte sich winden und recken wie er wollte, dennoch erstickte er und spürte seine Muskeln erlahmen. Dann aber teilte sich der Vorhang der Finsternis ... und da war ein Schwarm Vögel. Es waren makellos weiße Tauben mit strahlend blauen Augen, und sie standen zusammengeschart um etwas herum, das sie begurrten und mit ihren silbernen Schnäbeln anstießen. Als Cloud zu ihnen hintrat, flogen sie auf, verschwanden in den Höhen eines sternenbedeckten Himmels und gaben den Blick auf das frei, um das sie sich versammelt hatten. Cloud kniete sich daneben. Gleichmütig starrte er auf Sephiroth herab und strich ihm schließlich mit zwei Fingern über die Schläfe. Die Tauben mussten sich umsonst um ihn bemüht haben, denn er war ganz kalt und leblos. Das leise, stetige Tropfen des Wasserhahns wurde penetranter, als wollte es ihn daran erinnern, das Ventil zuzudrehen. Cloud kam diesem Hinweis nach. Aus der Küche miaute Nox vor seinem leeren Futternapf, und die Uhr wirkte mehr als vorwurfsvoll, als sie fünfzehn Minuten nach sieben Uhr anzeigte. Der Weg von Kalm nach Junon war nicht gerade ein Katzensprung ... Er musste sofort gehen, oder er würde es gar nicht mehr schaffen. In der Garage stand immer noch das Daytona-Motorrad der Shin-Ra, aber er konnte damit unmöglich das schmale Gebirge überqueren. Glücklicherweise war noch etwas vorhanden, das warkte, sobald man sich ihm näherte: Choco, der goldene Chocobo, der als einziger Vertreter seiner Spezies Grimassen aller Art schneiden konnte. Choco diente täglich dazu, Cloud nach Junon zu bringen und wieder zurück. Er war schnell. Er würde es auch dieses Mal wieder schaffen, den Zeitverlust auszugleichen. Mittlerweile wurde es später Vormittag. In der Shin-Ra-Villa in Nibelheim, im ersten Geschoss, lag Vincent auf einem der Betten und durchlief wiederholt eine Tiefschlafphase. Normalerweise schlief er im Keller, aber er wagte es nun nicht mehr, dort hinunter zu gehen; folglich dauerte es seine Zeit, bis es ihm überhaupt gelang, die nötige Ruhe zu finden. Diese war dann auch nicht einmal von langer Dauer. Gegen kurz nach elf Uhr wurde er aufgeschreckt durch ein Geräusch aus dem Erdgeschoss. Benommen setzte er sich auf und musste sich erst wieder einfallen lassen, wo er sich überhaupt befand. Das Gartentor draußen quietschte anhaltend, und die Tür wurde ein weiteres Mal aufgestoßen. Unter die allgemeine Geräuschkulisse von Schritten und Atmen mischten sich Stimmen, die sich nicht bewusst waren, dass sie Vincent aufgeweckt hatten. „Oh nein, bitte nicht“, murmelte Vincent vor sich hin. Er rieb sich die Augen, bekam dann seinen abgetragenen Umhang von einer nahen Stuhllehne zu fassen und sprang leise aus dem Bett. Nun musste er vielleicht sehr schnell sein. Die ungebetenen Besucher durften ihn nicht entdecken – und eigentlich auch den Keller nicht ... Was mache ich jetzt? Ich muss hier weg, falls sie das ganze Haus durchsuchen .... fragt sich nur, was sie suchen ... Zunächst überlegte er fieberhaft, wo er sich verstecken könnte. In den Keller wollte er auf keinen Fall. Er wusste nicht, was genau diese Leute in der Shin-Ra-Villa zu suchen hatten, und da kam ihm der Gedanke, dass er genau das zuerst herausbekommen sollte. Also schlich er die Treppen ein Stück weit hinab und lauschte dem, was im Erdgeschoss geredet wurde. Es schien sich um zwei Sprecher zu handeln: „Und? Wo könnte sich die höchste Konzentration befinden?“ „Rein theoretisch überall ... das Gebäude ist verdammt groß und scheint uralt zu sein. Wir müssen uns überall umsehen, fürchte ich. Hoffentlich werden wir nicht von all dem komischen Krabbelzeug angefressen.“ „Hol doch mal das Gerät. Wir notieren uns am besten den Wert für verschiedene Stellen.“ Etwas piepte. Vincent war sich sicher, dass sie das Vorhandensein von irgendetwas in seinen vier Wänden nachweisen wollten, mithilfe eines kleinen Gerätes. Folglich konnte es sich nur um Vertreter der Umweltschutzbehörde handeln, die alarmiert wurden, sobald in irgendeinem Wohnhaus gefährliche Chemikalien vermutet wurden. Aber wer hatte sie gerufen und weswegen? Warum interessierte sie der festzustellende Wert irgendeines Stoffes in einem Haus, in dem offiziell niemand wohnte? Das war Vincent ein Rätsel. „Ach du liebes Bisschen! Schau mal, was es anzeigt! Schockierend!!“ „Zeig her!“ „Fast ganze acht ppm! Mit soviel Formaldehyd kannst du eine ganze Spanplattenfabrik versorgen!“ „Oh je, ganz schön übel ... kein Wunder, dass die Nachbarschaft sich beschwert hat ... eine so hohe Konzentration stellt ein beträchtliches Gesundheitsrisiko dar.“ Im selben Moment drehte sich Vincent um und huschte zurück nach oben. Es ging der Umweltschutzbehörde – denn zu dieser mussten die Eindringlinge gehören – um Formaldehyd. Davon war in der Villa eine Menge vorhanden, denn es steckte im Leim und Harz sämtlicher Sperrholzplatten. Im Baujahr der Villa war man sich noch lange nicht bewusst gewesen, wie gefährlich die Chemikalie war. Dennoch ging es Vincent jetzt nicht um diesen Giftstoff, sondern um die Eindringlinge, die zu viel sehen würden, wenn er nicht schnellstens etwas unternahm. Vincent streckte eine Hand unter das Bett aus und förderte die Transfer-Substanz zutage. Sie war momentan seine letzte Rettung. Unglücklicherweise hatte er sie nie benutzt und war nicht sicher, auf welche Weise sich der Zielort bestimmen ließ. Musste man ihn sagen oder vielleicht denken? Und wenn er dabei einen Fehler machte, wo würde er dann landen? Verdammt, ich hätte es vorher herausbekommen oder Cloud fragen sollen ... ich kann es nicht riskieren, einfach irgendwo hin zu reisen ... Andererseits hörte er nun die Schritte der beiden Beamten auf den Treppenstufen. Es war zu spät ... oder auch nicht. Er umklammerte die grün schimmernde Substanz mit beiden Händen und versuchte, sich zu konzentrieren. Dabei fiel ihm auch ein, wohin er eigentlich wollte – und sofort leuchtete der Stein auf, der Zauber zerlegte sowohl Vincent als auch die Substanz in ihre einzelnen Atome und ließ beide auf der Stelle verschwinden. „Und aus diesem Grund“, fuhr Cloud mit alles übertönender Stimme fort, aus welcher man seine Müdigkeit nicht heraushören konnte, „ergibt sich für P die Formel (d1 + d2) ∙ (m² ≈ 5a).“ Die Kreide verursachte ein knirschendes Geräusch, als er damit das endgültige Ergebnis doppelt unterstrich. Es war seltsam ... bei Shin-Ra Corp. hatte er viele Dinge gelernt, aber ganz sicher nicht so etwas. Hier ging es um Zahlen. Was er hier unterrichtete, das war keine Mathematik, sondern höheres Rechnen – die einzigen Ziffern in den Mathematikbüchern, die Cloud gelesen hatte, waren die Seitenzahlen gewesen. Jedoch war dies, zusammen mit einer einigermaßen gelungenen Grundausbildung sowie hinreichenden Kenntnissen in der Weltsprache, die Voraussetzung für das aktive Mitwirken in der AVALANCHE. Wer sich für den Frieden stark machen wollte, der musste auch annehmbare Zensuren dafür aufweisen. Der Werdegang für ein Mitglied der AVALANCHE war mehr als nur hart. „Ich verstehe das nicht“, meldete sich Vicky Rave zu Wort, eine Schülerin von geringem Verstand, aber mit einem hervorragenden Gedächtnis gesegnet. „Wie soll ich damit die Ausdehnung des Lebensstroms in der dritten Realitätsebene berechnen, wenn ich weder m noch a gegeben habe?“ „a“, antwortete Cloud für alle hörbar, „ist in allen drei Realitätsebenen gleich. Der Realitätsfaktor wird mit a bezeichnet. P wird mit den Ausdehnungsfaktoren d1 für die erste Ebene und d2 für die zweite Ebene sowie a berechnet, und a ist mit 5 multipliziert immer proportional zur quadrierten Masse m des Lebensstroms. Habt ihr das verstanden?“ Es war wichtig, dass alle wussten, wovon er sprach, obgleich er es selbst unsinnig fand, die Ausdehnung des Lebensstroms in der dritten Realitätsebene zu berechnen ... wer würde schon je diese Ebene betreten? Das einstimmige Nicken der Schüler gab ihm zu verstehen, dass sie alle die Formel an sich nicht begriffen, sie aber notiert hatten und bei Bedarf abrufen würden. Es war ... immer dasselbe. Sowieso hatte die ganze Ausbildung der AVALANCHE-Jugend einiges an hoffnungsloser Ironie zu bieten; zum einen die Tatsache, dass auch Kampfeinsätze trainiert wurden. Obwohl die AVALANCHE eine Friedenseinheit war, konnte der Frieden eben oftmals nur mit brachialer Gewalt durchgesetzt werden. Das war bemerkenswert ... fast schon kurios. Normale Schulstunden hießen „Unterrichtseinheiten“, aber das war vielleicht noch auszuhalten. Alles war anders gewesen, als Barret noch allein der Präsident war ... mittlerweile jedoch war er in vielerlei Hinsicht abgelöst worden, während nunmehr ein eigener Vorstand das Sagen hatte. Cloud legte die Kreide auf der dafür vorgesehenen Tafelablage ab und bedeutete dem Ordnungsdienst, seiner Arbeit nachzugehen. Draußen vor dem Fenster wehte ein kräftiger Wind durch die Wipfel der kargen dünnen Bäume, die erst vor Kurzem auf der Wiese gepflanzt worden waren. Vögel flogen auf. Cloud fühlte sich zum genaueren Hinsehen stimuliert, als er sich im selben Moment an seinen Traum erinnerte ... aber diese Vögel waren weder weiß noch Tauben. Tatsächlich handelte es sich um große, schwarz-graue Nebelkrähen, die krächzend aus dem Sichtfeld des abgelenkten Ausbilders entschwanden ... „Master Strife, schließen Sie uns die Kabinen auf?“ Hektisch drehte Cloud sich um. „Augenblick ... ja, natürlich, sofort. Wir treffen uns in der Übungshalle, in zehn Minuten seid ihr fertig!“ Er reichte den Schlüssel Kaine Crawford, einem hochaufgeschossenen Jungen, der, obwohl von allen der Längste, schneller und flinker war als der Kleinste der Klasse. Kaine genoss Clouds Vertrauen aufgrund seiner Pünktlich- und Zuverlässigkeit, was jedoch nichts daran änderte, dass seine Zensuren schlecht waren und es höchstvermutlich auch bleiben würden. Als nun alle Schüler den Raum verlassen hatten und Cloud im Wandschrank nach seinem Umhang und seinem Trainerschwert fahndete, durchdrang ein seltsamer Laut die plötzlich eingetretene Stille. Argwöhnisch beobachtete Cloud die Luft vor der Tafel, die zu flirren und zu fluoreszieren begann, als ihm gerade rechtzeitig wieder einfiel, was diese Erscheinung ankündigte. Er trat einen Schritt zurück und wartete, bis sich alle teleportierten Atome an den richtigen Stellen wieder zusammengefunden hatten. Vincent stand zwar zunächst aufrecht da, verlor dann aber das Gleichgewicht und kippte schwer gegen die Tafel. Der Schwamm reagierte empört und fiel dem Besucher auf den Kopf, wo er eine Spur aus weißem Kreidepulver in Vincents strähnigem schwarzen Haar hinterließ. „Guten Morgen“, sagte Cloud amüsiert. „Ich hatte nicht erwartet, dass du gleich am nächsten Tag Gebrauch von der Transfer-Substanz machen würdest ... und dann auch noch, während ich Unterricht gebe? Irgendwo musst du dich doch mehr nach sozialem Kontakt sehnen, als ich vermu–“ „Cloud, ich habe ein Problem!“, unterbrach ihn Vincent scharf, nachdem sein Blick einige Sekunden lang sichtlich irritiert durch das Klassenzimmer gewandert war. Er richtete sich auf und versuchte vergebens, sich von dem weißen Puder zu befreien, das ihm überall anhaftete. „Ist gar nicht so leicht, per Substanz zu reisen. Hör zu, heute Morgen sind zwei Männer in die Shin-Ra-Villa gekommen.“ „Vincent, es tut mir Leid“, antwortete Cloud hastig, „aber ich muss meine Schüler jetzt eine weitere Stunde lang mit dem Schwert fuchteln lassen. Dabei müssen sie Aufsicht haben, sonst häckseln sie alles kurz und klein ... ich kenne ja meine Kiddies.“ Er deutete auf den Stuhl hinter dem Lehrerpult. „Setz dich und warte hier auf mich, ja? Dann kannst du mir alles erzählen, was dir auf dem Herzen liegt.“ Vincent schüttelte den Kopf und holte tief Atem. „Es ist mir wichtig, dass sie den Keller nicht finden, und den könnten sie längst betreten haben!“ „Welchen ... Keller? Den Keller?“ „Ja, eben diesen!“ „Also schön, erzähl ... aber fass dich kurz. Wer sind diese Männer?“ „Sie waren da, um den Formaldehydgehalt in der Villa zu messen, also müssen sie von der Umweltschutzbehörde beauftragt worden sein. Ich weiß nicht, warum, und bekomme es auch vermutlich nicht heraus – aber wir wissen nicht, was es ist, das sich im Keller aufhält.“ „Moment mal, nicht ganz so schnell, bitte. Was zum Teufel ist denn Formaldehyd?“ „Das weißt du nicht?“, fragte Vincent verblüfft. „Nie davon gehört? Das ist Methanal, also HCOH … die Chemikalie, die Nanakis Augen so tränen lässt. Es ist heiß in der Diskussion, weil es gesundheitsgefährdend und krebserregend ist. Früher, als die Villa gebaut wurde, ist es noch verwendet worden, unter anderem für Sperrholzplatten. Die Villa besteht aus Sperrholzplatten, wenn man so will, und der MAK-Wert von 0,1 ppm ist weit überschritten.“ „Ppm?“, kam es verwirrt von Cloud. „Parts per million. Ein ppm entspricht einem Milliliter Methanal in einem Kubikzentimeter Raumluft. Obwohl das unsinnig ist“, fügte er zynisch hinzu, „weil der Wert auch dann überschritten wird, wenn Cid in einem geschlossenen Raum drei Zigaretten raucht ... im Rauch befindet sich nämlich ebenfalls Formaldehyd. So genau nimmt es also sowieso niemand mit dem MAK-Wert, und ich bin ja auch noch am Leben.“ Cloud wollte eben eine weitere dumme Frage stellen, als aus der Halle nebenan eine Stimme ertönte: „Master Strife, wann kommen Sie denn? Vicky hat mit ihrem Schwert die Einholleine für die Klettertaue gekappt ...“ Vincent einen bedeutsamen Blick zuwerfend wandte sich Cloud der geschlossenen Tür zu. „Komm mit, Vincent. Ich habe das Gefühl, dass sich in deiner Anwesenheit niemand so ein Missgeschick erlauben wird.“ Kapitel 9: Strange Discoveries ------------------------------ Vicky Rave, mit ihrem Übungsschwert in beiden Händen, begann schon beinahe zu schwitzen, während Vincents Blick geduldig auf ihr ruhte. Cloud hatte ihm gesagt, dass er sie im Auge behalten sollte, und das tat er auch, wenn auch widerwillig. Die junge Schülerin erlebte nun, wie grässlich es war, permanent von Vincents Augen beobachtet zu werden – zu wissen, dass er nur dann blinzelte, wenn sie sich keinen Millimeter rührte. Schließlich hielt sie die Hitze auf ihrem Rücken nicht mehr länger aus und floh hinter den Vorhang, wo Cloud damit beschäftigt war, weißes Band um die Klinge seines Trainerschwertes zu wickeln. Vincents wenig interessierter Blick folgte ihr noch immer. „Master Strife!“ „Was ist denn, Vicky?“ Er unterbrach seine Arbeit nicht und sah auch nicht auf. „Mit dem neuen Lehrer stimmt irgendwas nicht. Mussten Sie ihn bitten, ausgerechnet auf mich aufzupassen?! Ich habe das Gefühl, dass er mir in den Kopf gucken kann ... ich glaube sogar, er sieht uns durch diesen Vorhang durch!!“ „Sei nicht albern, Vicky. Master Valentine hat zwar gute Augen, aber durch Wände schauen kann er nicht“, log Cloud mit einem beinahe infernalischen Lächeln. Endlich hob er das Schwert – fast ebenso gigantisch und mächtig wie sein eigenes – und trat als Erster nach draußen. „Vincent, du kannst jetzt aufhören. Die Stunde ist gleich vorbei. Hey, Jungs und Mädels, räumt erst das Holz wieder weg! Vorher geht’s nicht in die Kabinen!“ Vincent seufzte. Dass Cloud sich um Jugendliche kümmerte, war bewundernswert. Er selbst konnte mit ihnen absolut nichts anfangen. Überhaupt machten die Kinder einen riesigen Bogen um ihn, als sie zu ihren Kabinen zurücktrotteten, und wichen, wenn möglich, auch seinem Blickkontakt aus. Wenig später blieb Cloud hinter Vincent stehen und beeilte sich, seine weite dunkle Jacke anzuziehen. „Okay. Ich habe mich beim Vorstand abgemeldet, wir können jetzt gehen.“ „Das Lehrermangel-Problem betrifft euch also nicht.“ „Nein, verdammt. Können wir jetzt?“ „Weswegen ziehst du dir eine Jacke an? Ich habe doch Sephiroths Substanz.“ „Deine Heizung funktioniert nicht, Vincent.“ „Richtig.“ Vincent ließ die Wand los und förderte aus einer Tasche die Transfer-Substanz zutage. „Tu mir einen Gefallen, Cloud ... bring du uns nach Nibelheim. Ich hasse das.“ „Schön, gib her.“ Hinter der nächsten Ecke stand der Junge Kaine Crawford und fuhr sich eben mit einem Handtuch über das Gesicht. Verdutzt stellte er fest, dass sein Ausbilder und dessen Bekannter fort waren, als er das Waschutensil wieder sinken ließ ... als wären sie von einer Sekunde auf die andere verschwunden, ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen. Tifa war nicht zu Hause. Das ehemals bemalte, mittlerweile arg verblasste Porzellan-Türschild mit der Aufschrift Tifa Lockheart hatte sich links von seinem Nagel gelöst und hing senkrecht nach unten. „Sie ist arbeiten“, stellte Vincent fest und war bemüht, seine Ungeduld zu beherrschen. „Komm doch, Cloud ... wenn sie im Keller sind, dann –“ „Ich kann nicht in den Keller gehen, und das weißt du auch. Was immer ES ist, es wollte mir ... etwas antun.“ Zweifelnd starrte ihn Vincent von der Seite an. Mittlerweile stand die Mittagssonne hoch am Himmel und tauchte Nibelheim in ihr strahlend goldenes Licht, das durch keine einzige kleine Wolke getrübt wurde. Es war der sechste Januar, aber trotzdem ein wundervoller Tag. Nur Vögel sangen nicht ... kein einziger. Sie waren wohl fast alle noch im Süden zum Überwintern. „Also schön.“ Cloud wandte sich von Tifas Tür ab und schlug die andere Richtung ein, auf die Shin-Ra-Villa zu, die selbst zu einer so freundlichen Tageszeit groß und bedrohlich hinter den kleinen Häusern aufragte. „Wir sehen nach. Aber wenn ES wieder auftaucht, dann gehe ich wieder nach oben ... hoffe nur, dass ich dann noch dazu in der Lage bin.“ „Sag mir Bescheid, sobald du dich unwohl fühlst“, sagte Vincent, „oder noch besser ... nimm die Transfer-Substanz. Damit kannst du dich rechtzeitig in Sicherheit bringen.“ Er reichte Cloud die grüne Kugel mit seinen Metallklauen, die im Sonnenlicht schimmerten. „Nimm schon.“ „Danke.“ Irgendwo in Cloud machte sich das Gefühl der Sicherheit breit, ganz so als könnte ihm tatsächlich nichts geschehen. Er würde in den Keller klettern, falls wirklich Vincents ungebetene Gäste dorthin gelangt sein sollten. Vermutlich waren sie das. Der Formaldehyd-Wert war für sie nur an sämtlichen Stellen des Hauses von Bedeutung. Die Kälte, die ihnen beim Betreten der Villa entgegenschlug, war eisiger als die an der frischen Luft. Cloud war überrascht, als er sogar seinen Atem kondensieren sah. „Ich fürchte, die Heizung muss repariert werden“, murmelte Vincent vor sich hin. Den Schritten seines Freundes folgend, ließ Cloud seinen Blick durch das schwarzgraue Innere der Villa gleiten. „Ich sehe hier niemanden. Du etwa?“ „Nein. Dies lässt allerdings darauf schließen, dass meine Vermutung eventuell doch zutrifft.“ „Nicht zwangsläufig. Wäre möglich, dass die Beiden ihre Arbeit beendet haben und gegangen sind.“ „Cloud ...“ „Ja?“ „Sei mal ganz ehrlich. Glaubst du das? Ich meine, glaubst du wirklich, dass sie einfach gegangen sind und dass ihnen nichts passiert ist? Dass sie nicht angegriffen wurden oder sonst irgendwas?“ Cloud blieb mitten auf der Treppe ins erste Obergeschoss stehen und dachte kurz nach. „Nun ... nein. Eigentlich denke ich, dass sie tot sind.“ „Tot?“ „Ja. Genau das denke ich. Aber natürlich hoffe ich, dass das nicht stimmt.“ „Wie kommst du denn darauf, sie könnten tot sein?“, hakte Vincent mit wachsender Unruhe nach. Plötzlich wurden beide unterbrochen und verharrten auf der Stelle. Ein dumpfer Ton war unter ihren Füßen erklungen. Es war derselbe vibrierende Basston wie jener vom letzten Abend. „Verdammt, nicht das schon wieder.“ Cloud schluckte. Seine Zunge fühlte sich auf einmal sehr trocken an. „Komm mit.“ Vincent machte Kehrt und lief die Treppe wieder herunter. „Und ich sage dir, wir müssen doch im Keller suchen, und zwar zuallererst.“ „Aber –“, setzte Cloud an. Er wollte es nicht wagen. Was den Ton erzeugte, war ihm gleich, aber es deutete darauf hin, dass sich ES auf eine bestimmte Art sowohl selbstständig als auch bemerkbar machen konnte und wollte. Zögerlich schlich Cloud hinter Vincent her, der bereits vor der schweren Kellertür stand und diese öffnete. „Komm, Cloud. Keine Angst, du hast deine Substanz.“ „Das beruhigt mich aber nicht“, antwortete Cloud monoton. Die Tür war offen. Vincent stieg die erste Stufe hinunter, blieb dann aber stehen, drehte sich um und streckte Cloud die Hand hin. „Wir haben keine Taschenlampen. Halt dich an mir fest, wenn du nicht verloren gehen willst.“ Mit einem tiefen Seufzer packte Cloud Vincents Hand, die jeweils bis zu den Fingerknochen in einem Lederhandschuh steckte und sich im Gegensatz zu seiner eigenen warm anfühlten. Dies wirkte durchaus ein wenig beruhigend. Cloud klammerte sich fest, um ja nicht losgelassen zu werden, und Vincent beschwerte sich nicht. In Kalm schien keinesfalls die Sonne. Bereits kurz nach Clouds Aufbruch hatte es zu schneien begonnen, in dicken weißen Flocken, unter welchen die kleine Stadt nun halb verschwand. Aeris öffnete alle Fenster, um die frische Luft hereinzulassen. Das kleine Haus war wunderschön, bunt und hell und gemütlich. Auf dem Sofa räkelte sich Nox und schnurrte, und die Blumen vor dem Fenster reckten sich in Richtung der blassen Sonne – ja, tatsächlich. In Aeris’ Garten gab es auch im tiefsten Winter blühende Blumen. Einige Minuten später landete ein kleiner schneeweißer Vogel draußen auf dem Küchensims. Bei näherer Betrachtung handelte es sich um eine kleine Taube mit hellblauen Augen, und ihr Schnabel schimmerte silbern – wenn man genau hinsah. Augenscheinlich waren diese weißen, blauäugigen Täubchen nicht in den Süden geflogen, denn schon gesellte sich ein zweites dazu, und dann noch eines. Sie plusterten sich in der kalten Luft auf und gurrten ihr leises „Ruuukukuruuu“ in die Gardinen. Die ganze kleine Schar saß nun vor dem Fenster, als Aeris die Küche betrat. Sobald sie die Tiere erblickte, strahlte sie. „Wartet einen Augenblick!“ Sie schüttete einige hundert Gramm einer Saatkornmischung in eine Schale und stellte sie den Tauben auf das Fensterbrett. Diese versammelten sich einheitlich und ohne jegliche Auseinandersetzung im Kreis rund um das Gefäß und pickten laut gurrend die Körner heraus. Ein einzelner Taubenhahn jedoch trat zunächst zutraulich an Aeris heran und rieb sein Köpfchen an ihrer Hand. Der runde Kellerschacht reflektierte bunte Lichtspiele der flackernden Beleuchtung, geradezu befand sich die abstrakt anmutende Maschine mit ihren komplizierten Apparaturen an der Außenhülle. Cloud fühlte sich immer noch wohl. Er hielt Vincents Hand fest und erinnerte sich daran, dass das scheußliche Gefühl sich immer dann zurückgezogen hatte, wenn er in Kontakt mit einem der anderen gekommen war ... also würde nichts passieren, solange er sich nur an Vincents Hand klammerte. Nunmehr bekam auch Cloud die Gelegenheit, das Gerät aus der Nähe zu betrachten ... es bot einen gigantischen Anblick. Es sah aus wie ein großer, mehr oder weniger runder Hohlkörper. An der Vorderseite glänzte das weiße Metall in Form einer Träne, die sich zur Hälfte ringförmig um einen ebenfalls runden Druckknopf wölbte. Auf der linken Seite befanden sich zahlreiche unterschiedliche Hebel und rechts dann so etwas wie ... ein Griff. „Vincent“, murmelte Cloud, seine beiden klammen Hände schraubstockartig um die seines Freundes geschlossen. „Sollen wir – mal hineinsehen?“ „Du meinst in die Maschine?“ Vincent betrachtete die Vorderseite des Objekts kritisch. „Ich glaube nicht. Das sollten wir nicht wagen. Wir wissen nicht, wer sie gebaut hat und zu welchem Zweck sie vorgesehen ist.“ „Glaubst du, Hojo hat hier eine Folterkammer gebaut?“ „Nein. Hojo auf jeden Fall nicht. Ich tippe auf jemand anderen, wenn auch auf niemand Bestimmten. Komm jetzt weiter, wir sollten nach den beiden Männern suchen.“ Cloud folgte ihm ein Stück weit und zwang sich, seinen Blick von der Maschine loszureißen – als etwas anderes in sein Sichtfeld geriet. „Warte!“ „Was ist?“ Durch Clouds Gegenzug zum Stehenbleiben gezwungen, drehte sich Vincent widerwillig um. „Sie sind dort, geradezu ... dort.“ Cloud zeigte mit der freien Hand auf etwas, das in einiger Entfernung auf dem strahlend weißen Fußboden lag. Erst bei näherer und genauerer Betrachtung war zu erkennen, dass es sich um zwei Menschenkörper handelte. „Das ... ist nicht gut.“ „Gehen wir hin?“ „Natürlich, wir müssen ja nachsehen, ob sie noch am Leben sind.“ Beide traten an die leblos am Boden liegenden Gestalten heran. Die Männer lagen zum Teil sehr verrenkt, ihre Augen waren offen, und aus ihren Ohren und Nasen rannen kleine Flüsse von Blut. Jedoch war das nicht das einzig Auffällige; viel interessanter war der Anblick, denn ihre Körper boten. Cloud schluckte. Er konnte nicht aufhören, hinzusehen. „Jemand –“, er korrigierte sich, „etwas hat ihnen die ... Bäuche aufgeschlitzt ...?“ „Hm.“ Vincent schob mit seiner Klauenhand die Kleidungsreste des ersten Mannes beiseite und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht aufgeschlitzt. Sicherlich nicht. Viel mehr schien in ihren Körpern etwas den Weg nach draußen durchgefressen zu haben ... weil die Wundränder nicht glatt sind, sondern ziemlich, nun, ausgefranst. Aber Tatsache ist, dass sie tot sind. Sie sind tot und du hast es gewusst.“ Er sah Cloud in die Augen, wenn auch nicht vorwurfsvoll. Cloud war gezwungen, den Blick abzuwenden. „Das war nur so ein Gefühl, wie eine Vorahnung. Ich wusste nicht, dass es wirklich eintreten würde. Es ... macht mir Angst.“ „Das sollte es auch.“ Um eine der Leichen auf den Rücken zu drehen, ließ Vincent Clouds Hand los, deren Griff sich in der Ablenkung etwas gelockert hatte. „Vielleicht ist auf der anderen Seite dasselbe passiert ...“ Cloud wurde kalt. Er hatte den Körperkontakt verloren, was darauf schließen ließ, dass sich im nächsten Augenblick das unsichtbare Wesen mit einer schier unglaublichen Heftigkeit auf ihn stürzen würde, weil er sich so nahe an der Maschine befand wie noch nie zuvor. Rasch krümmte er sich zusammen und kroch nach rückwärts. Nox sprang behände auf die Fensterbank zu den friedlich versammelten Tauben, die dort ihre Körner pickten. Zu seiner Freude hatte Aeris die Küche verlassen, sodass er sich nun mehr auf die weiß leuchtenden Leckerbissen würde stürzen können. Folglich war er entsetzt, als die Vögel auf dem Sims nicht aufflogen, als er mitten zwischen sie sprang. Sie wichen lediglich zur Seite, starrten den verdutzten Kater mit ihren hellblauen Augen an und lösten sich dann in Luft auf – verschwanden, als seien sie niemals da gewesen. Völlig irritiert marschierte Nox von einem Ende des Fensterbords zum anderen. So sehr er auch Ausschau hielt, seine kleinen gefiederten Zwischenmahlzeiten waren nirgends mehr aufzufinden. Kapitel 10: Contacting ---------------------- Cloud öffnete langsam die Augen. Schummriges Licht fiel durch wenige schmutzige Fenster herein, knarrende Laute erklangen gedämpft aus den Wänden und von der Decke. Er rieb sich die Augen und setze sich auf. „Wo ... bin ich?“ „In der Shin-Ra-Villa, allerdings nicht mehr im Keller. Wie fühlst du dich?“ „Gut.“ Langsam zu Besinnung kommend stellte er fest, dass er – wie schon in der vorausgegangenen Nacht – wieder auf einem der Betten lag. Zunächst erschien es ihm wie ein Déjà-Vu, dann kehrten jedoch die Erinnerungen zurück. „Was ist passiert? Wir waren unten im Keller, das weiß ich.“ Vincent, zu erkennen als eine dunkle Silhouette, aus der wie zwei rote Sterne die Augen hervorblitzten, ließ sich Zeit mit der Antwort. „Ich denke, es war meine Schuld. Ich hätte dich nicht loslassen sollen. Du wolltest davon rennen, brachst dann aber zusammen und sagtest keinen Ton mehr. Ich habe euch alle drei einzeln hier herauf geschleppt.“ „Alle drei?“ Fast automatisch sah sich Cloud im Zimmer nach den toten Männern um. „Die Leichen sind nicht mehr hier“, antwortete Vincent und fügte seufzend hinzu: „Ich fürchte, wir haben da ein ziemliches Problem am Hals, was den Tod der Beiden betrifft.“ Leicht fröstelnd zog sich Cloud die mottenzerfressene Decke enger um den Leib. „Verdammt, wie lange war ich außer Gefecht?“ „Mehr als drei Stunden“, antwortete Vincent nach einem Blick auf den leise tickenden Wecker auf dem Nachttisch, der seit Jahren funktionierte, jedoch keinen Zweck erfüllte. „Inzwischen sind Vertreter der Umweltschutzbehörde geradezu in Scharen hier aufgetaucht. Sie sind natürlich alle entsetzt. Sie haben sich mit einer anderen Gesellschaft in Verbindung gesetzt, die uns nun das Leben schwer machen könnte ... die werden die Leichen untersuchen und haben von mir gefordert, auch dich in ihr Institut zu schicken.“ „Andere Gesellschaft? Institut? Was zum Teufel ist das denn für ein Unternehmen?“ „Ein innerstaatlich gefördertes, das sich gern in Situationen auf der ganzen Welt einmischt ... hast du je von der ERCOM gehört?“ Cloud zuckte innerlich zusammen. „Du meinst die Ecology Research Corporation of Midgar?“ „Du kennst sie also.“ „Die können sich da nicht einfach einmischen. Das dürfen sie nicht!“ „Und ob sie dürfen, Cloud. Sie beginnen bereits damit, ein Team für diesen Fall zusammenzustellen.“ „Diesen ... Fall?“, echote Cloud. „Hast du ihnen etwa von dem Keller erzählt?“ „Sie waren nicht selbst hier, sind aber von der Umweltschutzbehörde längst in Alarmbereitschaft versetzt worden. Wir können es nicht riskieren, dass wieder jemand in den Keller steigt. Was ich an dieser Sache mit dem Wesen dort unten sowieso nicht verstehe, ist: Warum sind diese beiden Männer gestorben, warum hast du so heftig und empfindlich auf dieses Ding reagiert und ich und die Anderen überhaupt nicht? Wird die Wirkung dieses ES durch Faktoren beeinflusst? Wenn ja, durch welche? Cloud ...“ „Ja?“ „... hast du, als dir bei unserem ersten Besuch im Keller so übel geworden ist, das Gefühl gehabt, dass sich etwas in deinem Bauch befindet und versucht, nach draußen zu gelangen?“ „Außer meines Mageninhalts? Nein. Jedenfalls nichts, das mir hätte die Bauchdecke zerfressen können.“ „Hattest du keine Schmerzen?“ „Nein, keine. Trotzdem war es ein höchst scheußliches Gefühl.“ „Hm.“ „Ich würde gerne etwas von dir wissen, was deine Entdeckung des Kellers betrifft.“ „Nur zu.“ „Wenn du wirklich Chlorgas eingeatmet hättest, würdest du deine Lunge – oder eher die Reste davon – in Klumpen aushusten. Aber anscheinend hat dich die Säure nur ein bisschen ... im Hals gejuckt.“ „Es war Chlorgas, kein Chlorwasserstoffgas. Es hatte eine grüne Farbe, deswegen konnte ich es sehen. Hast du gedacht, dass ich lüge?“ „Ich denke es immer noch. Aber eigentlich spielt es im Moment auch keine Rolle.“ Vincent starrte weiterhin an Cloud vorbei. „Tifa ist jetzt zu Hause.“ „War sie hier?“ „Nein, ich sehe gerade durch die Wand, dass sie durch die Haustür geht ... das ist aber auch alles, denn durch zwei Wände schauen kann ich nicht.“ „Lass uns zu ihr hingehen“, sagte Cloud und schlug die Decke zurück. „Wo hast du meine Jacke hingelegt?“ „Du willst zu Tifa?“, fragte Vincent argwöhnisch, statt eine Antwort zu geben. „Natürlich. Sie ist Botschafterin zwischen den beiden großen Kontinenten und hat fast überall Einfluss ... vielleicht schafft sie uns die ERCOM noch rechtzeitig vom Hals, bevor die noch dein Haus beschlagnahmen, das Shin-Ra-Lager auseinandernehmen und uns alle in Versuchslabore stecken ...“ Er sah an Vincent hoch, während er immer noch nach seiner Jacke Ausschau hielt. „Sag mal, warum guckst du eigentlich so komisch?“ „Hm, was? Ach, nichts ... schon gut, dann gehen wir eben zu Tifa. Deine Jacke hängt unten auf einem Bügel, ich habe nichts damit angestellt. Komm.“ Cloud war erstaunt, dass Vincent es ihm überließ, vorauszugehen. Normalerweise musste Cloud Vincent folgen und sich beeilen, hinter ihm zu bleiben. Nicht so jetzt. „Hast du neuerdings Angst vor Tifa?“, fragte er, als sie beide nach draußen vor die Tür traten. Vincent verdrehte die Augen, ein todsicheres Zeichen dafür, dass er das Thema nicht weiter ausführen wollte. „Jetzt geh doch endlich, Cloud!“ „Ah ja. Na gut.“ Wieder neigte sich ein Tag dem Ende zu, und wieder hatte Tifa Lockheart das Gefühl, ihre Termine und Vorhaben würden ihr allmählich über den Kopf wachsen. Sie war achtundzwanzig, alleinstehend und ganztags berufstätig, hatte keine Eltern mehr und ihr einziger Freund, den sie innerhalb weniger Minuten erreichen konnte, verkroch sich den ganzen Tag lang in einem großen dunklen Haus. Auch hatte Tifa keinen anderen Hausgenossen, denn für ein Tier hatte sie zu wenig Zeit und war außerdem gegen die Haare der meisten Vierbeiner allergisch ... insgesamt fand sie es schwer nachzuvollziehen, wie sie selbst ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt gemeistert hatte. Nun zerstörte sie der Stress. Sie musste an so viele Dinge denken, sich um so vieles kümmern, vieles klären und regeln und dabei möglichst alles im Kopf behalten, dabei aber fast nie Zeit daheim verbringen, sondern ständig irgendwo auf Achse, oft auch noch auf dem Rücken eines zickigen Chocobos, kontinentale Geschäfte verwalten. Zurzeit befand sie sich hart an der Grenze, an welcher das Leben eigentlich endete. Sie lag auf dem Sofa, alle Viere von sich gestreckt, noch nicht umgezogen, neben sich die noch nicht ausgepackten Taschen, als es dreimal klopfte. Dreimal. Tifa sprang vom Sofa auf und fluchte leise, weil sie noch so viel zu erledigen hatte. Aber dreimal klopfen bedeutete Cloud ... jedenfalls in mindestens achtzig von hundert Fällen. Vor der Tür blieb sie stehen. Der Logik zufolge musste es sich nun um einen der übrigbleibenden zwanzig Fälle handeln, denn Cloud hatte sie seit Jahren nicht besucht, wenn man von dem Treffen am Abend zuvor einmal absah. „Wer ist da?“ „Ich bin’s, Cloud. Und Vincent ist auch hier. Können wir reinkommen?“ Sie holte tief Luft, ihre innere Stimme bestätigt, und öffnete die Tür. „Ja, kommt nur ... nehmt euch ein Glas Wasser ... geht gleich durch und setzt euch aufs Sofa, ihr müsst die Schuhe nicht ausziehen, weil ich heute sowieso noch wischen muss ...“ Cloud nahm sich einen Bügel vom Haken und widmete seiner Kindheitsfreundin einen langen Blick. „Meine Güte, du siehst ziemlich geschafft aus.“ „Wie nett von dir, das zu bemerken.“ Hoffentlich sieht er mir nicht die verdammte Hektik an, dachte sie grimmig und sah zu, wie ihre Gäste ins Wohnzimmer trotteten. „Was verschafft mir die Ehre? Sonst riskiert ihr doch nie einen Blick. Gibt es etwas Neues?“ Sie eilte in die Kochecke, die Ohren immer noch nach ihren Gästen ausgerichtet, deren Antwort sie auch im oberen Stockwerk noch würde vernehmen können. „Wir wollten mit dir über etwas sprechen ...“, setzte Cloud, der sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, vorsichtig an. „Sehr gut“, unterbrach sie ihn. „Dann mache ich uns schnell einen Salat.“ „Einen was?“ „Momentchen, ja?“ Sie summte leise vor sich hin, während Cloud irritiert hinüber zur Küche starrte. „Eben das meinte ich“, sagte Vincent betont leise. „Immer, wenn ich sie besuche, kocht sie irgendwas. Mit Salat kommen wir da noch ganz gut weg.“ „Wir brauchen jetzt aber keinen Salat, sondern ein paar Minuten Zeit zum Reden!“ Cloud stand auf und ging zu Tifa, die aus einer Schublade ein Messer hervorholte. „Hör doch auf, wir wollen nur etwas mit dir besprechen.“ „Eben doch! Deswegen bleibt, bitte, Cloud ... ich habe eigentlich überhaupt keine Zeit, um jetzt irgendwas zu essen, aber wenn ihr da seid, dann muss ich mir Zeit dafür nehmen. Das muss ich ausnutzen! Wenn ihr keinen Salat esst, dann esse ich auch keinen.“ „Ist das nicht Erpressung?“, gab Cloud etwas hilflos zurück, als er Tifas Workaholic-Problem zu erkennen begann. Sie legte eine Tomate auf das Schneidebrett. „Das ist sogar Nötigung, wenn du genau sein willst.“ „Na schön ... dann ... soll ich auch irgendwas schneiden?“ „Radieschen, wenn du das hinbekommst, die sind oben im Gemüsekorb.“ Vincent, der immer noch im Wohnzimmer saß, nippte gedankenverloren an seinem Wasserglas und sah aus dem Fenster hinüber zur Shin-Ra-Villa, wo sich der dröhnende Klang eines Hubschrauberrotors vor dem Haus vernehmen ließ. Sein Blick wanderte zur Decke, durch welche hindurch er den Himmel sehen konnte und darauf den herabsinkenden Hubschrauber, komplett in dunkelgrüner Farbe mit den leuchtend gelben Buchstaben ERCOM© darauf. Schließlich seufzte er kaum hörbar und konzentrierte sich wieder auf Clouds und Tifas leise Stimmen drüben in der Kochecke. „Ich habe letzte Woche ein verdammt gutes Dressing erfunden“, sagte Tifa vergnügt, sichtlich entspannter als noch Minuten zuvor. „Soll ich euch das zeigen?“ „Mach doch“, murmelte Cloud, der einmal mehr feststellte, dass seine Hände an einen Schwertgriff gewöhnt waren und nicht an ein winziges Küchenmesser. Die Radieschenscheiben sahen insgesamt sehr ungleichmäßig aus. „Aber dann müssen wir ein wirklich ernstes Gespräch mit dir führen.“ „Ja, natürlich. Hmm ... worum geht es denn?“ „Wir waren im Keller, Vincent und ich. Er kam zu mir ins Ausbildungszentrum, mit der Transfer-Substanz. Bei ihm waren zwei Beauftragte von der Umweltschutzbehörde aufgetaucht. Es ging um den –“ Cloud versuchte, sich an den Namen der Chemikalie zu erinnern. „– Gehalt von ... Formanal oder so.“ „Kenne ich nicht“, antwortete Tifa ratlos. „Das Zeug auf den Sperrholzplatten.“ „Ah, Formaldehyd? Methanal?“ „Ja! Genau das war es.“ Sie zuckte die Schultern, während sie einen Salatkopf viertelte. „Die Villa ist schon so alt, dass man nur schätzen kann, was sich noch für übles Zeug in den Baustoffen befindet. Warum ist Vincent abgehauen und zu dir gekommen?“ „Weil sie ihn nicht sehen sollten, und eigentlich auch nicht den Keller! Du weißt doch, was passiert ist ... auch wenn du geschlafen hast.“ „Ja, das weiß ich wohl. Was war denn los, als ihr wieder zurück wart?“ „Wir sind in den Keller gestiegen, wie ich schon sagte.“ „In den Keller unter dem Keller?“ „Ja.“ „Und dir ist nichts passiert?“ „Zunächst nicht ... das erkläre ich dir später. Jedenfalls waren die beiden Männer noch da, sie lagen dort unten vor der Maschine und waren beide tot. Etwas schien von innen ein Loch in ihren Bauch gefressen zu haben. Es war bei beiden dasselbe.“ Das Messer verharrte in Tifas Hand, als sie für einen langen Moment stillhielt. Dann sagte sie: „Hui, das klingt ja mächtig aufregend ...“ „Das ist es auch“, gab Cloud düster zur Antwort, „denn natürlich hatten die Beiden eine Familie und dergleichen ... und wir wissen nicht, was sie umgebracht hat. Es gibt allerdings noch jemanden, der es gern herausfinden würde ... oder besser gesagt eine Gruppe von vielen Jemanden.“ „Von wem sprichst du?“, fragte sie mit dumpfer Vorahnung, die sich schon aus ihren Augen ablesen ließ. „Du kennst die ERCOM, Tifa?“ Sie schwieg. Dann schürzte sie die Lippen, legte das Messer auf den Tisch und trat hinüber zum Küchenfenster. „Die ERCOM kenne ich“, antwortete sie schließlich und deutete hinaus. „Und sie scharen sich gerade um die Shin-Ra-Villa.“ Kapitel 11: Giving It A Try --------------------------- „Was sollen wir jetzt tun?“ „Wir können nichts unternehmen, dazu haben wir keine Befugnis.“ Zweifelnd warf Cloud seiner alten Freundin einen Blick von der Seite zu. „Du bist doch Botschafterin ...“ „Das befähigt mich aber nicht, die ERCOM zu manipulieren“, entgegnete sie monoton. Ihre gute Laune war sowieso verflogen; diese Nachricht hatte ihr sowohl den Tag als auch den Salat gehörig verdorben. „Kannst du nicht mit ihnen reden?“ „Und was soll ich ihnen sagen? Mach einen Vorschlag.“ „Die Villa gehört ihnen doch nicht!“, beharrte Cloud. „Wenn sie sie einfach betreten, ist das Hausfriedensbruch ... sie müssen das Haus als Privateigentum akzeptieren, oder nicht?“ „Privateigentum von wem?“, stellte Tifa die entsprechende Gegenfrage. „Die Villa gehört der Shin-Ra, und diese existiert nicht mehr. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Grundstück jemandem vermacht worden ist, und wenn, dann ganz bestimmt nicht Vincent oder uns, das kannst du dir sicherlich ausrechnen.“ Cloud ließ die Schultern sinken. „Verdammt, dann scheinen unsere Chancen gleich null zu sein ...“ „In der Tat, ja. Aber ... weswegen seid ihr so scharf auf die Maschine? Ihr wisst doch, dass sie uns vermutlich Schaden zufügt.“ „Das mag sein“, räumte er ein, „aber sie befindet sich ausgerechnet dort unten und besteht aus einem völlig unbekannten Material ... und dieser eigenartige Kellerraum ... vielleicht hat es etwas mit der Shin-Ra zu tun, mit JENOVA oder sonst jemandem. Ich habe einfach das Gefühl, dass diese Sache nur uns etwas angeht. Zumal ich –“ Er zögerte kurz. „– diesem Etwas, das dort herumspukt, schon begegnet bin, schon damals. Und es tötet Menschen, Tifa! Wie, das wissen wir nicht, aber wenn niemand es unter Kontrolle bringt, dann ist es vielleicht nicht aufzuhalten! Wir müssen wissen, was es mit dieser Maschine und diesem Wesen auf sich hat. Wir müssen das herausfinden, nicht die ERCOM!“ „Denen gönne ich diesen Erfolg in der Tat nicht“, grummelte Tifa, die Augen nicht von der Scheibe abwendend. „Also wirst du hingehen?“ Sie seufzte. „Ja, werde ich ... und danach werde ich versuchen, eine Vollmacht für diesen Fall zu bekommen, denn wenn der Fund eine Bedrohung für die ganze Welt darstellt, dann ist es nicht rechtens, dass sich eine Gesellschaft damit befasst, die nur auf der Wirtschaft von Midgar aufgebaut ist.“ Kopfschüttelnd nahm sie eine Kelle und vermischte damit das kleingeschnittene Salatgemüse in der Schüssel. „Verflucht, ich dachte wirklich, das wird endlich mal ein ruhiger Tag.“ Als Tifa die Haustür hinter sich zuschloss, hatte er sie bereits gesehen. Sein feindseliger Blick glitt an ihr herab, dann wieder hoch und blieb an einem Bereich irgendwo unterhalb des Gesichts haften, woraufhin er etwas weniger feindselig aussah ... Demonstrativ zog sie ihre Jacke bis obenhin zu, bevor sie neben der kleinen Gruppe uniformierter Personen stehen blieb. „Guten Tag, die Herrschaften ... was finden Sie an dieser Villa so faszinierend? Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“ Argwöhnische Blicke wurden gewechselt, und er, der sie die ganze Zeit so ungeniert angestarrt hatte, ging als erstes mit einem selbstbewussten Lächeln auf sie zu. „Henry Fawkes“, sagte er und hielt ihr die Hand hin. „Untersuchungsleiter der Ecology Research Corporation of Midgar.“ Tifa entschied sich, seine ausgestreckte Hand zu nehmen. „Tifa Lockheart, interkontinentale Botschafterin.“ Sie versuchten herauszufinden, wer den kräftigeren Händedruck hatte, während sie nicht davon abließen, einander prüfend zu mustern. Schließlich ließ er zuerst los. „Es freut mich.“ „Mich genauso“, antwortete sie beinahe trotzig. „Was hat die ERCOM hier in Nibelheim zu suchen?“ Fawkes war nicht überrascht, dass sie so plötzlich damit herausgeplatzt war. „Haben Sie irgendetwas dagegen, dass hier Untersuchungen durchgeführt werden? Sind Sie der aufgebrachte Nachbar, der sich beschweren kommt, Miss Lockheart?“ Mit unschuldiger Miene trat er einen Schritt zurück und erwartete ihren Kommentar. „Dieses Haus ist mitnichten leerstehend.“ „Oha!“, sagte er. „Nicht nur der Nachbar, sondern sogar der Eigentümer?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das nicht. Aber eine Behörde aus Midgar hat an einem Grundstück in Nibelheim nichts zu drehen, das ist einfach Fakt.“ „Seien Sie nicht albern. Die ERCOM begrenzt sich schon seit langer Zeit nicht mehr auf Midgar.“ „Wäre es dann nicht an der Zeit, den Namen des Betriebs zu ändern?“, fragte sie herausfordernd. Er seufzte. „Sie legen es wirklich darauf an, Miss Lockheart. Lassen Sie mich und meine Leute ihre Arbeit machen ... sollten Sie uns behindern, dann wird das Folgen für Sie haben, vielleicht sogar Ihre Position gefährden.“ „Ich habe nicht vor, Sie zu behindern“, wich sie aus. „Zeigen Sie mir, was Sie hier untersuchen.“ „Dazu sehe ich keinen Grund.“ Seine anfängliche Freundlichkeit schlug immer mehr in kalte Abweisung um. „Wir vermuten im Kellergewölbe dieses Hauses einen geheimen Forschungstrakt der ehemaligen Shin-Ra Corporation und werden dieser Sache umgehend auf den Grund gehen ... das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Und nun entschuldigen Sie, wir müssen die Sprengungen vorbereiten.“ „Sprengungen?“, echote sie völlig überrascht. „Um einfacher Zugang zu den Geheimkammern zu erlangen“, erklärte er, sich noch einmal umdrehend. „Guten Tag, Miss Lockheart.“ Tifa biss sich auf die Lippe, als die Beamten der ERCOM sich von ihr entfernten und Aufstellung rund um das alte Gebäude nahmen. Vincent sah hoch. Der Geräuschkulisse zufolge hatte Tifa wieder ihr Haus betreten. Immer noch saß er auf ihrem Sofa, das Geschehen direkt durch die Wand verfolgend. „Es hat nicht wirklich funktioniert, nicht wahr?“ „Abwarten“, murmelte Tifa. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich jetzt nicht viel würde unternehmen können ... aber ich wusste nicht, dass sie vorhaben, die Villa hochzujagen!“ „Das hat mich auch überrascht. Schließlich könnten sie damit auch den Keller zum Einsturz bringen, den sie so unbedingt erforschen wollen.“ „Was ist, wenn dieses Wesen da herauskommt und sie alle umbringt? Das können wir nicht zulassen! Die wissen nicht, was dort unten auf sie lauert!“ „Wir wissen es aber auch nicht“, erinnerte sie Vincent. Tifa ließ resigniert die Schultern sinken. „Es kann nicht sein, dass wir den Kampf schon verloren haben ... wir haben noch nicht einmal angefangen, uns mit den letzten Geschehnissen auseinander zu setzen, und schon kommt diese dreimal verfluchte ERCOM und sprengt alles kurz und klein, verdammt!“ Mit düsterem Blick nahm sie einen Schluck aus Vincents Wasserglas und stellte es dann wieder vor ihn auf den Tisch. „Wie auch immer, ich werde jetzt gleich auf meinem erkälteten Chocobo nach Rocket Town reiten und meinem Vorgesetzten Bericht erstatten!“ „Wer ist denn dein Vorgesetzter?“, wollte Vincent wissen. „Du hast genau einen Versuch zum Raten, mein Freund. Die beiden mittleren Kontinente haben vor knapp sieben Jahren den Mittelland-Pakt abgeschlossen, wodurch sie rein bürokratisch zu einem einzigen Kontinent werden. Seit damals bin ich Botschafterin. Wer kann also nur mein Vorgesetzter sein?“ Er sah ratlos zu ihr hoch. „Tja, keine Ahnung.“ „Kommissar Taggert natürlich, der die Mittellandjustiz befehligt! Du weißt schon, diese Art von Polizei, die seit dem Beschluss des Mittellandpaktes eingesetzt wird, blah und so weiter. Hör zu, ich mache mich gleich auf den Weg. Du und Cloud, ihr –“ Sie hielt inne und sah sich hektisch um. „– solltet schon mal .... du meine Güte, wo ist Cloud überhaupt?“ „War er nicht bei dir?“ „Durch die Wand oder zumindest durch das Fenster müsstest du gesehen haben, dass ich alleine dort draußen war, Vincent!“ „Das habe ich auch ... nebenbei bemerkt, wer ist dieser Kerl mit den dunklen Haaren?“ „Du meinst Henry Fawkes? Der Dämlack leitet den ganzen Einsatz. Verdammt, wo ist Cloud denn jetzt hin? Wo war er, als ich rausging ...?“ Mittlerweile war sie versucht, unter den Tischen und Stühlen nachzusehen. Vincent trank das Glas leer und erhob sich vom Sofa. „Wenn er nicht da ist, dann ist er verschwunden. Er hatte die Transfer-Substanz bei sich.“ „Und wieso sagt er nicht Bescheid, wenn er damit abhaut?“ „Weil wir nicht wissen sollten, wohin er wollte ... warte mal, ich weiß es. Glaube ich zumindest.“ Sie runzelte die Stirn. „Nicht der Keller, oder? Jetzt, wo die da draußen ihre Sprengladungen anzünden wollen! Das darf nicht wahr sein!“ „Warte. Er kann nicht weit kommen, weil dieses Etwas ihn vorher erledigt .... das ist bisher immer passiert. Warum auch immer er jetzt weg ist, er weiß genau, dass er ohne uns gar nicht –“ Vincent wurde von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen, dem ein Krachen und Schleifen folgte. Die Fenster wurden dunkel vor aufgewirbeltem Staub. Eilig stieß Tifa die Haustür auf und rannte nach draußen, wo vor ihren Augen der ganze Westflügel der Shin-Ra-Villa zerbröselnd in sich zusammensank. Kapitel 12: Inside ------------------ Cloud spürte die Erschütterung unter den Füßen und erstarrte auf der Stelle. Kleinere Mengen Putz und Staub rieselten von der Decke herab. Er stand unten in der Bibliothek direkt neben der Falltür und bemühte sich, diese zuzumachen. Unglücklicherweise hatte Vincent zuvor mit Edelstahlnägeln dafür gesorgt, dass die Klappe dort blieb, wo sie war, und keinem über dem Kopf zufallen konnte ... Leise vor sich hin fluchend, beinahe schon im Stil von Barret und Cid, nahm Cloud einen Brieföffner vom nebenstehenden Schreibtisch und löste die Nägel einzeln aus der Kalkwand. Es dauerte zu lange ... Als die nächste Explosion wenige Minuten später folgte, kamen ganze Brocken und Sperrholzplatten herunter und begruben eines der Bücherregale unter sich. Cloud duckte sich und hielt ein aufgeschlagenes Buch über seinen Kopf, bis die Vibration vorbei war. Es waren noch zwei Nägel übrig, und vor der Zündung der nächsten Sprengladung musste er die Falltür verschlossen, versiegelt und sich selbst mit der Transfer-Substanz in Sicherheit gebracht haben. Tifa packte Fawkes, der Anweisungen für die nächste und letzte Explosion erteilte, unsanft am Ärmel. „Hören Sie sofort auf damit!“ „Verlassen Sie das Grundstück, Miss Lockheart, die ERCOM hat es längst für ihre Zwecke beschlagnahmt!“, antwortete er mit vor Staub rauer Stimme und machte sich von ihr los. „Das Haus ist noch nicht alt genug, um unter Denkmalschutz zu stehen, falls dies Ihr nächstes Argument sein sollte!“ „Wir glauben, dass noch jemand drin ist!“, beharrte sie hysterisch. „Ach ja? Noch jemand außer haufenweise Ratten und Spinnen? Wir haben das Haus bis auf den letzten Winkel durchsucht, bevor wir die Sprengladungen angebracht haben!“ „Aber der Keller ...“ „Der wird verschont bleiben, dafür wird unser ausgebildetes Team aus Bone Village sorgen ... und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen!“ Er wandte sich von ihr ab, und sein Blick fiel auf Vincent. Fawkes kratzte sich nervös hinter dem Ohr. „Wer sind Sie denn jetzt schon wieder?“ Die Art, wie der Fremde ihn anstarrte, gefiel ihm ganz und gar nicht und sorgte auf seltsame Weise dafür, dass ihm der Schweiß ausbrach. Vincent war sich der adrenalinauslösenden Wirkung seines Blickes durchaus bewusst. „Warten Sie mit der letzten Sprengung und lassen Sie uns noch einmal nachsehen, Mister Fawkes“, sagte er liebenswürdig. Fawkes blinzelte und nickte schließlich. „Wenn Sie darauf bestehen ...“ Er gab einem der Teammitglieder, der die Fernbedienung für die Bombe in der Hand hielt, ein Zeichen. „Vorgang unterbrochen ... wir gehen noch einmal in die Villa.“ „Aber Chef, da war doch alles leer!“, protestierte der Angesprochene verständnislos. „Keine Widerrede.“ Henry Fawkes biss die Zähne zusammen und ging voran auf den halb eingestürzten Hauseingang zu. Tifa und Vincent tauschten einen kurzen Blick und folgten ihm dann. Dass das verschüttete Bücherregal sich kaum merklich Zentimeter um Zentimeter mehr nach vorn neigte, erkannte Cloud viel zu spät. Er kämpfte mit dem letzten Nagel, den Vincent zur Sicherheit schräg nach oben in die Wand geschlagen hatte, und erwartete dabei jede Sekunde die nächste gewaltige Erschütterung. Diese kam nicht ... aber der Nagel wollte sich trotzdem nicht aus dem Kalkmörtel lösen. „Komm schon!“, fauchte Cloud und packte das sture kleine Stück Metall nun mit den Fingern. Es bewegte sich endlich wenige Millimeter, und je weiter es sich aus der Wand löste, desto leichter ließ es sich auch festhalten. Cloud stieß ein triumphales „Ha!“ aus, als er den Nagel endlich in der Hand hielt – – und dann kippte das Bücherregal schließlich über den Winkel von sechzig Grad und beschleunigte auf eine Geschwindigkeit, in der es schätzungsweise ein Gewicht von zweihundert Kilogramm vorweisen konnte, ehe es mit einem lauten, dumpfen Aufschlag den Boden erreichte, dabei die Wand gegenüber niederriss und die offene Falltür unter sich bedeckte – sowohl die Falltür als auch Cloud. Jener hatte in dem kleinen Raum keine Deckung finden können, war von der umstürzenden Last am Kopf getroffen und hinab in das Loch im Fußboden gestoßen worden, das er nicht mehr rechtzeitig zu verschließen fertiggebracht hatte. Benommen lag er neben der Leiter auf dem weiß schimmernden Boden inmitten der silbernen kugelförmigen Kuppel des unterirdischen Kellertraktes. Der lange Tunnel auf der Westseite ließ die entfernt stehende Maschine mit all ihren kleinen Details auf der Außenhülle gut erkennen. Cloud hörte damit auf, instinktiv und fluchtartig zu handeln; stattdessen begann er wieder zu denken. Und er dachte: Mistverdammt. Nachdem der Schmerz in allen betroffenen Gliedern allmählich nachgelassen hatte, rappelte er sich hoch und hielt sich die Stirn, denn sofort war ihm, als bohrten sich viele Tausend Nadeln in sein Gehirn ... Nein, stellte er fest, es handelte sich eindeutig nicht um das fremdartige böse Gefühl, sondern lediglich um das Gefühl, etwas sehr Hartes und Schweres an den Kopf bekommen zu haben. Er schaute hoch, aber über dem Ausgang lag das Bücherregal. Mehrere Bücher waren zusammen mit ihm durch die Falltür gefallen, unter anderem J. McCormicks Werk Evolution Band 2, Shellders The Little One und V.R. Stevens’ Zukunftsvisionen. Nichts, was auch nur im Entferntesten nützlich war. Mehr oder weniger hatte Cloud erreicht, was er wollte – der Eingang zum Geheimkeller war verschlossen, würde vermutlich auch von einer Bombenexplosion weitgehend unversehrt bleiben ... aber er selbst war in ihm gefangen. Einzig die Transfer-Substanz ermöglichte ihm den Rückweg. Wenn er jetzt fortging, würde ES ihn nicht erwischen. Wenn er weiterging, dann vielleicht schon. Er schaute hinüber zu der Maschine, aber nichts bohrte sich in seinen Kopf oder drückte ihm die Luft ab. Keine bedrückende Traurigkeit befiel ihn. Vielleicht war ES ausgesperrt ... Das ist die Chance. Jetzt oder nie! Wenn die ERCOM erst mal den Keller auseinander nimmt, werde ich nie erfahren, was das für eine Maschine ist. Ich muss es wissen ... ich muss es einfach wissen! „Habt ihr das auch gehört?“, fragte Tifa. Fawkes nickte düster. „Da ist irgendwas umgekippt. Ein Betonklotz oder so.“ „Schnell!“ Vincent war als erster am Kellereingang und öffnete die Tür in der Steinwand zum Treppenhaus. Viel war von der Villa nicht übrig, aber der größte Teil des Kellers war noch da – wenn auch ohne Dach. Es war das erste Mal, dass sie keine Lampen brauchten, um ihre eigene Nase sehen zu können. Henry Fawkes schlich in einigem Abstand hinter den beiden her, die eilig den Weg zur Bibliothek einschlugen. Vor dem umgestürzten Regal blieben Tifa und Vincent stehen und besahen sich den Schaden. „Wir kommen nicht rein“, stellte Tifa fest. „Rein?“ Fawkes’ Miene machte Verwirrung deutlich. „Wo denn rein?“ „Sie haben doch angeblich das ganze Haus durchsucht, Mister Fawkes. Haben Sie die Falltür nicht gefunden?“ „Ich habe sogar Stahlnägel in die Wand geschlagen, damit man sie offenhalten kann, um hineinzugehen“, murmelte Vincent. „Selbst diese Haltevorrichtung ist Ihnen entgangen?“ „Nun ... ich habe das Haus nicht selbst durchsucht, sondern das von meinen Leuten erledigen lassen ... und wenn hier eine Falltür gewesen wäre, dann hätte ich das erfahren, Miss Lockheart!“ „Es ist zufällig der Ort, wo die beiden Toten gefunden wurden!“ Vincent verdrehte die Augen. „Lasst euch lieber etwas einfallen, und zwar schnell!“ „Chocobos?“, fragte Tifa. „Du bekommst etwas geschenkt, wenn du einen Chocobo findest, der sich in die Nähe dieses Hauses traut“, antwortete Vincent mit zynischer Miene. Tifa seufzte und drehte sich zu Fawkes um. „Ihre Freunde von der ERCOM haben bestimmt mit derartigen Problemen gerechnet und Ihnen Mittel und Wege zur Verfügung gestellt, um Hindernisse zu beseitigen, nicht wahr?“ „Mitnichten! Ich habe die Aufgabe, das Haus zu sprengen und den unterirdischen Raum auf diese Weise freizulegen, was mir bisher gelungen ist. Von einem Raum unter dem Raum wurde mir nichts gesagt, und wenn wir auch noch die dritte Bombe gesprengt hätten, dann –“ „– wäre noch mehr zerstört worden!“, schrie Tifa ihn an und bleckte ihre blitzenden weißen Zähne wie ein Raubtier. „Verstehen Sie denn nicht, was Sie hier anrichten? Sie haben überhaupt keine Ahnung, was hier los ist!“ Sie straffte die Schultern. „Vincent, in meinem Wohnzimmer im Schrank liegt das PHS. Die Nummer von Barret und damit der AVALANCHE –“ Sie betonte das Wort extra deutlich. „– ist eingespeichert unter Vierzehn.“ „AVALANCHE?“, brachte Henry Fawkes hervor. „Sie wollen die AVALANCHE verständigen? Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie Connections zu denen haben ...“ „Sehr gute Connections“, sagte Tifa selbstgefällig, als Vincent die Villa verließ und zu ihrem Haus auf der anderen Seite hinüber eilte, um das PHS zu holen. Cloud starrte den kleinen Metallgriff an, der an der Außenseite der Maschine angebracht war. Der Gedanke, den Zweck der Maschine nicht zu kennen, bereitete ihm Unbehagen. Es mochte sein, dass sie tatsächlich dazu da war, Menschen zu quälen oder gefangen zu halten, zu verzaubern, zu verändern oder was auch immer ... genauso gut konnte sie sich noch in der Testphase befinden oder – vielleicht die schlimmste Option – dem unsichtbaren Wesen als Behausung dienen. Cloud erschauerte kurz, zwang sich dann aber, die Unsicherheit abzuschütteln, packte den Griff mit beiden Händen und öffnete die Luke, welche lautlos aufschwang und Einblick in eine kleine geschlossene Kammer bot. Er trat näher heran, inspizierte diesen Innenraum sehr gründlich und stellte fest, dass sich in ihm nichts befand außer einem kleinen Schaltpaneel an der Rückseite ... und um dieses zu erreichen, würde er hineinklettern müssen. Tun wir’s, dachte er und atmete tief ein, ehe er sich am Rand festhielt und sich durch die Luke ins Innere der Maschine wand. Marlene wartete seit einer ganzen Weile vor der Tür zum Büro ihres Vaters im Junon-Stützpunkt. An sich gedrückt hielt sie ihre Physik-Klausur über MAKO-Energie, die sie eine Woche zuvor geschrieben hatte. Seit einer halben Stunde stand sie jetzt auf dem Flur, starrte die triste Wand an und atmete die gefilterte Luft – und wie immer ließ sich Barret viel Zeit für seine Erledigungen. Natürlich ... er war der Präsident der AVALANCHE. Marlene verdrehte die Augen. Seit er so ein hohes Tier war, musste sie darum kämpfen, ihn ganz für sich zu haben, wenn das nötig war. Sie war stolz auf das Ergebnis dieser Klassenarbeit, und er sollte es sehen! Jedenfalls dann, wenn er rechtzeitig genug aus diesem Zimmer herauskam ... Stetig eilten irgendwelche Personen geschäftig an ihr vorbei, viele davon hatte sie schon einmal gesehen. Sie hatten alle etwas zu tun. Keiner von ihnen wollte mit dem Präsidenten der AVALANCHE reden. Einzig sie wollte das, aber er hatte keine Zeit für sie ... Gelangweilt warf sie einen Blick durch das dickverglaste Fenster. Auf einem Zweig direkt vor der Scheibe saß eine weiße Taube und blickte sie unverwandt an. Marlene hatte diese Tiere seit Jahren schon oft gesehen und sich eigentlich vorgenommen, bei der nächstbesten Gelegenheit in einem Tierlexikon nachzuschlagen, um welche Taubenart es sich überhaupt handelte ... schließlich hatten nur wenige Vögel silberne Schnäbel ... jedenfalls war die Schülerin bisher einfach nie dazu gekommen, in der Bibliothek nachzusehen. Noch immer sah das Tier ihr direkt ins Gesicht. Marlene starrte zurück, ihre Schulhefte an sich gedrückt, und erwartete, der auffällige Vogel würde davonfliegen. Wie konnten reinweiße Tauben überhaupt ihren natürlichen Feinden entgehen? Man konnte sie sofort sehen, auch auf große Distanz. Das weiße Gefieder gab unmöglich eine gute Tarnung ab ... Und die Taube blieb sitzen. Marlene glaubte, durch die zentimeterdicke Scheibe ihr leises melodisches Gurren zu hören. Plötzlich ging die Bürotür auf. Barret lief an Marlene vorbei den Gang hinunter, das PHS am Ohr. „Papa –“, setzte sie sofort an. „Nich’ jetzt, Kleines!“ Sie schickte sich an, ihm hinterher zu rennen, gab dann aber auf. „Du solltest doch meine Arbeit ansehen!“, rief sie aufgebracht. „Das geht jetzt aber nich’! Nachher, ganz bestimmt!“, kam es noch leise von Barret, dann schloss er die Fahrstuhltür hinter sich. „Das ist nicht fair.“ Schniefend fuhr sie sich mit dem Ärmel über die Augen. Als sie sich zum Fenster umdrehte, saß die weiße Taube immer noch dort. „Die haben wirklich die Shin-Ra-Villa in die Luft gejagt?“ „Ja“, antwortete Tifa tonlos, „und wir haben Cloud verloren!“ „Verloren? Wie, verloren? Was is’ denn mit ihm?“ „Frag nicht! Sag mir, was ich machen soll, um den Kellereingang frei zu graben ... verdammt, die Villa ist sowieso nicht mehr zu retten ...“ „Tja, dann ... könnt ihr nicht alle zusammen das Ding anpacken und zur Seite schieben?“ „Seite? Welche Seite? Hier ist kein Platz!“ Schon wieder befand sich Tifa in einer Stresssituation, wie sie genervt feststellte. „Dieses Ding ist unglaublich schwer, und wir – “ „Wieso müsst ihr denn das Regal überhaupt da wegnehmen?“ „Weil wir sonst nicht reinkommen!“ „Und wieso wollt ihr unbedingt da runter?“, hakte Barret nach. „Weil wir glauben, dass Cloud im Keller ist.“ „Aber du hast doch gesagt, dass er per Transfer-Substanz verschwunden ist.“ „Ich ... ja, das habe ich gesagt ...“ „Bestens, dann kommt er doch auch wieder raus, oder nicht?“ Tifa ließ das PHS sinken. „Wir wissen nicht, ob er durch die Sprengungen verletzt wurde!“, zischte Vincent. „Wir müssen das Regal da wegschieben!“ „Hm.“ Schulterzuckend gab Tifa das PHS an Vincent und ging erneut um das umgestürzte Regal herum, bevor sie sich auf dessen Kante niederließ. „So langsam wird mir das einfach zu viel.“ Henry Fawkes stand immer noch reglos wie eine Statue daneben und blickte missbilligend auf sie herab. „Keiner von Ihnen hätte sich in meine Angelegenheiten einmischen sollen.“ „Sie hätten nie von diesem Geheim-Keller erfahren, wenn wir das nicht getan hätten“, antwortete Tifa müde. Unglücklicherweise war sie ja davon ausgegangen, er wüsste er längst ... Endlich schaltete Vincent das PHS aus und schnippte mit den gesunden Fingern. „Wir bekommen Hilfe“, sagte er. Kapitel 13: Middle Of Nowhere ----------------------------- Die Luke schloss sich automatisch wieder, ohne dass Cloud sie anrührte. Ein kalter Schauer überfiel ihn, und er stemmte sich gegen das schillernde Glas, doch der Riegel wollte nicht wieder aufspringen. Im Bewusstsein, sich soeben selbst in eine völlig unbekannte Maschine eingeschlossen zu haben, griff er auf der Rückseite nach dem Schaltpaneel, in der Hoffnung, dadurch würde sich die Tür wieder öffnen lassen. Er konnte die Schaltung leicht erreichen, und das Material gab bereitwillig unter seinen Fingerkuppen nach. Ein leiser sirrender Ton erklang, wurde höher und immer höher, bis sich die Frequenz aus dem für Cloud hörbaren Bereich entfernte. Einige Sekunden später schien der Laut auch die Ultraschallgrenze überschritten zu haben, denn eine leichte, feine Vibration durchlief das ganze Objekt. Cloud bezweifelte mittlerweile, dass sich die Luke öffnen würde, und suchte nach etwas, an dem er sich festhalten konnte, als er die Tonhöhe noch immer steigen fühlte. Nichts war vorhanden, die Wände waren glatt wie Seide und auch vor ihm befand sich ... nichts. Oder doch? Plötzlich wurde der inzwischen völlig unhörbare Ton zu einem kränklichen Zucken verzerrt, wie ein flimmerndes Fernsehbild konnte Cloud irgendetwas klirrend in sich zusammenbrechen hören. Dann wurde es dunkel. Es war, als hätte er die Augen geschlossen, aber er hatte sie offen ... er war sich sicher, dass er sie offen hatte. Als er sich umschaute, sah er sich selbst. Überall um sich herum erblickte er nur sein Ebenbild, als stünde er zwischen Millionen und Abermillionen von Wassertropfen unterschiedlicher Größe, umringt von farbloser Leere. Ein Spiegel, dachte Cloud. Dieses Ding ist ein Spiegel. Er schloss die Augen und spürte seinen Herzschlag, rasch und klopfend unter seinen Rippen, kontinuierlich schneller werdend. Er hatte Angst. Er wusste, dass es ein Fehler gewesen war. Dieses Ding würde ihn umbringen. Das Sirren hielt an, und gleichzeitig setzte ein Gefühl ein, das sich wie ein Schwebezustand anfühlte, dann wie ein anwachsender Strom, der Clouds Körper mit aller Kraft packte und ins Nichts katapultierte. Weiter und immer weiter ... eine endlose Reise tief hinab in den Boden, durch Jahrzehnte alte Erdschichten abwärts in den feurigen Schlund des Erdkerns. Er wollte die Augen nicht öffnen, aus Angst vor dem, was er sehen würde. Krampfhaft hielt er die Lider geschlossen, und ein Schleier aus Tränen rann tropfenweise aus den Winkeln ... und fiel nicht nach unten, sondern nach oben. Endlich fiel er, fiel so lange, dass er nicht einschätzen konnte, wie tief. Unten landete er weich und bewegte sich nicht. Die seltsamen Gefühle waren vorüber, kein Ton und keine Vibration mehr, nur Frieden und eine entspannte Stille. Er atmete tief ein und blieb auf dem Bauch liegen, ohne eine Regung zu tun. Er wollte die Augen gar nicht öffnen. Er wollte auch nicht herausfinden, ob er tot war oder wo er sich eigentlich befand. Es war im Moment nicht wichtig, wenn nur all diese Empfindungen ihn endlich in Ruhe ließen. Nanaki schnupperte. Seine gute Nase hatte die Witterung sofort aufgenommen. Glücklicherweise hatte er sich nebst der AVALANCHE gerade in Reichweite befunden, sodass die Hilfe seiner scharfen Sinne sogleich hatte angefordert werden können – ein Fußmarsch vom Cosmo Canyon nach Nibelheim hätte Tage in Anspruch genommen, aber so waren seine Dienste sofort verfügbar. „War er hier unten?“, fragte Tifa hoffnungsvoll. „Ja, war er“, antwortete Nanaki, dann hob er mit den Zähnen ein paar Nägel auf und legte sie nebeneinander. „Und mit diesen hier hat er irgendetwas gemacht ... sein Geruch hängt deutlich an jedem der Nägel. Oh, und auch an diesem Brieföffner.“ „Mit diesen Nägeln hatte ich eine Halterung für die Falltür an der Wand festgeheftet“, erklärte Vincent. „Ergo hat Cloud sie alle rausgerupft, obwohl die Falltür zu war. Aber weswegen?“ „Damit niemand die Falltür findet, logisch. Eine Halterung ist ein guter Hinweis.“ Nanaki schnupperte wieder, aber weitere Spuren blieben für ihn unauffindbar. „Er muss dort unten sein. Wenn ich so groß wie mein Vater wäre, dann könnte ich bestimmt etwas tun ...“ „Wenn du so groß wie Seto wärst, dann würdest du hier nicht reinpassen“, korrigierte Tifa. „Hm? Wie du meinst. Jedenfalls können wir uns nicht darauf verlassen, dass er dort aus eigenen Kräften wieder herauskommt. Gibt es keinen anderen Weg in den Keller?“ „Welchen denn? Es geht nur gerade nach unten!“ „Also nicht.“ „Natürlich nicht!“ Nanaki fuhr sich mit der Zunge über die Lefzen, als er wiederholt um das Bücherregal herumschlich. „Nein, das kann doch nicht sein. Ein Regal versperrt uns den Weg nach unten, wie lächerlich.“ „Welch statische Handlung“, kommentierte Tifa. „Genauso gut könnten wir gar nichts machen.“ „Können wir nicht. Wir müssen runter. Wir müssen – und wir werden.“ Leise Geräusche drangen an Clouds Ohren. Noch immer lag er mit geschlossenen Augen auf einem relativ weichen Untergrund, womöglich Erdboden. Aber er war nicht allein, wie er nun feststellte. Er spürte ziemlich deutlich, beinahe bedrängend, die Anwesenheit von jemand anderem und fühlte sich dadurch nunmehr genötigt, dem Betreffenden zu zeigen, dass er durchaus bei Bewusstsein war. Vor seinen Lidern offenbarte sich eine erstaunliche Szenerie. Rund um ihn herum wuchs hohes Gras, das sich leicht im Wind bewegte, und unterschiedliche Blumen mit großen bunten Blüten reckten sich in Richtung eines blauen Himmels mit einer strahlenden Sonne. Cloud blinzelte überrascht. Ihm fiel wieder ein, dass er in die Maschine geklettert war und einige quälend lange Minuten von Schrecken, Furcht und Ungewissheit durchlebt hatte. Und nun das ... der Anblick einer perfekten Natur bot sich ihm. Er fragte sich, wo er gelandet war, als er wieder darauf kam, sich doch nach demjenigen umzusehen, der bei ihm sein musste. „Ich bin hier“, sagte sie. Sie. Ihre Stimme klang furchtbar vertraut. Er drehte sich um und sah in der Tat eine mehr oder weniger junge Frau vor sich sitzen, deren Äußeres ihm mindestens genauso bekannt erschien. Er öffnete den Mund, aber es dauerte eine weitere Sekunde, ehe ein Ton herauskam. „Aeris ...?“ Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich habe erwartet, dass dies das erste Wort wäre, das du sagen würdest. Vor dir ist schon vielen anderen aufgefallen, dass meine Tochter mir beinahe aufs Haar gleicht.“ Diese Worte schärften Clouds Verstand wieder ausreichend. Er sah etwas genauer hin und zog dann einen logischen Schluss: „Du bist ... Ifalna.“ „Ja, das stimmt.“ „Aber du ... du wurdest von Hojo getötet, zumindest laut dem Video aus dem Dorf vor Gaeas Kliff ...“ Er sah sich unsicher um. „Wo bin ich? Wo sind wir? Oder existierst du nur in meiner Einbildung?“ „Ich überlasse es dir, die Antwort auf diese letzte Frage selbst herauszufinden, denn darüber lässt sich streiten. Und ja, ich bin ... tot. Es wird lange dauern, dir das verständlich zu erklären. Wo wir jetzt sind, das kann ich dir allerdings sagen: Wir befinden uns nirgendwo anders als im Verheißenen Land.“ „Was? Dies hier soll das Verheißene Land sein? Aber das kann nicht stimmen, das kann nicht ... es war doch tief unten im Nordkrater, das Verheißene Land ...“ Unsicher hob er den Blick, um in Ifalnas Gesicht die Antwort zu lesen. Die Tiefe ihrer Augen war zu unergründlich, um darin irgendetwas entdecken zu können, aber sie sagte ruhig: „JENOVA hat versucht, das Verheißene Land zu erreichen, indem sie den Nordkrater schuf. Die Wunde war allerdings nicht tief genug, denn das Verheißene Land – wir nennen es hier übrigens Miragia – ist allein der Kern des Planeten. Dieser blieb bisher für jeden Eindringling unerreichbar.“ „Aber ...“ Cloud war verwirrt, und dieser Zustand schien allerhöchstens schlimmer zu werden. „Dies hier soll der Planetenkern sein? Aber hier scheint eine Sonne, wir sitzen auf einer Wiese ... wie ist das möglich?“ „Wir werden dir alle Fragen beantworten, Cloud“, sagte Ifalna besänftigend und erhob sich aus dem Gras. „Tatsächlich haben wir schon eine ganze Weile auf dich gewartet. Hab keine Angst. Dieser Ort hier funktioniert wie ein Spiegel der Außenwelt, der wirklichen Welt, während hier alles nur von dort reflektiert wird, und zwar durch spirituelle Energie. Aber nun komm mit.“ Sie streckte ihm die Hand hin. Cloud griff ohne langes Zögern danach und folgte Aeris’ Mutter durch hüfthohe Blumenstängel und Pflanzenhalme. Er war voller Zweifel, was seine Anwesenheit an diesem unwirklichen Ort betraf, und insgeheim glaubte er nach wie vor an einen hyperrealen Traum. So weit weg konnte er ganz unmöglich sein ... die Maschine befand sich im Keller der Shin-Ra-Villa, und sie konnte ihn niemals so tief durch kilometerdicke Erdschichten geschleudert haben. Sie hatte nicht einmal eine Öffnung gehabt, bis auf jene Luke, die sich ihm verschlossen hatte. Weswegen also befand er sich hier, sofern es stimmte, was Ifalna – oder ihre Erscheinung – ihm mitgeteilt hatte? Nachdenklich folgte Cloud Ifalna einen schmalen versandeten Weg entlang. Es gab keine Häuser und auch sonst keine Bauwerke, genauso wenig wie es Tiere gab. Keine Vögel sangen und keine Insekten schwirrten durch die laue Luft. Aber als Cloud annahm, er und Aeris’ vermeintliche Mutter wären neben den zahlreichen Pflanzen die einzigen Lebewesen, hatte er sich dennoch geirrt. Plötzlich gabelte sich der Weg in drei gleiche Läufe, und sie alle waren von jeweils einem breiten, unüberwindbaren Zauntor blockiert. Ehrfurchteinflößend ragten diese riesigen Schranken mindestens zwei Meter hoch auf, reich verziert in allen Farben und mit Siegeln versehen. Ifalna blieb vor einem massiven hohlen Eichenstamm abseits der Weggabelung stehen und klopfte dreimal mit den Fingerknöcheln gegen die brüchige Baumrinde. „Ophiem, lass uns durch das mittlere Tor, bitte. Er ist jetzt hier.“ „Wirklich?“, erklang eine nervöse Stimme widerhallend aus dem Inneren des Baumes. „Wartet, wartet. Ich mache das Tor auf, aber geht nicht weg!“ Wenige Sekunden später öffnete sich das riesige Tor vor dem Weg in der Mitte. Gleich darauf steckte der dafür Zuständige seinen Kopf aus dem Baumstamm. Er war ganz unverkennbar ein Vertreter des Alten Volkes. „Hallo Ifalna. Hallo Cloud!“, rief er glücklich, als er die beiden erblickte. „Wie wunderbar, euch beide zu sehen!“ Da Cloud von diesem Fremden geduzt wurde, war er geneigt, dasselbe zu tun. „Woher kennst du meinen Namen?“ „Ich sagte doch, dass du erwartet wirst!“, sagte Ifalna. „Deshalb sei bitte zu allen freundlich. Das hier ist Ophiem, unser Torwächter.“ Ophiem strahlte. „Freut mich sehr!“ „Mich ebenso“, antwortete Cloud vorsichtig. „Na denn, sei willkommen! Wohin möchtet ihr denn?“ Ehe Cloud eine Gegenfrage stellen konnte, übernahm Ifalna die Antwort: „Ich bringe ihn zum Weidenhain. Wir müssen ihm noch eine Menge erklären. Ich glaube, er ist immer noch ein wenig konfus.“ Lächelnd tätschelte sie Clouds Hand, die sie festhielt wie die eines Kleinkindes, das dazu neigte, verloren zu gehen. „Wir sehen uns heute Abend, Ophiem. Bis später.“ Als beide wieder isoliert und allein auf dem abgelegenen Pfad entlang trotteten, beugte sich Cloud zu Ifalna hinunter. „Ist es richtig, dass ... alle Cetra, die in der ...“ Er erinnerte sich noch rechtzeitig an das gebräuchliche Wort. „... Außenwelt gestorben oder vernichtet worden sind, hierher gelangen?“ „Gut beobachtet“, antwortete sie ebenso leise. „Das Alte Volk wurde ausgelöscht, zum Großteil natürlich durch JENOVA und das Virus. Aber wir sind Freunde des Planeten, wie du weißt ... deswegen hat er uns einen speziellen Platz dicht an seinem Herzen eingerichtet, der unseren Bedürfnissen entspricht. Er hat das für uns geschaffen, nach dem wir die ganze Dauer unserer Existenz lang gesucht haben.“ „Das Verheißene Land.“ „Ja.“ Cloud seufzte leise. Je länger er darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihm diese Erklärung – aber es fehlten noch zu viele Teile, um das Puzzle so weit zu vervollständigen, dass es ein erkennbares Bild ergab. „Aber eure Körper ... einige haben doch sicher einen Tod erlitten, bei dem ihre Körper ... nun ja ... verloren gingen ...?“ Sie nickte. „Sehr richtig. Und hiermit kämen wir wieder auf deine Frage zurück, ob dies hier ein realer Ort ist. Er ist es nicht. Wie könnte er auch? Er ist ein Spiegel der Außenwelt.“ „Aber ...“ „Nur ruhig, Cloud. Diese Dinge kann dir jemand erklären, der dich besser kennt als ich.“ Sie deutete geradeaus auf eine Gruppe Trauerweiden, die im Halbkreis ihre Schatten auf eine weitere sonnenüberflutete Wiese warfen. „Dies ist der Weidenhain. Nun, bevor wir dorthin gehen, muss ich dir noch etwas Wichtiges sagen.“ „Und das wäre?“, fragte Cloud nach und zwang sich zu Geduld. „Du warst schon einmal hier.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, war ich nicht.“ „Doch. Erinnere dich an das, was vor acht Jahren passiert ist.“ „Das mit JENOVA? Das mit Sephiroth? Das mit ... Aeris?“ „Der Weg ist richtig, denk weiter! Kurz bevor Aeris nach ihrem Tod zu euch zurückkehrte, war sie hier. In einem tiefen, dunklen Wald, angekettet an den Waldboden. Du warst bei ihr. Erinnerst du dich?“ Cloud erstarrte. „Aber das ... nein, das war doch nur ein ... Traum ...“ Ifalna nickte wieder, diesmal mit ernster Miene, und hielt seine Hand noch fester. „Du bist der einzige Mensch, der sich jemals nach Miragia verirrt hat. Es passierte in einem Traum, der durch starke Emotionen beeinflusst war, unter anderem durch deine Hoffnung, Aeris zurückzubekommen.“ „Es war ein Traum, mehr nicht!“, beharrte er. Der warme Wind zauste seine blonden, stachelig fixierten Strähnen, und noch immer standen sie beide mitten auf dem Weg und gingen nicht weiter. „Da war ein Haus, dort waren Barret und Cid, die mir irgendetwas antun wollten! Und Tifa, sie nannte diesen dunklen Wald den Wald der Toten ...“ Es klang wie aus einem Kindermärchen, und dennoch spürte Cloud, wie er bei der Erinnerung erschauerte. Nach acht Jahren war der Traum noch immer erschreckend gegenwärtig. „Außerdem sagten sie alle, Aeris sei eine Prinzessin, und Sephiroth sei ihr Bruder, und beide seien aus dem Geschlecht von irgendwelchen ...!“ „Der Wald ist ein Ort der Verdammnis hier in der Mitte von Miragia“, erklärte Ifalna geduldig. „Er ist das Zentrum des Spiegels, die Totalreflexion ... alles ist in ihm verzerrt. Er ist voller Halluzinationen und falschen Wahrheiten. Nur Aeris war wirklich dort. Und sie hat sich gefürchtet, wie du gesehen hast. Nun, in den Wald der Toten gelangen alle Cetra, die durch die Hand eines anderen Wesens als JENOVA den Tod finden. Sie werden am Boden festgekettet und müssen warten, bis ihr Mörder stirbt ... dann kommen sie frei.“ Cloud schwieg. Er dachte intensiv nach, wobei er der Meinung war, sein Hirn an diesem Tag bereits überanstrengt zu haben. „Aeris war dort festgesetzt, weil Sephiroth noch am Leben war.“ „Ja. Und als er ihr das Leben zurückgab, war sie frei.“ „Frei ... ich verstehe.“ Er log, denn er verstand noch immer fast gar nichts. „Und das mit den Geschwistern ... mein Mann, den du als Professor Gast kennst, ist Aeris’ Vater und zugleich Sephiroths Erschaffer. Dies bewirkt eine Art Pseudo-Bruder-Schwester-Band zwischen den beiden, weißt du. In Wahrheit hatte Sephiroth aber nur eine einzige leibliche Schwester, und das war Ronven.“ „Ich weiß.“ „Gut. Nun, wenn du dich vom ersten Schrecken wieder erholt hast, dann wollen wir weiter.“ Raschen Schrittes ging sie voran, und sie ließ Clouds Hand erst los, als sie direkt vor dem Weidenhain standen. „Tja, und jetzt lasse ich dich den Weg allein fortsetzen. Wenn ihr genug habt, komm einfach hierher zurück.“ Cloud blickte in Richtung des lauschigen Grüppchens aus langzweigigen Bäumen, dann drehte er sich noch einmal zu Ifalna um. „Danke für deine Hilfe ... auch wenn ich wahrscheinlich immer noch nicht alles verstehe ... und nicht weiß, was ich hier eigentlich soll. Ich würde nur gerne wissen, was passiert wäre, wenn Sephiroth damals von alldem hier etwas gewusst hätte“, fügte er mit kaum merklichem Bedauern hinzu. Aeris’ Mutter lächelte geheimnisvoll. „Am besten fragst du ihn das selbst.“ Diese Andeutung blieb Cloud ein Rätsel. Schulterzuckend wandte er sich ab und trottete zu den Bäumen hinunter, in der Hoffnung, dort würde er schon erfahren, was von ihm erwartet wurde. „Irgendwie hab’ ich ja kein so gutes Gefühl dabei, aber es scheint sich nich’ anders bewerkstelligen zu lassen.“ Barret kratzte sich hinter dem Ohr, einen kritischen Blick auf das umgestürzte Regal werfend. „Aber die Bomben von diesen ERCOM-Heinis sind eindeutig zu gefährlich, die semmeln uns den ganzen Rest vom Haus weg. Also auf die altmodische Tour.“ Er trat einen Schritt zurück, um das Stahlgefäß aufzuheben, an dessen Außenwand ‚NITRO-GLYCERIN, hochexplosiv, Sicherheitsstufe 3’ zu lesen war. Nanaki murrte. „War denn kein Plastiksprengstoff da? Sprengkapseln? Stinkt wenigstens nicht so!“ „Hee, wer soll’n das nu wissen, wenn man in ein altes Haus gerufen wird, hä?“ Barret bemühte sich, den Inhalt des Gefäßes zur Anwendung vorzubereiten. Tifa, Vincent und Nanaki, der beim Geruch der Chemikalie seine empfindliche Nase rümpfte, sahen ihm aufmerksam bei seiner Arbeit zu. Abseits von alldem, nahe des Kellerausgangs, stand Henry Fawkes, Untersuchungsleiter der ERCOM, und beobachtete die Szene mit unverhohlenem Missfallen. Diese aufdringlichen Zivilisten, die sich in befugt in seine Sache einmischten, machten alles immer schlimmer. Erst tauchten sie mit diesem ihm völlig unbekannten vierbeinigen Wesen auf, das zu Fawkes’ Entsetzen auch noch die menschliche Sprache beherrschte, und jetzt zerstörten sie nach und nach sein ganzes Werk, seine Aufgabe. Wohlgemerkt, seine, denn diese Villa war leerstehend und beschlagnahmt von der ERCOM – dennoch konnte er die ungebetenen Gäste nicht davon abbringen, ins Handeln des Forschungsunternehmens einzugreifen. Je länger er dabei zusehen musste, desto wütender wurde er. Sie würden bereuen, was sie hier taten, und zwar allesamt. An erster Stelle natürlich diese unkooperative Miss Lockheart. „Alle zurück“, befahl Barret, „jedenfalls so weit wie’s hier drinnen möglich is’! Wir haben so wenig Nitroglycerin verwendet wie möglich, aber eine Explosion is’ immer unberechenbar. Nehmt die Brandschutzdecken und haltet sie vor euch, alles klar?“ Damit trat er einige Schritte zurück und richtete seinen Gewehrarm auf das kleinflächig begossene Bücherregal. Wie lange hatte er diese Waffe nicht mehr mit Blei gefüttert ... Nach dem laut widerhallenden Abschuss erfolgte eine wohldosierte, sich zum Boden hin richtende Mini-Explosion. Sie schlug ein ganz ordentliches Loch in das Regal und in die Einbände der darunter befindlichen Bücher. Der entstehende Qualm wölbte sich in einer pilzartigen Wolke in Richtung Decke. „Operation erfolgreich“, gab Tifa hustend von sich und versuchte, Staub und Rauch mit einer Hand von ihrem Gesicht zu vertreiben. „Wollen mal schauen, ob das Loch groß genug ist.“ Nanaki schlich zum Regal und stieg mit den Vorderpfoten darauf, um in das Loch hinabspähen zu können. „Mir scheint, dass es in der Tat groß genug ist.“ „Red hat Recht. Da passen wir alle durch“, bestätigte Barret, der neben den Vierbeiner trat. Unterhalb des Regals war nun der Fußboden des Geheimkellers sowie ein Stück der angelehnten Leiter zu sehen. Einige Bücher waren heruntergefallen. „Was ist“, wandte sich Tifa an die anderen, „gehen wir?“ Nanaki schüttelte den Kopf. „Ich ... gehe nicht mit runter. Ich habe Angst vor diesem Wesen, das da unten rumspukt, und zwar nicht nur ein bisschen Angst, sondern schon so viel, dass es mich fast lähmt. Ich halte einen Sicherheitsabstand und warte hier auf euch.“ Tifa nickte. „Na gut, dann gehen nur wir.“ Cloud ließ seinen Blick langsam über die einzelnen Bäume schweifen. Es war nirgends etwas Auffälliges zu sehen. Was wollten die Cetra von ihm? Er verstand sie einfach nicht. „Cloud, dreh dich um. Du bist jetzt schon zweimal an mir vorbeigelaufen.“ Er zuckte zusammen. Die Stimme war dicht hinter ihm – und nicht nur das, er kannte sogar den Namen ihres Besitzers. Voller Überraschung drehte er sich um. „Sephiroth?“ „Du hast mich nicht vergessen?“ „Nein, verdammt, wie könnte ich?“ Verblüfft blieb er stehen und musterte Sephiroth eingehend. Er hatte sich nicht verändert, in keiner Weise; er trug sogar sein schwarzes Cape. Aber da war noch etwas anderes Schwarzes, etwas, das eigentlich nicht zu ihm gehörte ... Cloud kniff die Augen zusammen. „Was ist das dort? Das über deiner rechten Schulter?“ „Hm? Oh. Du meinst das hier.“ Zu Clouds Überraschung entfaltete Sephiroth einen einzelnen schwarzen Flügel, der aus der Spitze seines rechten Schulterblatts herauswuchs, glänzend schwarz befiedert wie der eines Vogels, eine Spannweite von schätzungsweise anderthalb Metern aufweisend. Cloud schüttelte den Kopf. „Wieso ... woher hast du ...?“ „Den Flügel?“ Sephiroth zuckte die Schultern, und um seine Mundwinkel schlich sich ein amüsiertes Lächeln. „Ich weiß nicht. Ich hatte ihn schon bei meiner Ankunft, und ich finde ihn recht schick ... ist schon seltsam, weißt du, als ob man einen zusätzlichen Arm hätte. Leider taugt er nicht zum Fliegen.“ „Ich stelle mir eigentlich eine andere Frage“, murmelte Cloud und hoffte, Sephiroth möge doch aufhören, so humorvoll zu grinsen. „Wie bist du eigentlich hierher gekommen? Nach dem, was ich bisher gelernt habe, gelangen nur die Cetra nach ihrem Tod hierher, und ein Cetra bist du nicht.“ „Wohlgemerkt, nein, auch wenn ich das früher gerne geglaubt hätte. Ich bin nicht mehr als ein JENOVA-Klon, mehr oder weniger erschaffen vom schlimmsten Feind dieses Planeten. Was ich hier zu suchen habe, das möchte ich auch gerne wissen.“ Endlich verschwand das Grinsen, und Sephiroth widmete Clouds Augen einen freundlichen Blick. „Hast du mit Ifalna gesprochen?“ Cloud nickte. „Ja, habe ich. Kennst du sie auch? War sie nicht empört darüber, dass du dein Schwert durch das Herz ihrer Tochter gerammt hast?“ Cloud wusste selbst, dass er das nicht hätte erwähnen sollen. Die Erinnerung an Aeris’ Tod bereitete Sephiroth um einiges mehr Kummer als ihm selbst. Sephiroth schauderte und wurde sofort wieder ernst, wie Cloud bereits erwartet hatte. „Ich weiß, ich ... setze mich nur ungern mit der JENOVA-Zeit auseinander. Mir ist klar, dass ich das muss, aber ich kann mich nicht davon befreien. Schließlich weiß ich noch genau, dass ich es war, der all diese ...“ Er unterbrach sich und holte langsam Atem, ehe er fortfuhr: „Lass uns über etwas Aktuelleres reden.“ „Wie du möchtest.“ „Wir haben auf dich gewartet, Cloud.“ „Das weiß ich inzwischen, aber woher wusstet ihr, dass ich kommen würde?“ „Weil du angeblich schon einmal hier warst.“ „Auch das weiß ich mittlerweile. Und warum kann ich diesen Ort betreten? Ich bin ja nicht einmal tot!“ „Tja.“ Sephiroth faltete seinen Flügel zusammen und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der Weiden. Sein Gesicht wurde vom Schatten der Blätter verdunkelt. „Warum du jetzt hier bist, kann ich dir sagen. Du hast die Maschine gefunden, die von den Cetra das SPECULUM genannt wird.“ „Oh. Ach ja, richtig ... dieses Ding im Keller, in das ich reingeklettert bin. Es führt also hierher?“ „Ja. Es ist ein Transporter, der es durch die Technologie des Alten Volkes ermöglicht, nach Miragia zu gelangen, sowohl lebendig als auch tot. Aber das Spektakulärste daran ist, dass jeder ihn benutzen kann. Jede Rasse, jede Spezies ... sofern der Betreffende es fertig bringt, das Schaltpaneel zu aktivieren. Die Cetra hier haben mir das immer wieder erklärt, bis ich es verstanden hatte ... und wir waren uns alle einig, dass ihr diesen Keller unter dem anderen Keller finden und das SPECULUM entdecken würdet. Und nach acht Jahren tauchst du nun endlich hier auf. Alle hier sind sehr froh, dich zu sehen. Einschließlich mir. Du siehst gar nicht gealtert aus.“ „Ich bin achtundzwanzig.“ „Ha, dann hast du mich jetzt fast eingeholt, was das Alter betrifft.“ „Wie schön, dass dich das freut, aber ... warte mal, diese Maschine ermöglicht also auch Menschen den Zutritt nach ... Miragia?“ „So ist es.“ „Und wer hat das Ding gebaut?“ Sephiroth seufzte. „Ja, da wären wir an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ich fand es schade, dass ihr mir in der Zeit, die ich mit euch verbracht habe, niemals von meiner leiblichen Mutter erzählt habt. Niemand außer ihr hat das SPECULUM konstruiert.“ „Lukretia hat das getan?“, echote Cloud fassungslos. „Aber wie soll sie ...? Sie konnte doch unmöglich ... sie ist doch auch nur ein Mensch ...“ „Sie hatte gute Freunde unter den überlebenden Cetra, die von ihrem Geheimprojekt, das sie vor Hojo und Professor Gast gänzlich abschirmte, begeistert waren, denn sie wollten ihre verlorenen Rassegenossen im Verheißenen Land aufsuchen. Tatsächlich hat niemand je etwas von dieser Erfindung mitbekommen ... das Geheimnis starb zusammen mit Lukretia und ihren beiden Helfern. Aber du weißt, Cloud, dass Lukretia nicht aufgegeben hat, ihren Schatz zu beschützen und jeden Eindringling grausam zu vernichten.“ Cloud begriff nicht sofort. Es dauerte fast eine halbe Minute, ehe der Groschen fiel – aber dann fiel er so laut, dass das Echo beinahe ohrenbetäubend war. „Lukretia hat diese beiden Männer umgebracht ... sie war es, die uns angegriffen und mich jedes Mal beinahe getötet hat!“ Mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck fixierte Sephiroth Cloud mit seinem Blick. „Eben das war das Problem. Meine Mutter – oder eher das, was von ihr noch übrig ist – lebt nur in gewisser Weise. Sie konnte durch ihre Verbindung zu JENOVA auch dann nicht getötet werden, als sie versuchte, ihr Leben selbst zu beenden. Ihr Wissen um das SPECULUM ließ ihr keine Ruhe. Sie musste dieses Gerät vor den Menschen verbergen, damit diese keinen Zugang zu Miragia erhalten konnten ... denn das wäre fatal gewesen. Du kennst das destruktive Verhalten der Menschen so gut wie ich, und das Verheißene Land hätte nicht mehr lange bestanden, wäre auch nur einer von ihnen hier eingedrungen.“ „Wir ... sind auch Menschen“, gab Cloud vorsichtig zurück. „Die Cetra heißen uns willkommen.“ „Wir sind anders, Cloud. Du hast dich bewiesen, als du den Planeten vor seinem Untergang bewahrt hast. Dafür ist er dir auf ewig dankbar.“ „Das ist ziemlich kompliziert. Aber es macht ein wenig Sinn.“ Cloud ließ sich ins Gras sinken und inhalierte tief die von Blumenduft getränkte Luft. „Um das Thema kurzzeitig zu wechseln ... Ihr habt es ziemlich gut hier, aber langweilt ihr euch nicht? Kilometerweite Wiesen, ein blauer Himmel und eine strahlende Sonne, jeden Tag?“ „Wir sind nicht den ganzen Tag hier“, antwortete Sephiroth. „Was mich betrifft, ich besuche lieber die Außenwelt.“ „Was ... ihr könnt diesen Ort verlassen und einfach zurückkehren? Das könnt ihr?“ Immer wieder wurde Cloud durch eine Antwort überrascht – bereits einmal zu oft, wie er fand. „Nicht als Menschen. Wir manifestieren uns in eurer Welt als Vögel – Tauben. Unverkennbar. Weiß mit blauen Augen. Silberne Schnäbel. Sehen cool aus. Jetzt sag nicht, dass du uns noch nie gesehen hast.“ Cloud dachte nach. „Ich sehe diese Vögel mittlerweile so häufig, dass es mir schon gar nicht mehr auffällt. Und das seid also ihr? Kaum zu fassen ...“ „Wir benutzen einen Ausgang am Nibelberg, um unsere Reise von dort zu beginnen. Ich bin dich und Aeris jeden Tag besuchen gekommen.“ „Aeris hat euch gefüttert“, murmelte Cloud. „Also weiß sie, wer ihr seid.“ „Sie weiß es in der Tat, denn sie kann es spüren.“ „Aber wie kommst du damit zurecht, als ein Vogel rumzuflattern? Ohne Sprache oder großartige Möglichkeiten ... du bist ja nicht mal sehr gut getarnt mit dem weißen Gefieder! Was ist, wenn ein Tier dich fängt oder jemand auf dich schießt ...?“ „Was das Geflatter anbetrifft, das ist nicht schwierig. Sobald die Verwandlung abgeschlossen ist, liegt mir der Instinkt zum Fliegen praktisch im Blut, obwohl ich dabei nichts von meinem menschlichen Verstand einbüße ... oh, und meine Vorlieben ändern sich entsprechend. Ich bin der Meinung, dass Sesamkörner eigentlich nach gar nichts schmecken, aber sobald ich ein Vogel bin, werde ich wild auf diese Dinger“, fügte er beinahe verlegen hinzu. „Und wenn uns jemand angreift, dann können wir verschwinden. Was auch immer passiert, wir bleiben in jedem Falle unverletzt. Wir sind nicht real, wir sind nicht wirklich in eurer Welt, nur als Manifestation ... uns kann überhaupt nichts passieren.“ „Wie interessant.“ Je mehr Sephiroth erzählte, desto neugieriger wurde Cloud. „Müsst ihr hier gar nicht schlafen oder essen?“ „Nein, wozu? Wir könnten wahrscheinlich, wenn wir wollten, da dieser Ort ohnehin nicht wirklich materiell ist ... da er das nicht ist, sind wir es auch nicht.“ „Das soll heißen, wir sind gar nicht wirklich hier, oder wie?“ „Wir existieren nur noch in spiritueller Form, aber wir wissen, wie wir selbst aussehen und wählen von uns aus diese Gestalt. Du selbst befindest dich ohne Bewusstsein im Innern der Maschine, unterhalb des Kellers.“ „Ach du liebe Güte ...“ „Das ist doch kein Kunststück. Ich habe es auch schon hingekriegt, deinen Geist von deinem Körper loszulösen. Das SPECULUM tut nichts anderes als das.“ „Weißt du, was mir gerade auffällt?“ „Was denn?“ „Dass ich fürchterliche Kopfschmerzen habe. Obwohl ich natürlich gar nicht hier bin und so.“ „Das waren zu viele Informationen auf einmal für dich, Cloud. Eigentlich müsstest du dich in einer Art leichtem Schockzustand befinden, schon allein der Tatsache wegen, dass du dich hier in einer dir unbekannten Welt befindest und die Reise nicht eben angenehm war.“ Sephiroth legte Cloud eine Hand auf die Schulter, eine beruhigende, behütende Geste. „Was auch immer du tust, Cloud, nimm dich vor meiner Mutter in Acht. Sie hat eine furchtbare Methode, sich ungebetener Gäste zu entledigen.“ „Ich weiß ... sie zwängt sich in ihre Körper und zernagt ihre Gedärme ... oder so ähnlich. Jedenfalls hatten beide Leichen ein grauenhaftes Loch im Bauch. Was ich seltsam finde, ist, dass sie oftmals nur mich angegriffen hat, mich allein, und ich nichts davon gemerkt habe, dass sie in meinen Körper hineinwollte. Sie hat von außen gegen mich gekämpft, glaube ich.“ „Das ist eben dein Vorteil. Sie kann dich niederringen, aber nicht vernichten, denn sie traut sich nicht, deinen Körper zu beschädigen.“ „Warum?“ „Wegen der Spuren von JENOVA, schätze ich.“ „Dann werde ich am Leben bleiben ...“ „Ja, das wirst du. Aber pass auf die Anderen auf! Sie können die Gefahr nicht abwenden und haben keine Möglichkeit, sich vor meiner Mutter zu schützen.“ Sehr kummervoll starrte Sephiroth hinunter ins Gras. „Es ist schon irgendwie bedrückend. Ich hätte meine Mutter so gern gekannt ...“ „Sie hat dich über alles geliebt“, sagte Cloud fest, „und das weiß ich genau. Als wir sie trafen, hat sie nach dir gefragt. Wir haben ihr erzählt, du wärest tot, um ihr nicht die JENOVA-Wahrheit beibringen zu müssen.“ „Die JENOVA-Wahrheit ...“ Sephiroth blinzelte. „Vermutlich war es besser so.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob alles, was wir getan haben, richtig war.“ Beide schwiegen. Sie sagten einfach nichts, blickten in verschiedene Richtungen und genossen die Stille ringsherum im Weidenhain. Schließlich erhob Cloud sich schwerfällig aus dem Gras. „Tja, meine Freunde haben keine Ahnung, wo ich bin ... vermutlich machen sie sich schon Sorgen. Ich muss in die Außenwelt zurück.“ „Warte noch, Augenblick.“ Aus einer Innentasche seines Capes förderte Sephiroth einen winzigen schillernden Splitter zutage, kleiner noch als ein Fingernagel. „Nimm das mit.“ „Was ist das?“ „Das ist ein Splitter des Spiegels. Er wird den Transport in die Außenwelt und damit in die Wirklichkeit überstehen. Wenn du ihn bei dir trägst, dann kann ich dich finden – egal wo du bist.“ Cloud lächelte traurig. „Ah ja ... und wenn ich in Gefahr bin, dann kommst du und rettest mich?“ „Tja, wer weiß?“ Beide lachten. Es half ihnen, sich zu entspannen, und Cloud verstaute den Splitter seinerseits in einer Seitentasche seiner Hose, die mit einem Klettverschluss versehen war. „Danke. Auch dafür, dass du mir so geduldig alles erzählt hast.“ „Ich hoffe nur, dass es nicht zu viel ist. Wann wirst du wiederkommen?“ „Kann ich noch nicht sagen. Aber wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen.“ Cloud lächelte, wandte sich dann um und ließ den Weidenhain hinter sich. Ifalna stand am Rand der Wiese und wartete auf ihn. „Und? Habt ihr euch unterhalten?“ „Ja, das haben wir. Ich denke, dass mir jetzt Einiges etwas klarer erscheint. Aber es wundert mich, dass Sephiroth hier sein kann, obwohl er ein Mensch ist. Was bedeutet das?“ Ihre Miene drückte Konzentration aus, als sie nach den Worten suchte. „Weißt du, JENOVA hat durch Sephiroth dem Planeten grausame Dinge angetan. Aber Sephiroth hätte von sich aus niemals so gehandelt. Er hatte gar nicht das Interesse daran. Als er von ihr befreit war und sich des Pfads der Zerstörung bewusst wurde, den er hinterlassen hatte, unternahm er alles in seiner Macht Stehende, um zumindest einen kleinen Teil des Geschehenen rückgängig zu machen ... seine Absicht und die Art wie er handelte – zum Beispiel, als er sein Leben für das von Aeris anbot – waren nobel und selbstlos. Aus diesem Grund ist er nunmehr ein Ehrengast im Verheißenen Land, und der schwarze Flügel kennzeichnet ihn als diesen. Ist doch leicht zu verstehen, nicht wahr?“ Cloud nickte. „Ah ja. Verstehe.“ „Jetzt komm mit, wir wollen dich zurück in die Außenwelt schicken. Du musst dich von all diesen Erlebnissen hier erholen. Komm nur.“ Wieder fasste sie ihn bei der Hand und führte ihn. Kapitel 14: Attacked From Behind -------------------------------- „Oh Gott! Cloud!“, stöhnte Tifa, als sie den schmalen Tunnel des Geheimgangs als Erste hinter sich gelassen hatte und nun vor der verschlossenen Luke der Maschine stand. „Was haben sie mit ihm gemacht? Verdammt, ich kriege diese Tür nicht auf!“ Ärgerlich zog sie am Metallgriff und lehnte ihr ganzes Gewicht dagegen, aber es schien, als sei von innen ein Riegel vorgeschoben worden – was natürlich nicht der Fall war. Barret war ihr hinterher gelaufen und blickte nun selbst fassungslos durch das Glasfenster. „Ach du liebes Bisschen! Er is’ da reingeklettert!“ „Es war zu erwarten, dass er das machen würde“, seufzte Tifa, mittlerweile völlig am Ende ihrer Nerven. „Barret, haben wir noch Nitroglycerin? Vielleicht können wir die Tür ja aufsprengen!“ „Das geht nich’, fürchte ich. Das Material erscheint mir unzerstörbar, und selbst wenn’s funktioniert, dann müssten wir Cloud ebenfalls verletzen. Das Risiko würd’ ich nich’ eingehen.“ Langsamer noch als Barret kam Vincent hinzugetrottet. Sein schimmernder Blick zuckte unruhig durch die Gegend, als wittere er eine drohende Gefahr, aber er sagte nichts. Trotzdem schien es, als seien all seine Muskeln angespannt, bereit zur spontanen Flucht. Vor dem Eingang der kleinen Innenkammer der Maschine blieb er stehen und sah beunruhigt hinein. „Was ist mit Cloud? Schläft er oder ist er bewusstlos?“ „Vielleicht ist er tot“, jammerte Tifa. „Dann sind wir zu spät gekommen, verdammt noch mal, zu spät, um ihn aufzuhalten und von diesem Ding wegzuziehen!“ Barret schüttelte den Kopf. „Tot isser nich’. Guck genau hin, dann kannste’s sehen. Ich glaub’ eher, dass er vielleicht wieder von diesem unsichtbaren Ungeheuer angegriffen wurde.“ „Wenn das so ist, dann muss er umso mehr da raus!“ „Jetzt beruhig dich, wir machen das schon irgendwie.“ Weiter hinten, noch in der Nähe der Leiter und der Falltür, stand Henry Fawkes, der aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Vincent beschloss, ihn genau im Auge zu behalten. „Das ist unglaublich“, murmelte der Beobachtete wie in Trance. „Das Material, die Wände ... das ist einfach übermenschlich.“ „Wir vermuten auch nicht, dass es Menschen waren, die es gebaut haben“, erwiderte Vincent verdrossen, „und außerdem stellt sich mir nun eher die Frage, wo ich jetzt wohnen soll, da Sie die Shin-Ra-Villa zu Kleinholz verarbeitet haben. Wäre ich noch drinnen gewesen, dann wäre mir die Decke vermutlich über dem Kopf zusammengebrochen.“ „Sie hatten nicht einmal ein Recht, sich in einem stillgelegten Gebäude einzunisten, Mister Valentine, also halten Sie die Luft an“, antwortete Fawkes unbeeindruckt. Und außerdem, fügte er in Gedanken boshaft hinzu, hat sich Ihr Unterkunftsproblem bald von selbst gelöst, mein Freund. Ich werde euch alle aus dem Weg räumen, alle, ihr verdammte Drecksrotte, die ihr mir alles kaputt gemacht habt. Ihr habt euch einfach mit dem Falschen angelegt. Ich habe zu viel Einfluss, als dass ihr mir als Gegner etwas entgegenzusetzen hättet, selbst mit eurer verfickten AVALANCHE. Das eigentümliche, schwebeähnliche Gefühl überfiel Cloud mit einer ungeahnten Wucht und übte einen nur schwer erträglichen Druck auf ihn aus. Nein, angenehm war es ganz und gar nicht, ins Verheißene Land zu reisen und von dort wieder zurück ... Helle flirrende Punkte sammelten sich unter seinen geschlossenen Augenliedern, und er öffnete sie aus einem Reflex heraus. Ganz langsam klärte sich seine Sicht – und er bekam wieder Gefühl in seine Gliedmaßen. „Tifa, guck doch! Er wacht auf! Er hat sich eben bewegt! Komm doch her!“ Tifa stürzte zum kleinen Fenster in der Luke und starrte ins Innere. Was sie sah, ließ ihr Herz vor Erleichterung schnell klopfen: Cloud war bei Bewusstsein. Er blinzelte verwirrt, rieb sich die Stirn und sah ihr dann mit klarem Blick direkt in die Augen. Er lächelte, als er sie erkannte. Ifalna hatte ihm erklärt, wie er die Luke öffnen konnte: zweimal mit der Faust gegen das Glas schlagen. Die Tür ging auf. Tifa schlang sofort beide Arme um ihn. „Oh Gott, Cloud ... wir hatten solche Angst! Warum hast du nicht gesagt, wohin du gehst, du Trottel?“ Sie schniefte. „Tut mir Leid. Ich war sicher, ihr hättet mich nie gehen lassen.“ „Hätten wir auch nicht! Was hattest du da drinnen zu suchen?!“ „Es war richtig“, antwortete Cloud ausweichend, aber beruhigend und machte sich von ihr los. „Ich erkläre euch alles, wirklich alles. Es ist langwierig und kompliziert ... aber jetzt müssen wir weg, Tifa. Wir müssen aus dem Keller raus, denn wir sind alles andere als sicher hier unten. Kommt mit, alle!“ Cloud war sich plötzlich sicher, dass er Lukretias Anwesenheit spüren konnte. Sie war da, sie war zurückgekommen, wo auch immer sie gewesen war. Ich werde überleben. Sie kann mir nichts tun, ich muss nur zusehen, dass ich die anderen in Sicherheit bringe, erinnerte er sich. Er rannte in Richtung Ausgang durch den Tunnel, beschleunigte und sah noch einmal hinter sich, ob alle ihm folgten. Am weitesten hinten lief ein Mann, den Cloud nicht kannte, und der mit verkniffener Miene ihre Flucht verfolgte. „Wer ist der Typ?“, zischte Cloud. „Henry Fawkes von der ERCOM“, antwortete Tifa keuchend, während sie rannte. „Wäre nicht so schlimm, wenn der von dem Monster gefressen wird.“ „Sag das nicht, Tifa! So etwas darfst du nicht einmal denken!“ Er hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und rief nach rückwärts: „Beeilen Sie sich, Mister Fawkes! Laufen Sie, so schnell Sie können, wenn Sie am Leben bleiben wollen!“ Der Fremde rollte genervt mit den Augen, beschleunigte aber dann seine Gangart, um zu den anderen aufzuschließen. Das Adrenalin trieb ihn vorwärts. Cloud hatte die Leiter schon beinahe erreicht und war froh, dass sogar Henry Fawkes es nicht mehr weit hatte – bis er sah, dass es nicht der Leiter der ERCOM war, um den er sich Sorgen machen musste. Irgendwo hinter Barrets riesenhaften Sprüngen rannte Vincent, aber plötzlich strauchelte er und blieb stehen. Schmerzerfüllt presste er sich beide Hände auf die Magengegend und versuchte, sich an der glatten glänzenden Wand festzuhalten. Die grausige Erkenntnis traf Cloud wie ein Schlag: Sie hatten es nicht geschafft. Lukretia griff Vincent an, und sie hatte schon genug auf ihn eingewirkt, um ihm Verletzungen zuzufügen. Wie konnte man sie entfernen, sie dazu bringen, von ihrem Opfer abzulassen? Cloud wusste, dass er hilflos war, und kalter Schweiß brach ihm aus, als er zu Vincent zurückrannte und seinen Arm ergriff. „Nicht stehen bleiben! Um Gottes Willen, bleib nicht stehen, Vincent!“ Vincent stieß ein leises Keuchen aus und stützte sich auf Cloud. Ein Stück weit konnte er sich voranschleppen, brach aber dann schon zusammen, während Cloud ihn festhielt und immer noch vorwärts schleifte. „Cloud, es greift mich an ... hilf mir ... ich kann nicht ...“ „Ruhe! Lauf weiter!“ Cloud kämpfte, obwohl Vincent dazu schon nicht mehr in der Lage zu sein schien. „Wir bringen dich in die Klinik nach Mideel, wir werden dieses Monster schon vertreiben!“ Vincent seufzte. Es war sinnlos, das wusste er genau. Aber mit seiner letzten Kraft zog er sich wieder hoch und klammerte sich an Cloud. Die Berührung linderte die Schmerzen. Er musste das ausnutzen. Er musste gehen. Warum tust du das?, dachte Cloud verbissen. Weißt du, wem du das antust, Lukretia? Vincent war dein Freund, er hat dich immer geliebt. Du warst das Einzige, was er je wirklich geliebt hat, und niemand hat dich je so geliebt wie er. Warum willst du ihn töten, warum?! Am liebsten hätte er diese Frage laut herausgeschrieen. Er konnte nicht begreifen, welches Motiv sie dabei verfolgte. Hatte Vincent eine Bedrohung für sie oder das SPECULUM dargestellt? Nein, ganz sicher nicht. „Cloud!“ Tifa beugte sich von oberhalb der Leiter herab. „Gib uns Vincent, wir nehmen ihn!“ „Gut.“ Cloud schaffte es irgendwie mit all seiner Entschlossenheit, Vincent die Leiter hinaufzuschieben, wo Tifa und Barret ihn festhielten. Langsam kletterte Cloud selbst nach oben und durch das durchlöcherte Bücherregal, wo Nanaki immer noch aufgescheucht saß und wartete. Was zu sehen war, war erschreckend. Von der Villa war nicht mehr viel übrig. Sogar vom Keller aus konnte man nun ein Stück des Himmels sehen. Der Rest war ein Haufen Trümmer. Schrecklich, dachte er leise und betroffen bei sich selbst, ehe er den anderen wieder bei Vincent half. „Wir bringen ihn zu mir ins Haus“, ordnete Tifa an. „Und jetzt ein bisschen flott!“ Feindselig starrte Henry Fawkes dem Grüppchen hinterher. Nun also schien es so, als würde er zumindest einen von ihnen nicht mehr eigenhändig loswerden müssen. „Bestimmt is’ er ja gar nich’ von diesem Vieh angefallen worden“, spekulierte Barret hoffnungsvoll. „Vielleicht hat er sich nur den Magen verdorben.“ Cloud zuckte die Schultern, jäh angesteckt von diesem Hoffnungsschimmer, obwohl er ganz genau wusste, dass die Antwort eindeutig war. Wenn es sich um einen fanatischen Angriff von Lukretia handelte, dann war Vincent zum Tode verurteilt. Der Patient lag nun auf dem Sofa in Tifas Wohnung, auf welchem er zuvor nur gesessen hatte, das blasse Gesicht der Lehne zugewandt, die Augen halb geschlossen. Allem Anschein nach hatte Lukretia es unterbrochen, in ihm herumzuwühlen, nachdem sie festgestellt hatte, dass er um einiges stärker und zäher war als die beiden Männer von der Umweltschutzbehörde. Vielleicht würde sie aufgeben und ihn in Ruhe lassen ... vielleicht ließ sie ihn am Leben. Es war plötzlich sehr einfach, daran zu glauben. Tifa kam mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück. „Hier, vielleicht hilft das.“ „Was soll das sein?“, fragte Vincent misstrauisch nach, aber seine Stimme klang schwach und brüchig. „Eine Schmerztablette mit relativ hoch dosiertem Ibuprofen ... möglicherweise kannst du damit etwas länger durchhalten, bis Cid hier ankommt.“ „Cid? Ihr wollt mich wirklich ... nach Mideel bringen? Das ist Zeitverschwendung.“ „Sag das nicht!“, rief Tifa aufgebracht. „Wir lassen dich nicht einfach so ...!“ Sterben hätte das letzte Wort lauten müssen, aber wie jeder emotionale Mensch brachte sie es nicht über die Lippen. Cloud konnte in Vincents Augen lesen, dass er dasselbe dachte. Ausnahmsweise konnte man nun endlich einmal deutlich erkennen, was in Vincent vorging, während dieser das sonst sehr gut zu verbergen gewusst hatte. Er weiß, dass er sterben muss, erkannte Cloud. Er hat Angst und ist unglücklich, weil er eigentlich leben will ... Der Gedanke war furchtbar, aber Cloud kämpfte dieses Gefühl erfolgreich nieder. Noch ist er nicht tot, also gibt es Hoffnung! Vincent nahm die Schmerztablette widerstandslos, was ebenfalls ungewöhnlich war. Danach blieb er still liegen und wartete. Tifa war es allerdings leid zu warten. Der ganze Tag war so hektisch verlaufen, und er schien sich mit einem grausigen Ende zu verabschieden. Sie stand auf und ging nach draußen, und vor ihrer Haustür starrte sie in die winterliche frühe Dämmerung. Kapitel 15: Overtake -------------------- „Habt ihr nich’ gesagt, dass sich dieses Wesen von innen nach draußen frisst?“, fragte Barret vorsichtig. „Das stimmt“, antwortete Cloud müde. „Sie –“ Er korrigierte sich schnell. „Es hat auch versucht, in meinen Körper zu gelangen. Aber ich habe eine eigene Abwehr dagegen, wisst ihr. Als es mir zu nahe kam, wurde mir schlecht.“ Barret schnippte mit den Fingern. „He, he! Genau das isses doch! Cloud hat dieses Monster einfach ausgekotzt, richtig? Wenn wir also Vincent etwas Salzwasser einflößen, dann wird er es sicher ebenfalls los, stimmt’s?“ „Das glaube ich nicht.“ Es war schwer, wieder eine neue Hoffnung zunichte zu machen. „Ich bin sicher, es wird sich weiterhin festhalten, sofern Vincent nicht von sich aus darauf reagiert und es abstößt. Und das tut er nicht.“ Ich weiß es besser, fügte er in Gedanken hinzu. Barret ließ die Schultern sinken. „Verdammter Mist, es kann doch nich’ sein, dass es absolut keine Rettung gibt!“ Nun klang auch er verzweifelt. „Aber in der Klinik können sie es schon irgendwie rausholen ... die haben schließlich die Möglichkeiten dazu.“ Cloud ballte die Fäuste. Wenn Lukretias Geist etwas Greifbares wäre, dann gäbe es kein Problem ... aber sie existiert nur noch als eine erstaunlich heftige Emotion aus Wut und Kummer. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Gefühl aus dem Bauch heraus ... Resigniert schüttelte er den Kopf. Aeris war eine gute Hausfrau. Dies war auch nötig, wenn man über mehrere Jahre lang mit Cloud zusammenlebte. Er war viel zu beschäftigt, um sich Bügeln oder Kochen beibringen zu lassen. Noch immer hatte sie ihm nichts davon erzählt, dass ihre Verwandten keinesfalls alle umgekommen waren, als die Rasse der Cetra fast restlos von der Erde verschwunden war. Dabei konnte er sie sehen. So oft schon hatte er gesagt: „Das sind ungewöhnliche Vögel, findest du nicht? So weiß dürften sie vor ihren natürlichen Feinden nicht besonders gut geschützt sein. Und warum sind sie so zahm? Irgendwie eigenartig, die Viecher.“ Sie seufzte. Seit Jahren besuchten die anderen Cetra sie jeden Tag, und Cloud war genauso daran gewöhnt wie sie, aber noch immer wusste sie nicht, wie sie ihm die Tatsache beibringen sollte, dass es sich bei diesen ‚ungewöhnlichen Vögeln’ um ihre Familie und Rassegenossen handelte. Würde ihm das nicht unheimlich sein – sofern er ihr überhaupt glaubte? Cloud war schwer zu überzeugen. Er war zu materialistisch veranlagt, um auf jedes Märchen hereinzufallen ... andererseits wusste er, dass Aeris nicht log. Oder nur, wenn es nötig war. Bisher log sie nicht, sie sagte ihm nur nicht die ganze Wahrheit ... Motorengeräusch ließ sie jäh ihre Überlegungen unterbrechen. Es kam eindeutig von oben und näherte sich dem Platz in der Mitte der Rundsiedlung. Offenkundig handelte es sich um ein kleines Flugzeug, viel kleiner als die Highwind auf jeden Fall. Als sie aus dem Fenster sah, wurde ihr Verdacht bestätigt: Es war die Tiny Bronco. Und es war auch Cid, der sie flog. Sie fragte sich, was er in Kalm verloren hatte, denn die Stadt lag abseits und war nicht einmal in der Nähe von einer der Routen, die er täglich zurücklegte. Beunruhigt öffnete sie die Haustür und sah nach draußen. Ein leichter Nieselregen fiel aus dem wolkenverhangenen Himmel. Tatsächlich kam Cid, nach all den Jahren immer noch in seine blaue verwaschene Tracht gekleidet, direkt auf sie zu. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst, aber wie ernst, das konnte selbst Aeris nicht abschätzen. Sie wusste, sie hätte Überraschung zeigen sollen, ihn mit Fragen überhäufen – sie hatten sich ewig nicht gesehen. Aber eine Spannung lag in der Luft, die sie beunruhigte, zu einer sonderbaren Eile trieb. „Guten Abend, Cid ... was ist passiert?“, fragte sie sofort, ohne auf eine Erwiderung der Begrüßung seinerseits zu warten. Offensichtlich war er darauf vorbereitet. Er seufzte. „Gut, dass du da bist. Ich war gerade in der Nähe, als mich Barret angefunkt hat, und ich dachte, ich nehme dich mit.“ „Wohin fliegen wir?“ „Nach Nibelheim. Ich erkläre dir alles während des Fluges. Wir haben nicht viel Zeit, also beeil dich mit dem Umziehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme gleich mit, das Bisschen Regen macht mir nichts aus.“ Ein ungutes Gefühl befiel sie. „Lass uns gehen.“ Cid ging voraus und half ihr in das Flugzeug. Er hatte mit einem Stirnrunzeln ihren leicht gewölbten Bauch und damit ihre offensichtliche Schwangerschaft zur Kenntnis genommen, sich aber nicht weiter danach erkundigt. Vermutlich hätte er es getan, wäre ausreichend Zeit für solche Dinge gewesen. Nun nahm er Platz im Cockpit und schaltete die Triebwerke der Tiny Bronco ein. „Ich hoffe, Fliegen ist nicht zu belastend für dich“, murmelte er. „Das hoffe ich auch“, antwortete sie. In einer leichten Kurve erhob sich das Flugzeug über die Landschaft und wandte sich in Richtung Nibelheim. Die Stille vor dem Haus war beunruhigend. Man hörte normalerweise immer Menschen irgendwo vorbeigehen und sich unterhalten. Nibelheim war eng. Man war sich ständig bewusst, dass man sich in der Nähe vieler, vieler anderer Menschen befand ... Nicht so jetzt. Der Himmel war noch ein wenig dunkler geworden, und draußen schien sich nichts mehr zu regen. „Was ist da bloß los?“, wisperte Nanaki, das Schweigen schuldbewusst durchbrechend. Cloud sah aus dem Fenster und versuchte, etwas zu erkennen. Es gelang ihm nicht. „Zu dunkel“, erklärte er. „Wir müssten rausgehen und nachsehen. Aber ich will Vincent hier nicht allein lassen.“ „Dann bleibst du hier“, bestimmte Barret. „Wir gehen mal nach Tifa sehen. Die is’ jetzt schon eine ganze Weile da draußen, und allmählich wird’s kalt.“ Cloud nickte. Er blieb neben dem Kopfende der Couch knien, auf welcher Vincent lag und sich nicht bewegen wollte oder konnte. Alle Anderen traten vor die Tür. Ihm fiel auf, dass niemand beobachtet hatte, wohin Henry Fawkes von der ERCOM nach der Flucht aus dem Keller gegangen war. Hatte er irgendetwas vor? Würde er etwas gegen Tifa unternehmen, die sich in seine Angelegenheiten eingemischt hatte? Falls das passierte, dann hatten sie einen nicht zu unterschätzenden Gegner am Hals. Die ERCOM hatte unerhört viel Einfluss auf den Arm des Gesetzes, wenn nicht sogar auf die Regierung selbst. Unverhofft jammerte Vincent leise, und Cloud sah zu ihm hinunter. „Wird es wieder schlimmer?“, fragte er sanft. Vincents Stimme war schwach und flüsternd. „Weiß ich nicht genau. Es ist jedenfalls ... ziemlich ... unangenehm.“ Allem Anschein nach eine maßlose Untertreibung. Mittlerweile war in seinen Augen das letzte Funkeln erloschen, das Haar klebte ihm schweißfeucht an den Schläfen, und er sah nur noch müde aus. Es musste möglichst schnell etwas passieren. Der Prozess zog sich furchtbar in die Länge ... ein langsames, qualvolles Ende. Cloud wandte sich von der Couch ab und sah stattdessen aus dem Fenster. Auch wenn es zu finster war, um Näheres zu erkennen, die Silhouetten mehrerer Personen hoben sich jetzt deutlich von der nächtlichen Kulisse ab. Und es waren eindeutig mehr als drei. Viel mehr. Alarmiert wich Cloud vom Fenster zurück, erkannte aber, dass er schon bemerkt worden war. Eine Männerstimme rief: „Da sind noch welche drinnen!“, und viele Füße setzten sich zur selben Zeit in Bewegung. Tifa stürzte von außen zum Fenster, als müsse sie sich dazu erst von etwas losreißen. „Haut ab, Cloud! Schnell!“ Allem Anschein nach wurde sie kurz darauf wieder von der Scheibe fortgezogen. Die automatische, auf Bewegung reagierende Außenbeleuchtung an der Hauswand sprang an, und nun konnte Cloud sehen, warum die Stadt so ruhig war: Der Platz in Nibelheim war umstellt. Umstellt von Wärtern der Mittellandjustiz, jenen Personen, denen man beim Beschluss des Mittelland-Paktes die Verantwortung über die Ausübung des Gesetzes übertragen hatten. Sie handelten im Namen der Gerechtigkeit – normalerweise. Cloud wurde es kalt angesichts dieser vielen bewaffneten Personen, die sich um Tifas Haus geschart und es von der Umgebung isoliert hatten. Ganz sicher waren sie nicht hier, um die ERCOM oder Henry Fawkes zu verhaften ... „Hier spricht Kommissar Taggert von der Mittellandjustiz. Verlassen Sie mit erhobenen Händen das Haus. Das Gebäude ist umstellt“, teilte ihm eine scharfe Kommandostimme von außerhalb mit. „Wenn Sie der Anweisung nicht umgehend Folge leisten, werden wir Gewalt anwenden.“ Du liebe Güte, sie gehen davon aus, dass wir bewaffnet sind. Cloud wusste selbst, dass es klüger wäre, der Aufforderung einfach nachzukommen. Aber genauso wusste er, dass die ERCOM mit der Mittellandjustiz illegal verhandelt haben musste, um die Inhaftierung Tifas und der anderen anzuordnen, und dieses wiederum stellte die Moral, welche hinter dem Befehl steckte, eindeutig in Frage. Zögernd trat Cloud zurück ans Fenster. „Dies ist die letzte Warnung. Wenn Sie das Haus nicht umgehend verlassen, werden wir gewaltsam in das Gebäude eindringen. Alles, was sie tun und sagen, wird gegen Sie verwendet werden.“ Cloud schnaubte. Das war’s. Leckt mich, ihr Schweine. Er packte Vincent, der diese wenig rücksichtsvolle Berührung mit einem leisen Stöhnen quittierte, bei den Schultern und hob ihn vom Sofa auf. Er war selbst überrascht, dass er Vincent tragen konnte, aber dieser war nicht schwer. Jedenfalls nicht so schwer, wie er einmal gewesen war. „Cloud ... w-wohin gehen wir ...?“ „Sei ruhig. Wir verschwinden von hier, bevor die noch eine Blendgranate durchs Fenster schmeißen.“ Er blieb stehen und konzentrierte sich fest auf die Transfer-Substanz in seiner Hosentasche. Er konnte Vincent damit nicht nach Mideel bringen – die Substanz hatte auf dem MASTER-Level eine Reichweite von etwa hundert Kilometern und brachte einen damit, wie Vincent ja selbst unter Beweis gestellt hatte, allerhöchstens von Nibelheim nach Junon. Trotzdem stellte sie momentan die einzige Rettung dar. Sie musste funktionieren, jetzt. Vor dem Haus näherten sich inzwischen Schritte. Die Tür wurde aufgestoßen, und das leise Klicken, verursacht von Maschinenpistolen, die entsichert wurden, erfolgte in mehrfacher Wiederholung. Jetzt komm schon, du verdammter Zauber!, dachte Cloud aufgebracht. Er hielt noch immer den bewegungslosen Vincent in den Armen, dessen Kopf mit dem langen schwarzen Haar seitlich herunterhing wie der eines Toten. Er stirbt. Angespannt starrte Cloud zur Zimmertür hin, wartete, dass jemand sie aufstoßen und eine Waffe auf ihn richten würde. Adrenalin ergoss sich in sein Blut, und er überlegte, was er tun sollte, wenn sie ihn und Vincent so vorfanden ... wie würden die Wärter die Situation deuten? Was war ihnen erzählt worden, das sie dazu bewegte, Tifa, Barret und Nanaki so einfach vor der Haustür wegzufangen? Es war unglaublich. Irgendjemand war ganz und gar nicht auf seiner Seite – das war alles, was Cloud in diesem Moment dachte. Dann setzte die Wirkung des Transfer-Zaubers ein. Kapitel 16: Sorrow ------------------ „Wenn Sie nichts weiter unternehmen, dann werden wir sehr vorsichtig mit Ihren Freunden umgehen, Miss Lockheart“, sagte Fawkes. Tifa warf ihm einen Blick voller Verachtung zu zeigte dabei zornig die Zähne. Er hatte endgültig bei ihr verspielt, und dies war ohnehin das letzte Mal, dass sie ihm ins Gesicht sehen würde. Einen anderen beachtete sie schon jetzt höchstens aus den Augenwinkeln – ihren eigentlichen Vorgesetzten, Kommissar Taggert. Sie fragte sich, welchen Deal die Mittellandjustiz mit der ERCOM abgeschlossen hatte, damit letztere bekam, was sie wollte. Es ging nur darum, möglichst alle Überbleibsel des früheren JENOVA-Projekts zu bergen und zu beanspruchen, und Zeugen sowie sonstige Unruhestifter aller Art würden ausnahmslos von der Bildfläche fortgeschafft werden. Wenn nicht friedlich, dann gewaltsam. Kurz kam in Tifa der Gedanke auf, dass wissende Personen vielleicht sogar ... eliminiert wurden. Letztlich konnte niemand wissen, wozu die ERCOM fähig war. Die Hauptsache war, dass sich nicht auch noch Cloud von diesen falschen Gesetzeshütern erwischen ließ. Es wurde immer dunkler. Cloud hatte zu seinem eigenen Missfallen nicht die geringste Ahnung, wohin er sich und Vincent überhaupt teleportiert hatte – in Aufregung und Furcht war er zu keinem einzigen klaren Gedanken fähig gewesen. Nun spannte sich über seinem Kopf ein in Schwärze getauchter Nachthimmel. Da die Sterne sehr hell leuchteten, befanden sie sich augenscheinlich weder in der Nähe von Midgar noch von Junon, außerdem war in weiter Ferne des Heranrollen von leise rauschenden Wellen zu hören. „Ich vermute, wir sind in Sicherheit“, sagte Cloud leise, wobei er nicht genau wusste, ob Vincent ihm zuhören konnte. „Ich kann unseren Standort gerade nicht genau lokalisieren ... aber wenn ich mich konzentriere, kann ich uns mit der Substanz an einen Ort bringen, den ich besser kenne ...“ Insgeheim hatte er auch eine Idee, wohin genau er wollte: Das AVALANCHE-Ausbildungszentrum in Junon. Weder Cid noch Barret befanden sich zurzeit dort, dafür Clouds sämtliche Schüler. Die ganze Vorrichtung würde Schutz bieten. Jedenfalls eine Zeitlang. „Vincent, hörst du mich?“ Vincent gab keine Antwort und bewegte sich auch nicht. Allmählich erschöpften Clouds Arme unter seinem Gewicht, aber er wagte es nicht, seinen Freund auf den Boden zu legen. Früher, dachte Cloud grimmig, hätte ich ihn stundenlang so tragen können – als ich noch an das vertraute Gewicht des Schwerts gewöhnt war. Himmel, der Lauf der Zeit hat einen Schwächling aus mir gemacht. Und doch versuche ich, Jüngeren beizubringen, was ich einmal gekonnt habe ... Die Transfer-Substanz befand sich auf dem MASTER-Level, also musste sie auch ein weiteres Mal funktionieren. Das tat sie jedoch nicht. Cloud hatte Schwierigkeiten, den korrekten Befehl zu erteilen – was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass er die Gegend rundherum nicht zuordnen konnte. Kein Ausgangspunkt, kein Ziel. Es ging nun einmal nicht anders. Cloud fluchte leise, während er losging. Er hatte in der Gegenwart von Cid und Barret eine ganze Reihe interessanter Flüche gelernt, und nun war der Zeitpunkt gekommen, den ganzen Bestand voll auszuschöpfen. Sie alle gingen einem glatt über die Zunge ... Bereits nach einigen Schritten öffnete Vincent die Augen. Dies war nur daran zu erkennen, dass dort, wo sich sein Kopf ungefähr befinden musste, zwei rote Punkte aufleuchteten. „Cloud, du bist immer noch da.“ Keine Frage, keine Verblüffung, nur eine Feststellung. „Ja, natürlich.“ „Wohin gehen wir?“ Keine Ahnung. „Wir gehen weiter Richtung Mideel“, log Cloud. Zügig kämpfte er sich voran und bemerkte nunmehr, dass sich der Untergrund verdächtig weich anfühlte. Wir sind im Sumpf nahe der Mythril-Mine! Aber ... so weit hätte uns die Substanz überhaupt nicht transportieren dürfen! Kein Wunder, dass sie jetzt streikt. Verdammtes Ding! Er hielt an. „Ich fürchte, wir kommen hier unmöglich durch innerhalb einer Nacht.“ „Dann lass uns doch ... schlafen.“ „Nein, Vincent.“ Du wirst nicht mehr aufwachen, alter Freund. „Hör mal, du ... du kannst doch im Dunkeln sehen. Siehst du irgendwo das Dach eines Hauses oder so? Irgendetwas, das nach Zivilisation aussieht?“ „Ich sehe nichts, gar nichts ...“ Der letzte Teil ging in einem leisen, fast erstickten Röcheln und Gurgeln unter, und Cloud konnte Vincent in seinen Armen zittern spüren. „Was ist los, was hast du?“ Er hielt den Mund möglichst dicht über Vincents Ohr, ohne dieses überhaupt sehen zu können. „He, jetzt antworte schon!“ Er bekam keine Antwort. Stattdessen berührte seine Finger etwas Feuchtes, das an Vincent herunterlief. Kleine, allmählich anschwellende Rinnsaale ließen sich sowohl von Vincents als auch von seinen eigenen Kleidungsstücken aufsaugen. Cloud schauderte. Die warme Nässe strömte ganz eindeutig aus der Bauchgegend seines Freundes nach außen, was nur eins bedeuten konnte: Das ist Blut. Sie hat sich durchgefressen. Leicht schwindelig taumelte Cloud ein paar Schritte nach rückwärts, um aus dem Sumpfgebiet herauszukommen, und legte Vincent auf dem karg mit Gras bewachsenen Erdboden ab. Hoch oben am Nachthimmel flog ein Schwarm kleinerer Vögel geräuschlos dahin. Lauter kleine schwarze Gestalten, die kaum mit den Flügeln schlugen, nur wie schwerelos dahinglitten. Der kalte Wind ließ Cloud frösteln. Seine Jacke hing an einem Haken in Tifas Haus. Inmitten dieser Verlorenheit wünschte er sich irgendjemanden, der bei ihm sein konnte ... einfach, um sich sicher zu fühlen und das zu vergessen, was um ihn herum geschah. Die ERCOM zu vergessen, die geschmierte Mittellandjustiz, die versteckte Spiegel-Maschine und vor allem den sterbenden Vincent vor seinen Füßen. Das alles brauchte er nicht, wollte er nicht. Er wollte sich flüchten. Einfach nur wieder zu Hause sein, bei Aeris und dem Kind, das sie erwartete ... Aber er konnte nicht weg. Mit aller Entschlossenheit, die er aufbringen konnte, kniete er sich auf den weichen Erdboden und beugte sich über Vincent. Inzwischen hatten seine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah Vincents offene Augen schwach leuchten und das schwarze Haar sich kaum merklich im Wind bewegen. Von seinem hingestreckt daliegenden Körper breitete sich allmählich ein warmer, roter Fleck aus. Cloud blieb so knien und starrte hinab auf etwas, das er im Begriff war zu verlieren. Und dann, ganz unerwartet, begann Vincent wieder zu sprechen – so leise, dass Cloud sich noch weiter hinabneigen musste, um ihn überhaupt zu hören. „Cloud – ich, ich muss dir etwas sagen.“ „Bitte sprich nicht, Vincent. Dadurch wird es nur noch schlimmer.“ Cloud zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie waren beide weit von Mideel oder Junon entfernt, und es gab nichts, das er für Vincent hätte tun können. Er fühlte sich hilflos, als sei er es selbst, der zugrunde gehen musste. „Doch – Cloud ... ich habe dich angelogen.“ „Weiß ich. Weiß ich doch längst.“ „Ich kenne diese Maschine, Cloud, aber ich konnte das nicht sagen, weil es ...“ „Es ist ein Geheimnis“, murmelte Cloud. „Wohlbehütet. Deswegen hast du uns irgendetwas von Chlorgas erzählt ... an dem du längst ...“ „... gestorben wärst“, flüsterte Vincent. „Ich wollte euch alles erklären, aber ...“ „Lukretia.“ Cloud bekam eine Gänsehaut, als ihm einfiel, dass Vincent wohlmöglich genau wusste, wer ihn da zu töten versuchte. „Aber sie ....“ „Sie hat diese Maschine im Keller gebaut, Cloud, sie war es.“ „Ja, ich weiß.“ „Aber ... woher ...?“ Cloud seufzte leise. „Es dauert viel zu lange, dir das zu erzählen. Weißt du, wofür die Maschine gedacht ist?“ „Nein ... ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen, aber ... jetzt befürchte ich, dass mir die Zeit davonrennt ...“ „Oh, verflucht! Es ist alles meine Schuld, nur weil ich die Transfer-Substanz nicht richtig benutzt habe! Ich hätte dich retten können, du wärst gesund und –“ „Hör damit auf!“, unterbrach ihn Vincent überraschend heftig. „Das stimmt nicht, und du weißt es. Der Prozess hätte höchstens verlangsamt werden können, aber ... das würde alles ... nur noch schlimmer machen ...“ In der Dunkelheit konnte Cloud gut erkennen, wie aus Vincents Rücken die Schulterblätter zu langen Flügelkielen nach oben wuchsen. Er trachtete danach, sich in Chaos zu verwandeln, ein krankhafter Überlebensinstinkt, den ihm Hojo eingepflanzt hatte. Das Blut war nunmehr so weit geflossen, dass es Cloud erreichte und seine Knie benetzte. Vincent hörte, wie Cloud scharf die Luft einsog, und griff sich mit der so ziemlich letzten möglichen Anstrengung an den Hals, um seinen abgetragenen und am Saum von Ratten zerfressenen weinroten Umhang loszumachen. „Was machst du?“ Cloud sah auf. „Tu einfach nichts .... wenn wir Glück haben, dann findet man uns noch rechtzeitig ...“ „Nein.“ Mit seiner Klauenhand legte Vincent den Umhang über Cloud Knie. Er fror ohnehin immer weniger, je mehr Leben zusammen mit dem Blut aus seinem Körper strömte. „Nimm ihn mit.“ Es war offensichtlich, dass Cloud nicht verstand. „Was soll ich damit tun?“ Er vermutete, dass er ihn irgendwohin bringen sollte, damit sich dort etwas oder jemand an Vincent erinnern würde – aber nein, entsann er sich, Vincent darf gar nicht erst davon ausgehen, dass sein Leben wirklich in Gefahr ist! „Behalt ihn.“ „Hast du dich je gefragt, weswegen ich die Gravitation überwinden kann, Cloud?“ Diese Frage kam durchaus überraschend. „Nein – wieso ...?“ „Das lag nicht an Hojos Experimenten, sondern an diesem Umhang. Jede Faser ist beschichtet mit Levitas-Substanz. Er ist ... ein Geschenk von Lukretia gewesen.“ Also konnte sie auch Umhänge basteln, dachte Cloud zynisch, und sie denjenigen schenken, deren Bauchdecke sie später in Stücke reißen wollte. Er schüttelte sich angewidert. „Ich will ihn nicht, Vincent.“ „Bitte ... du ... wirst ihn bestimmt brauchen. Ich will ihn niemandem schenken außer dir, und deswegen musst du ihn nehmen.“ „Muss ich ihn auch tragen?“, fragte Cloud abgestumpft. „Ja.“ „Ich kann nicht.“ „Du wirst dich wundern.“ „Ich will mich nicht wundern. Wenn du wüsstest, wie oft ich mich in letzter Zeit gewundert habe ...“ Rasch fiel ihm wieder die Transfer-Substanz ein, er legte eine Hand auf Vincents Schulter und probierte aus, ob sie funktionierte. Nichts tat sich. „Ich würde mich gerne noch ein einziges Mal wundern“, murmelte Vincent leiser werdend, „und zwar darüber, noch einmal Lukretia zu sehen – so, wie sie früher war.“ Cloud hielt den Atem an. Vincent wusste es also nicht. „Das würde ich dir auch gönnen“, gestand er und meinte es ernst. „Ich wünschte nur, ich hätte sie gefunden ... wenn ich sie schon nicht retten konnte.“ Du hast sie gefunden, dachte Cloud bitter. Sie ist bei dir. Sie quält dich und sie wird dich vernichten wie jeden anderen Eindringling. Sie wird keine Gnade mit dir kennen, egal wie sehr du sie liebst. Er widerstand dem Wunsch, sich einem stillen Seufzen hinzugeben, und riss sich mit aller Kraft zusammen. Er wusste, dass Vincent bereit war zu sterben, dass er sich nicht mehr fürchtete. Eben deswegen konnte Cloud ihm nicht erzählen, was aus Lukretia geworden war. Dadurch würde er Vincent seine letzten Minuten zur Hölle machen, denn dann würde sein Freund sich wünschen zu leben ... und das würde er nicht können. Ehe er sich noch elender fühlen konnte, zuckte Vincent vor ihm heftig zusammen. Er krümmte sich wie in einem Krampfanfall und stieß einen gepressten Schrei aus, der schon so schwach war wie der eines Mannes am Rande des Todes. Aus der Wunde in seinem Bauch schoss noch eine ganze Menge Blut, dann verteilten sich unter Krafteinwirkungen des unsichtbaren Feindes seine Eingeweide auf dem Erdboden. Cloud wich erschauernd zurück, und sein Herz hatte vor Entsetzen einen Schlag ausgesetzt. Aber jetzt, so kurz vor seinem Ende, hatte Vincent wieder Kraft. Er griff sich an die Seite und schleuderte Cloud sein Gewehr vor die Füße. „Erschieß mich.“ Wie erstarrt blieb Cloud halb in der Hocke vor ihm stehen. „Mach schon!“, schnappte Vincent. Aus seinen Ohren lief ebenfalls Blut. Er war bedeckt von Blut, es war überall, sodass er beinahe darin zu ertrinken drohte. „Du musst mir helfen, Cloud. Komm her!“ Er hielt sich zwei stark zitternde Finger an die Stirn und erklärte schwer atmend: „Ich zeig’ dir, wie man einen Menschen tötet, Cloud. Das ist ganz sauber. Zwischen die Augen.“ Cloud wollte keinen Menschen töten. Cloud wollte überall sein, nur nicht hier. Cloud wollte fortlaufen ... Aber er tat es nicht. Erstaunt über sich selbst zwang sich er sich hoch und trat wieder neben Vincent, das Gewehr in der Hand. „Ich will es nicht sehen ...“, begann er. „Die Augen“, wisperte Vincent, „weil sie brechen. Ich werde sie zumachen, siehst du.“ Seine Lider schlossen sich, aber noch immer hob sich der Brustkorb bebend und presste beim Atmen nur noch mehr Blut aus den Wunden. Er wartete. Seine Muskeln waren fast entspannt, er wartete nur noch auf den erlösenden Schuss, und er war geduldig. Clouds Hände waren ruhig, als er die Mündung des Gewehrs vorsichtig an Vincents Stirn setze. „Es wird alles gut. Deine echte Lukretia, du wirst sie bestimmt treffen ... Gute Reise, mein Freund.“ Vincent schenkte ihm auch mit geschlossenen Augen ein letztes schwaches Lächeln. Kapitel 17: The Fear Behind --------------------------- Cid betrachtete das kleine Dorf weit unterhalb der Tiny Bronco. Die Lichter der Häuser erleuchteten die ganze Umgebung nur unzureichend. Er sah Tifas Haus und den Platz davor, neben welchem außerdem ein riesiger Haufen schwarzer Trümmer zu sehen war – die ehemalige Shin-Ra-Villa. „Gute Güte“, murmelte er. Aeris starrte aus dem Fenster und schwieg. Cid hatte ihr während des Fluges erzählt, was er von Tifa und Barret gehört hatte. Eine sehr düstere Vorahnung hatte sie befallen ... Cloud war in diese Maschine geklettert, und nun versuchte dieses unsichtbare Wesen, über das Cloud durch mysteriöse Weise eine Menge zu wissen schien, Vincent umzubringen, wie zuvor schon einige Abgesandte der Umweltschutzbehörde. Das alles waren schlechte Nachrichten. Sehr schlecht sogar .... Neben dem sanft absinkenden Flugzeug sammelte sich flügelschlagend eine kleine Schar weißer Tauben. Sie glitten auf der Strömung, welche die Tragflächen der Tiny Bronco in der Luft hielt, über Nibelheim dahin, die hellblauen Augen weit geöffnet und sie silbernen Schnäbel in den Wind gereckt, um diesen stromlinienförmig an sich vorbeiziehen zu lassen. „Komische Viecher. Ich sehe die oft in letzter Zeit“, ließ sich Cid vernehmen. „Achtung, Landeanflug. Wir landen auf dem großen Platz in der Mitte der Siedlung.“ Die vier Hubschrauber der Mittellangjustiz überflogen mit ihren Wärmesensoren den ganzen Kontinent. Nirgends war eine Spur von den beiden entkommenen Tätern aufzufinden. Mittlerweile war die Nacht schwarz wie ein samtenes Tuch und der Himmel von Wolken verdeckt. Kein Stern war zu sehen, auch der Mond nicht. Im ersten und auffälligsten der Helikopter, einem Diamond Defender C-75, hielten Kommissar Taggert und Henry Fawkes die bereits erhaschten „Verbrecher“ fest. „Irgendwo hier müssen sie sein. Selbst Transfer-Substanz hat nur eine ganz bestimmte Reichweite!“, wisperte Tifa leise und hoffte, nur Nanaki und Barret würden es hören. Dies war jedoch ein Irrtum. „Dieser Gedanke kam uns auch schon“, antwortete Kommissar Taggert in ihre Richtung. Sein ernstes, zerfurchtes Gesicht wirkte noch verkniffener als gewöhnlich. „Ihre beiden Komplizen werden ebenfalls als mutwillige Terroristen verurteilt werden.“ „Terroristen“, stöhnte Tifa. „Mister Taggert, Sie wissen doch, dass ich immer nur meiner Aufgabe nachgegangen bin ... und die ERCOM hatte keinerlei Befugnis, dieses Haus in die Luft zu sprengen ...!“ „Die ERCOM hat überzeugende Methoden, ihren Standpunkt deutlich darzustellen“, antwortete Taggert trocken. Ich weiß, dachte Tifa. Methoden in Form kleiner Bronzemünzen, auch als Gil bekannt ... Sie vermochte es kaum mehr, ihre Wut zu unterdrücken. Höhnisch gab sie zurück: „Mir war gar nicht klar, dass der Präsident die Mittellandjustiz so schlecht bezahlt, Chef. Hätten wir mehr Mittel zur Verfügung, dann wäre es so weit gar nicht gekommen, oder? Dann würden Sie sich nicht von der ERCOM bestechen lassen, habe ich Recht?“ „Schweigen Sie, Miss Lockheart. Ihre Untersuchungsbefehle sind Ihnen hiermit entzogen, Sie sind vom Dienst suspendiert und wir werden später sehen, wie weiterhin mit Ihnen verfahren wird.“ Tifa biss sich auf die Lippe, um nicht gleich mit weiteren sinnlosen, wenngleich durchaus berechtigten Anschuldigungen nachzusetzen. Nanaki hob den Kopf und warf ihr einen aufmunternden Blick zu, den sie jedoch mit einem nur angedeuteten Kopfschütteln abtat. Einige stille Minuten später meldete sich der Pilot: „Wir haben sie. Das da unten müssen Sie sein ... Kommissar, werfen Sie einen Blick auf den Wärmeradarbildschirm – dort, direkt neben dem Sumpfgebiet. Sie bewegen sich nicht von der Stelle.“ „Das könnten genauso gut zwei Chocobos sein“, brummelte Taggert, der sich über den Monitor beugte. „Warum sind Sie sich so sicher?“ „Weil wir mittlerweile so dicht dran sind, dass sich die Umrisse erkennen lassen. Sehen Sie selbst.“ Sogar Tifa konnte es von ihrem Platz aus erkennen. Ein wahres Unglück ... jetzt hatten sie sie also alle ... Sie wusste, dass ihr schnell etwas einfallen musste, aber sie war nahe daran aufzugeben. Ihr fiel nichts ein, um Cloud und Vincent noch zu helfen oder sich selbst ... ihr Kopf fühlte sich plötzlich so seltsam leer an. Dies änderte sich kurz darauf. Alle Insassen zuckten zusammen, als ein Schuss fiel, ein ohrenbetäubender Knall im Vordergrund der leisen unterschiedlichen Motorgeräusche. Es klang, als befände sich die Ursache direkt unter ihnen ... Barret warf Tifa einen unmissverständlichen Blick zu. Vincents Gewehr. Sie nickte. Sie wusste es selbst. Nur konnte sie sich nicht denken, auf was Vincent geschossen haben sollte ... zumal auf dem Monitor nur die Wärmebilder von ihm und Cloud zu sehen waren. Erneut beschlich sie dieses sehr ungute Gefühl. Irgendetwas war ... falsch. Cloud wagte nicht, sich zu regen. Er kniete auf dem sumpfigen Boden, im Arm Vincents Körper, in der anderen Hand das Gewehr. Er wollte es nicht loslassen, und er wollte auch Vincent nicht loslassen. Er sah zu, wie Tropfen an seiner Nase herabrannen und zu Boden fielen. Dennoch machte er keine Regung, schluchzte nicht und zitterte auch nicht. Etwas in ihm war genauso tot wie sein Freund oder fühlte sich zumindest so an, weswegen er zu einer emotionaleren Art der Trauer nicht fähig war. Über ihm erklang das vertraute Geräusch eines Helikopters. Immer noch sah Cloud nicht auf, und es interessierte ihn auch nicht, was da neben ihm auf der weichen Erde aufsetzte. Ob sie nun das SPECULUM im Keller gefunden hatten oder nicht, ob sie nun Tifa und die anderen gefangen genommen hatten ... ob sie am Ende gewinnen würden ... das war eigentlich egal ... Der Scheinwerfer des Hubschraubers berührte ihn, als der Rotor sich allmählich langsamer drehte. Neben ihm erklangen Schritte, und ohne hinzusehen wusste er, dass mehrere Personen nunmehr einen Halbkreis um ihn und Vincent herum bildeten. Als Cloud endlich nach kurzer Zeit aufsah, blickte er direkt in die Mündung eines Maschinengewehrs. „Lassen Sie die Waffe fallen!“ Clouds Gedanken bewegten sich extrem langsam. Er erwartete, sein Gegenüber möge das Maschinengewehr aus seinem Sichtfeld entfernen – bis er feststellte, dass von eben diesem Mann die Anweisung stammte. „Lassen Sie verdammt noch mal die Waffe fallen, Mister Strife!“ Endlich fiel Cloud ein, dass er Vincents Gewehr in der Hand hielt. Langsam lösten sich seine Finger um den mittlerweile angewärmten Schaft. „Na bestens. Und nun gehen Sie von der Leiche weg.“ Cloud erhob sich wie in Zeitlupe und gehorchte. Sein Blick traf den von Tifa, und aus ihren Augen sprach Fassungslosigkeit und Entsetzen. Allem Anschein nach versuchte sie, in alldem irgendeinen Sinn zu erkennen ... „Aber – aber was ist ...“ Tifa öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wie in stillem Protest. Henry Fawkes hielt ihren Arm fest. „Sieh an. Der Eine scheint den Anderen erledigt zu haben ...“ Mit selbstgefälligem Blick trat er neben den Leichnam und zog Tifa hinter sich her. „Das hätte ich sicherlich am wenigsten erwartet. Ist das nicht derjenige, nach dem Sie so verzweifelt gesucht haben, Miss Lockheart?“ Tifa gab ihm keine Antwort. „Wie auch immer, er scheint für seine Rettung anscheinend nicht allzu dankbar zu sein.“ Taggert richtete seine Taschenlampe auf Cloud, der mit gesenktem Kopf im Lichtschatten des Scheinwerfers stand und über dessen Arm nur noch Vincents weinroter Umhang hing. „Sehen Sie mir in die Augen, Strife. Sie können jetzt sowieso nicht mehr entkommen. Nehmen Sie Ihre Hände dorthin, wo ich sie sehen kann.“ Tifa sah, wie Cloud auch dieser Aufforderung nachkam, und konnte sich einfach nicht mehr zurückhalten. „Cloud, was ist passiert? Was – was hast du ...“ Fawkes schubste sie an. „Still! Heben Sie sich jegliche Art von Konversation für den Richter auf!“ Nanaki und Barret schwiegen genauso wie der Rest von Taggerts Crew. Keinem fiel irgendetwas ein, das zu sagen es wert gewesen wäre. Als Taggert das Kommando gab, wieder in den Hubschrauber zu steigen und ein Bergungsteam zu den entsprechenden Koordinaten zu senden, erwachte Cloud endlich aus seiner Apathie. Er hob den Kopf und sah Tifa seltsam eindringlich an, als wolle er ihr eine stille Mitteilung machen, sagte jedoch nichts. Schließlich hob er langsam die Hand und wischte sich die Tränen aus den Augen. Kapitel 18: Prisoner -------------------- Schweigend ließ Cid seinen Blick über den leeren, von Dunkelheit umfangenen Dorfplatz in Nibelheim schweifen. Das Ende seiner Zigarette glühte schwach, ansonsten war kaum ein Licht zu sehen, ausgenommen die in den rings umherstehenden Häusern ... aber aus den Fenstern von Tifas Zuhause fiel überhaupt kein Licht. „Die Tür steht sperrangelweit offen“, ließ sich Aeris vernehmen und schlich um die reglose, im fahlen Mondlicht monströs wirkende Gestalt der Tiny Bronco herum. „Es ist niemand hier.“ „Das verstehe ich nicht.“ Aus Cids Stimme sprach ehrliche Verwirrung. „Sie hatten mich gebeten, hierher zu kommen ... Barret hat mir genau das erzählt, was ich dir während des Fluges berichtet hatte. Und dass wir Vincent unbedingt ...“ Er schüttelte ratlos den Kopf. „Wir können ihnen nicht helfen, wenn wir nicht wissen, wo sie sind.“ „Du hättest nicht den Umweg nach Kalm machen sollen, um mich abzuholen“, sagte sie leise, obgleich sie wusste, dass es falsch war, Cid deswegen einen Vorwurf zu machen. „Vielleicht. Aber Cloud war der Meinung, du müsstest sowieso noch einmal –“ „Das hat damit beim besten Willen nichts zu tun! Wärst du früher hier gewesen, dann hätten sie dich vielleicht noch mitgenommen oder dir zumindest gesagt, was sie vorhaben!“ „Nun mal langsam. Entweder, sie haben spontan eine bessere Lösung gefunden als die Klinik in Mideel ... oder es ist etwas anderes dazwischen gekommen, und sie werden innerhalb der nächsten Zeit Kontakt mit uns aufnehmen.“ „Sofern sich das PHS noch in ihrem Besitz befindet.“ „Warum sollte es das nicht?“ Sie gab keine Antwort, schritt nur weiter ratlos durch die milde Winternacht. Auf einem Nadelbaum in einem ganz in der Nähe befindlichen Vorgarten saß eine kleine weiße Taube und musterte die Cetra mit kleinen blaufunkelnden Augen, die das Mondlicht in sich aufzusaugen schienen. Die Stille wurde jäh durch das Rufsignal des PHS unterbrochen. „Na, ich hab’s doch gesagt.“ Cid förderte das kleine Gerät zutage. „Ja ...?“ „Mit wem spreche ich?“ Irritiert blieb er stehen. „Augenblick mal – mit wem spreche ich? Wer sind Sie und wie gelangen Sie –“ „Ich würde Ihnen raten, besser keine weiteren Fragen zu stellen. Das PHS wurde beschlagnahmt und die Besitzer inhaftiert. Da Sie offensichtlich ebenfalls zu dieser organisierten Bande von Unruhestiftern gehören, möchte ich Sie bitten, sich bei dieser Gelegenheit zu stellen. Ich nehme an, Sie sind Mister Highwind.“ Cid schwieg. Organisierte Bande von Unruhestiftern? Daran war etwas ganz und gar faul. Während seiner Abwesenheit musste sich in Nibelheim mehr ereignet haben als nur der Abriss der Shin-Ra-Villa ... Ein leises Knistern erklang. „Offensichtlich wollen Sie nicht kooperieren. Ich möchte Ihnen nur noch nahe legen, sich nicht von der Stelle zu rühren – andernfalls wird das Feuer auf sie eröffnet.“ „Das Feuer?“, platzte Cid heraus. „Wer zum Henker sind Sie eigentlich?!“ Erst eine Sekunde später erhielt er Antwort. „Kommissar Taggert von der Mittellandjustiz. Und ja, wir haben eine Reihe Einsatzkommandos auf den umliegenden Dächern postiert, nur für den Fall ... der jetzt eingetreten ist. Sie und die schwangere Frau, stellen Sie sich beide neben das Flugzeug und unternehmen Sie keinen Fluchtversuch. Ich meine es wirklich ernst.“ Der Zorn drohte den Piloten nunmehr zu überwältigen. „Ihr verdammten Halunken! Ihr wisst so gut wie ich, dass ich kein Terrorist bin, zum Kuckuck!“ Aber nun antwortete ihm nur noch der anhaltende Piepton als Kennzeichen einer unterbrochenen Verbindung. Der Boden unter Clouds Füßen bewegte sich, als er es endlich wagte, sich umzusehen. Zusammen mit seinen Freunden befand er sich in einer kleinen Kammer mit grauen Wänden und einer schwachen künstlichen Beleuchtung. „Ach du liebe Güte“, murmelte er und war überrascht, wie dünn und zittrig seine Stimme klang. „Das kannste laut sagen“, kam es tonlos von Barret. „Nicht mal als Präsident der AVALANCHE hat man ein Sonderrecht vor dieser Scheiß-Mittellandjustiz!“ Ihnen allen waren beide Hände auf den Rücken gebunden, nur Nanaki trug stattdessen einen Stahlring um den Hals wie ein Kettenhund. Das Gebäude um sie herum schwankte gleich einem Boot ... „Wo sind wir?“, wollte Cloud wissen. „Auf einem Flugzeugträger vor Junon“, antwortete ihm Tifa. „Eigentum der Mittellandjustiz, seit das Hauptquartier der Shin-Ra zu dem der AVALANCHE ausgebaut wurde ... sie nennen ihn S.S.Botterscotch, aber frag mich nicht, wer auf diesen albernen Namen gekommen ist. Jedenfalls wird er nunmehr als Justizvollzugsanstalt genutzt und beherbergt Inhaftierte, wie du siehst.“ „Ein Gefängnis auf dem Wasser.“ „Wenn du es so nennen willst, ja. Was wir hier machen, nennt sich übrigens Untersuchungshaft, weil man bisher unsere Schuld nicht beweisen kann ... toll, nicht wahr?““ Er seufzte leise und sah an sich herab. Bis zu den Knöcheln waren seine Schuhe schmutzig vom Sumpfboden, und um alles noch etwas schlimmer zu machen, klebte überall an ihm noch Vincents Blut. „Wisst ihr inzwischen ... was passiert ist?“ Barret drehte sich zu Cloud um, und die Ketten rasselten leise. „Dass du Vincent mit seinem Gewehr erschossen hast, das wissen wir. Warum, das wissen wir nich’. Vielleicht möchteste uns ja erklären, wieso du so einfach deinen und unseren Freund abknallst.“ Cloud schluckte. „So war es nicht. Ihr wisst, dass ich das nicht tun würde. Das alles hatte einen Grund ... ich weiß, was es war, das Vincent angegriffen hat, das jeden angreift, der sich der Maschine nähert ... es ist Lukretia. Sie hat sie gebaut ...“ „Lukretia?“, fuhr Tifa auf. „Verdammt, Cloud, hast du eben Lukretia gesagt?“ „Ich ... ja.“ „Und was soll das bedeuten, wenn ich fragen darf? Dass sie sich unsichtbar gemacht hat und – “ „Nein. Nein, ganz anders. Ach, himmelnocheins, ich wusste, dass ihr mir nicht glauben würdet! Ich, ich musste Vincent ... sie hätte ihn sonst ... es war schon fast zu spät, und es war alles voller Blut, und er hat gesagt, ich soll ... er zeigte mir, wie ich ....“ Clouds Beherrschung verflüchtigte sich wie eine Wolke inmitten eines Orkans. Seine Hände zitterten, und er kämpfte darum, seine Emotionen im Zaum zu halten. Als Tifa das sah, hörte sie auf Fragen zu stellen. „Cloud, lass uns später darüber reden. Zunächst müssen wir uns hier irgendwie aus der Affäre ziehen, wenn wir nicht eingelocht werden und für die nächsten Jahre hier bleiben wollen.“ „Da hat sie Recht“, brummelte Barret. Yuffie Kisaragi saß in ihrem Arbeitszimmer in Wutai und rechnete die Differenzen zwischen den Import- und Exportsummen aller im letzten Jahr beförderten Substanzen aus. Obwohl es auch auf dem Westkontinent bereits mitten in der Nacht war, musste sie diese Arbeit noch beenden. Auf dem Hocker neben ihrem Schreibtischstuhl saß zusammengerollt ihre winzige schwarzgefleckte Mischlingshündin Kisu-Chan und war längst eingeschlafen. Yuffies Tippen auf der Tastatur ihres alten und langsamen ausländischen Computers störte das Tier nicht, es winselte nur hin und wieder im Schlaf und seine großen Ohren, die aussahen wie die Flügel eines Schmetterlings, zuckten zeitweilig. Die Tür bewegte sich leise. „Es ist jetzt schon fast am frühen Morgen, Yuffie. Willst du heute gar nicht mehr ins Bett gehen?“ „Ich bin gleich fertig.“ Sie wandte sich nicht einmal um, ihre Finger huschten weiter behände über die Tasten. „Ich hab’ dir was mitgebracht“, fuhr Reeve fort, unglücklich darüber, nicht ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen. Er trat zu ihr hin und stellte eine dampfende Tasse neben ihre Hand. Yuffie sah auf. „Kaffee! Danke, das kommt mir sehr gelegen. Magst du dich setzen? Du musst nur Kisu vom Stuhl schmeißen.“ „Ich glaube, ich lass sie einfach, wo sie ist.“ Reeve war wie immer fasziniert und konnte den Blick nicht von Yuffie lassen. So kindisch sie sich auch jahrelang benommen hatte, sie war – zumindest zu einem großen Teil – erwachsen geworden. Er fand sie bildschön. Umso deprimierender war für ihn der Gedanke, dass er zu alt für sie war und dass sie außerdem nicht im Mindesten an ihm interessiert war. Aber nichtsdestotrotz würde er alles für sie tun, ihr zu Füßen liegen. Reeve gehörte zu den Männern, die das durchaus wirklich taten ... „Warum bist du eigentlich noch auf?“, kam es unverhofft von Yuffie, ohne dass sie den Blick vom Bildschirm abwandte. „Du bist bestimmt nicht extra zu mir gekommen, um mir Kaffee zu bringen, oder?“ Das war er in der Tat. Etwas anderes als Yuffie bewegte ihn zu so später Stunde nicht aus dem Bett. „Nun, ich ... wollte sowieso noch einmal nach Post sehen.“ „Achso, wenn’s nur das ist.“ Sie tat es immer noch mit kindlicher Gleichgültigkeit ab. Und hämmerte weiterhin auf die Tasten wie ein Konzertpianist. Er schüttelte den Kopf, was sie sowieso nicht sah. Dann schreckte er auf, ebenso wie Yuffie, als beide das Piepen des PHS hörten. „Boah, das kann doch kaum sein ... angenommen, ich würde schlafen, die hätten mich mitten in der Nacht geweckt!“ „Bestimmt ist es ein Notfall“, vermutete Reeve und beobachtete, wie Yuffie unter einem Stapel Papier das kleine Gerät zutage förderte. „Die haben uns doch schon ewig nicht mehr angerufen.“ „Das werden die sobald auch nicht mehr“, knurrte Yuffie. „Hallo? Wer ist denn da?“ Sie lauschte, und der Zorn in ihrer Miene wich Bestürzung. „Aber – ja, Moment, ich ...“ „Yuffie, was ist denn los? Du bist so blass.“ Sie achtete gar nicht auf ihn, als sie das PHS ausschaltete. Tief Luft holend erhob sie sich von ihrem Schreibtischstuhl und griff nach dem Hausschlüssel. Kapitel 19: Judgement Day ------------------------- Nach einer sehr durchwachsenen Nacht, in der sich Schlaf und Wachsein unregelmäßig abgewechselt hatten, öffnete Cloud langsam wieder die Augen. Er sah sich um und hatte nun die Gewissheit, dass alles, an das er sich erinnerte, kein böser Traum oder Produkt seiner wirren Fantasien gewesen war. Es war passiert, er war in der Maschine gewesen, hatte Vincent erschossen und war verhaftet worden. Genau wie seine Gefährten, die er schon wieder in etwas mit hineingezogen hatte, das auch für sie gefährlich werden würde. Er fühlte sich schlecht. „Es gibt nicht einmal ein Fenster.“ Nanaki blickte traurig zur Tür, durch deren Spalt ein wenig Sonnenlicht hereinschien. Ansonsten war es immer noch ziemlich dunkel in der kleinen Gemeinschaftszelle auf der S.S.Botterscotch. „Hast du erwartet, die wären hier auf unseren Komfort bedacht?“, gab Tifa übellaunig zur Antwort. „Ich sag’ dir, was gleich kommt: Entweder Komissar Taggert persönlich oder einer von seinen Bücklingen, und dann zücken sie Zettel und fragen uns, was wir zu unserer Verteidigung zu sagen haben, und dann verurteilen sie uns. Unsere Strafe wird sicherlich nicht gerade milde ausfallen.“ Nanaki fuhr sich mit seiner hellrosa Zunge über die Lefzen, bevor er leise nachhakte: „Und in Junon – die ist immer noch in Betrieb ...?“ „In Junon ist die was noch in Betrieb?“ Bevor Tifas fellbedeckter Freund ihr eine Antwort geben konnte, öffnete sich die schwere Eisentür mit unheilvollem Knarren, was die Gefangenen dazu veranlasste, synchron die Köpfe zu heben. Ein Mann trat ein und lächelte. „Hallo, Miss Lockheart.“ Tifa bleckte die Zähne. „Sie schon wieder!“ „Nur nicht aufregen. Ich hatte Ihnen gesagt, dass es so kommen würde, aber keiner von Ihnen hat Anstalten gemacht, meinen Aufforderungen Folge zu leisten – war es nicht so?“ „Und ich hatte bis zu Ihrem Auftauchen wirklich gedacht, die ERCOM sei wenigstens teilweise noch ein ehrenhaftes Unternehmen. Aber das ist sie wohl genauso wenig wie die Mittellandjustiz.“ Stolz reckte sie ihr Kinn vor. „Kommen Sie schon näher und ergötzen Sie sich an unserer Niederlage, Fawkes.“ Er schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich nicht hier. Weder ich noch Kommissar Taggert werden Sie und Ihre Freunde so einfach unter den Tisch fallen lassen.“ Dabei erschien wieder das sonderbare Lächeln auf seinen Lippen. „Sie bekommen alle eine faire Gerichtsverhandlung direkt vor den Argusaugen des Gesetzes. Allen voran natürlich Mister Strife ... wegen Mordes an Mister Valentine.“ Alle Augen richteten sich auf Cloud, der schlaff wie eine Marionette in seinen Fesseln hing. „Das war kein Mord“, sagte Tifa schließlich mit fester Stimme. Fawkes zuckte nur die Schultern. „Eben das muss noch geprüft werden. Tatsache ist, dass er Mister Valentine mit dessen Waffe getötet hat, und zwar mit voller Absicht, dass er weder unzurechnungsfähig war noch im Unklaren über sein Handeln. Was er sich hat zuschulden kommen lassen, das weiß er genau. Deswegen wird es für ihn ein schwieriges Unterfangen werden, vor Gericht seine Unschuld zu beweisen.“ Er und Tifa starrten einander eine Zeitlang in die Augen, keiner von beiden blinzelte oder wandte den Blick ab – bis es letztlich doch Henry Fawkes war, der ihr den Rücken zukehrte und sich auf leisen Sohlen empfahl. „Was für ein Stinktier“, fauchte Tifa, „ich hasse ihn. Noch mehr als Kommissar Taggert. Zum Donner, wie konnten wir überhaupt in so etwas hineingeraten? Wir wollten doch nur verhindern, dass die Shin-Ra-Villa abgerissen wird, und dazu hatte die ERCOM verdammt noch mal kein Recht!“ Wütend ballte sie die Fäuste. „Ich glaube eher, dass das alles Taktik is’“, ließ sich Barret in ruhigerem Ton vernehmen. „Zum Einen sind die ERCOM und die Mittellandjustiz eindeutig auf dasselbe Ziel konzentriert und arbeiten gemeinsam darauf zu. Die Regeln halten beide nich’ ein, aber sie versuchen nicht, sich gegenseitig auszuspielen. Es muss sich zudem um irgendwas handeln, das nich’ an die Öffentlichkeit gelangen darf.“ „Ja. Prima. Und was sollen wir jetzt machen? Was?“ „Was schon? Abwarten, wozu wir verurteilt werden. Vielleicht Zwangsarbeit oder so.“ Tifa seufzte, aber bevor sie etwas dazu erwidern konnte, öffnete sich die knarrende Tür ein weiteres Mal und brachte einige Strahlen von Sonnenlicht mit herein – und außerdem einen Soldaten der Mittellandjustiz. Es handelte sich um einen jungen Mann mit strähnigem, wasserstoffblonden Haar und einem einfältig wirkenden Blick. „Wie spät ist es?“, wollte Tifa als erstes wissen, bevor sie ihn zu Wort kommen ließ. „Äh – oh.“ Der Wärter sah auf seine Armbanduhr. „Es ist ... gleich halb Acht am Morgen. Ich bin hier, um Sie zum Gerichtssaal zu eskortieren.“ „Also befinden wir uns mit diesem Ding hier direkt vor Junon?“ „Ja, so ist es. Ich werde die Ketten lösen und Sie bitten, mir zu folgen. Augenblick.“ Barret war erstaunt darüber, dass die Mittellandjustiz nur einen einzigen Mann schickte, um vier Gefangene vor das Hohe Gericht zu führen. Das war überaus wagemutig, irgendwie ... Andererseits blieben sie alle vier in einer Reihe aneinandergekettet, die Hände zusammengebunden. Eine Flucht war keinem von ihnen möglich. Minutenlang folgten sie dem Soldaten durch das Hauptgebäude der AVALANCHE, den Ausbildungstrakt, in welchem Cloud unterrichtete, und schließlich den eher kleinen Teil des Hangars, über den die Mittellandjustiz verfügte. Gleich hinter diesem befand sich ein weiterer Trakt, der Justizpalast, der allerdings mit einem Palast wenig gemeinsam hatte. „Ich bin mal gespannt, was sie alles für geschmierte Zeugen anschleppen“, murmelte Barret. „Auf das Urteil bin ich eher gespannt“, kam es leise von Tifa. Den Rest des Weges lang war letztlich das leise Rasseln der Ketten das einzige Geräusch, das die unangenehm sterile Stille stetig durchbrach. Yuffie wollte ihren Ohren nicht trauen, als ihr berichtet wurde, was sich – angeblich, denn sie war nicht bereit, es zu glauben – zugetragen hatte. Reeve, der hinter ihr stand, hatte wie als Ansatz zum Sprechen den Mund geöffnet, sagte jedoch kein Wort. Beide waren von der Mittellandjustiz nach Junon gebracht worden und hatten dort Cid und Aeris angetroffen, welche die unheilvolle Nachricht bereits vernommen hatten. Yuffie schaltete ihre Ohren schon nach dem ersten Satz auf Durchzug, denn allein dieser schien eine einzige Lüge zu sein. Cloud hatte angeblich Vincent erschossen, Barret hätte den Keller der Shin-Ra-Villa in die Luft gejagt oder auch anders ... jedenfalls saßen beide, zusammen mit Nanaki und Tifa, irgendwo in einer Gemeinschaftszelle gefangen und würden dem Richter vorgeführt werden. Wenn das nicht insgesamt der größte Blödsinn war, den Yuffie Kisaragi je gehört hatte! Nach dem Vortrag, den ihnen im Übrigen einer der rangniedrigeren Wärter gehalten hatte, lehnte sie sich schwer gegen Reeves Schulter und spürte, wie er den Arm um sie legte. Der Gerichtssaal im Justizpalast war immer noch derselbe. Seit mehr als zehn Jahren war er nicht mehr renoviert worden. Die Bänke und Pulte waren aus Eichenholz, in vielen Metern Höhe über den Köpfen der Zuhörer hing ehrwürdig der Kristallkronleuchter und ließ hin und wieder etwas Staub herunterrieseln. Von den bereits Versammelten – Soldaten und Wärter aller Ränge, darunter auch einige Gestalten in der langen schwarzen Tracht der Geschworenen – wurden Cloud, Nanaki, Tifa und Barret erfreut empfangen. Eine dürre schwarzgekleidete Gestalt eilte auf die Vier zu und fragte aufgescheucht: „Ja, meine Güte, um wen geht es denn heute?“ „Um diesen hier“, antwortete ein Wärter und deutete auf Cloud, „nur um ihn, die Anderen sind zusammen mit dem Rest der Terroristengruppe an der Reihe.“ „Ah ja.“ Der Jurist lächelte nervös und wandte sich Cloud zu. „Nun, Mister Strife, ich bin Ihr Verteidiger, Kevin Vicious.“ Er hielt Cloud die Hand hin, jedoch war sein Gegenüber aufgrund der Fesseln unfähig, diese zu ergreifen. „Mir sind in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden“, sagte Cloud zynisch und wandte sich ab. „Oh, warten Sie doch bitte. Ich habe mich natürlich mit Ihrem Fall befasst. Ich habe Ihre Personalakte gelesen und kenne Ihre Vorgeschichte ...“ „Das ist ja wunderbar für Sie, guter Mann. Dann wissen Sie ja so gut wie ich, dass Sie mich nicht vor dem Henker retten können.“ Vicious schluckte. „Nun ja, ich denke doch, dass ich die Strafe zumindest abmildern kann ...“ „Und inwiefern? Elektrischer Stuhl anstatt der Gaskammer?“ „Nun.“ Der Verteidiger biss sich auf die Unterlippe. „Sehen Sie doch nicht alles so schwarz, als sei morgen die Hinrichtung. Wir können diesen Prozess vielleicht nicht gewinnen, aber wir geben trotzdem alles, was wir haben, nicht wahr? Oh ja, ich habe mir die Argumente sehr gut zurechtgelegt, und ich habe vor, all mein Pulver zu verfeuern!“ „Verdammt, reden Sie nicht von Schüssen“, gab Cloud gepresst zurück. Kurz darauf klatschte Kommissar Taggert nahe des Richterpults in die Hände. „Alle Zuhörer erheben sich! Wir begrüßen den Richter und die Geschworenen. Mister Strife, Sie stellen sich –“ Er packte Clouds Schulter und schob ihn an einen Tisch links vom Richterpult. „– hier hin.“ Anschließend lächelte er dem Richter zu, einem bereits ergrauten Mittsechziger mit harten Gesichtszügen. Es war kaum zu erwarten, dass dieser Mann das Lächeln des Kommissars erwidern würde. Tifa, Barret und Nanaki waren mitten unter den Zuhörern auf Stühle gesetzt worden und verfolgten mit kummervollen Mienen, wie sich der Richter auf seinem Stuhl niederließ – ebenso wie alle anderen Personen im Raum es nun taten – und den Geschworenen, die zu sechst auf jeder seiner beiden Seiten saßen, zunickte. Der Richter erhob seine raue Stimme, und sie hallte laut in dem riesigen Gerichtssaal wieder und übertönte das Getuschel der Anwesenden: „Mister Cloud Strife, Sie sind heute hier vorgeladen als Angeklagter. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, sind von Beruf Ausbilder bei der Friedensorganisation AVALANCHE, ist das soweit korrekt?“ Cloud nickte, und alle Augen richteten sich auf ihn. „Sie haben einen festen Wohnsitz in einem Dorf namens Kalm innerhalb der beiden großen Kontinente.“ „Das stimmt.“ „Sie sind nicht verheiratet, leben aber zusammen mit Ihrer Gefährtin Aeris Gainsborough, neunundzwanzig.“ „Ja.“ „In Ordnung. Dann wird nunmehr die Anklage verlesen. Bitte, Herr Staatsanwalt.“ Der Staatsanwalt erhob sich, ein hagerer Mann mit dicker Brille. „Mister Strife, Ihnen wird Folgendes zur Last gelegt: Am Nachmittag des sechsten Januars sollen Sie unbefugt ein beschlagnahmtes Gebäude betreten und es nachhaltig beschädigt haben. In Ihrer Gesellschaft befand sich ein Mann namens Vincent Valentine, vierunddreißig, und gemeinsam flohen Sie beide mit einigen weiteren Verbündeten, auf welche später noch eingegangen werden soll, in das Haus einer Ihrer Komplizen. Während alle Ihre Freunde von der Mittellandjustiz ergriffen wurden, verschanzten Sie sich mit Valentine, der laut Aussagen eine Verletzung davongetragen hatte, in dem Gebäude und flohen mithilfe einer mittlerweile ebenfalls beschlagnahmten Transportsubstanz in die Midgar-Region, wo Sie gegen Abend Ihren mittlerweile schwerverletzten Verbündeten Valentine mit dessen Waffe erschossen, und zwar direkt ins Gehirn. Sie sind somit des Mordes angeklagt nach Paragraph siebenundsechzig, Absatz drei der Mittelland-Verordnung.“ Er faltete die vorliegenden Berichtpapiere säuberlich und nahm wieder Platz. Der Richter nickte. „Nun, Mister Strife, Sie haben jetzt die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Bitte sprechen Sie.“ „Ich ... habe nichts dazu zu sagen“, antwortete Cloud tonlos. Er sah blass und müde aus, seine blonden Haarsträhnen standen teils in alle Richtungen und fielen andernorts wie stumpfes Stroh ins Gesicht. „Nur ... dass die Verletzung so schwer war, dass wir ... keine Wahl hatten.“ Das Tuscheln im Saal wurde etwas lauter. Wieder nickte der Richter. „Setzen Sie sich. Ich übergebe das Wort wieder an den Staatsanwalt.“ Benannter sprang von seinem Stuhl auf und holte tief Atem. „Hohes Gericht, liebe Geschworenen, Euer Ehren. Ich erlaube mir, meinen ersten Zeugen aufzurufen, Mister Henry Fawkes.“ Cloud rollte kaum merklich die Augen. Fawkes betrat gemächlichen Schrittes den Zeugenstand, nachdem sein Name gefallen war, und hob angesichts des prüfenden Blickes seitens des Richters selbstbewusst den Kopf. „Nun“, begann der Richter, „Sie sind Henry Fawkes, dreiunddreißig Jahre alt, Leiter der Ecology Research Corporation Of Midgar und mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert.“ „Das stimmt, Euer Ehren.“ „Zunächst die Belehrung: Sie sind hier als Zeuge geladen und müssen vor Gericht die Wahrheit sagen, sonst machen Sie sich strafbar. Sie haben das Wort, bitte beginnen Sie.“ „Jawohl, Euer Ehren. Als ich am Tage des sechsten Januars zur Inspizierung des beschlagnahmten Gebäudes, der ehemaligen Shin-Ra-Villa, antrat und mich mit der Organisation der Sprengungen befasste, begegnete ich zu aller erst Strifes Komplizen, die bemüht waren, ihn aus dem Keller des Hauses zu befreien – einem Keller, den zuvor noch niemand betreten hatte, wohlgemerkt. Als Strife endlich auftauchte, trieb er uns zur Eile an, das Haus zu verlassen, und sie alle flohen ins Privathaus von Tifa Lockheart, die selbst eigentlich unter Kommissar Taggerts Kommando stand. Um meine Anweisungen kümmerte sich niemand. Ich weiß jedenfalls, dass sich Strife und Valentine bis zum Schluss in eben diesem Haus einschlossen und den Aufforderungen der Mittellandjustiz keine Folge leisteten.“ „Die Tat mit dem Gewehr haben Sie jedoch nicht unmittelbar erlebt?“ „Nein, Euer Ehren.“ „Dann sind Sie als Zeuge vorerst entlassen, bitte nehmen Sie wieder Platz.“ „Ja, Euer Ehren.“ Cloud rümpfte die Nase angesichts solcher Ehrfürchtigkeit, wie Fawkes sie heuchelte. „Anscheinend gibt es hier gar nichts weiter zu verhandeln“, stellte der Staatsanwalt fest, „da ja offensichtlich die Tat ganz genauso begangen worden ist, wie es hier beschrieben wurde.“ „Auf keinen Fall!“, ließ sich endlich der Verteidiger vernehmen. „Ich rufe hiermit ebenfalls eine Zeugin auf, die Schülerin Vicky Rave!“ Cloud sah auf. Hatte Vicious das gerade wirklich gesagt? Er wollte Clouds Schüler als Zeugen vorführen, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten? Oh, verdammt. Vicky schlich irgendwo weiter hinten aus der Zuhörerreihe und warf dabei erst einmal einen Stuhl um. Sie war nicht nur dann ungeschickt, wenn sie ein Schwert in der Hand hielt ... Schließlich trabte sie flinken Schrittes zum Richterpult und bedachte Cloud dabei mit einem Blick, den jener beim besten Willen nicht zu deuten vermochte. „Vicky Rave“, schnarrte der Richter, „Sie sind fünfzehn Jahre alt, Schülerin der AVALANCHE-Jugend und mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert.“ „Äh .. stimmt, ja.“ Ihr Blick zuckte nervös von einer der dreizehn schwarzen Gestalten zur anderen. „Was soll ich denn jetzt erzählen?“ „Die Fragen stelle ich, Miss.“ „Äh, okay.“ „Sie haben die Anklage gehört. Strife ist seit nunmehr fast sechs Jahren Ihr Lehrer. Trauen Sie ihm die Tat zu, die ihm vorgeworfen wird?“ Vicky schüttelte sofort den Kopf. „Nein, Euer Ehren.“ Es sah aus, als hebe der Richter eine Augenbraue, aber genauso gut hätte es eine optische Täuschung sein können. „Darf ich Sie fragen, wieso nicht, Miss Rave?“ „Nun ... weil ...“ Sie zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie mit vor Nervosität schwankender Stimme fortfuhr: „Master Strife ist kein Mörder, Euer Ehren. Das ist einfach mal unmöglich. Er ist ein bisschen streng, aber wir können uns immer sicher sein, dass er nur unser Bestes im Sinn hat und so weiter und dass es sein Ziel ist, aus uns gute Menschen zu machen, Euer Ehren ... äh, genau ... fragen Sie doch meine Mitschüler! Wir alle vertrauen Master Strife, jaah, wir würden ihm auch unser Leben anvertrauen, weil wir wissen, dass er uns seins ebenso bedenkenlos anvertrauen würde ... und –“ „Miss Rave“, unterbrach der Staatsanwalt sie scharf und rückte seine Brille zurecht, hinter welcher seine Augen wie zwei riesige Pilze hervorzuquellen schienen, „wir sind nicht hier, um über Strifes Moralvorstellungen zu diskutieren.“ „Aber genau danach hat der Richter mich doch gefragt“, antwortete sie trotzig. „Er wollte wissen, warum ich Master Strife die Tat nicht zutraue. Und ich hab’s gesagt – fragen Sie doch in der ganzen Klassenstufe nach! Alle respektieren ihn, seit der Sache mit den Papierfliegern, und –“ „Miss Rave!“, warf der Staatsanwalt erneut ein. „Still.“ Der Richter hob gebieterisch die Hand. „Lassen Sie die Schülerin nur reden, Herr Staatsanwalt. Also, was war das gleich mit den Papierfliegern? Fahren Sie fort.“ Vickys Miene erhellte sich kaum merklich. „Das war damals, als alle noch Angst vor Master Strife hatten, denn er machte immer ein Gesicht ... wie ein Stein, wissen Sie. Man sagte über ihn, er habe den Planeten vor dem Untergang gerettet und solle stärker als der große Sephiroth sein, und wir sahen alle ein Vorbild in ihm. Keiner muckte im Unterricht in irgendeiner Weise auf. Dann hat aber Boris in der Pause einen Papierflieger gebaut und ihn geworfen ... und Master Strife, der gerade reinkam, hat ihn an den Kopf bekommen ... au.“ Sie schürzte die Lippen, um ein hysterisches Grinsen zu unterdrücken. „Es wurde sofort ganz still, weil alle befürchteten, er wurde wütend werden. Das war er noch nie, deswegen fürchteten sich ja alle so davor. Keiner wusste, wie sich das äußern würde. Aber Master Strife hob den Papierflieger auf und warf ihn ebenfalls. Äh, das Ding fiel sofort runter. Und Boris, Himmel, er musste natürlich sagen, dass Master Strife falsch geworfen hätte und ihm vormachen, wie es geht, und wir dachten schon ‚Himmel, jetzt ist es aus, armer Boris’, aber dann hat Master Strife den Papierflieger noch einmal geworfen, diesmal in die andere Richtung, und er flog ganz gerade bis an die Tafel, und Master Strife sagte: ‚Siehst du, das lag dann wohl doch eher am Wind als an meinen Fähigkeiten’, und er war gar nicht wütend und schrieb auch Boris nicht ins Klassenbuch ein oder so. Ab diesem Zeitpunkt hat uns Master Strife dann sogar hin und wieder mal angelächelt. Er ist gar nicht so ... so ... Sie wissen schon. Er ist eigentlich richtig cool. Und wir alle kennen ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals einen Menschen aus diesen sogenannten niederen Beweggründen umbringen würde. Also, nein, ich traue ihm keinen Mord zu, Euer Ehren.“ Cloud hörte sich tief Luft holen. Er hatte sich immer bemüht, einen guten Draht zu seinen Schülern zu entwickeln, aber nie wirklich gewusst, wie mit ihnen umzugehen war. Vickys Aussage war die Bestätigung dafür, dass es ihm letztlich doch gelungen war, das Eis zu brechen. Der Saal war still, aus den hinteren Reihen ertönte ein leises Schnarchen. „Hm.“ Der Richter rieb sich das Kinn. „Ein ... Papierflieger“, wiederholte er mehrmals in sonderbarer Stereotypie. „Soso ... nun. Sie sind als Zeugin nunmehr entlassen, Miss Rave, bitte nehmen Sie Platz.“ „Äh, ja.“ Sich noch einmal flüchtig umsehend, machte Vicky auf dem Absatz Kehrt und huschte auf ihren Platz in einer der hinteren Reihen zurück. „Wenn Sie mich fragen, Euer Ehren“, meldete sich erneut der Staatsanwalt zu Wort, „dann hat das mit dem Papierflieger keinerlei Bedeutung oder Aussagekraft. Das Kind ist erst fünfzehn!“ „Ich habe Sie nicht gefragt, Herr Staatsanwalt“, antwortete der Richter scharf. „Möchten Sie nicht Ihren nächsten Zeugen aufrufen?“ Der Staatsanwalt ließ mit einem leisen Seufzen die angehaltene Luft entweichen. „Sie werden“, rief der Verteidiger plötzlich, „sowieso keinen Zeugen finden, der Ihnen die Tat meines Mandanten hundertprozentig bestätigt! Er war nämlich zur Tatzeit mit Mister Valentine mutterseelenallein!“ „Dann könnte er ihm praktisch noch ganz andere Dinge angetan haben!“, bellte der Staatsanwalt zurück, und seine Brille rutschte ihm auf die Nasenspitze. „Haben Sie die Leiche gesehen, Vicious? Ja? Dann müssten Sie auch wissen, dass Mister Valentine nicht nur ein Loch im Kopf hatte, sondern aufgeschlitzt wie ein Fisch auf dem –“ „Dafür, dass ihm mein Mandant diese Verletzungen zugefügt hat, gibt es keinerlei Beweise!“, fiel ihm der Verteidiger sofort ins Wort. „Er sprach in der Stellungnahme von diesen Verletzungen und nannte sie den Grund, weshalb er Mister Valentine letztendlich umbrachte!“ „Ach ja? Wer soll Valentine denn sonst die Eingeweide herausgerissen haben, wenn doch beide Ihrer eigenen Anmerkung zufolge ganz allein waren? Eben! Strife hat sich und Valentine mit der Transportsubstanz an diesen einsamen Ort teleportiert, so war es doch! Und als man ihn fand, hielt er den Umhang fest ... und die Tatwaffe!“ Vicious holte Luft wie ein sich aufblähender Kugelfisch. „Diese Verletzung im Bauchraum war dieselbe, wegen der Mister Valentine schon in Miss Lockhearts Behausung keinen Schritt mehr allein tun konnte! Sie bestand schon vorher und hatte überhaupt nichts mit Mister Strife zu tun! Außerdem“, fügte er etwas leiser hinzu, „erstattete die Pathologie Bericht darüber, dass kein Gegenstand bekannt sei, mit dem einem Menschen eine solche Verletzung überhaupt zugefügt werden kann.“ Das rattenhafte Gesicht des Staatsanwalts nahm einen beinahe höhnischen Ausdruck an. „Strifes Freunde haben doch allesamt gelogen, als es um die Frage ging, wer an Valentines Verwundung Schuld trug, weil sie unter derselben Decke stecken. Und aus Strifes Vergangenheit ist bekannt, dass er als ehemaliges Mitglied der Shin-Ra Corporation nicht viel Wert auf einzelne Leben legte, sofern ihm nur –“ „Einspruch, Euer Ehren! Strifes Dienstzeit bei Shin-Ra Corp. tut nichts zur Sache!“ Die anschließende Stille war kurz, aber so stickig wie ein Plastiktüte. „Einspruch gewährt“, antwortete der Richter. „Danke, Euer Ehren.“ Vicious sah den Staatsanwalt scharf an, wohl wissend, dass dieser nur seiner sorgfältig zurechtgelegten Strategie folgte. Er griff Vicious’ Schützling persönlich an, um dabei unbemerkt Vorurteile unter den Prozess zu streuen. Bis der Verteidiger überhaupt „Einspruch“ sagen konnte, standen die meisten davon bereits unbeendet, aber unheilvoll im Raum, und jeder hatte sie unwiderruflich vernommen ... „Es geht hier nicht um die Vergangenheit oder das Privatleben meines Mandanten, und ich wünsche nicht, dass er weiter direkt angegriffen wird!“, knurrte Vicious. „Wir handeln lediglich den Prozess aus, der sich allein auf die aktuelle Tat fixiert und keinesfalls auf etwas, das irgendwann geschehen ist oder auch nicht.“ Der Richter und die zwölf Geschworenen nickten einstimmig. Daraufhin fuhren Kevin Vicious und der Staatsanwalt damit fort, sich gegenseitig um Kopf und Kragen zu reden. Jeder spielte der Reihe nach seine Trümpfe aus, wenn der Augenblick passend schien, und um Fakten ging es dabei schon lange nicht mehr. Viel eher glich der Prozess einem Schachspiel, und jeder Zug vonseiten des Verteidigers oder des Staatsanwalts wollte wohl durchdacht sein, denn einer von beiden musste es letztlich fertig bringen, den Richter und die Geschworenen zu überzeugen. Cloud saß auf seinem Stuhl und rieb sich die klammen Finger, die sich immer kälter anfühlten, obgleich der Saal gut geheizt war. Es ist ein verdammtes Spiel, genau das ist es, dachte er müde. Beide können gewinnen, denn sie spielen in etwa gleich gut – der Unterschied ist nur, dass mein Verteidiger ein wesentlich schlechteres Blatt in der Hand hält. „...Tatsache ist“, folgerte schließlich der Staatsanwalt aus irgendeiner seiner zuvor gehaltenen Reden, „dass Mister Strife die Tat genauso begangen hat, wie sie ihm vorgeworfen wird. Aus welchen Beweggründen auch immer, er ist schuldig in jeder Hinsicht ...“ Der Richter hob die Hand. Mittlerweile sah er sehr erschöpft aus. „Danke, Herr Staatsanwalt. Ich denke, dass ich nunmehr genug gehört habe. Haben Sie noch abschließend etwas dazu zu sagen?“ „Jawohl, Euer Ehren! Da Strife ganz offensichtlich schuldig ist, ist er angemessen zu bestrafen. Ich plädiere auf Tod, und – mal ganz unter uns, Euer Ehren – es gibt praktisch keine Indizien, die dieses Urteil noch abwenden könnten ...“ Der Richter winkte ab. „Herr Verteidiger, Ihr letzter Beitrag bitte.“ „Euer Ehren ...“ Vicious seufzte. „Es ist nicht klar festzustellen, was meinen Mandanten zu seiner Tat antrieb, aber ... aus dem geführten Prozess müsste hervorgegangen sein, dass es keinesfalls niedere Beweggründe waren und somit nicht von Mord zu sprechen ist, sondern von Tötung auf Verlangen. Ich plädiere auf eine weitere Untersuchung des Falles ...“ „Danke.“ Mit einem Nicken in Richtung des Verteidigers erhob sich der Richter, und seine zwölf Geschworenen taten es ihm gleich. Mit lauter Stimme verkündete er: „Das Hohe Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Das Urteil wird in wenigen Minuten kundgetan.“ Damit verschwanden die dreizehn Richter in ihren schwarzen Kutten aus dem Saal. Die meisten der Zuhörerblicke richteten sich auf Cloud, der mit unverändert apathischem Gesichtsausdruck auf seinem Platz saß. „Ich habe Vincent nicht ermordet“, sagte er leise, obwohl im Saal niemand würde hören können, dass er überhaupt die Stimme erhoben hatte. „Aber ich habe ihn getötet ...“ Kapitel 20: Another Handicap ---------------------------- Die Zeit floss zäh dahin. Tifa saß zwischen Barret und Nanaki auf einem Stuhl in der dritten Reihe, die gefesselten Hände auf dem Schoß vor Spannung so aneinander geklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Seit geraumer Zeit in dieser Halle bissen ihre Schneidezähne auf die Unterlippe und würden dort einen deutlichen Abdruck hinterlassen. Trotz noch so großer Bemühungen brachte es die junge Frau nicht fertig, den Blick vom leeren Richterpult abzuwenden. „Tifa“, schnurrte Nanaki leise, erhielt jedoch keine Antwort. Er stupste sie mit der Schnauze an, erst sanft, dann etwas fester, und widerstand letztlich nur schwerlich der Versuchung, ihr ins Ohr zu beißen, damit sie ihm endlich ihre Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. „Glaub’, die hört jetzt nix mehr. Sie hat solche Angst, dass Cloud umgebracht wird.“ „Die haben wir alle“, zischte Nanaki zurück. „Und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, dann wird auch genau das passieren!“ „Ja, und was soll’n wir machen? Wir sind doch alle hier eingelocht! Cid und Aeris sind da vorne, Yuffie und Reeve zwei Reihen hinter uns ...“ „Was ist mit Skylar?“ „Clouds Vater? Haste die Nummer von dem?“ „Soweit ich weiß, hat er kein Telefon.“ „Na bestens. Lass dir was Sinnvolleres einfallen, wenn du hier noch irgendwo ’ne Chance siehst.“ „Hast du denn niemanden mehr in der AVALANCHE, dem du vertrauen kannst? Wo ist denn ... Marlene?“ „Marlene.“ Barret seufzte leise. „Die musste in letzter Zeit erfahren, dass ihr Vater leider nich’ immer Zeit für sie hat. Bestimmt is’ die im Moment nich’ so gut auf mich zu sprechen, wenn du verstehst. Irgendwie befürchte ich, dass wir Cloud nich’ retten können ... die Frage is’, ob wir uns selbst retten können, oder ob wir allesamt hingerichtet werden.“ Tifas Blick zuckte, aber sie rührte sich nicht. Auch Nanaki richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf das, was sich vorn am Pult des Richters abspielte, denn soeben hatten die zwölf Geschworenen den Saal wieder betreten – ohne den Richter jedoch, der den Prozess geleitet hatte. „Nun, bitte erheben Sie sich, das Urteil wird verkündet!“, ertönte die piepsige Stimme des Hilfsrichters, der nun auf dem Platz des Chefrichters Platz genommen hatte. Alle Zuhörer standen von ihren Plätzen auf, um angespannt dem Ergebnis der Besprechung zu lauschen. Cloud erhob sich ebenfalls von der Anklagebank und schielte zu den zwölf hinüber, sich bereits fragend, was denn dem Richter selbst zugestoßen sein mochte, da er das Urteil nicht selbst verkündete. Wäre ja auch eigenartig gewesen, wenn heute irgendetwas zu meinem Vorteil verlaufen wäre, dachte er ohne viel Hoffnung. Jetzt haben sie den Richter wahrscheinlich entsorgt, da er eventuell zu dem Schluss gekommen wäre, mich doch nicht hinrichten zu lassen ... Kaum merklich zuckte er die Schultern. Was soll’s? Ich bin tot. So oder so, ich bin tot. Tifas Finger formten sich noch mehr zu Krallen, und von ihren Zähnen rann eine dünne Spur Speichel, was sie wie ein geiferndes Monster kurz vor dem Angriff aussehen ließ. Yuffie hatte sich an Reeve gelehnt, der viel zu abgelenkt war, um sein Glück überhaupt fassen zu können. Cloud konnte kein Mörder sein, nicht ihr tapferer Anführer, der den Planeten vor Sephiroth und JENOVA gerettet hatte. Folglich konnte er nicht einfach sterben. Er durfte nicht getötet werden, das war einfach absurd. Selbst wenn Cloud sich etwas hätte zuschulden kommen lassen, sein Dienst an den Planeten machte das hundertfach wett ... „Also“, fuhr der kleine Geschworene trällernd fort, „das Hohe Gericht hat seine Entscheidung getroffen. Wir haben den Ausführungen beider Parteien hier gemeinsam gelauscht und sind zu folgendem Urteil gekommen: Mister Strife hat die Tat genauso begangen, wie sie ihm vorgeworfen wird. Er hat den bereits verletzten und dadurch entsprechend wenig wehrhaften Mister Valentine an einen abseits liegenden Ort entführt und dort erschossen. Vermutlich wollte er auf diese Weise in den Besitz von Valentines Umhang gelangen, der, wie die Untersuchungen zeigten, mit Levitas-Susbtanz beschichtet ist.“ Cloud auf der Anklagebank schloss die Augen. Es war die einzige Regung, die er seit langer Zeit getan hatte. „Neid und Habgier sind niedere Beweggründe, die das Urteil rechtfertigen, das das Hohe Gericht getroffen hat.“ Der Mann richtete seinen Blick nun auf Cloud. „Mister Cloud Strife, Sie werden aufgrund des Mordes nach Paragraph siebenundsechzig, Absatz drei der Mittelland-Verordnung zum Tod durch die Gaskammer in Junon verurteilt.“ Er ergriff den richterlichen Vorschlaghammer und ließ ihn unter Aufehrbietung seiner spärlichen körperlichen Kräfte auf die am Pult angebrachte Holzplatte herabsausen. Der Klang, der das Ende der Verhandlung signalisierte, hallte laut in der riesigen Halle wider. Eine bedrückende Stille schloss sich an, die scheinbar erst eine Ewigkeit später durch einen Aufschrei unterbrochen wurde, der den Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Cloud hob alarmiert den Kopf, denn bei der Verursacherin handelte es sich um niemand anderen als Aeris, die von ihrem Platz aufgesprungen war und danach trachtete, sich in Richtung Pult nach vorn durchzuschlagen, woran sie zwei Security-Guards zu hindern suchten. Das ist es also, dachte Cloud, als die Stille weiterhin anhielt, nur hin und wieder durchbrochen von Aeris’ Versuchen, sich den Wächtern zur Wehr zu setzen. Ich frage mich, ob jetzt alle zufrieden sind ... „Himmel, ihr habt es doch gesehen!“, fauchte Nanaki aufgebracht. „Der Richter war nicht mehr da. Wo ist er so plötzlich hin? Normalerweise hätte er das Urteil selbst verkünden müssen. Wenn ihr mich fragt, dann ist das ein klarer Beweis dafür, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht!“ „Dann sag mir, was ich machen soll!“, schnappte Barret zurück. „Ich bin nich’ weniger gefesselt als du!“ Tifa jammerte leise. „Armer Cloud. Sie werden ihn in die Gaskammer stecken ... dabei sollte man wirklich meinen, die hätten seit damals ein paar humanere Tötungsmethoden einführen können! Jedenfalls ... wenn seither mal eine Hinrichtung nötig gewesen wäre ...“ „Hm.“ Nanaki überlegte, was er zu ihr sagen konnte, auch wenn es wenig aufmunternd klang. „Vielleicht ... ist das gar kein so schlimmes Ende ...“ „Ich war in der Gaskammer von Junon, wisst ihr das nicht mehr?“, fuhr Tifa auf. „Scarlet hatte ebenfalls vorgehabt, mich hinzurichten, und wollte das auch noch live im Fernsehen übertragen. Gott, das ist ein grausiges Gefühl ... ich saß da drinnen und wartete, wartete und hatte keine Hoffnung, meinem Schicksal noch zu entgehen ... und als ich das Gas ausströmen hörte, da wusste ich, dass mein Leben in Kürze beendet sein würde ... dass ich das Zeug einatmen müsste und dann langsam ....“ Sie schluckte und versuchte, die Verzweiflung niederzuringen. Mit etwas gefestigter Stimme fuhr sie fort: „Ich will nicht, dass Cloud dasselbe erfahren muss. Das dürfen sie ihm nicht antun! Wir müssen etwas unternehmen. Mich habt ihr damals auch gerettet!“ „Es war die Shin-Ra, die dich töten wollte“, erinnerte sie Barret. „Nur ’n Haufen unorganisierter Idioten ... und wenn du den Schlüssel nich’ hättest benutzen können, wer weiß, ob wir rechtzeitig da gewesen wär’n.“ Schniefend erhob sich Tifa von ihrem Platz und wischte sich mit beiden gefesselten Händen die Augen. „Ich sage nur, wir müssen ihn retten. Letztlich sind wir ihm das schuldig, irgendwo.“ Damit folgte sie den anderen Zuhörern, die bereits aus dem Saal strömten, ins Freie. Barret und Nanaki wechselten einen Blick. „Ich möchte nur wissen, was sich wirklich in jener Nacht da draußen abgespielt hat“, murmelte der Vierbeiner schließlich. Kapitel 21: Floating -------------------- Die Zelle war noch dunkler als die auf der S.S.Botterscotch. Auch in dieser hier gab es keine Fenster. Innerhalb der letzten zwei Tage hatte Cloud oftmals Gelegenheit gehabt, über das nachzudenken, was ihm im Verheißenen Land – oder Miragia, wie die Cetra es nannten – gesagt worden war. Wenn es nun so weiterging, wie die ERCOM und die Mittellandjustiz es planten, dann hatte dieser Ort keine Chance, weiterhin unentdeckt zu bleiben. Henry Fawkes hatte den geheimen Keller, den Lukretia für ihre Erfindung angelegt hatte, mit eigenen Augen gesehen, hatte die Technologie des Alten Volkes unmittelbar vor der Nase gehabt. Wenn er die Gelegenheit erst einmal hätte, dann würden er und seine ERCOMschen Spießgesellen den Schacht auseinandernehmen, das SPECULUM irgendwo in eines ihrer Institute schaffen und daran herumbasteln, bis sie dem Geheimnis auf die Spur kämen. Bis dahin würde Lukretia, oder besser gesagt ihr Geist, viele von ihnen grausam töten müssen. Es wurde einen Aufruhr geben, von einem Durchbruch würde ebenso öffentlich berichtet werden wie von einem unsichtbaren Monster ... Mit einem Mal war ihm klar, dass er sie alle enttäuscht hatte. Ifalna, Ophiem und die anderen Cetra. Er hatte getan, was er konnte, um das SPECULUM geheim zu halten, aber er war nicht schnell genug gewesen. Bevor er sich der Gefahr überhaupt bewusst geworden war, hatte sie ihn überrannt. Verdammt, ich habe versagt. Ein Klopfen an der vergitterten Metalltür holte ihn aus seinen Gedanken zurück und forderte seine Aufmerksamkeit. „Ja?“ „Ich bin’s, Cloud. Ich habe die Erlaubnis, dich zu besuchen. Machst du die Tür auf?“ Es war Tifa. Ihre Stimme klang gedämpft durch die zentimeterdicke Eisenschicht. „Ich denke, die Tür wird von außen aufgeschlossen. Oder darf ich hier etwa selbst entscheiden, ob ich rausspaziere oder nicht?“ „Natürlich wird sie von außen zugemacht, aber sie ist mir einfach zu schwer! Hilf doch mal!“ Es war unüberhörbar, dass sie mit aller Gewalt danach trachtete, die Tür zu bewegen. Langsam erhob sich Cloud von seinem ohnehin nicht sehr bequemen Lager, nahm den Türgriff und stemmte sein ganzes Gewicht dagegen. Von einem rostigen Knarren begleitet schob sich die Panzertür zur Seite auf. „So ... komm rein.“ Tifa zwängte sich durch den Spalt und blieb stehen. „Verdammt eng hier drinnen. Sobald man durch die Tür kommt, stolpert man über das Bett und knallt mit der Nase gegen die Wand ... und hier bist du seit zwei Tagen nicht rausgekommen?“ „Richtig. Setz dich doch.“ „Aufs Bett?“ „Von mir aus auch auf den Boden, aber dann besteht die Gefahr, dass ich auf dich drauftrete.“ Er sah zu, wie sie sich setzte. Es war seltsam ... in jeder anderen Situation hätte sie ihn umarmt, wäre ihm um den Hals gefallen wie immer, aber nun bestand eine Art scheue Distanz zwischen ihnen. Sie trug ihr einfaches weißes Shirt und hatte sich das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Nichts mehr war zu sehen von der schneidigen Botschafter-Vorsteherin, die sie vor kurzer Zeit noch abgegeben hatte. Nun sah sie aus, wie Cloud sie seit Jahren in Erinnerung hatte – abgesehen von ihrer rehbraunen Wildlederjacke, die sie über den Arm gelegt festhielt wie etwas, das man ihr jederzeit entreißen konnte. „Cloud, wie geht es dir?“, wollte sie wissen. „Och, ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Und du?“ „Du weißt schon, was ich meine“, setzte sie nach. „Meinst du die Tatsache, dass ich bald sterben muss? Auch an diesen Gedanken habe ich mich schon beinahe gewöhnt ... aber ich schätze, wenn es soweit ist, werde ich ziemliche Angst haben. Ich werde wahrscheinlich rumquieken wie ein Karnickel und um mich schlagen, wenn sie mich an den Stuhl fesseln wollen. Das wird mal wieder eine Show, bei der sich das Zusehen lohnt.“ Tifa verdrehte die Augen. „Bitte, verschone mich mit deinem Galgenhumor. Der ist nicht einmal besonders lustig. Glaubst du wirklich, ich und die Anderen, wir hätten dich schon aufgegeben?“ „Falls nicht, dann sag ihnen, dass sie sich um Aeris und das Baby kümmern sollen. Du natürlich auch ...“ „Hörst du mir überhaupt zu?“ Sie hob den Kopf, und er sah ihr direkt in die Augen. Große nussbraune Augen, in denen die Widerborstigkeit aufflammte, wie schon so oft, wenn sie ganz und gar nicht seiner Meinung war. „Ja“, antwortete er. „Und, was genau willst du mir sagen? Dass ihr eine Möglichkeit seht, mich vor dem sicheren Tod zu bewahren? Wollt ihr eine spektakuläre Rettungsaktion starten, mit der Tiny Bronco von oben durch die Decke krachen und dann alle –“ „Cloud!“ „Also nicht.“ „Du lässt dich wirklich so hängen?“ „Habe ich hier die Möglichkeit, etwas anderes zu tun?“ „Wo ist dein Lebenswille, Cloud? Wo ist diese Unbesiegbarkeit, mit der du es geschafft hast, die MAKO-Vergiftung zu überleben? Du willst nicht allen Ernstes hier in deiner Zelle sitzen und brav dein Ende abwarten! Das kann ich einfach nicht glauben!“ Er schwieg. Als er seine Finger vom Metallgestell des Bettes fortnahm, hinterließen sie den charakteristischen feuchten Abdruck. „Also ist es doch so.“ Er antwortete immer noch nicht. „Manchmal“, sagte sie leiser werdend, „habe ich Lust, dir eins hinter die Löffel zu geben, weißt du.“ Daraufhin fand auch er die Sprache wieder. „Warum kämpfst du dagegen an?“ Sie holte aus und schlug ihn. „Au! He, das war ziemlich fest.“ „Und angebracht. Ich trainiere mein Karate jeden Tag zwei Stunden lang. Bist du jetzt ein wenig aufgerüttelt, ja?“ Er rieb sich die getroffene Schläfe. „Ihr plant also allen Ernstes, mich hier rauszuholen.“ „Natürlich tun wir das. Wir haben noch keinen durchführbaren Plan, arbeiten aber daran.“ „Dann seid ihr nicht mehr eingesperrt?“ „Wir stehen lediglich unter Aufsicht, aber selbst die ERCOM hat im Moment wenig gegen uns in der Hand. Noch haben sie nicht genügend bestochene Zeugen, um uns zu verurteilen.“ Ihre Stimme klang düster, erhellte sich jedoch sogleich wieder. „Wie gesagt, Cloud, wir wollten nur, dass du von unserem Plan weißt und wieder Hoffnung schöpfst. Allerdings ... dass du dich bereits aufgegeben hättest, das hatte ich beim besten Willen nicht erwartet ...“ „Dachte ich mir. Aber wenn du zwei Tage lang auf diesem Bett hier gesessen hättest, dann würdest du meine Auffassung wahrscheinlich irgendwann teilen. Also, du ... bist gekommen, um mir das zu erzählen?“ „Und weil ich dich sehen wollte.“ „Ah ja. Ich habe schon gedacht, ihr lasst mich bis zum Ende allein. Wie geht es Aeris?“ „Dass du nach ihr fragen würdest, war mir klar. Sie hätte dich selbst besucht, wenn sie es ihr erlaubt hätten.“ „Man lässt sie nicht zu mir?“ „Ganz genau. Aber ich soll dir ausrichten, dass sie dich liebt und all das. Und von den Anderen nur, dass du durchhalten und dir deinen Lebensmut nicht nehmen lassen sollst ... wozu es ja schon zu spät zu sein scheint.“ „Nun ja, ich war die ganze letzte Zeit allein. Ich kam mir nicht besonders lebenslustig vor, wie man sich denken kann.“ Tifa legte ihm eine Hand auf die Schulter, eine wohl zu zaghafte Geste für eine langjährige Freundin. „Weißt du, Zangan hat mir nach drei aufeinanderfolgenden Niederlagen mal gesagt: ‚Was auch immer dir genommen wird, du hast immer noch dich selbst. Darum pass gut auf dich auf. Wenn du dich selbst verlierst, kann dir niemand mehr helfen, und es wird dein endgültiger Untergang sein.’ Also halt gefälligst die Ohren steif und lass dich von dieser ganzen geschmierten Mittellandjustiz nicht unterkriegen. Wir geben dir Bescheid, wenn wir einen guten Plan ausgearbeitet haben.“ Sie stand auf, und er hielt ihre Hand fest. „Tifa, welcher Tag ist heute?“ „Hm? Der zehnte Januar.“ „Dann ist morgen die Hinrichtung. Ich verliere hier noch jegliches Zeitgefühl.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ihr wollt bis morgen einen Plan ausarbeiten? Na, dann viel Vergnügen.“ „Wir werden es schaffen“, sagte sie fest. „Du wirst sehen.“ Sie schlüpfte wieder durch den Türspalt nach draußen. „Tifa! Sag Aeris, dass ich sie liebe, ja?“ „Das wirst du ihr schon bald selbst sagen können ... aber gut, ich richte es aus. Komm, hilf mir, die Tür wieder zuzumachen.“ Nachdem der Spalt geschlossen war, hörte Cloud, wie der Riegel vorgeschoben wurde und sich Tifas Schritte entfernten. Nun würde er eine weitere Zeitlang allein sein. Der Tag hatte nicht mehr viele Stunden, bis es Cloud wirklich an den sprichwörtlichen Kragen ging. Nahe einem steril aussehenden Korridor irgendwo im Gebäudetrakt des Mittellandjustiz-Hauptquartiers saßen Tifa, Aeris, Nanaki, Reeve und Cid völlig aufgelöst in einer Art Gemeinschaftszimmer für unter Aufsicht Stehende, fieberhaft über einem Plan brütend und mittlerweile ziemlich übermüdet. Seit anderthalb Stunden wurden Barret und Yuffie nun zum wiederholten Male über ihr Terroristendasein verhört. Es war kaum auszuhalten. Tifa, auf einem fleckigen grauen Stoffsofa mehr liegend als sitzend, rieb sich schließlich langsam die Nase. „Sagt mal, ist euch ... irgendetwas eingefallen?“ Ein einstimmiges leises Brummen war die Antwort, wie schon so oft. „Also nicht, wie ich sehe.“ „Wir können hier nicht weg“, sagte Reeve, derzeit anscheinend der einzige noch halbwegs klardenkende Mensch, der anwesend war. „Ich weiß. Das Gelände nicht verlassen, sonst werden wir, na ja, zum Abschuss freigegeben. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass es mir selber einmal so gehen würde.“ Vor dem kleinen Fenster flatterten einige Vögel vorbei, vermutlich Tauben. Keiner sah genau hin. „Ich werde definitiv nicht zulassen, dass sie Cloud umbringen“, sagte Aeris leise. „Versteht ihr, das geht einfach nicht. Ich werde das schon verhindern.“ „Wie denn?“, erkundigte sich Cid halbherzig. „Willst du deine alte Bekannte, die Omega WEAPON, aus ihrem Erdloch scheuchen?“ Aeris schüttelte kummervoll den Kopf. „Diese WEAPON existiert nicht mehr. Ich hätte sie längst um Hilfe gebeten.“ „Die konnte Cloud doch nicht leiden.“ „Sie hätte einer Anweisung von mir trotzdem Folge geleistet.“ „Oh ja. Das wär’ ein schönes Durcheinander geworden, hm?“ „Vermutlich.“ Das Flügelschlagen vor dem Fenster verstummte. Nur noch der Himmel war zu sehen, so düster, wie er mitten am Tage lange nicht gewesen war. „Ich muss euch etwas sagen“, kam es schließlich leise von Nanaki, der bäuchlings ausgestreckt auf dem fusseligen Teppich lag. „Wisst ihr, seit wir in diesem Zimmer hier sitzen, geht mir ein vertrauter Geruch nicht mehr aus der Nase ... aber es ist keiner von euch. Es ist auch nicht Barret oder Yuffie, und ich glaube, es ist auch nicht Cloud ... aber irgendetwas, das ich kenne.“ Ein jeder kommentierte diese Botschaft lediglich mit irgendeinem unidentifizierbaren Geräusch, nur Aeris hob alarmiert den Kopf. „Woher kommt denn dieser Geruch, weißt du das?“ „Weiß nicht. Soll ich mal schauen?“ „Ja, mach das! Wenn wir jetzt schon keinen Plan aushecken können, dann wenigstens Inspiration dafür sammeln. Leg los.“ „Hmm ... okay.“ Nanaki erhob sich gemächlich, reckte witternd seine feine Nase in die Höhe und sog die Luft in kurzen Stößen ein. „Aaaaah ja. Das ist ... nicht weit weg. Komm mit.“ Er ging langsam voran, leise wie eine Katze und schnüffelnd wie ein Bluthund. Aeris stand vom Sofa auf und folgte ihm zur Tür. „He, wohin wollt ihr denn jetzt?“, fragte Tifa misstrauisch. „Red riecht doch dauernd irgendwas Komisches, an jedem Ort, das kennen wir doch.“ „Nein, nein, nein“, kam es entfernt von einem hochkonzentrierten Nanaki. Seine Nase hing dicht über dem Boden. „Kommt mit, kommt mit. Ich hab’s gleich.“ Tifa, Reeve und Cid wechselten einen ratlosen Blick, dann standen sie alle auf und liefen den Beiden nach. Nanaki war sehr aufgeregt, wie an seiner zuckenden Schwanzspitze zu erkennen war. Seine Schnurrhaare zitterten, als er vor einer Tür stehen blieb – eine Metalltür wie all die anderen auf dem langen Gang. Nur an dieser hing ein kleines Schild, notdürftig mit Klebeband befestigt: PLEASE BE QUIET! NO SMOKING! „Cid, mach deine Zigarette aus“, befahl Tifa, als sie die schwere Tür aufstieß. „Wollen doch mal sehen, was wir da haben.“ Der Raum, der sich den Fünf erschloss, war groß und finster. Die Fenster waren mit Jalousien verdunkelt. Ein seltsamer Geruch schlug ihnen entgegen, warm und kalt, fremd und vertraut zugleich. Reeve betrachtete seinen Arm und bemerkte die Gänsehaut darauf. „Wow, das ist ... gruselig.“ „Genau das ist es“, murmelte Nanaki. „Gibt es hier vielleicht irgendwo Licht?“ „Bestimmt nicht. Aber wir können die Vorhänge etwas zur Seite ziehen“, schlug Tifa vor und sorgte sogleich selbst für etwas mehr Helligkeit. Daraufhin fiel der Blick aller auf Reihen von länglichen Tischen mit grauen Planen darauf, unter denen sich irgendetwas befand. Es war unverkennbar, um was es sich handelte. „Aaaaaarrghhhh!“, stieß Tifa leise hervor. „Guckt mal, das – das ...“ Cid holte tief Luft. „Tja, wenn da nebenan das Pathologie-Labor ist, dann ist das hier ...“ „... die Leichenhalle“, beendete sie flüsternd den Satz. „Ist die nicht für gewöhnlich abgeschlossen?“ „Das darfst du mich nicht fragen.“ „Sieht irgendwie nach Falle aus ...“ Ehrfürchtig ließen die Versammelten den Blick durch den Raum schweifen. Es war ein bedrückender Anblick, der ihnen das zuletzt Geschehene noch einmal vor Augen führte ... und auch das, was bald passieren würde. „Alles Tote“, murmelte Nanaki. Sein Schwanz peitschte leise über den einfarbigen Linoleumboden. „Das bedeutet also, hier irgendwo ist auch ...“ „Ja.“ „Hier drüben“, kam es leise aus einer anderen Richtung von Cid. Die anderen sahen sich nach ihm um und traten langsam näher. Der Pilot stand mit herabhängenden Schultern vor einem der Tische irgendwo in der Mitte und starrte darauf herab. Auf diesem Tisch lag Vincent. Er war der Einzige, dem man die Kunststoffdecke nicht über das Gesicht gezogen hatte, sondern nur bis knapp unter die Brust. Neben ihm auf einem Stuhl lagen seine Kleidungsstücke, einschließlich des Stirnbandes, seines zerfetzten Umhangs und der daraufgelegten Transfer-Susbtanz, ein kleiner, im spärlichen Licht grün schimmernder Stein. Alles war sauber. Nirgendwo war mehr Blut zu sehen. Sowohl Vincent als auch alles, was er bei sich gehabt hatte, waren von dem schrecklichen Ereignis gereinigt worden. „Ich wusste nicht, dass sie ihn hier aufbewahren“, sagte Tifa. „Meine Güte ... sie haben ihn hier erst mal hingelegt, wie mir scheint ...“ Es fiel ihr schwer, den Blick abzuwenden. Vincent lag flach auf dem Rücken, unter ihm sein langes schwarzes Haar, das im einfallenden Licht sanft schimmerte. Seine Augen waren nun geschlossen, und damit war alles Bedrohliche oder Furchteinflößende gänzlich von ihm gewichen. „Ich dachte immer, dass Tote aussehen, als ob sie schlafen. Aber das tut er nicht.“ „Schlafende bewegen sich“, sagte Reeve. „Guck dir nur ein betäubtes Tier an ... eine Katze oder so ... die sehen auch überhaupt nicht aus, als ob sie schlafen, oder? Oh ja, ich weiß, das passt nicht hierher.“ Aeris bückte sich leicht und berührte mit dem Finger die schwarzverfärbte Einschusswunde. Sie erschauerte bei dem Kontakt mit Vincents eiskalter Haut. „Das ... das war ein ganz und gar sauberer Schuss“, stellte sie mit zittriger Stimme fest. „Wirklich, das ... hat Cloud sehr gut gemacht ...“ „Gut gemacht?“, fuhr Cid auf. „Verdammt, ich werde immer noch nicht schlau daraus! Warum hat er das getan, warum? Wie schlimm auch immer das aussah, wir hätten ihn retten können! Wir finden immer einen Weg! Zum Teufel!“ „Ich sage euch, warum Cloud keine Wahl hatte“, antwortete Aeris zögerlich. „Ich werde es euch genau erklären, wenn ihr mir zuhören wollt.“ „Natürlich wollen wir, und jetzt raus damit!“ „Ihr wisst, dass es Lukretia war, die ihn angegriffen hat ... oder?“ „Ja, himmelnocheins, das hat Cloud ja gesagt. Erklär mir bitte, was das soll!“ Aeris trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen einen der Tische. „Lukretia hatte ein Geheimnis, und das ist diese Maschine, die ihr im Keller entdeckt habt. Sie ist auch nach dem Tode noch gezwungen, ihre Erfindung vor jedem Eindringlich zu bewachen. Sie tötet jeden, der sich ihr nähert.“ „Bemerkenswert, dass wir noch leben“, kommentierte Reeve. „Ihr hattet Glück“, fuhr die Cetra mit fester Stimme fort, „dass sich immer jemand in eurer Nähe befunden hat, der Lukretias Aufmerksamkeit ganz besonders erregt hat. Zunächst war es Cloud. Ihr müsst wissen, dass sie Cloud physisch nichts antun kann, da sie JENOVA fürchtet. Dann war es Vincent ... derjenige, der sie liebte und dessen Liebe die einzige Emotion war, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie hatte nicht vor, ihn zu töten – aber sie hatte keine Wahl, darüber nachzudenken. Schon einmal hat sie den Fehler begangen, sich von Vincent abzuwenden und sich stattdessen Hojo hinzugeben, sodass sie nun letztlich vollkommen mit Vincent vereint sein wollte und nicht bereit war, je wieder von ihm abzulassen. Sie hat ihn zu sehr geliebt. Ihre Liebe war tödlich für ihn. Aber er wusste es nicht. Für ihn war es eine einzige Qual, die er beenden wollte. Er nahm sie nicht wahr, wisst ihr, dazu waren seine Schmerzen und auch seine Angst zu groß. Wahrscheinlich hat Lukretia daraufhin nur umso mehr versucht, ihn für sich zu vereinnahmen. Und dann ... dann handelte Cloud, genau wie Lukretia, aus Liebe, um Vincent das Ende zu erleichtern. Es war das Beste, was er tun konnte, das einzig Richtige und Barmherzigste. Ihr wisst das. Ihr wisst, dass Cloud nur etwas tut, von dem er weiß, dass es moralisch richtig ist.“ Sie hob den Blick und sah noch einmal in die Runde. Cid seufzte leise. „Vielleicht hast du Recht“, sagte er leise und verstand endlich. „Es war richtig ... er wollte ihm helfen. Ich weiß. Aber Vincent ... bitte, nein. Oh Gott.“ Schluchzend presste er sich eine Hand auf die Augen, die wie immer in einem Lederhandschuh steckte, und versuchte, sich wieder zu fangen. Die anderen nahmen diesen Ausbruch betreten schweigend zur Kenntnis. Falls Cid je einen besten Freund gehabt hatte, dann war es nicht etwa Barret gewesen, obwohl er mit diesem am meisten zusammen war. Was Vincent und Cid verband und immer verbinden würde, das war mehr so eine Art Hassliebe, ein ständiges Beißen und Treten von beiden Seiten, sodass man nie sicher sein konnte, ob sie nun Busenfreunde waren oder Erzfeinde – aber wenn es darauf ankam, konnten sie erstaunlicherweise zusammenhalten wie Pech und Schwefel. Es war nicht offensichtlich, aber Cid und Vincent waren sehr gute Freunde gewesen. Vielleicht noch bessere als Cloud und Zack ... „Aeris, ich möchte noch eins wissen“, setzte Nanaki schließlich leise an. Sie sah auf. „Ja?“ „Woher weißt du das alles?“ Aeris lächelte ihr nichtssagendes, aber dennoch überaus beglückendes Lächeln. „Ich bin eine halbe Cetra, weißt du. Vielleicht hat es mir ein kleiner Vogel gesagt.“ Die Zweideutigkeit in diesem Ausspruch entging bedauerlicherweise allen Zuhörern. „Na schön“, murmelte der Vierbeiner und gab sich zufrieden. „Was glaubt ihr werden sie jetzt mit Vincent machen?“, fragte Reeve. Tifa neben ihm hob den Kopf. „Tja. Sie finden nicht heraus, was ihn so furchtbar zugerichtet hat, bevor Cloud ... ihn tötete. Und weil sie das nicht wissen, werden sie wahrscheinlich, um kein Risiko einzugehen, den Leichnam verbrennen ... ja.“ „Oh je. Dann ist das vielleicht das letzte Mal, dass wir ihn ... im ganzen Stück zu sehen bekommen ...“ „Wahrscheinlich schon. Meine Güte, ich wette, Yuffie würde jetzt erst mal die Decke hochheben und nachsehen, was von ihm übrig ist.“ Sie schauderte. „Ich will es ehrlich gesagt nicht wissen.“ „Ich ja auch nicht.“ Plötzlich hallten auf dem Flur vor der Türe Schritte wieder. „Sagt mal ... dürfen wir überhaupt hier sein?“, wisperte Nanaki verunsichert. „Weiß nicht. Du hast uns mit deiner Nase hierher geführt.“ „Dann lasst uns jetzt schnell wieder verschwinden. Vielleicht sind Barret und Yuffie schon zurück ... aber halt, Moment, wir müssen die Transfer-Substanz mitnehmen ... und am besten auch den Umhang!“ „Dann werden wir doch bloß wieder eingesperrt wegen Diebstahls“, stöhnte Tifa augenrollend. „Nicht, wenn wir ein hervorragendes Versteck finden ... oder die Substanz vorher schon benutzen. Gibt es denn niemanden in der Mittellandjustiz, der eine Zaubersubstanz verwenden kann? Ob ja oder nein, weswegen liegt das Ding einfach hier mitten im Zimmer? Kam denn niemand auf den Gedanken, wir oder andere Gefangene würden sie aufsammeln?“ Tifas Schweigen machte deutlich, dass sie darauf keine Antwort wusste. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Was soll’s. Nimm sie, und wir hauen ab – sobald wir Yuffie und Barret treffen. Wem wir diesen kleinen Fingerzeig zu verdanken haben, werden wir sicherlich noch früh genug herausfinden. Jetzt heißt es, die Gelegenheit beim Schopf packen.“ „Das ist die einzige Möglichkeit, Cloud vor dem sicheren Tod zu bewahren!“, fügte Aeris aufgeregt hinzu. „Na denn.“ Reeve nahm die Substanz und ließ sie in einer seiner weiten Jackentaschen verschwinden, den Umhang gab er Tifa, die ihn bestmöglich zusammenfaltete und in ihren Hosenbund steckte. Noch während sie gemeinsam den Korridor hinuntereilten, schloss Aeris zu Cid auf und fragte: „Was passiert jetzt? Wir müssen uns auf jeden Fall ein neues PHS beschaffen, da man unseres, Im Gegensatz zu Vincents Sachen, irgendwo eingeschlossen hat ... und sonst – machen wir uns die Highwind mobil?“ „Nur die?“, schnaubte Cid, bereits wieder eine Zigarette im Mundwinkel. „Wieso nicht die ganze AVALANCHE?“ Aeris blinzelte. „Das ... ist auch gut.“ Kapitel 22: Just A Distraction ------------------------------ Ob der Himmel dunkel oder hell, ob es Tag oder Nacht war konnte Cloud in seiner Zelle nicht herausfinden. Er konnte nicht schlafen, kam nicht zur Ruhe. Seine Gedanken schreckten ihn ständig wieder auf. Die Zeit wurde immer knapper, und er glaubte fast, die Sandkörner unaufhörlich durch die Verjüngung des Stundenglases rinnen zu hören. Zunächst hatte er gedacht, er könnte diesen Gedanken leicht ertragen, aber nun musste er feststellen, dass er das nicht konnte. Er hatte Angst. Und er wollte nicht sterben. Ich will leben. Ich habe etwas zu erledigen. Warum musste das alles überhaupt passieren ...? Irgendwann hörte er das leises Quietschen des äußeren Türriegels. Etwas in ihm krampfte sich zusammen; er war sich sicher, dass sie nun gekommen waren, um ihn in die Gaskammer zu bringen, zu fesseln und allein verrecken zu lassen ... ... aber es war nur Aeris, die ihren Kopf durch den Türspalt steckte, den sie unter Aufehrbietung aller Anstrengung geschaffen hatte. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft geräuschvoll aus. Einmal noch. Ich wusste, sie würde noch einmal zu mir kommen. „Diese Tür ist ja furchtbar“, keuchte Aeris und zwängte sich mühsam vorbei. Ihr mittlerweile deutlich hervortretender Bauch machte ihr dies zu einem äußerst schwierigen Unterfangen. Cloud sprang von seinem Lager auf und schob die schwere Tür zur Seite. „Aeris! Na endlich ... ich war mir sicher, dass du kommen würdest!“ „Eigentlich wollten die mich nicht zu dir lassen, Cloud. Aber ich bin deine Lebensgefährtin, und du hast ein Recht darauf, mich noch einmal zu sehen.“ Sie betrachtete nachdenklich seine Gesichtszüge, verhärtet wie Stein – genau wie früher. Endlich trat sie zu ihm hin, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an seine Brust. Sie hörte sein tiefes Seufzen, eher er sich dazu hinreißen ließ, sie ebenfalls fest an sich zu drücken. Er ist so anders, dachte die Cetra verwirrt. Er fühlt sich kalt an. Sie haben ihn so lange eingesperrt, dass er alles an sich verloren zu haben scheint, das ihn immer zu dem gemacht hat, was er ist. Er riecht nicht einmal wie sonst. Eher nach gar nichts. Er muss hier weg. Wir müssen uns beeilen ... Es kam ihm vor, als würde Aeris sich unter seiner Umarmung versteifen wie ein Pfahl. „Stimmt etwas nicht? Freust du dich nicht, mich noch ein letztes Mal zu sehen? Oder ist es vielleicht nicht das letzte Mal – haben die hier wieder eine Live-Übertragung vor?“ Sie machte sich ruckartig von ihm los. „Lass diesen Zynismus. Ich hasse das.“ „Entschuldige.“ Er fragte sich, was aus dem großen Plan, von dem Tifa gesprochen hatte, geworden war. Nichts, wie es schien ... „Warte mal, ich hab’ noch was für dich.“ Sie holte unter dem Saum ihrer weiten Umstandskleidung ein kleines Bündel Küchentuch hervor. „Und was ist das?“ „Honigkuchen.“ „Ach herrje. Das wird die Leichenwäscher aber nicht sehr freuen.“ Aeris warf ihm einen scharfen Blick zu. „Kein dummer Galgenhumor! Was du hier redest, findest du selbst nicht witzig, das weiß ich.“ „Oh, doch ... es gefällt mir fast, wie sich in dieser Einsamkeit meine Kreativität entfaltet.“ „So ein Quatsch. Hier, jetzt iss lieber. Da hast du ebenfalls ein Recht drauf.“ „Auf Kuchen vor der Hinrichtung?“, fragte er und hob erstaunt die Augenbrauen. „Nein. Auf eine ... Henkersmahlzeit. Und außerdem auf einen letzten Wunsch.“ „Tatsächlich? Ich darf also noch etwas tun, wozu ich mein ganzes Leben lang keine Gelegenheit hatte? Cool! Da werd’ ich doch noch mal richtig auf den Käse hauen.“ „Du bist unmöglich!“, fuhr sie ihn an. „Ja, hat Tifa auch gesagt ... tut mir Leid.“ „Sie hat das auch gesagt?“ „Ja. Und dann hat sie mich geschlagen.“ „Möchtest du, dass ich dich auch schlage?“ „Ehrlich gesagt ... nein. Komm lieber her und setz dich zu mir aufs Bett. Genießen wir unserer letzte gemeinsame Zeit.“ Sie nahm bereitwillig neben ihm auf der Bettkante Platz, während er kleine Krümel von seinem Kuchenstück abbrach, sie einzeln in den Mund steckte und langsam kaute. „Wie geht es dir und dem Kind? Ich hätte mich sofort danach erkundigen sollen.“ „Schon in Ordnung. Es verläuft soweit alles zur Zufriedenheit ... der hier zuständige Arzt hat darauf bestanden, mich noch einmal zu untersuchen.“ „Hat er dir gesagt, was es wird?“ „Ich habe ihm gesagt, dass wir uns – .. dass ich mich überraschen lassen will.“ „Verstehe.“ „Tja.“ Sie ließ den Blick langsam durch den winzigen Raum schweifen. Cloud war mit dem Kuchen fertig und rieb sich am Küchentuch den klebrigen Sirup von den Fingern. „Dann wird wohl alles gut gehen. Ich wette, alle werden sich rührend um das Kind kümmern.“ „Hmm, denke ich auch.“ „Der Kuchen ist hervorragend.“ „Danke.“ Einige Minuten lang saßen beide schweigend auf dem Bett, Aeris lehnte den Kopf an Clouds Schulter und starrte vor sich hin. Dann wandte Cloud ihr das Gesicht zu und fragte: „Aeris, wieso hast du mir eigentlich so vieles verschwiegen?“ Sie schlug erschrocken die Augen auf. „Hm – wa-was genau meinst du?“ „Du weißt genau, was ich meine.“ Sie schwieg und gab keine Antwort, starrte ihn aber weiterhin verblüfft an. Cloud beschloss, ihr auf die Sprünge zu helfen. „Die Cetra, Aeris! Deine Artgenossen! Diese weißen Tauben, die du seit Jahren morgens mit Sesam fütterst! Jeder dachte, sie wären eine neue eingeschleppte Spezies, die sich dem Mittellandklima angepasst hat ... aber du wusstest es die ganze Zeit besser.“ „Ich – ja.“ Ihre Stimme klang ein wenig dünn. „Weißt du, ich wollte dir davon erzählen. Aber ich wollte dein Weltbild nicht durcheinander–“ „Mein Weltbild!?“, echote er. „Ich meine, du warst doch schon immer von all dem, was vorgefallen ist, so mitgenommen – verstehst du? Für dich hatte sich endlich alles normalisiert. Keine JENOVA, kein Sephiroth, keine WEAPONs und keine Cetra. Als sie zurückkehrten, wollte ich dafür sorgen, dass du dich mit nichts mehr von alldem auseinandersetzen musst.“ Sie sah ihm aufrichtig in die Augen. Seine Miene blieb finster, und schließlich schüttelte er den Kopf. „Nein, Aeris. Das glaube ich dir nicht. Du hattest irgendeinen anderen Grund.“ „Das wirst du schon noch sehen“, sagte sie. „Früh genug.“ „Ich will es jetzt wissen! Nachher bin ich tot, verdammt noch mal!“ „Du wirst es trotzdem sehen.“ „Ach, und welche Gewissheit sagt dir das?“ Stolz reckte sie das Kinn vor. „Cloud, ich gebe dich nicht auf, genauso wenig wie irgendjemand Anderes. Und jetzt werde ich gehen.“ Die letzten Worte, die sie noch an ihn richtete, bevor sie durch den Türspalt schlüpfte, waren wieder sanft. „Hab keine Angst, ja? Ich glaube nicht, dass es weh tut.“ Als die schwere Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, stieß er ein leises Schnauben aus und wandte sich wieder der grauen Wand zu, die ihm schon tagelang in der Einsamkeit Gesellschaft geleistet hatte. Nahe dem Einzelzellentrakt warteten Barret, Yuffie und Reeve auf Aeris’ Eintreffen. „Und, wie geht’s ihm?“, wollte Barret als erstes wissen. Aeris zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, wie ich das beurteilen soll. Laufen die Vorbereitungen nach Plan?“ „Alles postiert. Niemand scheint mitzukriegen, dass wir uns hin und wieder in Luft auflösen. Die Mittellandjustiz fahndet bereits nach den Dieben der Gegenstände aus der Leichenhalle. Bisher scheinense keine zweckdienlichen Hinweise entdeckt zu haben, hehe.“ „Seid vorsichtig“, warnte sie ihn, „Routine macht unvorsichtig. Wir dürfen uns niemals, niemals darauf verlassen, dass sie uns nicht erwischen. Wo ist eigentlich ... die Gaskammer?“ „Den Weg kennen wir bereits bestens“, meldete sich Yuffie zu Wort. Sie sah mittlerweile fast so furchtbar überstrapaziert aus wie Cloud, mit blassem Gesicht und wirren Haaren. „Und was sie für ein Gas benutzen, wissen wir auch. Das ist Schwefeldioxid, wird irgendwo in einem Schacht direkt unter der Kammer angerührt und steigt dann als kaum sichtbarer Nebel nach oben ... es ist sehr giftig und reagiert bei der Einatmung zu Schwefelsäure ... H2SO4?“ „Wie lobenswert, dass du in Chemie so gut aufgepasst hast.“ Yuffie verdrehte die Augen. „Wie auch immer, jedenfalls wird Cloud sich mindestens eine Viertelstunde quälen, obwohl schon ein einziger Zug genügt, um ihn unausweichlich ins Jenseits zu befördern – Rettung oder nicht.“ Barret machte ein entsetztes Gesicht. „He, he! Das heißt also, selbst wenn wir ihn noch raushol’n können ... sobald er ’n bisschen davon eingeatmet hat, krepiert er auf jeden Fall?!“ „Ja, so ist es.“ Sie nickte müde und holte tief Atem. „Weißt du, wie das aussieht? Habt ihr schon mal so eine Hinrichtung erlebt?“, gab sie die Frage an alle Anwesenden weiter. Aeris schüttelte den Kopf. „Aber du ... oder?“ „Sonst wüsste ich wohl kaum so gut Bescheid. Wisst ihr, sie binden ihn ja fest, sie fesseln seine Hände und Füße mit Lederbändern – nicht etwa, damit er nicht abhaut, sondern damit er sich nicht selbst verletzt.“ „Ah ja“, kommentierte Reeve tonlos. „Die Chemikalie stört alle vegetativen Systeme. Früher, als die Gefangenen bei ihrer Hinrichtung noch frei in der Gaskammer herumstanden, haben sie sich meistens die Köpfe eingeschlagen, bis sich ihr Gehirn auf dem Boden verteilte ... nachdem sie begonnen hatten, unkontrollierte Bewegungen auszuführen, und ihnen Schaum aus dem Mund lief –“ „Yuffie, weißte was?“, stöhnte Barret. „Halt die Klappe! Das is’ ja nich’ zum Aushalten!“ „Da stellen sich einem die Nackenhaare auf“, murmelte Reeve. Ihm kam der unpassende Gedanke, dass er wohl für schauerliche Hautreaktionen besonders anfällig war. Aeris richtete ihren Blick zur Decke. „Auf dem Dach ...?“ „Niemand wird die Tiny Bronco sehen, dank Dios Tarnplane“, erklärte Barret nicht ohne Stolz. „Das bedeutet, wir müssen eigentlich nur den richtigen Moment abpassen.“ „Ja, ganz genau.“ „Gut.“ Sie seufzte leise und blickte zurück zu den Zellen. „Na schön, dann lasst uns mal alle auf Gefechtsstation gehen.“ Durch ein energisches, Autorität vermittelndes Klopfen wurde Cloud wiederholt aus seinen tiefgründigen Gedankengängen aufgeschreckt. Seine Decke lag unordentlich auf seinem ziemlich unkomfortablen Lager, aber er rechnete auch nicht damit, sie je wieder zu benutzen. Einen Augenblick lang rührte er sich nicht, dann realisierte er, wer neben ihn getreten war, und fühlte, wie das Blut aus seinen Wangen wich. „Ich muss Sie bitten, mir zu folgen, Mister Strife.“ Eine Hand wurde ihm entgegengestreckt. Cloud entschied sie zu nehmen, und sofort schloss sich kaltes Metall um seine beiden Handgelenke. Er zitterte. Er konnte es nicht verhindern, so direkt mit seinem einsamen nahen Ende konfrontiert. Ein kalter Schauer überlief ihn, während er den beiden Gefängniswärtern den dunklen leeren Gang hinunter folgte. Tifa, neben Nanaki und Cid auf dem Flachdach des Justizpalastes sitzend, warf einen unruhigen Blick auf die Uhr. „Es ist Zeit“, sagte sie schließlich. Cid neben ihr hielt das PHS ans Gesicht. „Okay soweit? Habt ihr die Kammer im Blick?“ Er wartete. „Ja, natürlich ... und achtet mir verdammt noch mal darauf, dass das verfluchte Gas noch nicht ausgeströmt ist, bis wir da sind! Sobald ihr was sehen könnt, fangt an, ist das klar?“ Nanaki stupste ihn mit der Pfote an. „Sprichst du mit Yuffie, Cid?“ „Moment ... ja, tue ich. Sie hat sich unten nahe des Sichtfensters irgendwo verkrümelt. Kann sich im Falle, dass sie entdeckt wird, noch am schnellsten aus dem Staub machen, nicht wahr?“ Ein zynisches Lächeln umspielte sein ansonsten sehr grimmiges wettergegerbtes Gesicht. Aufgrund des Arrests hatte er seit einigen Tagen keine Gelegenheit gehabt, sich zu rasieren. „Sie wird ein Signal an alle Anderen senden, sobald Cloud in die Gaskammer gesteckt wird.“ „Gut zu wissen.“ Tifa fröstelte, als ein scharfer Winterwind den Dachfirst streifte. Auch Cid schien sich direkt hinter seinem dicken grauen Schal verkriechen zu wollen. „Verdammt kalt“, kommentierte er. „Wir müssen Cloud retten“, murmelte Tifa, als ob sich nicht längst jeder darüber im Klaren wäre. „Wenn uns jetzt ein Fehler passiert, verlieren wir ihn. Und ein Sieg an die Ungerechtigkeit, den Betrug und all diese widerlichen Machtintriganten würde das nur noch schlimmer machen.“ Mit einem Mal wurde Cloud klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Er kannte den Hangar von Junon, und folglich wusste er auch noch ganz genau, wo sich die Gaskammer befand – nämlich in einer völlig anderen Richtung. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, wohin er wirklich gebracht wurde. Es war definitiv immer noch der Sitz der Mittellandjustiz, aber diese Reihen von reinweißen beschrifteten Türen auf makellos sauberem Kachelboden waren ihm gänzlich unbekannt. Ihm kam der Gedanke, die beiden Wärter danach zu fragen, aber er besann sich eines Besseren. Aufzumerken, das war das Schlechteste, was er in seiner ohnehin misslichen Lage tun konnte. Die beiden jungen Männer, die ihn führten, blieben vor einer Tür stehen, die so weiß und unschuldig anmutete wie all die anderen auf diesem trostlosen Gang. Auf ihr stand in serifelosen Buchstaben PRIVATE. Der kleinere von Clouds Begleitern klopfte vorsichtig an. Die Tür öffnete sich überraschend schnell, sodass die Wärter beinahe beide ins Innere des Raumes stolperten. „Gut, danke. Ihr könnt gehen“, sagte eine beunruhigende, seltsam vertraute Stimme von innerhalb, während Cloud unsanft hineingestoßen wurde. Nun war er sich ganz sicher, dass etwas nicht so lief, wie es hätte laufen sollen. Entweder fand die Hinrichtung nun mit Verzögerung statt – oder sie fand überhaupt nicht statt. Yuffie duckte sich hinter die Tür des Aufzugs. Von hier aus hatte sie einen wunderbaren Überblick über alles, was sich innerhalb der Gaskammer ereignete. Sie war aufgeregt, was verständlich war, da sie jederzeit Gefahr lief, entdeckt zu werden, oder aber da sie es vielleicht nicht schaffen würde, die Nachricht rechtzeitig durchzugeben. Wenn Cloud letztendlich doch würde sterben müssen, dann käme sie nicht umhin, sich selbst die Schuld daran zu geben. Warum hatte sie sich für diese Aufgabe überhaupt freiwillig gemeldet? Sie hatte sich vorgenommen, sofort hinter ihrer Ecke hervorzuspringen, wenn Cloud in ihr Sichtfeld geriete, und ihm ein unmissverständliches Zeichen zu machen, dass er den Atem so lange wie möglich anhalten sollte. Anschließend musste sie rasch verschwinden, aber deswegen war ja auch sie diejenige, die mit der Transfer-Substanz ausgestattet worden war. In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie wahrscheinlich auch der Substanz wegen eingewilligt hatte, sich an diesem Ort zu postieren und Ausschau zu halten ... ihre alte Gier konnte sie also selbst seit Jahren noch nicht kontrollieren, wie sie sich kopfschüttelnd eingestehen musste. Ihr Blick wanderte zu ihrer Armbanduhr. Es war Zeit. Längst. Nicht einmal diese Behörden waren also pünktlich zur Stelle. Zum Kuckuck! Sie wurde immer nervöser. Ihre Finger, an die kalte Wand gedrückt, zitterten verräterisch. Sie würde auf allem, was sie berührte, schweißfeuchte Abdrücke hinterlassen ... Eine weitere Minute verging. Nein, die Zeit war überschritten. Niemand war zu sehen. Dabei hätte sich doch irgendjemand für die Vorbereitungen einfinden müssen. Yuffie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und kniff die Augen zusammen – vielleicht übersah sie etwas. Wenn die Hinrichtung nun ganz woanders stattfand? Nicht auszudenken! Diese schauerlichen Gedanken wurden gottlob unterbrochen, als sich ihr PHS meldete – nicht mit einem Klingeln, wie anzunehmen war, sondern mit einem Vibrationsalarm. Sie holte es hervor und zischte: „Ja – was ist denn los? Wie? Hier ist nichts! Nein, wirklich nicht ... Leute, helft mir, hier stimmt irgendwas nicht! ..... Nein, wie oft denn nun noch! Ich sagte doch schon: Cloud ist nicht in der Gaskammer! Hier ist keine Sau, absolut niemand!“ Sie schluckte, als sie Cids Schweigen hörte bzw. nicht hörte. Irgendwas ist hier schief gelaufen. Cloud, dessen Hände immer noch mit Handschellen gefesselt waren, ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen. Es war ganz klar ein Büro. Auf dem Pult lagen Papier und alle Arten von Schreibutensilien. Ein unbestückter Kleiderständer befand sich rechts von Cloud, und zu seiner linken, direkt unter dem Fenster, ein Topf mit einem kümmerlich aussehenden Ficus benjamina Pandora. Was Cloud am meisten beunruhigte, war jedoch nicht die Innenausstattung, sondern die Person unmittelbar vor ihm, mit verschränkten Armen und einem mehr oder weniger triumphierenden Gesichtsausdruck. Was auch immer er in einem Büro der Mittellandjustiz zu suchen hatte, es handelte sich um den Leiter der ERCOM. „Ich bin froh, Sie so lebendig zu sehen, Mister Strife. Wie Sie sich vielleicht schon denken können, wird Ihre Hinrichtung leider ins Wasser fallen.“ „Oh – wirklich?“, antwortete Cloud, da ihm nichts Besseres einfiel. Ihn beschäftigte momentan viel mehr die Frage, wie er sich von seinen Handfesseln befreien konnte. „Sie scheinen darüber nicht besonders erfreut zu sein. Sie sollten wenigstens in die Luft springen und ‚Juchu!’ rufen.“ Endlich hob Cloud den Kopf. „Was haben Sie vor, Fawkes? Was ist mit den Anderen, meinen hochgefährlichen Terroristenkollegen?“ „Ihnen gilt also eher Ihre Sorge, nicht wahr? Nun, sie sind alle wohlauf. Sie haben überraschenderweise in der Leichenhalle eine Transfer-Substanz entdeckt.“ „Was ... die von Vincent ...?“ Cloud blinzelte verständnislos. „Ja, natürlich, eben diese. Inzwischen haben sie auch einen passablen Plan ausgearbeitet, um Sie zu retten, Strife. Sogar ein kleines Flugzeug befindet sich auf dem Dach des Justizpalastes. Welch Aufwand! Und nun sind Sie gar nicht da, um gerettet zu werden.“ „Sie haben meinen Freunden eine Falle gestellt“, stellte Cloud mit wachsender Resignation fest. „Ja. Naiverweise sind sie der Reihe nach hineingetappt. Aber Mister Strife, seien Sie versichert, dass niemand Ihren Freunden etwas antun wird. Die will ich ja auch gar nicht. Ich will Sie.“ „Mich? Weswegen?“ „Sie waren in der Maschine, die sich im Geheimkeller unter der Shin-Ra-Villa befindet.“ Cloud lief es kalt den Rücken hinunter. „Sie sind dorthin zurück gegangen, oder, Fawkes?“ „Mitnichten. Ich habe meine Leute zur Untersuchung hinuntergeschickt. Aber bemerkenswerter Weise kam keiner von ihnen wieder zurück. Ich weiß, dass Sie zurückgekommen sind, Strife, und ich will wissen, warum.“ „Ihre Leute sind tot“, gab Cloud schonungslos zur Antwort. „Jeder, den Sie da runterschicken, wird sterben. Auf dieselbe Art wie mein Freund.“ „Ja.“ Henry Fawkes nickte wissend. „Aber nicht Sie.“ „Sie werden von mir nichts erfahren, das ist Ihnen sicherlich klar.“ „Wirklich? Ich glaube, dass ich das wohl ändern kann.“ „Sie haben versprochen, meinen Freunden nichts anzutun.“ „Wer sprach von Ihren Freunden? Die wissen nicht, wo Sie sind, und werden es auch nie herausfinden, dafür werde ich sorgen. Ihre Freunde können gehen, wohin sie wollen. Mit der Substanz sind ihnen da keine Grenzen gesetzt, nicht wahr? Ich möchte nur dafür sorgen, dass dieses unsichtbare Flugzeug vom Dach verschwindet, ehe uns die Asbestfaserplatten bei der nächsten Verhandlung auf den Kopf fallen.“ Henry Fawkes setzte sich langsam in Bewegung und umrundete Cloud einige Male. Letzterer blieb stehen, sich wohl dessen bewusst, dass er mit gefesselten Händen ohnehin nicht würde kämpfen können. „Komisch, dass an Ihnen irgendetwas dran ist, das dieses Monster im Geheimkeller hindert, Sie zu töten“, kommentierte Fawkes mit hochgezogenen Augenbrauen. „Was das ist, werden wir ja wohl hoffentlich noch herausfinden.“ „Verdammt ... was suchen Sie eigentlich, Fawkes? Warum wollen Sie wissen, was das für eine Maschine ist?“ „Ich suche den Spiegel des Alten Volkes“, antwortete er. „Und meine Quellen sind sich darüber einig, dass es in diesem Keller einen Hinweis darauf gibt.“ Also wusste doch jemand über den Keller Bescheid, dachte Cloud unruhig. Aber angenommen, es war nicht Lukretia, da sie ja das Projekt geheim halten wollte ... wer war es dann? Und was zum Donner ist ... der Spiegel des Alten Volkes ...? Er kam nicht dazu, nach einer Antwort zu suchen, denn im selben Momentversetzte ihm Henry Fawkes mit dem Ellbogen einen derben Stoß in die Seiten. Cloud drehte sich zwar um, aber seine gefesselten Handgelenke erwiesen sich als keine große Hilfe. Der Schlag war so präzise gewesen, dass es ihm beinahe schwarz vor Augen wurde. Während sein Orientierungssinn sich nicht einschalten wollte, war es ihm unmöglich, aufrecht stehen zu bleiben. Als er gegen etwas glattes Kaltes stieß, dachte er zuerst, es sei die Wand, stellte dann aber fest, dass es sich um den Boden handelte. Ein leises, aber scharfes Knacken war zu hören. Henry Fawkes schien es nicht bemerkt zu haben, aber Cloud spürte, dass es irgendwo aus ihm selbst gekommen war, denn gleichzeitig setzte eine nicht eben mäßige Atemnot ein. „Argh“, sagte er. „Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Mister Strife. Wir werden unser Gespräch fortsetzen, aber leider habe ich vorher noch etwas Wichtigeres zu erledigen.“ Henry Fawkes trat aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Seine gedämpften Schritte wurden in der Ferne leiser. Cloud blieb benommen halb auf der Seite liegen. Sein Atem kam in schweren, kurzen Stößen, und er war sich sicher, den Ficus doppelt zu sehen. Er musste sich irgendwie hinsetzen, sich irgendwo anlehnen. Noch immer war der Schmerz auf der linken Seite des Brustkorbs schier unerträglich. Er unternahm einen Versuch, den Oberkörper aufzurichten, aber da seine Handgelenke aneinandergekettet waren, konnte er sie nicht zum Abstützen gebrauchen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als liegen zu bleiben und abzuwarten, wobei er immer stärker nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Es fühlte sich an, als wolle seine Lunge ihr Volumen auf ein Viertel oder weniger verkleinern. Wahrscheinlich war das nicht besonders gut. Auf einmal hörte er ein Geräusch direkt über sich und drehte mühsam das Gesicht zur Decke. Da war etwas Weißes, vielleicht ein aufgewehtes Blatt Papier – aber bei näherer Betrachtung erwies es sich als etwas Anderes. Unmittelbar neben seinem seitlich hingestreckten Körper landete ein kleiner schlanker Vogel, eine Taube von der Weiße eines Algendra-Taschentuches, und machte einige Schritte auf sein Gesicht zu. Der Splitter des Spiegels. Er hat gesagt, solange ich den trage, findet er mich überall ... Cloud stöhnte leise und bemühte sich, seine Augen scharf zu stellen. „Sephiroth“, presste er hervor und wollte eigentlich noch hinzufügen ‚Warum kommst du erst jetzt? Wo warst du? Wo sind die Anderen? Hilf mir!’, aber nur noch ein leises Ächzen entrang sich seiner Brust. Sephiroth gab ein sachtes gurrendes Geräusch von sich, dann breitete er seine weißen Flügel aus und flatterte auf. „Nicht! ... Bleib – hier!“, stieß Cloud hervor, aber es klang nur wie ein Röcheln. Die weiße Taube flog durch das geöffnete Fenster über dem Schreibtisch nach draußen und hielt nach links. Offenbar kannte Sephiroth den Weg bereits. Kapitel 23: A Great Moment -------------------------- „Irgend etwas stimmt hier ganz und gar nicht“, schnaubte Cid, der neben Yuffie und Tifa vor der Glasscheibe der Gaskammer stand. Ratlos starrte er darauf und kaute hin und wieder auf seiner Zigarette, als wolle er sie durchbeißen. „Lasst uns lieber zurück zu Aeris gehen.“ Yuffie packte Tifas rehbraunen Wildlederärmel. „Wer weiß, was die sonst anstellt – man bedenke: Cloud könnte längst tot sein!“ „Glaubst du, dass mich das weniger ängstigt als Aeris?“, gab Tifa aufgescheucht zurück. „Außerdem könnten wir ebenfalls bald tot sein ... Hmpf, du hast Recht, hier ist bei bestem Willen nichts zu holen. Cid, lass uns von hier verschwinden!“ „Wie ihr meint. Zu den Anderen in den Zellentrakt?“ „Na, wohin denn sonst?!“ „Okay, schon gut.“ Er aktivierte die Transfer-Substanz. Hinter der Ecke neben dem Aufzug – jener Ort, den Yuffie als Versteck genutzt hatte – stand Henry Fawkes und beobachtete interessiert, wie sich die Drei vor seinen Augen in Luft auflösten. Die Substanz, natürlich, sie hatten den Köder geschnappt. Das Gespräch, das er belauscht hatte, war nicht besonders aufschlussreich gewesen, aber immer noch besser als gar nichts. Vielleicht hätte er so geistesgegenwärtig sein und an Valentines Umhang einen Peilsender anbringen sollen ... oder besser noch, ein Abhörgerät ... aber nein, das hätten sie bestimmt entdeckt. Vorsicht war angebracht, und so war es besser. Er konnte sich nicht beklagen. Er hatte Strife und nun würde er sich voller Vergnügen dessen Lebensgefährtin als Köder krallen; diese merkwürdige Frau mit den hellen Augen, die aufgrund ihrer Vorliebe für schlichte und ordentliche Kleidung wie ein Schulmädchen aussehen würde, wäre sie nicht schwanger. Wenn er sie hatte, würde er Strife zu allem bewegen können. Bald war auch dieses Hindernis überwunden ... Aeris war nicht bei Reeve, Nanaki und den Anderen. Wer nach ihr gefragt wurde, zuckte ahnungslos die Schultern. „Du willst mir nicht erzählen, dass sie hinter eurem Rücken verschwunden ist, oder?“, fuhr Tifa Barret an. Sie war sonst nie so aufbrausend, aber mittlerweile waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. „Ich sach’ doch, niemand hier hat geseh’n, wie sie weggegangen is’.“ „Sie kann sich ja wohl schlecht in Luft aufgelöst haben! Und die Transfer-Substanz hatten wir bei uns, also, Yuffie hatte sie. Ach, wie auch immer. Aeris ist weg und wir haben ein Problem.“ Nanaki erhob sanft seine Stimme: „Vielleicht hat sie mehr gesehen als wir. Sie ist eine Cetra, ihre Sinne sind scharf.“ „Nicht schärfer als deine, Red. Dir wäre doch nichts entgangen“, antwortete Tifa wenig überzeugt. „Vielleicht doch. Ich meinte etwas Anderes. Nicht Augen, Ohren oder Nase.“ „Telepathie?“ „Was weiß ich ... noch heute fällt es mir schwer, das Alte Volk genau einzuschätzen.“ Er fuhr sich mit seiner langen rosa Zunge über die Lefzen. „Also, ich meine, möglicherweise hat sie ja längst eine Spur.“ „Hm. Gut. Gehen wir mal davon aus. Wieso hat sie dann nichts gesagt, und wo ist sie?“ Nanaki machte ein Denkergesicht und wollte scheinbar gerade zu überlegen anfangen, als eine eigenartige Erschütterung das Gebäude durchzuckte. Jeder hielt sich an der Wand oder an einem Nebenstehenden fest, um das Gleichgewicht zu halten, und Putz bröckelte von der Decke. Das sich nähernde Krachen klang wie Donnergrollen. „Der Gang stürzt gleich über uns ein!!“, quiekte Yuffie und wollte schon das Weite suchen, aber Barret packte fest ihr Handgelenk. „Jetzt bewahrt mal Ruhe! Das Ding hier is’ doch stabil, das wird uns nicht sofort auf den Kopf fallen! Aber wir sollten natürlich trotzdem weg von hier ... Wer hat die Substanz?“ „Moment mal!“, rief Cid aus. „Seid mal still und horcht!“ „Cid, zum Donner, wir werden gleich begraben, und außer diesem Getöse hier hört man ’nen Scheiß –“ „Still!“ Er hob die Hand, wobei weitere größere und kleinere Brocken von oben herabregneten. Tifa lauschte und machte ein entsetztes Gesicht. „Aber das – das ist doch – !“ „Aeris?“, wimmerte Yuffie. „Oh Gott, was macht sie da ...?“ „Ich kann nichts verstehen, das Echo ist zu laut ... aber sie scheint wütend zu sein ...“ „Wir können nicht ohne sie von hier weggehen“, erinnerte Nanaki. „Das würde sie auch nicht tun.“ Tifa holte tief Luft. „Na gut, dann rennen wir eben. Immer dahin, wo ihr ihre Stimme hört. Und passt auf, dass ihr nicht verschüttet werdet! Los!“ Cloud spürte das Beben nur als leichte Vibration. Er lag immer noch in dem befremdlichen Büro auf der Seite, unfähig, sich großartig zu bewegen, und sein verzweifeltes nach Luft Ringen wurde mittlerweile gelegentlich von Hustenstößen unterbrochen. Warum immer ich?, dachte er, sich mühsam bei Bewusstsein haltend. Erst diese ganze Geschichte im Keller, und jetzt macht mich auch noch ein einziger Tritt in die Rippen fertig. Ich bin wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen ... Kommissar Taggert und seine Männer flohen hechelnd durch den Justizpalast-Trakt in Richtung des AVALANCHE-Traktes, denn diesen konnten sie auf ihrer Flucht nicht vermeiden, wollten sie nicht in eine Sackgasse laufen. Bemerkenswert war vor allem der Grund ihrer Panik: eine Frau. Taggert glaubte, dass es dieselbe war, die er nachträglich im Mittellandjustiz-HQ festgenommen hatte ... die Frau von diesem Strife, das war sie doch? Er hatte weder genug Zeit noch Nerven, um einen längeren Blick über die Schulter zu riskieren. Folglich war er sich nicht sicher. Erschreckenderweise blieb diese Frau ihm und seinen beiden Oberoffizieren dicht auf den Fersen, obwohl sie ihre Schritte in Zeitlupe auszuführen schien. So schnell er auch rannte, er konnte ihr nicht entkommen. Sie blieb hinter ihm. Und wohin auch immer sie ging, hinter ihr stürzte der Gang mit ohrenbetäubendem Lärm in sich zusammen – fiel ein, implodierte, sackte nieder, als ob ein kleines Kind auf eine Sandburg trat, die es zuvor gebaut hatte. Es war schrecklich. Desaster, Chaos. Niemand konnte vor ihr fliehen, sie folgte ihnen allen und hinterließ nur eine Schneise der Verwüstung. Als sei sie eine psychokinetisch veranlagte Telepathin, die vor Zorn ihrer Macht freien Lauf ließ. Immer wieder schrie sie kaum verständlich Dinge wie „Was habt ihr mit ihm gemacht?“ oder „Wo ist er?“, die Taggert und seinen Leuten laut widerhallend hinterhergaloppierten, bis sie von herabfallenden Asbestfaserplatten erdrückt wurden oder in der übermenschlichen Geräuschkulisse untergingen. Der Kommissar wollte nur, dass dieser Horror ein Ende fand, dass er aufwachte und alles war nur ein Traum. Ja, dachte er außer Atem, das ist nicht mehr als ein Alptraum ... und er dauert sicher nicht mehr allzu lange ... Yuffie kreischte auf, als sie das Szenario erblickte. Erschüttert umschlang sie Reeves Arm, der – welch Zufall! – direkt neben ihr stand. „Oh mein Gott“, kam es unförmig über Tifas Lippen. „Seht euch das an ... ist das wirklich Aeris?“ Cid ließ fast seine Zigarrete fallen, als er einem herabstürzenden Dachstück auswich. „Verdammt, sie wird diese Leute töten, und uns genauso! Sie verhält sie wie ein Monster!“ „Sie sucht nach Cloud“, fügte Nanaki mit zuckender Schwanzspitze hinzu. „Kommt schnell, nicht dass wir noch erwischt werden!“ „Die rennen allesamt in Richtung AVALANCHE-Hauptquartier“, stöhnte Barret. „Das wird ’n herrlicher Anblick sein, alles in seine Einzelteile zerlegt ...“ „Nicht zu fassen“, brummte Cid. „Unglaublich.“ Er konnte den Blick nicht von Aeris losreißen. Direkt vor ihr flohen Kommissar Taggert von der Mittellandjustiz und zwei der Wärter den Hauptgang hinunter, schienen sich jedoch so gut wie gar nicht von der Stelle zu bewegen. Aeris schritt hinter ihnen her, langsam, scheinbar ohne den Boden zu berühren, schwebend ... ihre Augen, weiß glühend wie Sterne, starr und ohne jedes Blinzeln auf ihre Opfer gerichtet, hell aus dem Rest ihres ausdruckslosen Gesichts hervorstechend. Ihr langes dunkelblondes Haar wehte hinter ihr her. Sie ging festen Schrittes ohne jegliches Zögern, wie eine Tötungsmaschine. Hinter ihr stürzte ebenso langsam und zielsicher der ganze Trakt ein und begrub alles unter sich. Aber wollte sie wirklich töten? „Wo ist Cloud?“, schallte ihre Stimme donnernd und hundertmal von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen bis zu ihren Kameraden hinüber, die sie nicht zu bemerken schien. Sie wandte kein einziges Mal den Blick ab. Sie konnte nichts Anderes sehen als das, was sie da jagte. Nanaki duckte sich zur Rechten in den Seitengang, als Kommissar Taggert an ihm vorbeistürmte ... oder auch nicht stürmte. Der Mann, der hinter ihm lief – es könnte Clouds Aufpasser sein – stolperte unnachvollziehbarer Weise über seine eigenen gehetzten Füße und fiel der Länge nach hin. Ehe die unsichtbare Macht es so weit zuließ, dass er sich wieder bewegen konnte, hatte Aeris ihn ohne jegliche Beschleunigung ihres Schrittes eingeholt und richtete plötzlich die gestreckte Handfläche geradeaus auf ihn. Verzweifelt kroch der arme Mann vorwärts, von Schrecken und Entsetzen geschüttelt, und trachtete danach, sich wieder auf die Beine zu ziehen. Er war langsam. „Aeris, niiiiiiiiicht!!“, brüllte Yuffie, die ihre Hände trichterförmig vor den Mund hielt. Nanaki stimmte ein sirenenartiges Geheul an, das fast vom Lärm ringsumher verschluckt wurde. Als habe sie nichts gehört, machte die Cetra keine Anstalten zu reagieren. Noch immer zeigte ihr Gesicht keine Emotion, was sie befremdlich, gar furchteinflößend aussehen ließ. Ihre Freunde zweifelten mittlerweile daran, dass es sich wirklich um Aeris handelte ... Da erschien jedoch in dem Gang, der noch vor ihr und den Verfolgten lag, etwas Helles, Kleines; ein flatterndes Ding, das scheinbar furchtlos auf sie zuhielt. Es war eine schneeweiße Taube. Von herabrieselndem Staub und Lärm unbeeinflusst näherte sich der kleine Vogel, flog über den Köpfen von Taggert und seinem gestürzten Kollegen hinweg. Aeris hielt inne. Ihre mit der Fläche nach vorn gerichtete Hand verlor an Spannung und richtete sich empfangend dem Tier entgegen, während das Gesicht der Cetra einen mehr und mehr verklärten Ausdruck annahm und ihre Augen zu leuchten aufhörten. Die Taube ließ sich sacht auf Aeris’ Hand nieder. Und damit war der Alptraum vorbei. Schlagartig hörten die Erschütterungen auf, nichts brach mehr zusammen oder fiel von der Decke. Der Lärm endete von einer Sekunde auf die nächste. Inmitten von Trümmern stand Aeris, wie immer, ohne jegliche unnatürlich Aura, betrachtete den Vogel auf ihrer Hand und fuhr ihm mit der Fingerspitze liebkosend über den Kopf. Sie sah beinahe verträumt aus. Niemand rührte sich oder sagte ein Wort. Nicht einmal der zu Boden gefallene Wärter nutzte die Zeit, sich zu erheben. Angespannt wartete man, ob bei der nächsten Regung alles wieder aufs Neue beginnen würde. Schließlich ließ Nanaki mit einem Schnauben Luft aus seinen Lungen entweichen und bewegte die zitternden Glieder, ehe er auf seine Freundin zuging. „Du – Aeris?“ „Red?“ „Ähm ... bist du in Ordnung?“ „Es geht mir gut.“ Sie sah sich um. „Tut mir Leid, dass das passiert ist. Aber diese Leute hatten es nicht besser verdient! Sie sollten mir nur sagen, wo Cloud ist, aber das haben sie ja nicht getan!“, rief sie ärgerlich aus. „Irgendeiner musste denen doch mal zeigen, wo es langgeht!“ „Ich verstehe.“ Der Vierbeiner schluckte. „Nun, wir waren alle etwas erschrocken ... niemand wusste, dass du so etwas kannst ...“ „Ich bin eine Cetra“, antwortete sie, als könne man damit alles erklären. „Ich habe die Kräfte des Planeten. Das wisst ihr doch.“ Nanaki wandte sich den Anderen zu. „Kommt her ... aber fallt nicht über die Steinplattenteile. Ich glaube, sie hört jetzt erst mal damit auf ...“ „Natürlich höre ich jetzt damit auf!“, erwiderte sie, wobei sie fortfuhr, den Vogel zu streicheln. „Jetzt habe ich schließlich auch Aussicht darauf, Cloud zu finden.“ „Du liebe Güte“, kommentierte Cid, während er sich näherte. „Mädchen, hast du eine Kraft ... Hieltest du das wirklich für nötig? Ja? Und was ist das da eigentlich für ein Viech auf deiner Hand ...? Habe ich irgendwo schon mal gesehen.“ Aeris hielt ihm und den Anderen die Hand mit der Taube darauf entgegen und sagte: „Ich darf ihn euch ein zweites Mal vorstellen: Das ist Sephiroth.“ „Äh ... ah ja. Wieso hast du den Vogel ausgerechnet so genannt?“ Cid klang ehrlich verwirrt. „Nein, das ist er, den ihr alle kennt!“ Reeve blinzelte. „Willst du uns vielleicht veralbern?“ Tifa legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass mal gut sein ... sie ist bestimmt noch ein bisschen mitgenommen von der ganzen Sache.“ Aeris zuckte die Schultern. „Ich wusste, ihr würdet mir nicht glauben. Aber bisher konnte ich euch alles, was mit Cloud und Lukretia passiert ist, verklickern, wieso glaubt ihr mir dann nicht auch, dass dieser Vogel hier die Manifestation von Sephiroths Seele ist? Und die anderen Tauben, die ihr manchmal seht, das sind die Cetra. Sie sind zwar alle am Virus gestorben, aber anstatt ihre Seelen wieder in Lebensstrom zu verwandeln, hält der Planet sie in gewisser Form am Leben. Er hat ihnen für ihre Dienste einen ganz speziellen Lebensraum geschaffen.“ Sie nickte. „Ich weiß jetzt alles. Ich weiß über das SPECULUM Bescheid und über das, was es tun kann. Sie haben mir das alles gesagt.“ Mit wackligen Knien packte Kommissar Taggert seinen Komplizen und fasste den zweiten beim Arm. „Wir sprechen uns noch“, murmelte er, scheinbar in Ermangelung einer besseren Eingebung, was zu sagen angebracht war, dann eilten die Drei leicht taumelnd in den noch stehenden Gang zurück. Aeris’ Freunde scharten sich um sie und warteten auf weitere Erklärungen, aber bevor sie diese vernehmen konnten, stieß die Taube einen hellen Fiepton aus und schlug aufgeregt mit den Flügeln. „Oh, ich habe dir gar nicht zugehört!“, rief Aeris fast reumütig. „Entschuldigung ... sag mir, was du willst.“ Sie beobachtete die ausdrucksstarken Gebaren des Tieres, die sich über eine Palette von Kopfnicken bis Quieken und Gurren erstreckte. Wenn es sich also tatsächlich um Sephiroth handelte, was die Anderen noch stark bezweifelten, dann schien er nicht sonderlich viele Möglichkeiten der tierischen Artikulation zu kennen. „Cloud!“, rief Aeris, die ihn offensichtlich verstanden hatte, und machte einen Sprung auf der Stelle, was der Vogel mit einem aufgebrachten Flattern quittierte. „Du hast ihn gefunden! Schnell, sag uns, wo er ist! Oder besser, zeig uns den Weg!“ Die Taube flog auf und sauste wie ein Pfeil den Gang hinunter. „Na dann, hinterher!“, rief Yuffie, die sich neben Aeris als Erste anschickte, ihm zu folgen. Die Übrigen wechselten einige Blicke und eilten ihnen dann nach. Kapitel 24: Taking Measures --------------------------- Das merkwürdige Beben hatte aufgehört, aber Cloud hatte nicht den Eindruck, dass ihm das Erleichterung verschaffte. Fast schon hatte er das Gefühl, dass nur noch sehr wenig Atem überhaupt seine Lungen erreichte. Wären doch nur seine Hände nicht gefesselt ... Ein leiser Flügelschlag trieb einen Luftzug an sein Ohr, aber hatte keine Kraft mehr, den Kopf zu bewegen. Wieder musste er husten, und diesmal rann ihm Flüssigkeit aus dem Mundwinkel. Wo die herkam, wusste er nicht genau, und er wollte hinsichtlich dessen auch keine weiteren Spekulationen anstellen. Dann jedoch wurde die erneut eingetretene Stille von sich nähernden Schritten unterbrochen. Auch das noch ... jetzt kam Fawkes mit seinen Lakaien zurück, um ihn abzutransportieren ... womöglich hatte er sich schon eine neue Erpressungsmethode einfallen lassen ... oder er wollte ihm einen weiteren Tritt versetzen ... „Cloud! Oh Himmel, was haben sie mit dir gemacht?!“ Ein Glück. Das war nicht Fawkes. Cloud gab ein schwaches Geräusch von sich, da er einer Antwort nicht fähig war. Jetzt erst konnte er sehen, dass neben seinen aneinandergefesselten Händen Sephiroth saß und mit seinem feinen silbernen Schnabel erfolglos nach den Ketten hackte. Tifa legte ihre Hände um Clouds Schultern und drehte ihn zu sich hin. „Cloud! Jetzt sag doch irgendwas!“ Er versuchte es, aber dadurch wurde das Atemholen nur noch schwerer. Er hustete und spuckte Blut aus, wobei seine getroffene Seite erneut schmerzte. „Tifa! Nicht auf den Rücken drehen! Wir müssen ihm die Handschellen abnehmen!“ Cid schob Tifa sanft von Cloud weg, förderte irgendwo aus den Tiefen seiner Taschen eine Stahlschere zutage – die er bei sich trug, wie es sich für einen Ingenieur gehörte – und zwickte damit unter einigen Mühen die Ketten durch. „So. Und jetzt erst mal hoch mit ihm. Den Rücken an die Wand.“ Cloud konnte sich ohnehin nicht bewegen, aber er merkte, wie er gepackt und mehr oder weniger aufrecht positioniert wurde, und konnte durch den Spalt seiner Augenlider gerade noch erkennen, dass sich seine Freunde um ihn herum versammelt hatten und ihn besorgt anstarrten. „Cloud!“, kam es erneut fast anklagend von Tifa. „Wie bringst du dich nur immer in solche Lagen?!“ „Tifa, jetzt lass ihn doch mal in Ruhe. Er kann ja schon gar nicht mehr sprechen.“ „Da ist überall Blut!“, erklang entsetzt Yuffies Stimme. „Das bedeutet ... das unsichtbare Monster hat ihn!!“ „Erstens ist das Lukretia“, korrigierte Aeris von irgendwo anders, „und zweitens kann sie Cloud nicht verletzten, wie ich euch schon erzählt habe. Aber ich bin heilfroh, dass wir ihn gefunden haben. Was er eigentlich hat, möchte ich wissen ...“ „Ich zeig’ euch, was er hat“, knurrte Cid. „Guckt her.“ Vorsichtig zog er Clouds ärmelloses Shirt ein Stück weit hoch. „Da, seht ihr? Gewalteinwirkung eines stumpfen Gegenstandes oder so. Diese komische Ausbuchtung ist vermutlich ... hm ... eine Rippe, die bei dem Aufschlag gebrochen wurde und sich verschoben hat. Ja ... das erklärt auch den Blutauswurf und die Atemnot, schätze ich.“ Er tätschelte Cloud sanft die Wange. „Kumpel, kannst du mich noch hören?“ „Hmmmmmm“, antwortete Cloud kaum hörbar und bewegte die Augenlider ein wenig. „Er trübt uns schon weg, das ist nicht gut. Wenn sich die Rippe tatsächlich in die Lunge bohrt, dann könnte er innerhalb kurzer Zeit an seinem eigenen Blut ersticken. Oder? Ist doch so, nicht?“ Er wandte sich den Anderen zu. Barret zuckte die Schulter. „Was weiß ich! Nehmen wir die verdammte Substanz und bringen ihn zum Flugzeug!“ „Ausgezeichnete Idee.“ Mehrere Arme, vermutlich von unterschiedlichen Personen, legten sich um Cloud, und dann erfolgte ein Ort-zu-Ort-Transport durch die Transfer-Substanz. Einige Zeit später, von der Cloud selbst nicht sonderlich viel mitbekam, wurde er wieder hochgehoben und auf etwas Weiches gelegt. Kurz darauf kamen Motorgeräusche hinzu, das Gefühl des Abhebens und die leichten Bewegungen der Maschine. Der Fahrtwind nahm zu. „Wohin fliegen wir?“, stöhnte Yuffie, die sich wieder einmal auf einen Kampf gegen Flugkrankheit einstellte. „Mideel.“ Dem Klang von Cids Aussprache nach zu urteilen hatte er seine Zigarette nun wieder zwischen den Zähnen, wo sie hingehörte. Irgendwann später öffnete Cloud aufs Neue die Augen und nahm seine Umwelt etwas deutlicher wahr als zuvor. Er lag rückwärts an Aeris’ Bauch gelehnt, was das Atmen erheblich erleichterte. Alle zwängten sich aneinander innerhalb des schmalen Kleinflugzeuges, und ein überaus eisiger Wind war aufgekommen. „Ist dir kalt?“, wollte Aeris von ihm wissen. „Mir ... nein“, murmelte Cloud. Als er mit der Zunge über seine Mundwinkel fuhr, schmeckte er immer noch trockenes Blut. „Oh Mann, war das eine Aktion ... ich dachte mal wieder, meine Zeit wäre abgelaufen ...“ Aeris schlang beide Arme um seine Schultern, wohl darauf achtend, dass sie ihn nicht beim Atmen behinderte. „Sag mal, bekommst du jetzt wieder besser Luft?“ „Ja ... danke. Wohin ... wohin fliegen wir gleich ...?“ „Nach Mideel.“ „Wieso das denn bitte ...?“ „Dreimal darfst du raten!“ Diese Antwort war vermutlich von einem vielsagenden Augenrollen begleitet gewesen. Cloud lehnte sich wieder zurück und beschloss, den Rest des Fluges zu verschlafen, was ihm aber nicht wirklich gelang, denn schon begann die verletzte Körperstelle wieder ziemlich zu schmerzen – ganz so, als hätte sie ihn für eine Weile in Frieden gelassen, nur um jetzt wieder an ihr Dasein zu erinnern. Niemand sprach ein Wort. Die nächsten zehn Minuten verliefen beinahe geräuschlos. Dann reichte Cid mit den Worten „Pass auf, dass er keine Wärme verliert“ seinen dicken grauen Wollschal nach hinten weiter, und Aeris nahm ihn und legte ihn vorsichtig um Cloud. Letzterer reckte die Nase ein Stück weiter in die Höhe, denn der Schal roch penetrant nach kaltem Zigarettenrauch. Dann, irgendwann, setzte die Tiny Bronco zum Sinkflug an. Ihr Bug senkte sich fast steil nach unten, um dann wieder eine entsprechende Position einzunehmen und sanft wie ein Wattebausch auf dem Boden aufzusetzen. „Gut gemacht, Cid“, kommentierte Barret. „Wir sind ja fast genau vor der Tür gelandet, hehe.“ „Dann mal los jetzt. Reeve und ich steigen aus, ihr gebt uns Cloud. Aber vorsichtig!“ Dieser Aufforderung wurde auch sofort Folge geleistet. Nach einiger etwas unsanfter Handhabung hielten Barret, Cid und Reeve Cloud gemeinsam fest und trugen ihn über die Wiese, die direkt vor Mideels Toren endete. Was Mideel betraf, so konnte man sagen, dass es sich innerhalb der acht Jahre gut entwickelt hatte. Aus der Lebensstrom-Ruine war eine gut bewohnte und vielbesuchte Touristenstadt geworden, denn an vielerlei Orten konnte man den Lebensstrom noch durch den Boden schimmern sehen. Es waren viele Häuser gebaut worden, sogar Wolkenkratzer, und Mideel hatte sich über seine Grenzen hinaus bis auf die karge umliegende Landschaft ausgeweitet. Obwohl ziemlich abgeschnitten von den beiden großen Kontinenten, war die Stadt doch ein häufiges Anlaufziel für Reisende. Reeve runzelte die Stirn. „Ich war ewig nicht hier. Ich weiß nicht mal mehr, wo die Klinik überhaupt ist.“ „Das ist auch völlig wurscht“, brummte Cid, „weil ich nämlich direkt am Südtor gelandet bin, und falls das Krankenhaus nicht um mindestens zwanzig Kilometer verschoben wurde, dann steht es immer noch gleich irgendwo da vorne ... zwischen den beiden Bürogebäuden hinter dem Park.“ Er deutete mit einer behandschuhten Hand in die Richtung, mit der anderen hielt er weiterhin Clouds Schulter. „Und wenn sie dort nicht mehr ist, dann lassen wir uns den neuen Standort nennen und benutzen die Substanz. Schließlich haben wir nicht ewig Zeit. Irgendjemand muss sich um Cloud kümmern.“ „Da hast du wohl Recht.“ Cloud reckte wiederholt die Nase in Richtung Himmel. Nicht nur wegen Cids Schal, der nunmehr wie eine Würgeschlange um seinen Hals lag. „Cloud, alles okay?“, erkundigte Reeve sich mit besorgtem Unterton, der fremdartig in seiner Stimme wirkte. „Du japst so nach Atem.“ „Ach ja ... und warum wohl? Das Getragenwerden ist verdammt unbequem.“ Über seinem Gesichtsfeld schwankte der weiß-blau schattierte Himmel wie ein Dreimaster inmitten eines Orkans. „Können wir nicht ... irgendwo anhalten ...?“ „Beruhige dich, wir sind gleich da!“ „Argh, das will ich hoffen ...“ Zu dritt schleppten Cid, Barret und Reeve ihren Verwundeten quer durch das Parkgelände, über künstlich angelegte Wiesenhügel und sandbestreute Wege. Tifa, Aeris und Yuffie machten große Schritte, um ihnen zu folgen, und Nanaki galoppierte in raumgreifenden Sätzen hinterdrein. Es war früher Nachmittag, und kaum ein Mensch war zu sehen. Nach einigen Metern lief ihnen eine ältere Dame mit einem kleinen Hund an der Leine über den Weg, aber als sie das merkwürdige Grüppchen erspähte, zeigte sich auf ihrem Gesicht eine überaus verkniffene Miene und sie entschied sich scheinbar dafür, einen anderen Weg einzuschlagen. Barret schnaubte, unter Clouds Gewicht allmählich erschöpfend. „Keine Sau hilft einem hier! Sehen die denn alle nich’, dass Cloud verletzt is’?“ „Was heißt hier alle?“, kam prompt Reeves Gegenfrage. „Die Oma und der Hund? Ich bitte dich!“ Cloud gab ein befremdliches Geräusch von sich, das wie ein Gurgeln klang, und versuchte zu husten. „Ist es wirklich eine gute Idee, ihn in der Rückenlage zu tragen?“, fragte Tifa zweifelnd. „Mach ’nen besseren Vorschlag, wennde einen hast!“ „Hab’ keinen.“ „Siehste!“ Barret änderte seinen Griff und hielt Cloud mit dem anderen Arm, um den zweiten zu entlasten. „Also früher war’s definitiv nicht so weit ...“ „Die Grenfen find verfetzt worden“, schnaufte Cid, auf seine Zigarette beißend. „Weift du doch.“ Aus Clouds Mundwinkeln stürzte ein kleiner Bach dunklen Blutes, während er sich verschluckte. „Ich ... will nicht mehr ...“, murmelte er, nachdem er die Flüssigkeit ausgespuckt hatte. „Immer passiert mir irgendwas ... ich kann’s nicht mehr haben ... gnhhhh ...“ „Erzähl keinen Firlefanz, das ist nur ’ne gebrochene Rippe“, wandte Yuffie sogleich ein. „Und außerdem steht das Gebäude jetzt fast vor unserer Nase. Einmal Kehrt links, und wir rennen gegen die Tür.“ Tatsächlich endete der betonierte Aufgang vor der Glastür des Mideel-Hospitals, welches dasselbe war wie in alten Zeiten. Aus der Eingangshalle schlug den Ankömmlingen warme Luft entgegen. Es roch nach Metall und Desinfektionsmitteln. „Is’ ja ganz leer hier“, kommentierte Barret und schaute sich um. „Falls wir also ’ne Nummer ziehen müssen, is’ die Chance groß, dass wir bald drankommen ...“ Die Gefährten lauschten schweigend, bereits überlegend, ob man sich vielleicht irgendwo anmelden sollte – da erklangen auch schon Schritte auf dem sauberen gefliesten Boden. „Oh, entschuldigen Sie bitte, Sie hätten die Glocke neben der Rezeption läuten sollen. Ich war nur eben wohin ... tut mir Leid.“ Es war eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters in weißem Kittel, die sich schnellen Schrittes vom Treppenhaus her näherte und sogleich einen prüfenden Blick auf Cloud warf, der quer über einer Reihe von Stühlen lag. „Na, wen haben wir denn da?“ „Wir vermuten, dass er sich irgendwas gebrochen hat oder so“, setzte Tifa an, bevor ihr einfiel, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, was genau passiert war. Die Schwester blieb zwischen ihr und Cloud stehen und schaute etwas irritiert von einem zum anderen. „Augenblick mal ... kenne ich Sie nicht ...?“ „Ähm ... doch“, antwortete Tifa vorsichtig. Die Schwester kam ihr verdächtig bekannt vor. „Mein Name ist Tifa Lockheart, und das hier ist ... Cloud Strife.“ Auf dem Gesicht der Schwester zeigte sich der Ausdruck des Erkennens. „Aaaahhh, richtig ... das ist ja schon Jahre her ... der Junge mit der MAKO-Vergiftung?“ „Hmm, ja ...“ „Du liebe Zeit! Na, das konnte ich wohl kaum vergessen ... so einen Fall hatten wir schließlich noch nie, dass jemand so etwas überlebt ... wie auch immer“, setzte sie schnell hinzu, „wir bringen ihn sofort in die Notaufnahme. Warten Sie hier einen kurzen Augenblick, ja? Legen Sie ihn am besten auf den Bauch, damit er sich nicht an seinem Blut verschluckt.“ Sie machte Kehrt und eilte in einen Nebenraum. Barret trat neben Tifa und fasste sie am Arm. „Sach ma, ihr kennt euch?“ „Natürlich ... erinnerst du dich nicht mehr, als Cloud die MAKO-Vergiftung hatte und wir ihn überall gesucht haben? Er war hier vom Lebensstrom angespült worden. Diese Schwester hat ihn betreut. Ich kann mich gerade nicht mehr an ihren Namen erinnern.“ „Ich glaube, sie hieß Schwester Isabel“, nuschelte Cloud nur schwer verständlich in das karierte Sitzpolster. „Bin mir nicht sicher.“ „Cloud.“ Aeris kniete sich neben ihn und streichelte ihm den Nacken. „Tut es immer noch weh?“ „Ziemlich. Ist es eigentlich so, dass man irgendwann dagegen abstumpft?“ Ehe auf diese unsinnige Frage eine Antwort erfunden werden konnte, kam Schwester Isabel zurück und schob eine der allseits bekannten fahrbaren Liegen vor sich her. Ihr folgte der Oberarzt, mit freundlichem, leicht zerstreut wirkendem Ausdruck, und musterte interessiert die Umstehenden. „Herr Doktor, es ist der Junge mit der MAKO-Vergiftung – erinnern Sie sich?“, fragte ihn die Schwester aufgeregt. „Hm.“ Der Arzt antwortete nicht sofort auf die Frage, schlich nur mit fachmännischem Blick um Cloud herum. „Fällt mir gerade nicht ein, was Sie meinen, Schwester, aber ich glaube, dazu ist jetzt auch keine Zeit.“ Er nickte Barret und den Anderen zu, dann packte er sanft Clouds Schulter und zog ihn ein Stück weit hoch. Auf dem Stuhlpolster hatte sich bereits ein großer dunkelroter Fleck gebildet, wo Clouds Gesicht gelegen hatte. „Hallo, können Sie mich hören?“ „Mäßig.“ „Ich bin Doktor Liouville –“ „Ich weiß, ich kenne Sie. Machen Sie mir meine Rippe gerade und gut is’.“ „Wie Sie meinen ... Schwester? Auf drei heben wir ihn an und legen ihn auf die Trage, alles klar?“ „Jawohl, Herr Doktor“, antwortete Schwester Isabel gehorsam und packte Cloud an der anderen Seite seines Körpers. „Eins – zwei – drei.“ „Lustige Typen“, murmelte Cid, während er den Beiden zusah. „Ist heute Ruhetag oder leiten zwei Leute diese Klinik immer noch allein?“ „Wir sind die Notfallbereitschaft“, erklärte Schwester Isabel, während sie eine weiße Decke über Cloud legte, die so aussah als würde einem darunter eher kalt werden als warm, „und wir tun jetzt unseren Job. Erst mal schauen, was genau da nicht stimmt, also auf zum Blitz-Röntgen.“ „Blitz-Röntgen?“, echote Yuffie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Jetzt wird es ja sehr interessant“, bemerkte Tifa. „Blitz-Röntgen ist ulkig, ich mochte das schon als Kind.“ „Was soll denn das sein?“ Yuffie blickte fragend drein. „In Wutai früher, also, wenn man sich da was gebrochen hatte oder zumindest der Verdacht bestand, dann wurde man in eine Kiste gesteckt, in einen kalten und leeren Raum gesperrt und durfte sich die nächste Viertelstunde lang nicht rühren, bis das Bild fertig war ...“ „Ihr seid eben ein Entwicklungsland.“ „Das stimmt überhaupt nicht!“ Barret hob drohend die Hand. „Ruhe im Karton! Man tobt in ’nem Krankenhaus nich’ rum, ihr seid erwachsene Leute! Setzen wir uns lieber irgendwo hin und warten, bis die mit Cloud fertig sind.“ „Wir sind fertig“, antwortete Schwester Isabel aus dem Nebenraum. „Und wir haben das Ergebnis, kommen Sie rein.“ „Oha, das ging ja flott.“ „Es heißt nicht umsonst Blitz-Röntgen, ahaha. Kleiner Scherz. Kommen Sie bitte.“ Nacheinander traten Barret, Tifa, Nanaki, Cid und Yuffie in den kleinen Raum; Reeve, wie meistens der Letzte, passte nicht mehr mit hinein und blieb auf dem Flur stehen, wobei er versuchte, den ein oder anderen Blick über die Schultern der Anderen zu erhaschen. Barret runzelte die Stirn angesichts des seltsam aussehenden Röntgenbilds. „Das soll ’ne Rippe sein? Das da?“ „Sie ist nicht nur gebrochen, sondern auch gesplittert“, erklärte Doktor Liouville. „Hat sich zum Teil in den linken Lungenflügel gebohrt. Wir können froh sein, dass Ihr Freund noch lebt. Wir werden die Rippe jetzt sofort richten, dann wird das alles ganz schnell wieder gut.“ Cloud, der halb seitlich auf der Liege lag, schluckte mühsam. „Muss ich dabei zugucken?“ „Sie doch nicht. Sie bekommen eine Vollnarkose.“ „Ah, gut.“ „Na dann ... Schwester Isabel, packen wir’s an!“ Er ließ die Fingerknöchel knacken, was die Anderen eher erschrocken zur Kenntnis nahmen. „Was für eine Narkose schlagen Sie denn vor?“ Die Schwester betrachtete einige fein säuberlich aufgereihte Fläschchen im aufgeklappten Wandschrank und hielt kurz darauf eines hoch: „Ketamin, Herr Doktor, per Injektion.“ „Von mir aus. Aber bevor wir anfangen, hier alles aufzubauen, geben Sie unserem Patienten drei Einheiten Valium, damit er nicht so nervös wird.“ Cloud hob den Kopf, soweit möglich. „Ich will kein Valium“, murmelte er. Er kannte das schon aus früheren AVALANCHE-Missionen; wer Valium bekam, war die nächste Zeit weg vom Fenster. „Ob Sie wollen oder nicht, steht bei einer Notoperation nicht zur Debatte, Mister Strife“, sagte Schwester Isabel streng, aber stolz darauf, sich seinen Namen gemerkt zu haben. „Und was Sie Anderen hier betrifft, meine Damen und Herren, ich muss Sie nach draußen bitten. Es sei denn, Sie wollen uns während der OP über die Schulter schauen und ...“ „Danke, geht schon!“, sagte Yuffie laut und verschwand bereitwillig als Erste durch die Flügeltür. Barret, Cid und Nanaki folgten ihr eher widerstrebend. „Wie lange wird es ungefähr dauern?“, fragte Tifa. „Nur, damit wir uns so ungefähr darauf einstellen können ...“ „Ach, nicht lange. Viertelstunde. Aber die Narkose wird noch mindestens eine Stunde nachwirken, vielleicht kennen Sie das ja.“ „Oh, ja ... durchaus ... nun, wir werden dann später wieder zurückkommen.“ „Tun Sie das“, antwortete Schwester Isabel und schloss die Tür des Operationssaals vor Tifas Nase. Tifa blieb auf dem leeren Flur zurück, ging aber nicht sofort den Anderen hinterher. „So, und was machen wir jetzt?“, wandte sich Cid an die Anderen, als sie wieder draußen vor der Eingangstür in der winterlichen Frische standen. „Wir könnten ja ein bisschen durch die Stadt laufen“, schlug Yuffie vor. „Mal gucken, was sich so getan hat.“ Barret, der beide Hände, auch die Maschinengewehrmündung, tief in den Taschen seiner weiten dunkelgrünen Jacke vergraben hatte, bedachte sie mit einem wenig zustimmungsvollen Stirnrunzeln. „Yuffie, denk immer dran, dass wir hier nich’ sicher sind! Wir sind im Moment nirgendwo sicher! Komisch, dass mich das an die Lage vor sieben oder acht Jahren erinnert ...“ „Soll das heißen, wir verkrümeln uns? Kneifen den Schwanz ein? Verstecken uns vor der ERCOM, der Mittellandjustiz und all diesen Gaunern? Ja?“ Sie bleckte empört die Zähne, wie es für gewöhnlich Tifas Art und Weise war, ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. „Nö, wir doch nicht“, antwortete an Barrets Stelle Cid mit beißendem Sarkasmus. „Wir, eine kleine Gruppe unbedeutender Leute, wird sich ja wohl noch gegen die ERCOM, die Mittellandjustiz und vielleicht auch noch gegen die ganze Regierung behaupten können! Dürfte nich’ so schwer sein! Schließlich sind wir ja ganze acht Mann stark, nich’ wahr?“ Er schnaubte. „Mal ehrlich, Yuffie, unterbreite uns doch bitte einen konkreten Vorschlag, was du dir unter ’nem Gegenschlag gegen diese Übermacht vorstellst! Na?“ Yuffie kreuzte die Arme hinter dem Rücken und hob die Augenbrauen. „Nun, schließlich ... seid ihr doch bei der AVALANCHE ... und das ist eine Friedenseinheit!“ „Die AVALANCHE is’ nich’ mehr, was sie mal war“, murmelte Barret. „Wir können uns nie im Leben gegen ’ne Organisation wie die Mittellandjustiz oder die ERCOM durchsetzen. Außerdem haben wir ’nen Vorstand, der mir fast alle Entscheidungen abnimmt. Glaubste, nur weil ich der Präsident bin, is’ das, was ich sage, Gesetz? Nee, da müsste ich schon der König oder so sein.“ Einen Moment lang schwieg Yuffie, dann wollte sie erneut ansetzen, kam aber durch eine allseits bekannte Unterbrechung gar nicht erst zu Wort: das schrille Klingeln des PHS. Kapitel 25: Comeback -------------------- „Sacht ma ... wie viele PHS sind gerade im Umlauf? Ich meine, Tifa hat eins, die könnte doch einfach rauskommen und –“ Reeve fiel Barret ins Wort: „Jetzt geh doch erst mal ran! Sonst legt derjenige noch auf!“ Barret hob das PHS ans Ohr, hielt dann aber Inne. „He, ich weiß, wer das dritte hat!“ Er drückte den Annahme-Knopf. „Ja, was gibt’s denn?“ „Ach, freut mich, dass man noch mit mir redet! Aber was hier die ganze Zeit abgeht, das geht mich wohl nichts an?“ „Skylar, du Knilch, weißte eigentlich, was wir alles durchgestanden haben?!“ „Nein, da es mir keiner erzählt hat! Tu mir mal eben den Gefallen und gib mir meinen Sohn, okay?“ „Hm, das dürfte schwierig werden. Der hat inzwischen ’ne Menge Valium bekommen und is’ wahrscheinlich längst in ’nem ganz ander’n Film, weißte.“ „Du liebe Güte ... was ist denn überhaupt passiert, verdammt noch mal?!“ „Ich erklär’s dir, wennde dich auf der Stelle beruhigst!“ Die Anderen bildeten mittlerweile einen Kreis um Barret herum, um möglichst viel von dem Gespräch mitverfolgen zu können. „Na schön.“ Am anderen Ende war ein tiefer Atemzug zu hören. „Und jetzt sag mir, was mit Cloud ist. Wo seid ihr überhaupt?“ „Wir sind in Mideel und haben Cloud in die Klinik gebracht“, antwortete Barret und fuhr dann fort, Skylar Goodsworth die ganze lange Geschichte zu erzählen – von Clouds Selbstexperiment mit der Maschine im Keller, der Reaktion der ERCOM, Vincents Tod, der Gerichtsverhandlung und der überstürzten, nur zufällig geglückten Flucht. Skylar schien bestürzt und sagte eine ganze Weile nichts, auch als Barret ihn bat, doch bitte irgendein Lebenszeichen von sich zu geben. Schließlich murmelte er: „Leute, das ... habe ich jetzt nicht so ganz verstanden. Ich meine, die ganzen Fakten. Insgesamt ist das ... ziemlich schrecklich. Aber ich steige noch nicht so ganz dahinter ...“ „Das tun wir auch nich’ so wirklich“, gab Barret zu. „Wir sind aber sicher, dass sich das alles aufklären wird, irgendwie.“ „Na ... gut. Was habt ihr denn jetzt vor?“ „Wir warten, bis Clouds Rippe wieder da is’, wo sie hingehört, und dann hauen wir ab. Uns lange an einem Ort aufzuhalten is’ wohl keine gute Idee.“ „Habt ihr vor, unterzutauchen?“ „Vielleicht. Erst mal sehen, ob das wirklich nötig is’.“ „Verstehe. Wenn ich euch irgendwie helfen kann, dann ... soll ich mit euch kommen?“ „Nee, nee, lass mal! Besser isses, zu jemandem Verbindung zu halten, der nich’ bis zum Hals in der Sache drinsteckt und nach dem keiner suchen würde. Wärste auch hier, wärste uns keine große Hilfe.“ „Gut, aber sagt mir Bescheid, wenn es Cloud besser geht, ja?“ „Machen wir. Jetzt reg du dich erst mal ab und komm mit der Sache klar. Wir machen das schon irgendwie.“ Als Barret das PHS wegsteckte, schaute er etwas nachdenklich in die Runde. „Wir hätten’s ihm sagen sollen.“ „Dazu war aber keine Zeit“, wandte Nanaki ein. „Es ging alles zu schnell, um überhaupt daran zu denken. Und ... wo wir gerade bei schnell sind ...“ Er sah sich um. „Wo ist eigentlich die weiße Taube hingeflogen?“ „Sephiroth“, korrigierte Aeris automatisch. „Von mir aus auch Sephiroth, aber wo ist er hin?“ „Ich weiß nicht. Wenn wir ihn brauchen, wird er zurückkommen.“ „Hm.“ Barret verschränkte die Arme und starrte über das Parkgelände, alle Anderen scharten sich windschutzsuchend hinter ihn. Schließlich trat Tifa aus der Tür ins Freie, bemerkte die Kälte und beeilte sich, in ihre Wildlederjacke zu schlüpfen. „Oh, ihr habt auf mich gewartet. Das ist gut.“ „Wieso bist du denn nicht mitgekommen?“ Aeris richtete einen fragenden Blick auf sie. „Erstens war’s mir zu kalt, zweitens habe ich überlegt, was wir anschließend unternehmen könnten.“ „Oha“, kommentierte Cid. „Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“ „Wenn Cloud wieder halbwegs in Ordnung ist, bringen wir ihn zu meiner Kollegin nach Midgar. Dort wird er gut aufgehoben sein, während wir der Sache mit detektivischer Spürnase nachgehen. Was meint ihr?“ Aeris schaute skeptisch drein. „Tifa, deine Kolleginnen gehören doch wie du zu einem Unterkommando der Mittellandjustiz! Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ „Sie ist eine meiner besten Freundinnen, ich würde ihr mein Leben anvertrauen. Ihr werdet sehen, dass man sich hundertprozentig auf sie verlassen kann. Möglich, dass sie nicht in die Sache mit reingezogen werden will und wir deswegen nicht ewig bei ihr Quartier beziehen können, aber sie wird uns definitiv nicht verpfeifen. Vertraut mir doch!“ Bittend sah sie von Einem zum Anderen, während um sie herum nervöse Blicke getauscht wurden. „Wenn du dir sicher bist“, begann Cid, „dass wir das riskieren sollen, dann frag deine Kollegin wenigstens vorher. Wenn schon, dann sollten wir nicht unangemeldet bei ihr reinplatzen.“ Tifa nickte. „Ist gut, dann geh’ ich jetzt telefonieren, ja? Darf ich das Bord-Telefon der Bronco benutzen?“ „Meinetwegen. Ach, und bevor du weggehst, leg die Tarnplane wieder drüber, damit niemand das Flugzeug von oben sehen kann! Zum Glück steht sie direkt vor dem Zaun ... da ist es unwahrscheinlich, dass jemand dagegen rennt ...“ Er pustete den Zigarettenrauch zur anderen Seite, während Tifa den Weg zurückhastete. Nanaki seufzte leise. „Irgendwie gefällt mir das alles nicht. Was haben wir da nur wieder ausgegraben? Hätte Vincent doch nur diesen Keller nicht entdeckt ...“ „... dann würde er noch leben“, sagte Cid leise. „Aber das konnte niemand wissen. Die Dinge nehmen einfach ihren Lauf. Wir können nichts mehr daran ändern.“ Irgendwann öffnete Cloud die Augen. Er war sich sicher, dies schon zuvor einige Male getan zu haben, und daraus folgte, dass er anschließend wieder eingeschlafen war. Nun nahm er sich vor, wach zu bleiben. Sein Blick wanderte durch einen kleinen Raum mit großen Fenstern und weißen Vorhängen, und ihm kam der Gedanke, dass es nicht seine Gefängniszelle war ... dann kamen die Erinnerungen rasch wieder zurück. Er befand sich in der Klinik in Mideel, in welche er vor acht Jahren aufgrund einer schweren MAKO-Vergiftung eingeliefert worden war. Merkwürdig, dass das wirklich schon so lange her ist. Vorsichtig sog er Luft in seine Lungen und stellte zufrieden fest, dass es nun wieder problemlos funktionierte. Als er die Hand an seine Verletzung hob, strichen seine Finger über den raufasrigen Stoff einer Kompresse. Klar, einen Verband kann man da wohl schlecht anlegen. „Cloud, kannst du mich hören?“, fragte eine wohlvertraute Stimme, die ihm weich wie eine Feder über die Wange strich. „Aeris.“ „Ja. Und schau mal, wer auch hier ist.“ Cloud hob den Blick und sah auf der Stuhllehne eine weiße blauäugige Taube sitzen. „Sephiroth.“ „Genau. Die Anderen sind unten und warten. Weißt du, wir haben nicht viel Zeit.“ Mühsam setzte er sich auf. „Also, irgendwie fühle ich mich komisch.“ „Das sind die Nachwirkungen der Narkose. Ehe das vorbei ist, wird es noch einige Zeit dauern. Tifa wird dich zu einer Bekannten bringen, wo du die Nacht unterkommen kannst, und dann bist du bestimmt wieder fit.“ „Na, das will ich hoffen.“ Er sah sie kurz an, wie sie in ihrer hellblauen Umstandskleidung der Lehne zugewandt auf dem Stuhl saß, Sephiroth direkt vor ihr. Dann wanderte sein Blick kritisch nach unten. „Du liebe Güte, was hab’ ich denn an?“ „Ein Krankenhausnachthemd natürlich. Sieht sehr niedlich aus.“ „Oh, na prima ... ich dachte, die Dinger hätte man mittlerweile abgeschafft. Hm, wieso haben der Arzt und die Schwester eigentlich erlaubt, dass Sephiroth hier mit rein darf?“ „Haben sie ja nicht ... er landete vor dem Fenster und ich ließ ihn rein, so einfach.“ Sie zuckte die Schultern. Sephiroth gab einen Laut von sich, der sich vielleicht „Rukediku“ buchstabiert hätte. Sein schneeweißes Gefieder plusterte sich dabei auf wie ein geplatztes Popcorn. Cloud konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Also, sag mal, Sephiroth, ist euch diese Vogelgestalt nicht irgendwo peinlich?“ Die Taube starrte ihn an. „Ich meine ... ihr seht nicht nur aus wie Vögel, ihr müsst euch auch noch so bewegen und dieselben Geräusche machen ... und Tauben gehören ja nun auch nicht zu den besonders intelligent aussehenden Tieren.“ Er wurde rasch wieder ernst. „Du hast mich gefunden, weil ich den Splitter des Spiegels mit mir herumgetragen hab’, hm?“ Sephiroth nickte. Das sah merkwürdig aus, denn die Halswirbel einer Taube sind so zusammengewachsen, dass sie sich nicht unabhängig voneinander bewegen lassen. „Du hast mir das Leben gerettet.“ Er nickte wieder. „Und ... was für ein Spiegel ist das, von dem der Splitter stammt?“ Der Vogel sah zu Cloud herüber, gab aber keine erkennbare Antwort. „Du bist schwierig“, murmelte Cloud. „Ich wette, im Verheißenen Land sind alle ziemlich enttäuscht von mir. Ich konnte Lukretias Erfindung nicht vor den Menschen beschützen ...“ „Cloud“, unterbrach ihn Aeris, „bitte, du solltest hier nicht darüber sprechen.“ Sie sah sich nervös im kleinen Einzelzimmer um. „Man weiß nie, wo die Wände Ohren haben.“ Er nickte. „Gut. Aber ich muss darüber Bescheid wissen.“ „Du wirst schon noch Gelegenheit haben, alle Fragen zu stellen. Aber nun müssen wir unbedingt hier weg ... sobald du dich munter genug fühlst.“ „Ja, eigentlich ist es okay. Lasst uns gleich verschwinden. Argh ...“ Er hatte sich aus dem Bett erhobenen und entsann sich zu spät seiner gebrochenen Rippe. „Verdammt, wann wird das denn heilen?“ „Die Rippe haben sie mit einem organischen Stoff am Sternum befestigt, aber anwachsen muss sie schon alleine. Und du kannst dir sicherlich denken, dass sie dir den Brustkorb nicht eingipsen können.“ „Ja, das ist mir auch klar. Dann muss ich halt damit leben, wie auch immer. Kannst du den Anderen Bescheid sagen ...? Ich gehe mich umziehen, wenn ich meine Klamotten finde, und komme nach.“ „Nur keine Hektik, lass dir Zeit. Wir warten unten in der Eingangshalle, ja?“ „Okay.“ Sie machte die Tür hinter sich zu, nachdem Sephiroth aufgeflattert war und sich auf ihrer Schulter niedergelassen hatte. Cloud blieb allein zurück und zwang sich aus dem Bett zu klettern. Sein Koordinationssinn war noch immer leicht gestört, sodass er sich vorsichtshalber am Heizkörper festhielt, während er Ausschau nach seiner Kleidung und Ausrüstung hielt. Kapitel 26: When The Night Comes -------------------------------- Das kleine Aufklärungsflugzeug der AVALANCHE mochte unsichtbar geworden sein – wenn auch nur von außen –; innen hatte es sich um keinen Quadratzentimeter vergrößert, und erneut mussten sich die Insassen dicht zusammendrängen, um alle Platz zu finden. Besonders vorsichtig ging man natürlich mit Cloud um, der ein wenig müde nahe des Bodenfensters saß. Bis Midgar waren es gut einige Flugstunden. Über den Himmel legte sich längst der zwielichtige Schatten der Abenddämmerung, und die erleuchteten Häuser jagten wie kleine funkelnde Juwelen vorbei. „Leute, es tut mir ja Leid, aber wenn es noch dunkler wird, muss ich die Beleuchtung einschalten – ob nun unsichtbar oder nicht“, ließ sich Cid aus dem Cockpit vernehmen. Cloud starrte durch das Fenster in der Seite. Am blauschwarzen Himmel schimmerten die ersten Sterne mit unterschiedlicher Helligkeit hervor, das Land nahe der Küste war nur eine schwarze Masse. Die Szenerie stimme ihn sehr melancholisch; er hatte nun Zeit, sich erneut durch den Kopf gehen zu lassen, was in der letzten Zeit so schnell hintereinander geschehen war. Immerhin war er seinem Todesurteil entkommen – aber der Grund dafür war nicht unbedingt ein Segen. Wieder würden er und seine Freunde die Gejagten sein. Alle verließen sich auf ihn ... und nicht nur sie, auch die Cetra. Man setzte Hoffnungen in ihn, vielleicht falsche Hoffnungen. Wegen dieses Dinges im Keller und auch wegen Lukretia musste er etwas unternehmen. Sonst wären alle Bemühungen umsonst, wäre Vincents Tod umsonst ... wäre all das umsonst. Und dabei war er sich noch nicht einmal im Klaren darüber, womit er es eigentlich genau zu tun hatte. Eine Hand berührte sacht seine Schläfe, und er drehte sich um. „Cloud, du bist so still. Geht es dir gut?“ Es war Aeris, die sich wieder einmal rührend um ihn bemühte. „Hm ... ja, ich glaube schon. Ich bin nur ein bisschen müde.“ „Das ist ja kein Wunder. Aber wir sind gleich in Midgar.“ Er seufzte. „Ich frage mich, warum wir nicht einfach nach Hause gehen können.“ „Weil sie wissen, wo wir wohnen“, antwortete Aeris schlicht. Wer ‚sie’ waren, brauchte gar nicht näher erläutert zu werden. „Hmmm. Ja. Das leuchtet mir ein. Aber wer wird den Kater füttern ..?“ „Miss Nightley wird sich schon um ihn kümmern, wenn sie sieht, dass wir nicht mehr nach Hause kommen. Darum haben wir ihr ja den Schlüssel gegeben ...“ „Ja.“ Er starrte wieder in die Sterne, war aber zu beunruhigt, um sich auf sie zu konzentrieren. „Tifa, was ist das eigentlich für eine Person, bei der ich die Nacht verbringen muss?“ Tifa meldete sich von irgendwo hinten. „Die ist ganz lieb. Wird sich zauberhaft um dich kümmern. Sie ist eine ähnliche Glucke wie Ronven ... allerdings weniger nervig.“ Cloud nahm das mit einem leichten Stirnrunzeln zur Kenntnis. Der Rest des Fluges verlief ruhig und zum Glück unbeobachtet, wie es schien. Schließlich landete Cid die kleine Bronco vor den Toren von Midgar. „Der Wall Market ist noch fast genau so belebt wie früher“, sinnierte Aeris. Alle zusammen gingen sie des späten Abends über den großen Platz, der sich im Laufe der Jahre allerhöchstens ins weniger Heruntergekommene verändert hatte, und Tifa führte sie auf kürzestem Wege durch den Sektor. Die Slums waren ausgebaut worden, die Armut fast gänzlich von den Straßen verschwunden. Es gab Bibliotheken, Blumenläden und Bäckereien; die Kirche stand noch an ihrem alteingesessenen Platz, niemand hatte Hand an sie gelegt, nicht einmal zu Restaurationszwecken. Vor der Tür eines recht komfortabel aussehenden Reihenhauses blieb Tifa stehen und beugte sich herab, um das verwitterte Namensschild zu lesen. „Das ist wirklich nicht einfach, hier zurecht zu kommen, die Häuser sehen ja alle gleich aus ... hm, Moment ...“ Sie ging weiter zum nächsten Haus und blieb erneut vor der Tür stehen. „Hm ... ja, hier ist es.“ Triumphierend zeigte sie auf den Namen Clancy. „Ah ja“, murmelte Cloud. „Mach nicht so ein Gesicht, was soll denn Helen von dir denken?“ „Ich mache doch gar kein Gesicht.“ Tifa warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und drückte den Klingelknopf, während sich die Anderen hinter ihr versammelten. Eine schmale Frau mit großen wachen Augen und schimmernd rotbraunen Locken öffnete die Tür einen Spalt breit und sah heraus. „Oh, guten Tag zusammen! Ihr müsst entschuldigen, man kann nie wissen, was sich so spät noch draußen rumtreibt. Kommt bitte rein.“ Nachdem die Tür nun ganz offen war, traten die Besucher der Reihe nach in den Flur. Cloud sah sich um; ihm fiel als erstes eine Kuckucksuhr an der Wand neben den Kleiderständern auf, dann ein großer gerahmter Spiegel über dem Schuhregal. Zwar hatte er ansonsten noch keinen Raum gesehen, entschied sich aber bereits dafür, seine vorläufige Unterkunft zu mögen. Während er noch den Blick umherschweifen ließ, wandte sich ihm Helen zu. „Du musst Cloud sein.“ „Ich – ja. Und Sie ...“ „Sag einfach Helen.“ Ihr Blick blieb ernst, obwohl sie wohl gern gelächelt hätte. „Mach dir keine Sorgen. Tifa hat mir gesagt, dass ich dich während der Nacht hier behalten soll, damit du dich von einer Operation erholen kannst. Ich versichere dir, dass, wer auch immer dich sucht, dich nicht bekommen wird.“ Sie reichte ihm die Hand. Als Cloud das letzte Mal jemandem die Hand gegeben hatte, waren ihm Handschellen angelegt worden, darum dauerte es einige Sekunden, bis er sich durchrang, die ihre zu nehmen. „Äh ... danke.“ Sie führte ihn ins Wohnzimmer, welches klein, aber gemütlich war, mit Regalen und allerhand Krimskrams vollgestellt. Eigentlich wie Tifas Haus. Am Tisch saßen seine Freunde und blickten noch immer neugierig um sich. „Nette Bude“, kommentierte Yuffie. „Dass es so was in Midgar gibt, hätt’ ich nicht gedacht.“ „Midgar ist nicht mehr wie früher“, sagte Tifa. Ihre lackierten Fingernägel trommelten nervös auf die Hartholztischplatte. Helen nickte. „Das stimmt.“ Anders als ihre Gäste setzte sie sich nicht, sondern umrundete einmal den Tisch, öffnete einen Schrank und holte etwas heraus. „So, jetzt gibt es etwas zum Aufwärmen, wer möchte.“ Sie förderte eine bauchige etikettlose Flasche mit trübem honigfarbenen Inhalt zutage. „Selbstgemachter Schlehenlikör.“ „Oh!“, kam es aus Reeves Mund, bevor er es verhindern konnte. „Verzeihung, aber – ist das Herstellen von Schlehenlikör nicht eine Heidenarbeit?“ „Oh, doch. Die Dinger müssen monatelang im Keller liegen und gepresst werden ... na ja.“ Endlich gelang es ihr, den Korken mit einem Plopp aus dem Flaschenhals zu entfernen. In einer Vitrine unmittelbar hinter Nanakis Schultern staubten Schnapsgläser vor sich hin, welche nun ihren ersten Einsatz seit scheinbar vielen Jahren erlebten. Mit dem sehr eigentümlichen Geschmack des Schlehenlikörs beschäftigt, sprach niemand innerhalb der nächsten Viertelstunde ein Wort. Cloud schaute aus dem Fenster, aber inzwischen war dort nur noch finstere Nacht zu sehen. „Wenn du willst“, unterbrach Helen Clancy so plötzlich die Stille, dass alle zusammenzuckten, „zeige ich dir dein Zimmer. Es steht schon seit ’ner Ewigkeit leer und ich benutze es nie – kann also sein, dass es ein bisschen runtergekommen aussieht.“ Cloud hatte sich fest vorgenommen, in allem höflich zu sein, und wie das Zimmer aussah, war ihm im Großen und Ganzen herzlich egal. „Schon okay, das stört mich überhaupt nicht.“ „Na, dann komm mit.“ Sie ging die schmale Holztreppe hinauf, und er folgte ihr, während die anderen unten blieben und nachdenklich hinterher sahen. „Na?“, sagte Tifa, als ihre Freundin und Cloud außer Hörweite waren. „Ich hab’ ja gesagt, sie wird auf ihn aufpassen.“ „Ich glaub’, da haste auch Recht“, antwortete Barret, obwohl seine Stimme nach wie vor beunruhigt klang. „Morgen können wir ihn dann schon wieder mit uns rumschleifen, da wird’s ihm besser gehen.“ Cid schaute skeptisch drein. „Was macht eine alleinstehende Frau wie deine Freundin eigentlich alleine in diesem großen Haus? Vereinsamt man da nicht?“ Tifa zuckte die Schultern. „Sie hat das Haus geerbt. Den Keller benutzt sie, um Likör anzusetzen, ins obere Stockwerk steckt sie eigentlich nur Gäste. Sie hat oft welche. Aber nicht in dem Zimmer, das sie jetzt Cloud gegeben hat, wie mir scheint ... sonst wäre es ja nicht eingestaubt.“ Ihre Fingernägel klackten beständig gegen den Rand des Schnapsglases. „Die Frage ist, was wir jetzt machen.“ „Was wohl?“, knurrte Barret. „Wir halten den ERCOM-Schnösel auf.“ „Gute Idee, die kam mir auch schon ... und wie?“ Barret wandte sich an Aeris. „Wieso kann uns denn –“ Ehe er der Cetra seine Frage stellen konnte, klopfte etwas leise gegen die Fensterscheibe. Es war kaum zu hören, kaum lauter als das Ticken der Kuckucksuhr, aber Aeris hatte es gehört. „Sephiroth ist dort auf dem Fensterbrett, wir müssen ihn reinlassen, Tifa.“ „Oh, ja, warte.“ Tifa drehte sich zu betreffendem Fenster um und zog es auf, woraufhin der weiße Täubling hereingeflattert kam und einige Daunen auf dem Tisch verteile. „Nach dem Kerl wollte ich gerade fragen“, stöhnte Barret. „Ich muss euch sagen, als Geflügel isser mir noch unheimlicher als vorher schon!“ Die Taube faltete ihr Gefieder zurecht und machte dann auf dem Tisch ein paar Schritte auf Barret zu. „Boah, jetzt guck doch nicht so, du halbes Hähnchen! Wir haben eine Aufgabe für dich, hör ma: Wir müssen unbedingt dieses Teil aus dem Keller wegbringen, an dem euch allen so viel liegt.“ Sephiroth nickte. „Kannste die ERCOM-Heinis irgendwie weglocken?“ Der Vogel blinzelte, dann schüttelte er den Kopf, fuhr jedoch mit weiteren undeutlichen Artikulationen fort. Aeris starrte angestrengt hin, um übersetzen zu können. „Also ... er sagt, dass von euch sowieso niemand in die Nähe des SPECULUMS – so nennen wir es – gelangen kann ... ihr wisst schon, wegen Lukretia. Aber Cloud und ich könnten es schaffen. Mich wird sie in Frieden lassen, da ich vom Alten Volk bin. Cloud kann sie körperlich nichts antun, ihn wohl aber mit ihren Emotionen überschwemmen, wie ihr ja gesehen habt.“ „Nicht wieder der Quatsch.“ Cid stützte den Kopf in die Hände. „Und die nächsten Tage dürfen wir uns wieder fragen, wie du überhaupt an all dieses Wissen kommst.“ „Ich hab’ euch doch gesagt, dass die Cetra Kontakt zu mir halten und über die Sache genau Bescheid wissen“, erwiderte Aeris ungeduldig. „Wollt ihr den Plan jetzt hören oder nicht?“ „Jaah, nur zu. Erzähl uns, wie Cloud dahinkommen soll, ohne wieder wegzuknacken.“ „Ich werde einfach seine Hand halten.“ „Bitte?“ „Körperkontakt. Sie kann es nicht ausstehen, nicht in sein Innerstes zu gelangen, und noch weniger schätzt sie es, wenn dann auch noch jemand ihn berührt. Versteht ihr?“ „Nein“, sagte Reeve. Tifa hob die Hand. „Diskutieren wir später darüber, erst mal müssen wir das jetzt als Tatsache ansehen, okay? Also, du und Cloud, ihr geht dort runter, nachdem ihr auf eine Weise an den Bewachern vorbeigekommen seid, die wir noch ausarbeiten müssen ... Was macht ihr dann? Wie kriegt ihr das Speck– .., das Spuck– .., das Ding dort weg? Einfach unter den Arm klemmen ...?“ „Hm.“ Aeris runzelte ihre sonst furchenlose Stirn. „Gute Frage.“ Ihr Blick fiel auf Sephiroth, und dieser plapperte erneut Sätze in seiner wenig verständlichen Vogelsprache. Sie hörte ihm zu und schien zu verstehen. „Aha ... na gut. Also, das geht ... mit der Transfer-Substanz.“ „Quatsch“, sagte Yuffie prompt. „Damit kann man nur Lebewesen transportieren, und Dinge, die von ihnen ohne Bodenkontakt getragen werden. Schuhe irgendwie auch. Aber so große Dinge ...“ „Eben, ja. Mit einer Substanz allein ist es in dem Fall auch nicht getan. Wir brauchen zwei. Eine müssen wir zu Schmelze verarbeiten.“ „Dazu bräuchten wir einen Substanzbrenner“, murmelte Cid. „Und selbst wenn wir so ein Gerät finden, dann brauchen wir zunächst einmal zwei von diesen Substanzen! Die einzige, die wir haben, das ist ja die von Sephiroth ...“ Er deutete auf den Vogel auf der Tischplatte. „... und die befand sich schon auf dem MASTER-Level, als wir erfuhren, dass er so etwas überhaupt hat ...“ Aeris nickte und fuhr fort: „Ja, aber schau – Sephiroth weiß vermutlich, wo die Reproduktion sich befindet, und er sitzt hier vor uns auf dem Tisch, nicht wahr?“ „Wenn du das sagst, ja ... und wo hat er sie versteckt?“ Sephiroth machte einige Geräusche mit seinem Schnabel. „In der Vergessenen Stadt“, übersetzte Aeris. Auf der Treppe erklangen Schritte, und alle Köpfe wandten sich ihr zu. „Da sind wir wieder“, verkündete Helen, gefolgt von Cloud, und sah fragend in die Runde. „Haben wir euch bei irgendwas überrascht? Ihr schaut alle so merkwürdig drein.“ „Ach wo.“ Tifa erhob sich von ihrem Stuhl. „Danke für den Likör, also, der war ja noch besser als letztes Jahr ... aber wir müssen uns nun langsam wieder auf den Weg machen.“ „Macht das mal. Wir erwarten euch dann irgendwann morgen, hm?“ „Äh, ja.“ Murmelnd versammelten sich alle wieder im Flur und sammelten ihre Jacken von den Haken. Cloud blieb, beide Hände in die Seitentaschen seiner Hose gesteckt, auf der Wohnzimmerschwelle stehen und beobachtete, wie sie einer nach dem anderen das Haus verließen. „Noch mal danke, Helen“, verabschiedete sich Tifa. „Bist wirklich die Beste.“ „Kein Problem, Liebes. Seht nur zu, dass ihr alle heil bleibt, ja?“ Helen lächelte. „Okay. Dann bis morgen.“ Die Tür schloss sich leise wie ein Portemonnaie. Aeris sah sich um, ob sie irgendwo in der wenig erleuchteten Dunkelheit den schwachen Schemen einer Taube sehen konnte, aber augenscheinlich war Sephiroth nicht mit nach draußen geflogen, sondern hatte es vorgezogen, im Haus zu bleiben ... vielleicht, um Cloud Gesellschaft zu leisten. Kapitel 27: The Dark Side Of A Soul ----------------------------------- Angenehm überrascht strich Cloud mit den Fingern über die Seidenbettwäsche. „Ich muss sagen, das ist schon cool, wie die Frau mich hier unterbringt. Ich kenne sie ja nicht einmal.“ Sephiroth, auf der Bettkante am Kopfende sitzend, blinzelte im Schein der Nachttischlampe träge vor sich hin. „Warum bist du eigentlich hier geblieben? Ist bestimmt nicht so interessant, mir beim Schlafen zuzusehen.“ Sephiroth hob beide Handschwingen ein Stück weit an, was einem Schulterzucken sehr ähnlich sah. Sich die weiche Decke bis zum Kinn hochziehend kuschelte Cloud sich in die Kissen. „Viel bequemer als die Highwind oder die Tiny Bronco. Wunderbar.“ Nachdenklich beäugte er die Taube dicht neben sich. „Sag mal ... da ich diesen Splitter mit mir rumschleppe, willst du jetzt für mich so eine Art Beschützer spielen?“ Wie zu erwarten war, hob Sephiroth nur wieder beide Flügeldecken. „Ach, komm, früher hast du uns doch auch immer auf die Nase gebunden, was du vorhattest. Und sei bloß nicht wieder verletzt, weil ich die JENOVA-Zeit erwähne.“ Allmählich ärgerte es ihn, dass Sephiroth partout keine Auskunft gab. Er beugte sich zur Nachttischlampe und schaltete sie aus, woraufhin nur noch das fahle Mondlicht, das durch die schweren Gardinen fiel, ein wenig Licht spendete. „So, und jetzt gute Nacht.“ Sephiroth gab ein leises Gurren von sich. Sehr hoch oben in der dünnen Luft schoss die Tiny Bronco über das Meer in Richtung des „Kalten Kontinents“, wie er mittlerweile genannt wurde. Er gehörte weder dem Mittelland-Pakt noch dem weniger wichtigen Kontinental-Pakt an und blieb somit ein sehr abgeschiedener und wenig besuchter Erdteil, dem ein fast einzelgängerischer Charakter anhaftete. Schneewehen umtobten stets die flachen Eisfelder, die wenigen Grasflächen lagen gelb und abgestorben da. Die Bronco hielt hinreichend Abstand zum windnahen Erdboden. Sie war längst nicht so schnell wie die Highwind und ertrug auch entsprechend weniger Luftwiderstand. Cid hatte den Kurs vorgegeben und behielt lediglich die Monitore im Auge; alle Anderen dösten etwas schläfrig vor sich hin, denn der Tag war lang gewesen. Ob es so eine gute Idee war, mitten in der Nacht nach der Substanz zu suchen, würde sich noch herausstellen – andererseits galt noch immer die Regel: Je eher, desto besser. Cloud musste sich nicht allzu lange umsehen, um sich der Tatsache bewusst zu werden, dass er erneut in seinem Daueralptraum gefangen war, der ihn seit seiner ersten Begegnung mit Lukretias Geist quälte. Der Keller, das schummrige, nichts erleuchtende Licht und das SPECULUM in seiner ganzen schimmernden Unwirklichkeit. Wieder schlängelten sich die konturlosen Schatten über den spiegelglatten Boden und umkreisten ihn, aber er wich nicht zurück; mittlerweile wusste er, dass sie nur seine Angst vor Lukretias Überfällen symbolisierten. Er zwang sich, langsam zu atmen, und wartete auf den Moment, an dem sich der dunkle Vorhang auflösen und den Blick auf eine Schar Tauben freigeben würde, die um den toten Sephiroth herumflatterten, der mit seinen leblosen Augen ins Nichts starrte. Cloud blieb stehen, wo er war. Er sah hin. Alle Tauben wandten ihm ihre Köpfe zu, dann flogen sie auf und ließen Sephiroth zurück, der – zu Clouds großer Überraschung – mühsam vom Boden aufstand, als müsse er sich erst wieder daran gewöhnen, auf zwei Beinen zu stehen. Wie auch sonst in diesem Traum trug er nicht das schwarze Cape, und so war deutlich zu sehen, wie sich der riesige Flügel direkt aus der Schulter herauswand. „Aber ...“, begann Cloud stutzig. „Wieso ist es ... diesmal anders ...?“ Sephiroth faltete den Flügel zusammen. „Na bitte, diesmal hat es funktioniert. Mich in deinen Traum zu schleichen musste mir Ophiem erst beibringen, und bisher hab’ ich’s immer versiebt.“ Er zuckte die Schultern. „Schön ... und was soll das jetzt?“, fragte Cloud leicht verärgert, da es ihm nicht sonderlich gefiel, Sephiroth an einem Ort gegenüberzustehen, der seine eigene größte Schwäche darstellte. „Nun ...“ Er schluckte. „Ich muss mit dir reden, Cloud. Aber nicht hier. Komm mit, bitte.“ „Na, von mir aus.“ Nun war Cloud verblüfft. Sephiroth schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen, ganz so, als wäre er lieber an einem möglichst weit entfernten Ort. Cloud ging ihm einige Schritte hinterher, den schwarzen Schatten beobachtend, den Sephiroths Statur an die Kachelwand warf ... dann veränderte sich die Umgebung von einer Sekunde auf die nächste gravierend. „Hey, warte – wohin gehen wir? Wo sind – ..“ Wie gelähmt blieb er stehen. Die Wände waren verschwunden, der Boden bestand nur noch aus gelblichem Sand, in dem Cloud fast bis zu den Knöcheln versank. Die Kellerwände verblichen und wurden durch verwittertes Gestein ersetzt, das bei näherer Betrachtung eine Form aufwies. Cloud schauderte. Sephiroth und er befanden sich in einer riesigen Kampfarena, einem Schlachtfeld. „Nein, das ... das kannst du nicht ernst meinen ...“ „Cloud“, sagte Sephiroth geduldig und drehte sich um. Das schwarze Cape, das die Farbe aus dem Umfeld zu saugen schien, lag wieder wie ein Panzer um ihn und flatterte hinter ihm her in die entgegengesetzte Richtung. „Es geht um die Cetra und den Spiegel. Wir hatten dich gebeten, ihn vor diesen ziemlich zweifelhaften Wissenschaftlern zu beschützen.“ „Oh, verstehe! Ich habe versagt, und du willst mich richten. Willst du das?“ Bemüht, seine Unsicherheit zu verstecken, hob Cloud trotzig den Blick. Aber Sephiroth fürchtete sich viel mehr als er. „Nein, will ich nicht. Ich soll dir nur den Weg zeigen.“ „Was für einen Weg?“ „Hab keine Angst.“ „Du siehst eher aus, als ob du Angst hättest.“ „Cloud.“ Sephiroth machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Es geht nicht darum, was du versucht hast und was nicht. Du hast ihnen ausgeliefert, was sie wollten.“ „Habe ich nicht! Ich sollte hingerichtet werden, habt ihr das da oben nicht mitgekriegt? Ich riskiere die ganze Zeit mein Leben für etwas, das ... nicht einmal real ist!!“ Er ballte die Fäuste. „Real?“, wiederholte Sephiroth misstrauisch. „So, was glaubst du denn, was real ist? Was bedeutet das überhaupt? Die Welt, in der du lebst, wird zu fünfundneunzig Prozent von deinem eigenen Bewusstsein projiziert. Lächerliche fünf Prozent von allem, was du hier siehst, sind real.“ Er machte eine Geste, die das Gebiet rundherum mit einschloss. „Wieso gehst du davon aus, dass wir alle in derselben Welt leben?“ „Die Welt existiert unabhängig von uns“, sagte Cloud fest. „Anders als deine Welt, das Verheißene Land, kann meine immerhin unabänderbare Gesetze aufweisen, wie Logik, auf der sich Mathematik und dergleichen aufbauen lassen! Das kann Miragia nicht von sich behaupten, oder? Und außerdem, Sephiroth, wenn du dich um die Realität nicht scherst, wieso pickst du mit deinem Schnabel gegen Fensterscheiben oder verspeist Sesamkörner? Warum fallen die nicht einfach durch dich durch?“ „Weil die Welt auch unabhängig von mir existiert“, antwortete Sephiroth ruhig, ohne auf Clouds zunehmende Aggression einzugehen. „Du hörst mich, siehst mich ... die Dinge verhalten sich, als sei ich real. Die Körner können nicht durch mich durchfallen, weil sie sich den Gesetzen der Außenwelt beugen müssen ... zum Beispiel der Logik, wie du schon gesagt hast.“ Er machte ein paar Schritte im weichen Sand, aber nicht mehr direkt auf Cloud zu, sondern eher in einem Halbkreis, sodass sein Gegenüber gezwungen war, sich nach ihm umzudrehen. „Aber wenn du von Mathematik redest ... dann setzt du die Existenz einer Welt voraus, die sich niemals wandelt, eine rein geistige Welt. Zugegeben, sie funktioniert. Die Welt, die dich draußen umgibt, antwortet auf Zahlen und die Einteilung in Einheiten.“ „Eben! Meine Welt wandelt sich zwar dauernd, aber sie behält diese Eigenschaft bei! Und was mache ich hier? Ich versuche eine Welt zu retten, die nicht unabhängig existiert!“, fauchte Cloud. „Wie soll ich das machen? Hast du es mir etwa gesagt? Oder Ifalna? Irgendein Cetra?“ Wütend stieß er Sephiroth mit der Fußspitze etwas Sand entgegen. „Versteht ihr denn nicht, dass ich die Wahrheit kennen muss, bevor ich irgendetwas für euer gottverdammtes Verheißenes Land tun kann?“ „Wahrheit?“ „Was denn sonst?!“ „Und was ist Wahrheit?“ Cloud schwieg verdutzt. Er wollte sich aufregen, aber Sephiroths eigenartige Fragen nahmen ihm immer wieder den Wind aus den Segeln. Dies trug nicht zuletzt dazu bei, dass er nur noch ärgerlicher wurde. „Wovon redest du jetzt schon wieder? Wahrheit eben, mehr nicht!“ „So, gibt es denn einen außerweltlichen Maßstab dafür, was Wahrheit bedeutet? Oder ... beruht Wahrheit vielleicht eher auf Konversation ...?“ „Na schön.“ Cloud holte Luft, während er sich bemühte, eine geschickte Definition abzuliefern „Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Idee oder Schilderung mit einem Sachverhalt.“ Sephiroth schien für einen sehr kurzen Moment überrascht. „Oh – ja, natürlich, das ist in jedem Fall richtig. Veritas est adaequatio rei et intellectus ad rem. Aber es gibt auch noch den konventionellen Wahrheitsbegriff: dass kein Mensch die Wahrheit eigentlich erfassen kann. Wenn du behauptest, etwas sei wahr, dann hast du kein Recht darauf, anzunehmen, dass dies in jeder Hinsicht der Fall ist. Das Wort wahr ist bedeutungslos. Es ist schlicht ein Wort, und in jeder anderen Sprache ist es ein anderes. Die simple, willkürliche Aneinanderreihung von Buchstaben, die der Mensch sogar ganz selbst erschaffen hat, hat nichts, aber auch gar nichts mit irgendeinem Ding oder Sachverhalt zu tun. Genauso wenig kannst du behaupten, dies hier sei nicht real, denn auch das Wort real ist entweder nur eine Reihung von Buchstaben oder eine Lautäußerung. So verhält es sich mit allem. Wenn du sagst, eine Rose sei rot, dann wird das nur so lange anhalten, bis sie verwelkt ist – und außerdem gibt es nichts auf der Welt, das seine Form ständig beibehält, das seine Teilchenstruktur niemals ändert. Sobald du also auf eine Rose zeigst, ist es bereits wieder eine andere. Verstehst du? Nichts kann beschreiben, wie die Dinge der Welt wirklich sind. Deswegen kann kein Mensch etwas von der Wahrheit wissen, Cloud.“ „Ich weiß nicht, ob ich dich verstehe“, sagte Cloud, den der Vortrag ermüdete, gedehnt. „Dann lass mich dir ein anderes Beispiel nennen. Stell dir mal vor ... da wäre ein Mensch, der sein Leben lang gefesselt in einer dunklen Höhle säße ...“ Cloud rollte die Augen. „Das Höhlengleichnis.“ „... Er sitzt also immer mit dem Rücken zum Eingang, und deshalb sieht er nur Schatten, die von hinten durch den Eingang an die Wand geworfen werden, die er vor sich hat. Draußen laufen Menschen vorbei und tragen dabei allerhand Dinge mit sich herum. Der Gefesselte hält das nun für die ganze Welt und die Schatten für die ganze Realität, weil er nichts Anderes kennt. Bindet man ihn nun los und schickt ihn nach draußen, damit er all die wirklichen Dinge sieht, dann wird er erschrocken sein; alles wird ihm zunächst unwirklich vorkommen. Irgendwann wird er aber feststellen, dass diese neue Wahrheit eine größere ist als die, die er in der Höhle gekannt hat. Käme er dann nicht unwillkürlich auf den Gedanken, es könne eine noch größere Wahrheit geben, da er schon einmal derart getäuscht wurde?“ „Tja ... wahrscheinlich.“ „Gut. Dann kannst du dir sicher denken, dass unsere Wahrheit hier verdammt relativ ist.“ „Hör sofort auf, wie ein Philosoph zu reden!“, schnappte Cloud, gänzlich aus dem Konzept gebracht und von Sephiroths ausschweifenden Vorträgen verwirrt. „Philosoph bedeutet Freund der Wahrheit, und die willst du doch kennen.“ Cloud rollte die Augen. „Lassen wir das.“ Das unverständliche Geschwafel vonseiten Sephiroth war ziemlich ermüdend, selbst in einem Traum. „Wolltest du nicht kämpfen?“ „Wollen? Man verlangt es von mir. Des Weiteren soll es keine Strafe sein, nichts, das dich in deine Schranken weisen soll.“ „Gegen dich verliere ich sowieso nicht!“, fauchte Cloud zurück und griff hinter sich, wo seine Finger zu seiner eigenen Überraschung die vertraute kalte Form des Schwerthefts packten. „Na schön.“ Sephiroth, der seine mehr als zwei Meter lange Klinge in einer Scheide an der Seite trug, nahm seine typische Kampfpose ein. „Vergiss aber nicht, dass wir Freunde sind.“ Cloud schnaubte leise, da ihm keine bessere Antwort in den Sinn kam, und packte den lederumwickelten Griff fest mit beiden Händen. Es war sein Trainerschwert, das er hielt, mit diesem brachte er seinen Schülern das Parieren und Zustoßen bei. Um niemanden bei diesen Übungen zu verletzen, war die scharfe Seite der Waffe mit weißen Leinenbändern umwickelt. Cloud entschied sich, dass dies ein Hindernis darstellte, zog die Bandagen herunter und ließ sie in den Sand fallen. Sephiroth nickte. Ehe Cloud sich eine Angriffsstrategie einfallen lassen konnte, hatte Sephiroth die Masamune wie einen Säbel dicht über den Boden geschwungen, sodass sein Gegner nur mit einem unbeholfenen Satz nach rückwärts verhindern konnte, seine Füße vom Gelenk abwärts einzubüßen. „Argh – das war gemein!“ „Ja, finde ich auch. Willst du dich nicht langsam mal verteidigen?“ Cloud biss die Zähne zusammen. Dass Sephiroth so ohne Weiteres Ernst machen würde, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er hier in seinem eigenen Alptraum Sephiroth unterlag ... geschah dies überhaupt wirklich oder träumte er das alles? Um darüber nachzudenken, hatte er zu viel Angst. Er beschrieb mit dem Schwert einen flachen Bogen, duckte sich zur einen Seite und warf sich rückwärts in Richtung Sephiroth, um ihn an der ungeschützten Seite zu erwischen. Schneller, als Clouds Augen folgen konnten, hatte Sephiroth die Masamune senkrecht hochgerissen, und Clouds Klinge schlug funkensprühend dagegen. Beide Schwerter bildeten ein rechtwinkliges Kreuz, während die Kontrahenten einander anstarrten. Cloud konnte nicht sehen, was Sephiroth durch den Kopf ging, und andersherum war es dasselbe. Muss das wirklich sein?, fragte sich Cloud in Gedanken, und sein Widerwillen gegen dieses Gefecht wurde ihm bewusster denn je. Sand stob vom Boden hoch, als Sephiroth sein Schwert fortriss und nach hinten auswich. Dann breitete er seinen schwarzen Flügel aus, wirbelte damit erneut Staub auf und hob wie ein Adler vom Boden ab. Cloud blickte enttäuscht hinterher. „Das – das ist unfair! Du hast selbst gesagt, dass ein einzelner Flügel zum Fliegen nicht taugt!“ „Habe ich gesagt, das stimmt. Ich würde aber auch behaupten, dass ein Umhang im Normalfall nicht zum Fliegen taugt“, antwortete Sephiroth leichthin. Obwohl er sich ein ganzes Stück über dem Erdboden befand, konnte sein Schwert Cloud immer noch erreichen. „Umhang? Verdammt, wenn du den von Vincent meinst, du weißt genau, dass ich den nicht ...“ Seine Stimme verebbte, denn als er einen Schritt nach rückwärts machte, strich etwas um seine Hüften. Er wurde sich bewusst, dass der rote Stoff hinter ihm herwehte, dass drei der fünf Lederriemen fest geschlossen um seinen Hals lagen. Er schauderte. „Nnnein ... bitte nicht! Ich will ihn nicht!!“ „Wenn du gegen mich kämpfen willst, brauchst du ihn“, sagte Sephiroth mit eiskalter Stimme, während Cloud versuchte, sich aus dem Umhang zu winden, von dem er das Gefühl hatte, er würde ihm die Luft abzudrücken versuchen. „Arrgghhh.“ Cloud keuchte, konnte aber die Lederriemen nicht lösen. „Ich will nicht. Es ist meine Schuld, dass er tot ist! Ich kann mit dieser Schuld nicht herumlaufen ...!!“ „Ach, aber mich lässt du mit einer viel größeren Schuld herumlaufen, nicht wahr?“ Die Masamune schoss knapp über Clouds Kopf hinweg, zwei oder drei schimmernde Haarspitzen schwebten zu Boden. „Hör sofort auf damit!“ „Nein.“ „Dann wache ich eben auf!“ „Nein.“ Cloud sprang wie eine wütende Raubkatze in Sephiroths Richtung; wäre er wirklich ein Tier, hätte er seine geifernden Zähne gefletscht. Sein Schwert schlug mit dem von Sephiroth aufeinander, einmal, zweimal. Sephiroth war schnell wie ein Geschoss, aber Cloud konnte sich in einem ihm völlig fremden Element genauso wendig bewegen. Er schwebte, so hoch er wollte. Es ging noch leichter als Schwimmen. „Verdammt, lass mich doch endlich in Ruhe! Ich will nicht gegen dich kämpfen!“ „Aber du tust es doch gerade.“ Gleißende Blitze umflossen die aufeinanderklirrenden Klingen, die sandige Luft brannte in den Augen. Es war ein Traum, aber er war hyperreal. Zu Clouds erneutem Entsetzen sprudelte plötzlich Wasser aus dem Sandboden. Nicht nur an einer Stelle, gleich an mehreren schoss das feuchte Aggregat wie aus Springbrunnen heraus und überflutete das ganze Kolosseum. „Was – was hast du dir jetzt schon wieder einfallen lassen?“ Anstatt zu antworten, stieß Sephiroth wieder direkt von oben mit der Klinge zu, und Cloud hielt ihm entgegen. Das steigende Wasser erreichte bereits seine Knöchelgelenke. „Wasser ist genauso ein Element wie die Erde und die Luft, Cloud“, erklärte Sephiroth. „Was meinst du, bist du allen dreien gewachsen?“ Als habe seine Flugfähigkeit von einer Sekunde auf die andere seine Wirkung verloren, ließ Sephiroth sich fallen und vollführte einen Kopfsprung ins Wasser. Cloud starrte ihm perplex hinterher. Längst war er der Meinung, dass es hier nicht um einen bloßen Kampf ging; Sephiroth wollte Cloud nicht gegen sich aufhetzen, sondern ihm irgendetwas vermitteln. Etwas, das ich nicht kapieren würde, wenn er es mir nur einfach sagen würde ... Ohne langes Überlegen tauchte Cloud in die dunklen Fluten, um nach Sephiroth Ausschau zu halten. Dann kam ihm der Gedanke, dass das Wasser vermutlich weiterhin steigen würde und dass er die Oberfläche unbedingt im Augen behalten musste. Als er den Blick hob, sah er nichts. Er fühlte das Wasser um sich herum, aber es schimmerte kein Licht hindurch. Die Oberfläche musste schon meterweit entfernt sein ... Schnell machte Cloud sich daran, ihr hinterher zu tauchen, steil nach oben. Er war nicht weit gekommen, als ihn auch schon jemand am Fuß packte und mit einem Ruck ein ganzes Stück nach unten riss. Empört wollte Cloud einen Ausruf von sich geben, aber nur Blasen kamen heraus, und sein Mund füllte sich mit Süßwasser. Er hustete. Jemand – Sephiroth, wie er vermutete – packte ihn am Handgelenk. Cloud gefror das Blut in den Adern, als ihn nun wieder die Angst zu ersticken packte, die Panik, nicht atmen zu können. Sephiroth machte keine Anstalten, seine Hand loszulassen. Er würde Cloud ertrinken lassen. Es sei denn ... Cloud reckte den Hals und sog das Wasser wie Luft in sich hinein. Erstaunlicherweise geschah das nicht auf die Weise, die er gewohnt war, sondern über Schlitze an seinem Halsansatz ... Kiemen. Ihre vielschichtigen Deckel waren beweglich wie einzelne Finger. Das Gefühl des Erkennens überkam Cloud. Er kannte das; es wuchsen einem immer kurzzeitig Kiemen, wenn man sie bei sich trug ... Er griff in den Substanzschacht des Schwertes und strich über eine wohlvertraute violette Rundung: die Unterwasser-Substanz. Sephiroth, den er jetzt im dunklen Wasser gut erkennen konnte, setzte ein triumphierendes Lächeln auf. Dein Grinsen wird dir jetzt vergehen, dachte Cloud grimmig. Ich will nicht permanent von dir verarscht werden. Jetzt kriegst du den Beweis dafür, dass ich dir in allen drei Elementen sehr wohl überlegen bin. Er stieß die Schwertspitze waagerecht in Sephiroths Richtung, mit aller Kraft, die er aufbieten konnte, in der Hoffnung, Sephiroth einen gehörigen Schrecken einzujagen. Ringsum stiegen Blasen auf, nahmen Cloud für einige Sekunden die Sicht – und dann färbte sich das Wasser rot. Wo Cloud auch hinsah, erblickte er Blut; nirgends sah die Flüssigkeit um ihn herum noch wie Wasser aus. Ein Schauer durchfuhr ihn, und dann sank das Wasser in den Boden zurück, wo es hergekommen war. Über den ganzen schlammigen Sandboden der Arena floss das verdünnte Blut und versickerte langsam. „Oh, nein ... verdammt, was habe ich jetzt getan?“ Er blickte sich um, sah Sephiroth in einiger Entfernung liegen und lief zu ihm hin. Sein Gegner war immer noch ganz nass, aber es schien, als habe sein Blut ihn mehr durchnässt als das Wasser. Mit einer Hand unterbrach er den schwachen roten Strom, der aus seinem Mund floss, und richtete den Blick auf Cloud. „Siehst du – ich hab’ doch gesagt, du kannst das.“ „Das hast du nicht gesagt!“, widersprach Cloud empört und legte einen Arm um Sephiroths Brustkorb, um ihn ein Stück vom Boden hochzuheben. „Was habe ich jetzt angerichtet, Sephiroth? Was?“ „Du hast mich besiegt. Das ist alles, was ich gewollt habe. Ich sollte dir klarmachen, dass du dich wehren musst, aber das war mir nicht so wichtig ... Du hattest dich aufgegeben, hast gedacht, dass du nie wieder kämpfen könntest. Nachdem das mit Vincent passiert ist ... hast du dich selbst verloren. Aber du siehst, du hast keinen Grund dazu ... du bist nicht schwach. Du bist stark genug, um uns und das SPECULUM gegen alles zu verteidigen, wenn du dich zusammenreißt.“ Er leckte ein wenig Blut von seiner Lippe, aber als er zu schlucken versuchte, quoll neues hervor. „Du musst nur zu deiner eigenen Stärke zurückfinden. Das kannst du. Argh – ich weiß, dass du das kannst! Alle wissen es.“ Cloud senkte den Blick. Um ihm das zu beweisen, hatte Sephiroth mehr auf sich genommen als ihm lieb war. „Was ... was ist jetzt mit dir? Wirst du ...“ „Cloud.“ Sephiroth entwand sich ein Stück weit seinem Griff. „Ich bin doch nicht mehr am Leben. Ich bin bloßer Lebensstrom, wenn du so willst. Mir kann nichts passieren. Aber nun reiß dich zusammen, bereite dem ein Ende, was in der Außenwelt vor sich geht. Sorg dafür, dass die Menschen den Cetra fernbleiben und das Verheißene Land weiter bestehen kann. Wirst du das tun?“ „Ich ...“ „Cloud, bitte.“ „Nun ... ja. Natürlich ...“ „Sehr gut. Ich wusste, du würdest niemanden enttäuschen. Dann sehen wir uns gleich in Midgar wieder.“ Sephiroth fasste Clouds Hand, und es wurde dunkel. Vielleicht war nur das Licht verschwunden, aber auch das Gefühl von Koordination oder Berührung verflüchtigte sich. Das nächste, was Cloud spürte, war die weiche Decke seines Bettes in Helen Clancys Haus in Midgar. Seine Operationswunde schmerzte nicht unwesentlich, obwohl die Kompresse wahrscheinlich den Schweiß ferngehalten hatte. Er blinzelte ins Mondlicht und war sofort hellwach; schnell schaltete er die Nachttischlampe ein und sah sich nach der Taube um, die nach wie vor neben ihm auf der Bettkante saß. „Sephiroth ... alles in Ordnung? Ist das gerade ... wirklich passiert ...?“ Die Taube nickte mit dem Köpfchen, hob dabei jedoch wieder die Flügel hoch – ganz so als würde sie es Clouds eigenem Urteil überlassen, ob das, was er gesehen hatte, real gewesen war ... Cloud sah ihn zweifelnd an, dann griff er nach seiner Hose, die auf einem Stuhl lag, und holte ein paar Sesamkörner aus der Tasche. „Los, komm her. Zeig mir, dass du okay bist, ja?“ Sephiroth rührte sich nicht. „Bitte, iss, damit ich sicher bin, dass ich dich nicht verletzt habe.“ Auf der Handfläche hielt Cloud dem Vogel die Körner hin. Eine Weile lang starrte Sephiroth scheel hin, dann machte er einen großen Schritt auf Clouds Hand und pickte zögerlich ein Korn auf. „Na bitte“, murmelte Cloud. Erleichtert darüber, dass Sephiroth aß, warf er die Unsicherheit ab und erlaubte sich, einige Gedanken seinen Freunden zu widmen ... sie hatten ihn hier zurückgelassen, ohne ihm zu sagen, was sie eigentlich vorhatten. Sie waren mit der Tiny Bronco weggeflogen, soviel wusste er, aber wohin oder aus welchem Grund, das hatte er nicht erfahren. „Aber sie werden’s uns schon noch sagen, stimmt’s?“ Die Taube gurrte leise und schluckte das letzte Korn. „Gut, aber jetzt ins Bett. Und nun lässt du mich einfach ruhig schlafen, ja?“ Sephiroth flatterte auf seinen Platz neben dem Kopfkissen zurück, und wie als Beweis dafür, dass es nun auch seiner Meinung nach Zeit zur Ruhe war, steckte er den Kopf unter die Flügel. Kapitel 28: Art Work -------------------- Irgendetwas sah von oben her ganz anders aus als gewöhnlich. „Ich sehe die Vergessene Stadt überhaupt nich’“, sagte Barret und machte damit als erster die beunruhigende Feststellung. „Dabei is’ da unten alles erleuchtet.“ Cid hatte die Bronco bereits zur Landung angesetzt, und der Schlafende Wald mit all seinen kleinen Dörfern, die um ihn herum wie Pilze aus dem Boden gesprossen waren, kam in deutliche Sichtweite. „Naja, äh“, begann Tifa, „die haben das Gebiet jetzt großflächig besiedelt, soviel ich weiß ... ich hoffe mal, dass die heilige Stätte des Alten Volkes davon unberührt geblieben ist ...“ „Und wenn nicht?“ Nanaki warf einen unheilvollen Blick in die Runde, und sein Schwanz peitschte über den Boden. Tifa sagte nichts, schaute nur weiter aus dem Fenster, wo die tiefverschneite Landschaft den Blick eines jeden Betrachters fesselte. Nach der etwas holprigen Landung unweit von Bone Village sank die Bronco erst einmal einige Zentimeter tief in den Pulverschnee ein. „Auch das noch“, grummelte Cid, als er ausstieg. „Hoffen wir, dass wir hier nachher wieder loskommen.“ Yuffie rieb sich die Ohren. „Ich friere jetzt schon! Wo müssen wir überhaupt hin? Sephiroth hat uns nur gesagt, dass die Substanz irgendwo in der Vergessenen Stadt sein muss, aber mehr wissen wir nicht ... wenn sie irgendwo mitten herumliegen würde, hätten wir sie damals schon gefunden, meint ihr nicht?“ „Haben wir denn damals nach ihr gesucht?“, stellte Reeve eine weitere nicht sehr intelligente Frage. „Soviel ich weiß nicht.“ Tifa, die ihr Gesicht bis zur Nase hinter dem Kragen zu verstecken suchte, schaute sich aufmerksam in der tristen Gegend um. Außer der hellen Lichter von Bone Village war rundherum im tiefen Schnee nichts zu sehen. „Lasst uns erst einmal in der Stadt vorbeischauen.“ Sie schickte sich an zu gehen, drehte sich dann aber nach Aeris um, die einen schmerzvollen Laut von sich gegeben hatte. „Aeris! Was ist? Alles in Ordnung?“ Rasch eilte sie zurück und stützte die Schwangere, die ihre Wolljacke enger um sich zog und nur schwerlichst vorankam. „Ich w-weiß nicht“, antwortete die Cetra und hielt sich an Tifa fest. „Irgendwie ist dieses ganze Hin und Her ziemlich anstrengend, wisst ihr.“ Tifa sah die Anderen an. „Lass sie in der Bronco“, sagte Cid versuchsweise. „Aeris, wenn du willst, dreh dir doch die Heizung auf und warte, bis wir wieder da sind.“ Aeris schüttelte den Kopf, und Schneeflocken fielen von ihrem glatten dunkelblonden Haar. „Ohne mich findet ihr die Substanz nie“, flüsterte sie. Tifa seufzte. „Wenn das hier zu viel für dich ist, müssen wir warten. Dich zu verausgaben ist weder für dich noch für das Kind gut.“ „Das ist jetzt egal.“ In der Schummrigkeit war ihr fester Blick gut zu erkennen, als sie an den Anderen vorbei ging und allen voran auf die Stadt zuhielt. Tifa, Barret und Cid sahen ihr nach und folgten ihr dann still. Nanaki, Yuffie und zuletzt Reeve trotteten hinterher durch die weißen Massen. Bone Village, als einzige bewohnbare Großstadt im ganzen nordischen Kontinent, hatte sich um ein Vielfaches vergrößert. Die Ausgrabungen fanden nur noch im Zentrum statt, wo hinter schweren Eisenzäunen das gigantische Drachengerippe lag und nur noch der Bewunderung aus der Ferne diente. Als sie zusammen nun eben diesen Platz betraten, kniff Barret angestrengt die Augen zusammen. „Leute, ich erkenn’ hier nix wieder! Wo ist der Wald? Wo ist der Weg in die Vergessene Stadt?“ Cid verschränkte die Arme und hob beide Augenbrauen. „Tja ... was sagt ihr ... zu diesem Ding da drüben?“ Sein Blick wanderte zu einem imposanten, nicht eben platzsparenden Bauwerk direkt neben den Bürogebäuden des Ausgrabungsunternehmens. „Mir war so, als müsste da irgendwo früher der Eingang zum Schlafenden Wald gewesen sein ... vorausgesetzt, das Drachengestell steht jetzt wieder da, wo’s früher stand. Abgesehen von dem Schädel natürlich, mit dem wir damals die Wasserader verschließen mussten ...“ „Das ist wahrscheinlich“, sagte Nanaki, auf dessen Fell sich Schneeflocken sammelten. „Naja, wollen wir mal hingehen?“ Tifa runzelte die Stirn. „Glaubst du, dass da drinnen ein Hinterausgang in den Wald führt oder was?“ „Boah, lasst uns reingehen!“, jammerte Yuffie. „Da drinnen ist es wenigstens warm! Ich bin dieses arschkalte Klima einfach nicht gewöhnt!“ „Magst du meine Jacke haben?“, bot Reeve ihr sogleich an. „Nein, ich will rein!“ „Na schön“, gab Tifa nach. „Na schön, kommt, gehen wir. Vielleicht kann uns dort irgendjemand Auskunft geben oder so.“ Je näher man dem einladend aussehenden Torbogen kam, desto deutlicher war auch die Aufschrift darauf zu lesen: ART EXHIBITION OF BONE VILLAGE. „Eine Kunstausstellung“, murmelte Nanaki. Bevor er über die Fußmatte lief, schüttelte er sich den Schnee aus dem Pelz. „Also, wisst ihr ... mit Kunst kenne ich mich nicht so besonders gut aus ...“ „Tja, ich auch nicht“, antwortete Cid, der gerade mit mürrischer Miene ein No Smoking-Schild zur Kenntnis nahm. Yuffie warf Reeve einen auffordernden Blick zu, und er folgte ihr; der Vorraum hieß die Sieben mit warmer Luft und wenig grellem Licht willkommen. Es roch nach allerhand von Farben, Fixierstoffen und Lösungsmitteln. Kunstwerke brauchten bekanntlich Pflege. „Willkommen“, sagte ein kleiner lächelnder Mann im Anzug, welcher dieselbe Farbe hatte wie sein Haar und seine Augen, was auf den Betrachter direkt langweilend wirkte; anscheinend durfte er den Gemälden mit einem interessanteren Äußeren nicht die Show stehlen. „Möchten die Damen und Herren vielleicht eine kleine Führung durch unsere weitläufige und umfangreiche Kunstausstellung?“ „Nein“, antwortete Tifa prompt. „Wir haben nur eine Frage. Nun, dieses Ding hier wurde direkt vor den Schlafenden Wald gebaut, ist das richtig?“ „Ja, Verehrteste, aber das ist nun schon einige Jahre her ...“ „Jaja, wie auch immer, gibt es noch einen Weg hinein? In den Wald, meine ich?“ „Oh ... ja, selbstredend ... aber, wissen Sie, heutzutage besucht so gut wie niemand mehr die Cetra-Stätte. Das Alte Volk ist ja nun schon seit einer ganzen Weile vollständig von der Erde verschwunden ...“ „Ach ja?“, unterbrach ihn Aeris und widmete ihm einen intensiven Blick ihrer stechend grünen Augen. Erst jetzt schien der Angestellte sie zu bemerken. „Oh – äh – Sie ... Sie sind ...?“ „Ja, ich bin. Das Alte Volk wird noch nicht vollständig aussterben.“ Sie deutete auf ihren Bauch. „Ich verstehe. Bitte verzeihen Sie. Äh, nun ... gehen Sie einfach den Hauptgang ganz hinunter, dann wird Ihnen eine Tür mit der Aufschrift ‚No Exit’ praktisch ins Gesicht springen, ahaha ... nehmen Sie die und halten Sie sich auf dem Übergang. An den Seiten geht es steil runter, also Vorsicht. Am anderen Ende beginnt der Wald. Aber er schläft, wissen Sie.“ Tifa schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Verdammt – ich wusste doch, dass wir was vergessen haben! Die Mondharfe!“ „Die brauchen wir nicht“, erwiderte Aeris ohne zu zögern. „Kommt schon.“ Einen zweifelnden Blick zurückwerfend, der wohl daran erinnern sollte, was für anomale Fähigkeiten in Aeris schlummerten, ging Tifa ihr hinterher an der ersten Reihe von Gemälden vorbei. „Du liebe Zeit“, kommentierte Yuffie die Ausstellungsstücke zu ihrer Rechten und Linken, „das, äh ... was ist das?“ „Steht immer drunter“, sagte Nanaki. „Mit Namen des Künstlers und des Gemäldes. Wir sind gerade im Bereich des ... äh ... Kubismus.“ „Ah ja.“ Misstrauisch starrte sie von einem Bild zum anderen. Alle zeigten deformierte Körper und Gegenstände mit Kanten und Spitzen, sollten offenbar etwas oder jemanden von mehreren Seiten gleichzeitig darstellen. „Nur gut, dass ich kein Kunstkritiker bin. Ich finde, diese Dinger beleidigen das menschliche Auge!“ „Nicht nur das menschliche“, kam es leise von Nanaki zurück. Barret würdigte die Kunst rundherum keines Blickes, sondern marschierte mit verschränkten Armen hinter Aeris und Tifa her. Der Gang war furchtbar lang und schien kein Ende zu nehmen; die Tür und ihre Aufschrift waren noch nicht einmal in Sicht. Cid riss die Augen auf. „He, Barret, jetzt musst du hingucken! Wir laufen gerade durch die Stillleben ... du weißt schon, wenn man Dinge malt, die sich nicht bewegen können, also Flaschen und Weintrauben und ...“ „Ich weiß, was Stillleben sind“, fauchte Barret, was den Anderen ein amüsiertes Lächeln abzwang. „Aber guck mal, was die Künstler für einen Scheiß malen! Jeden Blödsinn! Hier zum Beispiel: ‚Stillleben mit weißer Teekanne’“, begann er die Titel der Gemälde vorzulesen. „Und hier ... ‚Stillleben mit Melone, Zwieback und Ingwerkeks’ ...“ Barret wandte misstrauisch den Blick zur Seite. „Ich trau’ der Kunst sowieso nich’ über’n Weg. Is’ doch alles Quatsch.“ Er schaute allerdings doch hin, als ein weiteres Gemälde seine Freunde um ihn herum in heiteres Gelächter versetzte. Es trug den Namen Spargelbündel. „Also das sieht aus, als hätte es ein Vorschulkind gemalt!“ Barret deutete anklagend auf Tisch mit zwei Bechern. „So was kann ich auch!“ „Das Beste kommt erst noch“, bemerkte Tifa mit leicht zynischem Ausdruck, „weil direkt vor uns die Kategorie der Konkreten Kunst beginnt. Darüber hab’ ich was in der Schule gelernt, damals. Die Kunst daran ist, dass die Gemälde nur aus irgendwelchen geometrischen Formen bestehen und man absolut nichts hineininterpretieren kann. Entsprechend sehen die Dinger natürlich auch aus.“ „Das soll also heißen,“ schlussfolgerte Reeve, „wenn der Künstler ein grünes Dreieck malt ... dann bedeutet das – ...“ „... dass da ein grünes Dreieck ist. Mehr nicht.“ „Und das soll Kunst sein?“ „Was Kunst ist und was nicht, wird schon seit Jahrhunderten diskutiert. Es gab mal einen Künstler, der hat einen alten Zaun ins Museum gestellt und behauptet, das sei Kunst. Kam sehr gut an. Tatsache ist, jeder Depp kann Künstler werden, wenn seine Werke gemocht werden. Wie sich die Stilrichtung der Konkreten Kunst entwickelt hat und vor allem wann jemand auf diese idiotische Idee gekommen ist, würde ich allerdings doch gerne wissen.“ Reeve war fasziniert, einen Kunstbereich entdeckt zu haben, mit dem sogar er zurechtkam; er dachte im Stillen darüber nach, sich selbst einmal daran zu versuchen. Schweigend und kopfschüttelnd gingen die Gefährten weiter eiligen Schrittes den Gang hinunter, und mehr als das von vielen Schuhen verursachte Geräusch war nicht zu hören. Nur am allerletzten Gemälde hielt Tifa noch einmal an. „Das hier ist übrigens eines der berühmtesten Werke des Konstruktivismus.“ Ihre Begleiter rollten kollektiv die Augen, als sie Schwarzes Quadrat auf weißem Grund erblickten. „Das ist auf eine ganz simple Form gebracht, interessant“, kommentierte Reeve im Ton des Fachmannes, dann las er den Text unterhalb des Bildes: „‚Schwarzes Quadrat auf weißem Grund’ reduziert auf elementare Art die gesamte Bildgestalt auf eine einzige geometrische Primärform und erreicht in seiner ästhetischen Autonomie eine Hauptintention des Konstruktivismus.“ Er grinste, verbiss sich jedoch Weiteres, als die allgemeine Aufmerksamkeit sich der Tür direkt gegenüber zuwandte. Auf ihr prangten die Worte ‚No Exit’. Kapitel 29: On A Quest ---------------------- Der Schlafende Wald lag so still da wie eh und je. Keine Vögel zwitscherten und keine Tiere sprangen durch das Unterholz. Malerisch, voller Ruhe und Harmonie erstreckte sich der heilige Ort bis ans Ende des Übergangs, den das Grüppchen nun verließ. „So, ist ja schön und gut“, begann Cid, bereits im Begriff, sich endlich wieder eine Zigarette anzuzünden, „aber wie sollen wir ohne Mondharfe den Wald aufwecken? Hä?“ „Wir lassen ihn schlafen“, antwortete Aeris. Das fahle Licht der kaum merklich einsetzenden Morgendämmerung ließ sie bleich und geisterhaft wirken. „Ihr müsst nur zusehen, dass ihr hinter mir bleibt. Am besten, wir halten uns alle an den Händen.“ Yuffie schnitt eine Grimasse. „Wie im Kindergarten!“ „Du kannst natürlich auch in den unendlichen Weiten des Waldes verloren gehen“, gab Aeris zynisch zurück. Prompt umklammerte Yuffie Tifas Arm, die überrascht herumfuhr. Barret zuckte die Schultern und packte Nanakis Schwanzquaste, darauf achtend, sich nicht zu verbrennen, und Aeris fasste das Ohr des Vierbeiners, da er außer seinen Zähnen keine Möglichkeit zum Festhalten hatte. „Los, folgt mir, und nicht loslassen.“ Der Wald schluckte die Sieben wie ein riesiges grünes Maul. Sobald sie ihn betreten hatten, schloss er sich hinter ihnen, ohne einen weiteren Blick auf den Eingang freizugeben. Seltsamerweise funkelten Lichtstrahlen durch das Blätterdach, obwohl die Nacht noch viel zu finster war, und bläuliche Nebelschwaden verschleierten die Sicht auf die Bäume ringsherum. Tifa seufzte tief, als sie ein beklemmendes Gefühl in der Brust verspürte. „Dass wir hier waren, ist schon so lange her ... erinnert ihr euch?“ Ihre Stimme blieb ganz ohne Widerhall, als spräche sie durch ein dickes Stofftuch. „Der Wald ist so alt wie diese Welt“, antwortete Aeris und ging festen Schrittes voran, ohne irgendein Zögern zu zeigen. Zwischen all diesen grünlichen Schatten schien sie den Weg ganz klar vor sich zu sehen. Eine Weile lang passierten sie Bäume, immer und immer wieder, und nichts ringsherum schien auch nur die kleinste Änderung aufzuweisen. Ganz so, als bewegten sie sich gar nicht von der Stelle. „Wir laufen nicht im Kreis“, sagte Aeris irgendwann, als habe sie die Gedanken der Anderen gelesen, und hielt Nanakis Ohr ganz fest. „Wir sind gleich da. Ihr werdet überrascht sein ...“ „Erklär mir eins“, murmelte Barret hinter Nanaki, „wenn nur besondere Leute nach ihrem Tod zu so lustigen Tauben werden, wieso is’ ausgerechnet Sephiroth eine geworden und Vincent nich’? Ist das nich’ irgendwie ungerecht?“ „Nein.“ Mehr sagte sie nicht. Barret wartete ab und hakte verwirrt nach: „Ja ... und wieso is’ das so?“ „Soll ich das jetzt erklären?“ „Darum hab’ ich ja gebeten, ich versteh’ das nich’.“ „Ich auch nicht“, schloss sich Yuffie an. Aeris ging beständig weiter. „Nun, wisst ihr, was die Cetra seit jeher von den Menschen unterscheidet?“ „Dass sie mit dem Planeten sprechen?“, sagte Tifa versuchsweise. „Ja, aber nicht nur das. Also, ihr seid hier, um Gutes zu tun, nicht wahr? Würdet ihr auch Gutes tun, wenn ihr dabei unsichtbar wärt, wenn sich also niemand bei euch bedanken würde und sich auch überhaupt keinerlei Vorteil für euch ergäbe? Würdet ihr dann für jemand Anderen euer Leben riskieren, vielleicht sogar opfern, wenn dieser Jemand davon überhaupt nichts merken würde und auch sonst niemand? Ich meine ... versteht ihr, was ich sagen will?“ „Du willst sagen, dass wir nur dann Gutes tun, wenn sich für uns ein persönlicher Vorteil daraus ergibt?“, fragte Tifa argwöhnisch. „Oder wenn euch bei Nichtbefolgen eine Strafe angedroht wird, wie zum Beispiel Gefangenschaft oder sonst irgendwas. Denkt mal darüber nach.“ Die anderen schwiegen verwirrt, während sie ihr hinterhergingen, dann fragte Cid: „Aber Cloud nicht, oder? Cloud tut doch auch Gutes, obwohl es niemand bemerkt. Du weißt selbst, wie er Sephiroth und JENOVA verfolgt hat.“ „Cloud tut das alles aufgrund von Persönlichkeitskomplexen“, antwortete Aeris zur nicht mäßigen Überraschung der Anderen. „Ääh – wie jetzt?“ Yuffie schielte perplex zu ihr nach vorn. „Er hat Sephiroth verfolgt, weil der Nibelheim abgebrannt hatte, war es nicht so? Tifa tat es, weil ihr Vater getötet worden war, und Vincent jagte Hojo wegen Lukretia. Das sind alles Komplexe. Wäre das nicht passiert, hättet ihr nicht so gehandelt.“ Aeris legte eine wohlbedachte Pause ein. „Dieses auf Vorteile bedachte Handeln ist den Cetra nicht zu eigen, wisst ihr. Und Sephiroth auch nicht.“ „Boah!“, fuhr Barret auf. „Das war ja wohl der größte Komplex von allen! Der hat sich nur für dich opfern wollen, weil er mit den ganzen verdammten Erinnerungen nich’ klargekommen is’!“ Die Cetra ließ sich nicht beirren. „Seine Beweggründe waren andere. Sephiroth hätte sich auch einfach von irgendeiner Klippe stürzen können, wenn er nur sein Leben loswerden wollte ... aber er schleppte weiterhin diese Wahrheit mit sich herum, und er wäre daran zugrunde gegangen, hätte er nicht alles darangesetzt, dem Planeten etwas Gutes zu tun. Wir nennen das eine reine Intention. Und die ist sozusagen ... eine Fahrkarte ins Verheißene Land. Versteht ihr?“ „Das soll also heißen, außer Sephiroth sind noch andere Nicht-Cetra dort gelandet?“, fragte Cid argwöhnisch. „Bugenhagen.“ „Ach herrje!“ Nanaki sprang auf. „Was, er ist dort?! Kann ich ihn sehen? Bitte! Ich muss unbedingt mit ihm sprechen! Wenn wir die Maschine in Sicherheit gebracht haben, darf ich das Verheißene Land besuchen? Darf ich?“ Aeris schien sich überrumpelt zu fühlen. „Warte ... wenn alles gut geht, wird sich ein Besuch dort gar nicht vermeiden lassen ...“ Sie war plötzlich stehen geblieben, woraufhin die Anderen es nur schwer vermeiden konnten, gegen sie zu stoßen. „Entschuldigung, aber irgendetwas ... stimmt hier nicht ...“ Sie blinzelte. „Kommt, wir sind direkt davor ...“ „Ja, was ist denn nun?“, wollte Yuffie wissen. Der Trupp setzte sich wieder in Bewegung. „Wo sind denn – ach du Schreck!“ Die Sonnenstrahlen, die ohne Unterlass von oben herabgefallen waren, verschwanden plötzlich; der ohnehin nicht sichtbare Himmel verdunkelte sich wie unter einem großflächigen Schatten, und hinzu gesellte sich der Lärm von Dutzenden schlagender Vogelflügel. Was direkt über Aeris und den Anderen kreiste, war ein riesiger Schwarm Tauben. Aeris duckte sich unter ihnen weg und riss ihre Freunde mit sich durch das grüne Dickicht, hinaus auf die offene Fläche des Stadtpfades, der aussah wie aus silbernen Drachenschuppen. Auch hier war der Himmel verdeckt von Millionen kreisender Tauben. „Schneller!“ Aeris umschloss Nanakis Ohr ganz mit der Faust und zerrte die Sechs hinter sich her in eines der riesigen Schneckenhäuser. Cid hielt sich, während er rannte, eine Handfläche über den Kopf; so ganz traute er den Tauben noch immer nicht über den Weg ... Unterhalb des Kalkdaches atmeten sie auf. Der Lärm der Vögel war nur schwer zu übertönen. „Sie sind völlig in Aufruhr!“, rief Aeris. „Vermutlich ist dem Verheißenen Land bereits etwas zugestoßen ... in jedem Falle droht allen Cetra Gefahr. Deswegen haben sie Miragia verlassen und sich hier versammelt.“ Sie biss sich auf die Lippe, und auf ihrer Stirn zeigten sich kaum merklich Furchen, während sie nachdachte. Tifa holte tief Luft und schrie: „Was sollen wir denn jetzt machen?!“ „Wir können nichts tun!“, gellte Aeris zurück. „Wir müssen die Substanz suchen und die Maschine von Lukretia in unsere Gewalt bringen! Schnell, wir gehen zu dem Haus, in dem sich der Altar befindet, wo Sephiroth mich damals auf sein Schwert gespießt hat! Kommt!“ Früh in der Nacht öffnete Cloud die Augen und blinzelte träge zum Bettrand hinüber. Sephiroth saß nicht mehr dort. Wahrscheinlich hilft er den Anderen, dachte Cloud noch immer erschöpft und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Ein orangefarbener Clownfisch glotzte ihnen aus seinen glasigen Augen entgegen, während er langsam mit den Brustflossen schlug. „Das Vieh“, stöhnte Barret. „Wie kriegen wir den da weg?“ „Wartet.“ Aeris trat vor, und die schwach weiß leuchtenden Kugeln an den Wänden begannen, ein übernatürliches Licht auszustrahlen. „Merkt euch, dieser Wächter ist nur ein Trugbild. Wer es allerdings nicht durchschaut, der kann nicht vorbei.“ Sie machte eine gebieterische Handbewegung, und scheinbar ohne Notiz davon zu nehmen, verblasste der Fisch plötzlich wie ein zwielichtiger Schatten, bis er zuletzt ganz verschwunden war. Die Treppe hinter ihm führte hinunter in eine altbekannte Dunkelheit. Kapitel 30: A Piece Of Work --------------------------- Cloud lag bäuchlings auf seinem Lager und starrte in die Morgendämmerung vor dem Fenster hinaus. Seine Wunde schmerzte nicht mehr so sehr wie noch nach dem nächtlichen Gefecht, aber stattdessen begann wieder diese seltsame Leere sich in ihm auszubreiten. Zurückgelassen bei einer Fremden wartete er darauf, dass seine Freunde den Fehler ausbügeln konnten, den er verschuldet hatte ... hatte er das ...? Eigentlich, dachte er, müsste ich bei ihnen sein. Ich weiß weder, was sie vorhaben, noch was sie überhaupt gerade treiben ... wenn ihnen was passiert, dann muss ich mich drauf verlassen, dass ihnen die Cetra aus der Patsche helfen. Warum bin ich überhaupt hier?! Übellaunig zog er die Vorhänge vor das Fenster und setzte sich auf die Bettkante. Von unterhalb der Treppe erklangen gelegentlich Schritte, was darauf schließen ließ, dass Helen Clancy bereits dort herumwuselte. Augenscheinlich eine Frühaufsteherin. Wie Tifa. Da haben sich ja zwei gefunden ... „Cloud!“, sang die Stimme plötzlich fröhlich. „Bist du schon auf da oben?“ Schnell warf Cloud einen Blick auf die Uhr und entschied, dass er noch nicht wach war. Er kuschelte sich wieder ein und gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie jemand, der soeben fast von etwas geweckt worden war. „Ach, noch nicht. Hätt’ ja sein können. Schlaf dich einfach aus und sag dann Bescheid, ja?“ Helens Stimme klang gedämpft vom unteren Treppenansatz hinauf, dann entfernten sich ihre Schritte. Die wird auf mich aufpassen wie ein Wachhund, dachte Cloud mürrisch, tief den warmen Federduft des Kopfkissens inhalierend. Tifa, Aeris, lasst euch bloß nicht zu viel Zeit! Einige Minuten lang lag er still auf dem Bauch und ließ seine Gedanken in weite Fernen schweifen, bis sich schließlich eine Art Halbschlafzustand einstellte. An sich war das eine feine Sache; man befand sich mitten in einem Traum, dessen Inhalt man selbst bestimmen konnte, der jedoch so flach war, dass schon die kleinste äußere Einwirkung einen unwiederbringlich herausreißen konnte. Cloud versuchte deshalb, sich bestmöglich gegen die Geräusche abzukapseln, die von unten heraufdrangen, und wanderte gemächlich inmitten seines eigenen Gedankenchaos umher. Er würde sich von nichts stören lassen. Dazu war es zu gemütlich und zu erholsam. Auf eins war er allerdings nicht vorbereitet: dass plötzlich eine Frau vor ihm stehen würde, die er nicht kannte und die er sich auch nicht in seinen Traum hineingedacht hatte. Er ging ein paar Mal um sie herum, und ihr finsterer Blick folgte ihm. Würde sie ihn nicht so furchtbar verbittert und kalt ohne jedes Blinzeln anstarren, dann würde sie – zu dem Schluss kam Cloud letztlich – wunderschön aussehen. Sie hatte langes, glänzendes kastanienbraunes Haar und hohe Wangenknochen, und ihre Augen waren mattgrün und würden vielleicht strahlen, schiene darin nicht jedes Lebenslicht erloschen. Aber eben der gedankliche Hinweis auf ihre Schönheit machte Cloud schlagartig ihre Identität klar; schwach tauchte in seinem Kopf Vincents wie verzaubert klingende Stimme auf ... Wunderschön ... Lukretia ... Cloud fühlte sich zu sehr an die Realität erinnert und versuchte, den Traum festzuhalten. Nicht aufwachen, nicht jetzt. Er musste ihr Fragen stellen ... Lukretia gegenüberstehen und sie nach ihren Motiven befragen, genau das hatte er doch gewollt. Aber ehe er wieder tief genug in den Traum eintauchen konnte, erschütterte ein dumpfes Rumsen vor dem Fenster die ganze Gegend. Cloud setzte sich im Bett auf und zog rasch die Gardine zur Seite. Innerhalb der Tiny Bronco war längst wieder alles voller Zigarettenrauch. Sephiroth saß auf Aeris Schulter, und sie hielt eine Transfer-Substanz auf dem untersten Level in den Händen. Neben ihr saßen Tifa und Reeve und starrten durch die Glasscheibe auf die kleinen Häuser tief unter ihnen. „Meine Güte“, murmelte Yuffie, „ich dachte echt, wir kommen da gar nicht mehr weg. Gut, dass Sephiroth uns gezeigt hat, wo er das Viech versteckt hatte.“ „Und dass die Cetra uns haben weggehen lassen“, fügte Tifa düster hinzu. „Stellt euch vor, die hätten uns mit ihren Schnäbeln gejagt ...“ „Warum sollten sie uns denn aufhalten, wenn wir ihnen nur helfen wollten, hä?“ „Mir schien’s nicht so, als würden die unseren Besuch so gut verstehen ...“ Das kleine Aufklärungsflugzeug senkte seine Nase Richtung Erdgrund. „Festhalten“, kam es von Cid aus dem Cockpit. „Uah, verdammt, ich kann nicht besonders viel sehen bei dem Nebel ... wollen hoffen, dass ich nicht direkt in ein Haus –“ „Cid, untersteh dich!!“, kreischte Tifa und umklammerte Barret, der wie ein Fels in einer Ecke lehnte. Es ging plötzlich ungewöhnlich schnell abwärts, dann folgte ein Ruckeln und dann so etwas wie ein Schleifen und Schürfen mit dem Gefühl, an die linke Flugzeugwand gedrückt zu werden. Cid knurrte irgendetwas Unverständliches, als die Tiny Bronco unerwartet zum Liegen kam. „Oha“, kam es von Reeve. „Sind wir schon da?“ Cid steckte sich mit einem Seufzen seine Kippe wieder zwischen die Zähne. „Also, wir sind ... da. Und zwar genau da. Wir stehen auf dem Wall Market-Platz! Argh, das hat man nun davon. Ich glaube, der Zaun ist teilweise weg ... klebt vielleicht irgendwo am Heck.“ „Oh, Helen wird sich freuen“, sagte Tifa ironisch und kletterte zwischen Yuffie und Nanaki hindurch zur Tür. Nach einigen Minuten der Unentschlossenheit kam Cloud doch die Treppe herunter und warf seiner Betreuerin nur einen fragenden Blick zu, anstatt ‚Guten Morgen’ oder etwas Ähnliches zu sagen. „Oh, hallo, Cloud. Ja, das Getöse eben, das war ein kleines Flugzeug ... also glaube ich, Tifa und ihre Kollegen sind wieder zurück von ihrer nächtlichen Tour.“ „Ah ... ja“, antwortete Cloud und versuchte, den Mund wieder zu schließen. „Moment ... wo sind sie jetzt?“ „Tja, die kommen wahrscheinlich jede Sekunde zur Tür –“ Es klingelte. Helen machte ein Ich-hab’s-ja-gesagt-Gesicht und ging, um zu öffnen. Das nächste, was Cloud irgendwie mitbekam, war, dass Aeris ihn an den Schultern packte und ernst sagte – nein, ihn viel eher ernst anschrie – : „Cloud, hör zu, wir haben die Substanz, wir haben sie, wir besorgen uns jetzt einen Substanzbrenner aus dem AVALANCHE-HQ, Cloud, und dann werden wir beide, du und ich, das SPECULUM wegholen. Wir bringen es in unser Haus nach Kalm, hörst du, Cloud –“ „Aeris!“ Er ergriff ihre zu Krallen geformten Finger und entfernte sie von seinen Schultern. „Sag mir, was zum Teufel habt ihr da draußen getrieben? Was ist passiert? Was für eine Substanz habt ihr?“ Sie starrte ihn an, dann holte sie tief Luft und fuhr langsamer fort: „Sephiroth hat uns gesagt, wie wir eine Maschine wie das SPECULUM transportieren können. Wir brauchen zwei Transfer-Substanzen ... eine auf dem MASTER-Level und eine andere als Schmelze. Er hat uns dann gesagt, wo er die andere Substanz versteckt hat, und wir sind gleich hin und haben sie geholt ... aus der Vergessenen Stadt.“ „Da wart ihr?“, fragte er fassungslos. „Diese Reise in der einen Nacht? Habt ihr überhaupt geschlafen?“ „Wir ... nein, haben wir nicht ... wir sind verdammt müde.“ Es hatte den Anschein, ihr wäre das erst bei der Erwähnung aufgefallen. „Tja, dann ...“ Er hob die Augenbrauen und warf einen fragenden Blick in die Runde. „Dann bleibt ihr jetzt alle hier und macht ein Schläfchen!“, sagte Helen entschieden, woraufhin sich alle Köpfe ihr zuwandten. „Besonders du –“ Ihr Zeigefinger mit dem rotlackierten Nagel richtete sich auf Cid. „– weil du vor lauter Konzentrationsschwäche fast eine Bruchlandung hingelegt hast! Guckt euch nur meinen Gartenzaun an, Himmel.“ „Also, den können wir dir ruckzuck wieder aufstellen“, ließ sich Barret vernehmen, mit verschränkten Armen vor dem Treppengeländer postiert. „Von mir aus, aber erst ruht ihr euch aus. Ist das klar?“ Tifa lächelte gequält. „Du musst mit ihnen nicht so reden, Helen, das ist ja schon mein Job.“ „Du bist aber momentan auch zu müde, um ihn zu machen“, konterte ihre Freundin. „Also, packt euch hin. Und während ihr schlaft, mache ich euch Waffeln. Na?“ „Ich weiß nicht, ob unser Plan so langen Aufschub gewährt“, gähnte Aeris, befand sich jedoch schon auf halbem Weg die Treppe hoch. Nach weiterer Überredungskunst blieben Cloud und Helen allein im Wohnzimmer stehen. „Beim Waffelnbacken kannst du mir nicht helfen, dazu ist die Küche zu eng.“ „Das hatte ich auch nicht vor“, erwiderte er ungerührt. „Ich muss mir erst mal was Anständiges anziehen und ...“ Er fuhr sich mit den Fingerspitzen durch seine leicht deformierten Stacheln. „... meine Frisur in Ordnung bringen.“ „Mach das.“ Sie wandte sich um, blieb aber noch einmal stehen, als ihr Blick auf die weiße Taube fiel, die auf dem Geländer saß. „Sag mal ... wem gehört eigentlich dieser entzückende Vogel?“ „Ähm – mir. Eigentlich. Äh, er ist aber handzahm und noch nie weggeflogen. Wir können ihn überall mit hinnehmen.“ Seine Stimme klang zu sehr überrascht, um für voll genommen zu werden. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, jemand könne ihn fragen, weswegen eine Wildtaube ihn und seine Freunde begleitete. Anscheinend hatte Sephiroth das auch nicht. Bevor weitere Fragen bezüglich einiger Merkwürdigkeiten fallen konnten, machte sich Cloud davon und war froh, das Badezimmer auf direktem Wege gefunden zu haben. Kapitel 31: Straight Ahead -------------------------- Irgendwann am Nachmittag, als die Dämmerung sich schon wie ein dunkles Samttuch über den Horizont spannte, waren auf der Treppe in Helen Clancys Haus in Midgar wieder Schritte zu hören. Die Kuckucksuhr tickte leise vor sich hin, die Heizung rauschte und erfüllte das urige Wohnzimmer mit wohliger Wärme, die nun noch von etwas Anderem durchtränkt war: von Waffelduft. In diesem Punkt hatte Tifas Freundin sich strikt an die selbst aufgestellte Abmachung gehalten. Cloud hatte den Vormittag damit zugebracht, sich mit seinem Vater zu unterhalten, der vor lauter Panik völlig aus dem Häuschen gewesen war. Skylar war vielleicht mit einer Reeve’schen Scharfsinnigkeit gesegnet, aber Zusammenhänge vermochte er wohl zu erkennen – und er hatte schnell begriffen, dass man ihm längst nicht die ganze Wahrheit berichtet hatte. Cloud redete auf ihn ein, träge auf dem Sofa sitzend und das PHS am Ohr, und zeigte sich geduldiger denn je, während Helen in der Küche ihr Waffeleisen strapazierte. Da es genauso alt aussah wie der Rest des Hauses, musste es wohl ein Erbstück sein. Yuffie war als erstes aus ihrem murmeltierartigen Tiefschlaf erwacht und hätte sich wohl sofort auf die Waffeln gestürzt, wäre Cloud nicht zur Stelle gewesen, um sie an beiden Schultern zu ergreifen. Beleidigt verzog sich die junge Frau ins Badezimmer. Helen nahm die kleinen Unstimmigkeiten unter ihren Gästen gelassen zur Kenntnis, was daran liegen mochte, dass sie einige anstrengende Stunden auf der Suche nach dem Puderzucker verbracht hatte. Jedenfalls waren irgendwann wieder alle auf den Beinen. Während man sich schweigend um den Rundtisch versammelte, begann Cloud sofort seinen Bericht: „Übrigens, ich habe mich mit meinem Vater unterhalten.“ Barret schnitt eine Fratze. „Uff, wir hatten den Alten ganz vergessen. Du solltest dich ja eigentlich bei ihm melden.“ „Ja, vielen Dank auch, dass ihr mir das ausgerichtet habt.“ „Tut uns Leid. Aber schau nich’ mich so an, die Ander’n haben ja auch nich’ dran gedacht.“ „Wie auch immer, jedenfalls wollte er wissen, ob er uns irgendwie helfen kann, und ich sagte, ja, er solle sich doch mal umhören nach dem Spiegel des Alten Volkes ... schließlich hat er lange Zeit in einer Bibliothek gearbeitet ...“ „Und wie kommst du auf so ein Dingens?“, fragte Tifa mit hochgezogenen Augenbrauen. „Spiegel des Alten Volkes? Hä?“ „Ich weiß auch nicht, was das ist. Als ich eigentlich zu meiner Hinrichtung eskortiert werden sollte und stattdessen in diesem Büro landete, hat dieser Fawkes-Typ versucht, mich zu bedrohen, damit ich ihm mein Geheimnis verrate, wie ich an die Maschine gekommen bin. Seine Leute wurden, wie zu erwarten war, alle von Lukretia abgemetzelt. Tja, und ich fragte ihn, was er denn eigentlich wolle, und er sagte, er suche den Spiegel des Alten Volkes. Ich kam leider nicht mehr dazu, weiter nachzuhaken. Wir müssen wissen, was das ist. Er sagte auch, seine Quellen würden einen Hinweis auf den Keller unter der Villa liefern. Was sollen das für Quellen sein und von wem stammen sie? Texte? Aufzeichnungen? Irgendwo muss es etwas geben, und wir haben vielleicht nicht genug Zeit, uns danach umzuhören. Bei meinem Vater schöpft da ja niemand Verdacht.“ „In der Tat nicht“, sagte Reeve unter Stirnrunzeln. Aeris, die ihre Hände wie eine Betende gefaltet hatte, drehte sich zu ihrer Stuhllehne um, auf der die weiße Taube saß: „Sephiroth, weißt du irgendwas darüber?“ Der Vogel schüttelte den Kopf. Mit einem Blick zur Küche hin legte Cid einen Finger an die Lippen. „Leute, Vorsicht. Gleich kommt diese Glucke mit ihren Waffeln, und die würde sich ziemlich wundern, wenn sie uns reden hören würde ... oder wenn sie ihn reden sähe.“ Er zeigte auf Sephiroth. Die Anderen nickten einander einsichtig zu und rückten wie peinlichst ordentlich ihr Besteck zurecht, als Helen wieder aus der Küche zurückkam. „Also, die ersten drei sind etwas angebrannt ... aber sonst ... Na, was schaut ihr denn so erschrocken? Bin ich mitten in ein geheimes Gespräch hineingeplatzt?“ „Nicht doch, Helen“, antwortete Tifa mit aller Liebenswürdigkeit. „Wir sind schon auf deine Waffeln gespannt.“ Dies schien die Freundin zu versöhnen, und sie stellte den Rost, auf dem die Waffeln lagen, mitten auf den Tisch. „Dann nichts wie los.“ Yuffie hatte es mit dem Sirup gehörig übertrieben. Das gestand sie sich selbst ein, als sie sich auf ihrem Stuhl zurücksinken ließ. „Es dämmert schon wieder“, stellte Cid mit einem Blick aus dem Fenster fest. „Wir sollten längst auf dem Weg sein ...“ „Ich sehe, ihr müsst gehen.“ Helen sammelte die Teller ein und stapelte sie vor sich. „Aber sagt mir regelmäßig Bescheid, ob’s euch gut geht, ja?“ Tifa nickte. „Helen, danke für alles. Ohne dich hätten wir ordentlich festgesessen. Ich wusste, auf dich können wir zählen.“ „Kein Problem. Dasselbe hättest du für mich doch auch getan. Haben euch denn die Waffeln geschmeckt?“ „Die waren klasse“, sagte Reeve wohlwollend. „Gnnnaaah“, stöhnte Yuffie neben ihm. „Und jetzt soll ich auch noch in das Flugzeug? Oh Gott!“ Cid warf ihr einen strengen Blick zu. „Wer sich überfrisst, hat selber Schuld. Und mein Flugzeug wird nicht wieder vollgekotzt, damit das klar ist!“ Cloud erhob sich von seinem Stuhl. „So, wir haben jetzt wirklich lange genug gerastet. Danke für alles, Helen, aber jetzt müssen wir uns schleunigst wieder auf den Weg machen.“ „Ich verstehe. Na dann ... eure Jacken hängen im Flurschrank, ich gebe euch noch eine Decke und was zu Trinken mit.“ „Meine Güte ... können wir das annehmen?“ „Ihr müsst, sonst bin ich beleidigt.“ „Hm, na gut. Bei Gelegenheit revanchieren wir uns. So, sind alle startklar?“ Tifa verteilte mittlerweile die Jacken aus dem Flurschrank und reichte Cloud seine herüber. „Jetzt schon. Nehmen wir die Tiny Bronco?“ „Das sollten wir wohl. Mit der Substanz könnten wir es zwar nach Junon schaffen, aber der anschließende Weg nach Nibelheim wäre dafür zu weit.“ In der Dämmerung rief ein Käuzchen, und ein runder Vollmond beanspruchte einen großen Teil des Himmels für sich. Die Tiny Bronco stand, von der Tarnplane gänzlich unsichtbar gemacht, direkt vor dem lädierten Gartenzaun. „Den bringen wir nächstes Mal wieder in Ordnung“, murmelte Cid und streckte eine Hand aus, bis er gegen das vertraute kalte Metall stieß. „Ah ja, hier ist sie. Mir nach ...“ Die Tür in der Seite öffnete sich mit einem leisen Quietschen. „Sollte auch mal geölt werden“, flüsterte Yuffie. „Du sei still!“ „Und ihr wisst, wo so ein Substanzbrenner ist, ja?“, wollte Aeris wissen. „Wir benutzen den im praktischen Unterricht“, antwortete Cloud. „So einwandfrei funktioniert er zwar nicht, aber irgendwann klappt’s ... eigentlich kann man sich also nicht beklagen.“ Im Inneren des kleinen Flugzeugs gingen die Deckenlampen an, sodass man wieder sehen konnte, wo man sich eigentlich befand. „Beim nächsten Halt“, kam es von Cid aus dem Cockpit, „müssen wir unbedingt Sprit nachtanken. Sonst landen wir auf dem Weg nach Nibelheim irgendwo im Ozean und gesellen uns der Gelnika hinzu.“ Vorsichtshalber widersprach niemand. Es folgte eine mehr oder weniger ruhige Reise. Ja, Reisen, dachte Cloud, genau wie früher ... einmal hier, einmal dort. Es wird jedenfalls nicht langweilig. Habe ich das eigentlich vermisst ...? Er war hellwach, obwohl es schon fast wieder dunkel wurde, und seine Wunde schmerzte nicht mehr. Munter sah er aus dem Fenster, wo der spiegelblanke Ozean unter ihnen vorbeizog. Kapitel 32: A Visit ------------------- Helen Clancy blieb noch eine Weile vor ihrer Haustür stehen und sah dem kleinen, sich entfernenden Flugzeug hinterher, wie es in den Strahlen der untergehenden Wintersonne zu verschwinden schien. Erst, als sie ihr uraltes Telefon im Wohnzimmer klingeln hörte, ging sie schnell ins Haus zurück. Auf dem Weg fragte sie sich, ob sie das Richtige getan hatte. Natürlich hatte sie das – sie hatte einer guten Freundin geholfen, und das war schließlich das einzig Beste, das man tun konnte. Auch wenn es vor dem Gesetz anders aussehen mochte. Tifa würde nie etwas Unerlaubtes tun oder einen ihrer Freunde dabei unterstützen ... Seufzend nahm sie den Hörer ab. „Clancy hier, hallo?“ „Helen?“ „Ach, du bist’s. Lässt du auch mal wieder was von dir hören?“ „Ich – ja“, antwortete die männliche Stimme am anderen Ende zögerlich. „Hör mal, ich fürchte, bis morgen komme ich hier nicht mehr weg. Meine Arbeit wächst mir über den Kopf, weißt du.“ „Ihr Männer seid einfach nur nicht belastbar.“ Abgelenkt wickelte sie mit dem kleinen Finger die Telefonschnur auf. „Sollen wir’s verschieben? Das ist es doch, weswegen du anrufst, oder?“ „Eigentlich ... schon.“ „Wo steckst du denn überhaupt?“ „Ich bin in Junon. Ich warte eigentlich darauf, dass ein paar entflohene Verbrecher wieder hierher zurückkommen, damit wir ihnen das Handwerk legen können.“ „Also lässt du dich immer noch so bereitwillig von Kommissar Taggert herumkommandieren?“ Die Vorstellung war amüsant. „Tja, wie man’s nimmt, im Moment spiele ich noch mit. Wenn er aber mitkriegt, dass ich nicht vordergründig seine Gauner schnappen, sondern diesen Spiegel finden will –“ Sie rollte die Augen. „Henry, hör um Gottes Willen auf von diesem Spiegel zu plappern! Du weißt nicht, was das ist, wo es ist und ob es überhaupt da ist ... nur weil du die Aufzeichnungen dieser Verrückten gelesen hast ...“ „Helen, ich habe aber einen ganz wesentlichen Fortschritt bei meiner Suche gemacht“, unterbrach sie ihr Gesprächspartner mit beunruhigend enthusiastischem Unterton. „In dem Bericht stand doch was von der Shin-Ra-Villa in Nibelheim, richtig? Und im Keller, ich war dort unten, dort steht ein Gerät, ich weiß nicht, vielleicht so groß wie eine Telefonzelle, und die Technologie erinnert an die des Alten Volkes ... wenn das kein Hinweis ist!“ „Meine Güte, dann schau dir das Ding an und erkenn selber, dass es nichts ist ...“ „Das ist ja mein Problem, ich kann nicht runter. Meine Leute, die ich in den Kellerschacht geschickt habe, sind alle nie wieder hochgekommen ... stimmt zwar, dass ich selber dort unten war, aber diese Leute ... die bei mir waren ... konnten dieses unsichtbare Wesen, den Wächter oder was das ist, irgendwie in Schach halten. Und dieser Strife –“ Fawkes schnaubte verächtlich. „– kennt vermutlich schon das ganze Geheimnis. Und er wollte nicht kooperieren. Dabei wäre er tot, wenn ich ihn nicht –“ „Hm, was?“, unterbrach Helen ihn lauter als beabsichtigt. Sie hatte ein wenig geistesabwesend zugehört, aber als der Name Strife durch die Nebelhülle ihrer Gedanken sackte, riss sie fast das Telefon von der Anrichte. „Wie – was?“, fragte ihr Partner verwirrt. „Strife?“ „Ja, so heißt der Typ. Er saß eine Weile hier in Einzelhaft, angeklagt wegen Mordes. Was ist denn los?“ „Heißt er ... Cloud Strife?“ „Ja, genau so. Ach ja, natürlich, vielleicht kennst du ihn, er ist ein Freund deiner ehemaligen Kollegin Lockheart. Bei der musst du übrigens aufpassen, wollte ich dir noch sagen, die gehört nämlich auch zu dieser üblen Bande ... sei bitte nicht so erschrocken.“ Helen schluckte. Üble Bande? Die waren immerhin zwei Tage lang bei mir zu Hause ... „Helen, Liebes? Ist alles in Ordnung?“ „Wenn man denen glauben darf“, sagte sie mit zittriger Stimme, „dann bist du derjenige, der diese üble Bande aus Trickbetrügern in Uniformen anführt, nicht wahr, Henry?“ „Was? Wovon redest du denn da? Helen!“ Sie legte auf. Gleich danach entfernte sie sich demonstrativ mehrere Schritte weit von der Anrichte, um dann wieder scheel hinüberzusehen. Irgendwas stimmt nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Ich weiß nur noch nicht, was das ist ... Wem soll ich jetzt wohl eher vertrauen? Meinem Freund ... oder meiner besten Freundin? Verdammt, warum kann mir nicht einfach irgendeiner erklären, worum es hier überhaupt geht?! Seufzend ging sie in die Küche zurück, wo sie sich dafür entschied, das Waffeleisen abzuwaschen. Junon schimmerte von oben schwach rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Die Tiny Bronco mochte durch die Tarnplane so gut wie unsichtbar sein, aber ihre Motorengeräusche waren nicht zu überhören. „Leute, wir müssen verdammt vorsichtig sein“, wandte sich Cid an die Anderen. „Passt auf, wir landen ein Stück abseits und benutzen die Substanz, um reinzukommen.“ Barret schnaubte. „Wär’ ja noch schöner, wenn die jetz’ auch noch anfangen würden, das Hauptquartier der AVALANCHE zu bewachen! Also, dann würd’ ich mich aber schon ein bisschen aufregen!!“ „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, nicht wahr?“ „Ach was, land uns einfach und seil still!“ Das Flugzeug setzte unsichtbar nahe des Graslands auf. Die hohen Halme bogen sich im Wind der Triebwerke. Cloud hielt sie Substanz mit beiden Händen. „Alle herkommen, wir teleportieren uns gleich in den Trakt für Naturwissenschaft. Ich weiß, wo wir den Brenner finden.“ Widerwortlos hielten sich alle aneinander fest, als die Transfer-Substanz, gekoppelt mit Alle, ihre Wirkung tat. Das Gebäude lag so still da wie ewig nicht. Einige Lampen brannten noch auf Sparflamme, aber es waren absolut keine Geräusche im Umfeld zu hören. „Sie haben das HQ also noch nicht gesichert“, stellte Cid leise fest. „Das wär’ ja wohl auch ’n Ding!“, kam es lauter von Barret. „Psssst. Lasst uns das Teil holen und nichts wie weg. Je eher, desto besser.“ Die Umstehenden wandten sich Cloud zu, und dieser wies in einen Gang, der vor einer Glastür endete. „Das ist das Physiklabor. Wenn ihr schon mal alle da seid – was meiner Meinung nach nicht nötig gewesen wäre –, dann kann ich euch auch wenigstens zeigen, was wir hier so Tag für Tag tun, nicht wahr?“ „Wenn du so darauf brennst“, murmelte Yuffie, während sie ihm folgte. Ihre Schritte klangen laut und hohl und hallten in der Stille wieder, doch das ließ sich nicht ändern. Cloud holte einen Schlüsselbund hervor und steckte einen versilberten Schlüssel mit einigen markanten Einkerbungen in das Schlüsselloch der Glastür. „So, kommt rein. Die Gashähne an den Plätzen sind zwar abgesperrt, aber fasst sie bitte trotzdem nicht an.“ „Wir sind keine Kinder, Cloud!“ „Gerade du erscheinst mir da anders, Yuffie.“ Er blieb neben einem vitrinenartigen Wandschrank stehen und öffnete diesen mithilfe eines anderen Schlüssels. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine Reihe seltsamster Geräte frei. „Oh, da habt ihr ja einen ganze Menge Accessoires.“ Tifa strich mit dem Finger über eine Stativklemme und bemerkte zu spät die zentimeterdicke Staubschicht darauf. Angewidert verzog sie das Gesicht. „Macht ihr hier nie sauber?“ „Nur das, was wir brauchen“, antwortete Cloud. „Und wo ist nun dieser Brenner? Ist es ... dieses Ding da?“ „Das? Oh nein, das ist ein Bolzensprenger. Was wir brauchen, ist ... hier.“ Er griff in die oberste Ecke des Schranks und nahm etwas heraus, das zuvor mehr oder weniger vom Schatten verdeckt gewesen war: ein monströs aussehendes Metallgestell mit einer Reihe kleiner Schalter an der Seite. Eine rundliche Halterung war wohl für die Substanz vorgesehen, und massive Brennstäbe direkt darunter sorgten wohl für eine Hitze, die der eines Sterns gleichkommen könnte ... „Boah, das ist ja ein Viech!“, sagte Yuffie erstaunt. „Wow, so was bräuchten wir auch ... kann man denn mit Substanzschmelze viel anfangen?“ „Um genau zu sein, wird eine Substanz im flüssigen Zustand zu Lebensstrom und damit so ziemlich unbrauchbar“, erklärte Cloud, während er eine Schutzplane um das Gerät wickelte. „Jedenfalls haben wir jetzt, was wir brauchen, und wir sollten schleunigst –“ „Psscht!“, rief plötzlich Nanaki und duckte sich. „Ich hab’ irgendwas gehört, wartet mal!“ Seine Ohren drehten sich in verschiedene Richtungen, und er schnupperte. „Es kam von ... dort.“ Er hob eine Pfote und deutete auf die Tafel. „Also, ich kann dir versichern, dass da nichts ist“, sagte Cloud ruhig. Er ging zur Tafel, packte ihren Rand und zog sie so weit hoch, dass man hinter sie schauen konnte. „Whaaaaa!!“ „Ahhhhhggg!“ „Hä?“ „Sie? Wir dachten –“ „Was dachtet ihr?!“ Cloud war von der Tafel zurückgewichen, und der Schreck saß ihm immer noch in den Knochen. Er hatte nicht damit gerechnet, hinter der Tafel drei seiner Schüler vorzufinden. Die Anderen standen im Raum wie erstarrt. „Äh, wir ... Master Strife, wir sind hier, weil ... äh ... wir hörten Schritte und haben uns versteckt ...“ „Ja, so scheint’s mir aber auch. Nur frage ich mich, was ihr so spät am Abend überhaupt in der Schule verloren habt. Normalerweise seid ihr doch sofort beim Läuten verschwunden, wie es sich für Schüler gehört!“ Er seufzte, und seine Lippen bildeten eine schmale Linie. Sich von der Tafel entfernend hob er wie präsentierend eine Hand hoch: „Freunde, darf ich euch vorstellen? Drei meiner Schüler: Kaine Crawford, Boris Callaghan und Vicky Rave.“ Die Drei, zusammengezwängt hinter der Tafel hockend, versuchten zu lächeln. „Interessant“, kommentierte Reeve, ohne eine Miene zu verziehen. „Angenehm“, sagte Boris und winkte. Cloud packte ihn am Handgelenk. „Kommt da runter! Was treibt ihr hier überhaupt?! Na los, ein Geständnis seid ihr mir wohl schuldig!“ „Wir könnten Sie dasselbe fragen, oder?“, entgegnete Kaine und kroch hinter Vickys Rücken hervor. „Ich bin Ausbilder“, antwortete Cloud mit strenger Miene. „Und jetzt redet.“ „Also.“ Vicky nahm vor ihm Haltung an. „Wir sind Ihretwegen hier, Master Strife. Weil wir ja von Ihrer Verhaftung wussten ... ich meine, ich war ja Zeugin bei der Verhandlung ... da konnten wir nicht einfach zulassen, dass man Sie umbringt. Also, wir hörten dann, dass Sie sowieso irgendwie entkommen waren, und heute haben wir hier für alle Schüler, die etwas für Ihre Rettung tun wollen, eine Versammlung organisiert, heute Abend um Acht. Wir haben auch ein Passwort in die Einladung geschrieben, damit wirklich nur die kommen, die wir für vertrauenswürdig halten, ja.“ Sie schürzte die Lippen und sah erwartungsvoll zu ihm auf. Cloud öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Gesichtsausdruck zeigte ehrliche Verwirrung. „Ja – aber – ihr habt das ... wieso denn?“ „Weil wir Sie eben als Lehrer behalten wollten. Ist das so abwegig? Sie sind der coolste, den wir je hatten!“ „Ach“, brachte er hervor. „So, und jetzt sind Sie dran. Was machen Sie hier? Und wer sind denn all diese Anderen?“ „Hm ... na schön. Also, ich stell sie euch vor, von links nach rechts: Tifa Lockheart, Botschafterin der beiden großen Kontinente, Nanaki, Vertreter einer fast ausgestorbenen intelligenten Spezies, Reeve und Yuffie Kisaragi vom Substanzhandel, Cid Highwind, Pilot und Ingenieur der AVALANCHE und Barret Wallace, Präsident der AVALANCHE.“ Bei diesen letzten Worten machten die Drei entsetzte Gesichter. „Meine Güte, wie sollen wir den anreden? Mit ‚Chef’ oder ‚Sir’ oder so?“ „‚Barret’ tät’s auch“, grummelte Barret. Boris’ Finger richtete sich auf Aeris. „Und wer ist die?“ „Das ist meine Freundin“, antwortete Cloud nicht ohne Stolz. „Wow, Sie haben eine Freundin?“ Alle Augen richteten sich auf die Cetra. „Und die ist ja auch noch schwanger!“ Cloud kratzte sich am Kopf. „Genug jetzt, wir müssen gehen. Eigentlich hieß unser Plan, uns hier so kurz aufzuhalten wie möglich. Wir wollten nur den Substanzbrenner ausleihen. Äh ... also, haltet hier eure Konferenz ab oder was das ist ... wir wissen nichts davon. Und wir waren nie hier, damit das klar ist!“ „Großes Ehrenwort!“ Kaine salutierte ungeschickt in Anbetracht von Barrets Anwesenheit. „Unter einer Bedingung ...“ Cloud hob die Augenbrauen. „Bedingung?“ „Wir stellen uns schon seit Ewigkeiten eine ganz spezielle Frage, Sie betreffend“, erklärte ihm sein Schüler schüchtern. „Und zwar möchten wir wissen ... was das für ein Zeug ist, mit dem Sie jeden Tag Ihre Haare so hinkriegen!“ Die Drei hielten angespannt die Atem an, auf die langersehnte Antwort hoffend. Clouds Gesicht blieb ohne Regung. „Das Zeug heißt Liquid Style Fashion“, sagte er, „und die Firma hat als Logo einen sehr eigenartig frisierten Löwen.“ Auf den Gesichtern seiner Schüler breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Sie hatten, was sie wollten. „Werdet ihr jetzt über unseren Besuch stillschweigen, Kiddies?“ „Jau“, antwortete Boris und öffnete freundlicherweise die Hintertür. „Passen Sie auf sich auf“, fügte Vicky hinzu. „Oh, äh, sicher. Dann macht’s mal gut – ... Moment mal, hey, da sind schon wieder Schritte auf dem Gang!“ Nanaki spitzte die Ohren. „Das sind viele kurze Schritte. Junge Menschen ...“ Boris schob Cloud bestimmt in Richtung Hintertür. „Klar, unsere Versammlung beginnt. Gehen Sie, sonst kommen Sie hier heute gar nicht mehr weg!“ „Ich – ja. Kommt mit“, wandte sich Cloud an seine Begleiter. An der Vordertür des Labors erklang bereits ein zaghaftes Klopfen. „Wie lautet das Passwort?“, schickte Vicky ihre Kommandostimme durch den Türschlitz. Die Person auf der anderen Seite der Tür zögerte. „Äh, weiß nicht ... Pommes mit Majo?“ Cloud erkannte die Stimme als die von Emma Edwards. Vicky und Boris tauschten einen vielsagenden Blick. „Mach auf, ich hab’ sie definitiv eingeladen“, sagte Boris schließlich. „Auch wenn das Passwort eigentlich ‚Ausdehnung des Lebensstroms in der dritten Realitätsebene’ heißt!“ „Los, kommt, wir verschwinden von hier.“ Cloud ergriff Aeris’ Hand, und die Anderen scharten sich um ihn. Rasch entfaltete die Transfer-Substanz ihre Magie. Vicky, Kaine, Boris und die eben zur Tür hereintretende Emma staunten nicht schlecht, als sich der grünliche Nebel vor ihren Augen verflüchtigte. „Meine Güte“, murmelte Kaine, „ich sag’ ja, der Typ ist irgendwo nicht geheuer!“ Kapitel 33: One Way ------------------- „Meine Güte, Cloud, ich dachte immer, die Stacheln wären dir angeboren!“, sagte Barret vorwurfsvoll, als die kleine Gruppe wieder draußen vor dem Hauptgebäude stand. „Diese Antwort hätte sie nicht zufriedengestellt.“ „Hehe, verstehe. Aber nette Kids hast du da.“ „Richtige kleine Engel, nicht wahr?“, gab Cloud zynisch zurück. „Aber lass uns später darüber diskutieren. Jetzt geht’s ab auf unsere große Geheimmission.“ Aeris hatte inzwischen genug vom vielen Herumlaufen. Sie konnte in ihrem Zustand einfach nicht mehr so viel rennen, es erschöpfte sie zu sehr. Irgendetwas in ihrem Bauch bereitete ihr Schmerzen – aber konnte das im fünften Monat schon das Baby sein? Wohl kaum .... Sie hielt keuchend an, und Clouds warme Finger schlossen sich um ihren Arm. „Komm, Aeris. Ab in die Bronco und auf nach Nibelheim ...“ „Wieder ein so langer Flug!“, stöhnte sie. „Na na, du hörst dich ja schon an wie Yuffie.“ Die Anderen kletterten bereits in das unsichtbare Flugzeug, nur er blieb direkt daneben stehen und sah sie besorgt an. „Sag mal ... fühlst du dich wohl?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Überhaupt nicht.“ Er machte ein ernstes Gesicht. „Wir können das SPECULUM nur zu zweit von dort wegbringen, hast du gesagt. Weil Lukretia uns dann in Ruhe lassen wird.“ „Ja, ich weiß ... ich muss mitkommen ...“ Sie biss die Zähne zusammen. „Wenn es nicht geht, dann geht es nicht! Lieber gehen wir zum Arzt, als dass du dich übernimmst!“ Sie schob seine Hand von ihrer Schulter. „Ist schon gut. Dieses Eine, das schaffe ich jetzt auch noch.“ Nibelheim war ein gutes Stück entfernt, und mittlerweile war die Nacht rabenschwarz und undurchsichtig. Aeris schmiegte sich an Cloud und versuchte, die Beschwerden vonseiten ihres Bauches zu ignorieren. Sephiroth auf ihrer Schulter warf immer wieder einen Blick hinunter. „Gut, dass ich ans Tanken gedacht habe“, sagte Cid, und mehr wurde vorerst nicht gesprochen. Cloud verfolgte einen dunklen Schatten durch ein komplexes Gangsystem, das dem des ehemaligen Shin-Ra-Geheimverstecks sehr ähnlich sah. Er wusste nicht genau, was er da jagte; mit beiden Händen hielt er etwas in der Hand, das er ständig nach geradeaus richtete. Er selbst wurde ebenfalls verfolgt, aber von wem oder was, das wusste er genauso wenig. Die Gänge verschwammen vor seinen Augen, als seien diese feucht von Tränen, aber sich die Augen zu reiben brachte überhaupt nichts. Dort war er wieder, der Schatten – Cloud umklammerte seine Waffe fester und rannte hinterher, aber genauso schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand die Bewegung auch wieder. Ihm kam der Gedanke, dass er mehr sehen würde, wenn es in diesen dunklen Gängen etwas mehr Licht gäbe. Rasch sah er sich nach einem Lichtschalter um. Er sah einen direkt neben seiner Seite und drückte ihn voller Erleichterung; das Licht ging an. Zu seiner Enttäuschung war das Licht so dunkel, dass man nicht mehr sehen konnte als vorher, dann fiel ihm auf, dass die Lampen wohl alle kaputt sein mochten ... Neben ihm huschte etwas vorbei, und er drehte sich um und richtete das Ding, das er in der Hand hielt, darauf, aber schon war wieder alles verschwunden. „Wieso kommst du nicht einfach raus und zeigst dich?“, rief er panikerfüllt in den Tunnel hinunter, und das Echo hallte laut bis zum Ende wieder. Es jagt mich ebenfalls. Wenn ich nur wüsste, was es ist! „Du bist feige! Wenn du mich töten willst, dann wenigstens direkt von vorn ...!“ „Das kannst du haben“, sagte eine ihm unbekannte Frauenstimme, und eine unscharfe Silhouette nahm unmittelbar vor ihm Gestalt an. Er keuchte. „Oh nein, nicht du.“ „Wen hast du erwartet?“ Lukretia, als Hojos Assistentin im blütenweißen Kittel, warf ihm aus ihren grünen Augen einen Blick zu, der weder höhnisch noch hochmütig wirkte, sondern nur finster und unglücklich. Ganz, als würde sie ihm für irgendetwas die Schuld geben. „Du kannst mir nichts antun“, sagte er, von neuer Selbstsicherheit erfüllt. „Das mag sein. Aber wenn du allein bist, kann ich mir dich durchaus vom Leib halten.“ „Verdammt, ich will nicht gegen dich kämpfen. Ich muss nur an dir vorbei zu dieser Maschine ...“ „Tatsächlich? Eben warst du noch auf der Jagd nach mir, ohne zu wissen, dass ich es war, dem du da auf den Fersen warst, nicht wahr? Du weißt gar nicht, was du suchst oder was du erreichen willst. Du tust einfach etwas, von dem du denkst, dass es schon richtig sein wird, und du bemerkst nicht, was das für dich selbst bedeutet.“ Sie hob eine Hand und zeigte auf das, was Cloud in den Händen und ihr entgegen hielt. Er senkte den Blick und sah, dass es Vincents Gewehr war, jenes Gewehr, mit dem er Vincent erschossen hatte. Schaudernd ließ er es fallen. Das Echo des Aufpralls hallte endlos nach. Er spürte Hände auf seinen Schultern und schreckte hoch. „Cloud! Jetzt beruhige dich. Was war los? Wieder dieser Alptraum ...?“ Aeris strich ihm eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Diesmal“, murmelte Cloud, „war Vincent aber nicht dabei ... stattdessen hab’ ich sie gesehen ... Lukretia.“ „Aber du bist ihr nie begegnet, als sie lebendig war.“ „Doch ... früher, als wir unter dem Wasserfall waren ... haben wir sie getroffen. Aber ich habe nur einen Schemen gesehen und ihre Stimme klang wie ein Rauschen. Sie war zu sehr mit JENOVA vereinigt ... allein Vincent hat sie genau gesehen und gehört.“ „Verständlich.“ „Hmmm.“ Cloud erhob sich von seinem unbequemen Lager in eine mehr oder weniger aufrechte Sitzhaltung und lauschte auf die gleichmäßigen Motorgeräusche. „Aber wenn ich weder ihr Aussehen noch ihre Stimme kenne, warum sehe ich sie dann in letzter Zeit so häufig?“ „Vielleicht ist sie es ja selbst. Vielleicht versucht sie, mit dir Kontakt aufzunehmen“, murmelte Aeris und lehnte sich gegen ihn. Sephiroth flatterte von ihrer Schulter auf die von Cloud. „Hältst du das für wahrscheinlich?“ „Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch für wahrscheinlich halten soll.“ Erstaunlicherweise nahm keiner der Anderen erkennbare Notiz vom Dialog des Pärchens. Yuffie machte ein Nickerchen und benutzte Nanakis pelzige Flanke als Kopfkissen. „Ich hätte gern, dass das alles zu Ende ist“, sagte Aeris, und es klang wie ein Geständnis. Mit den Fingerspitzen strich sie über Sephiroths gefiederten Rücken, und dieser gurrte leise. „Tauben hin oder her, die Cetra werden so zwischen den Welten niemals ihr Glück finden. Bis in alle Ewigkeit im Erdkern ... sie werden Generationen beobachten, die geboren werden und sterben, werden für immer Zeugen unserer Geschichte sein bis in alle Ewigkeit ... das kann es nicht sein, das sie sich wünschen.“ „Aber der Planet hat ihnen doch extra dieses Geschenk gemacht“, entgegnete Cloud stirnrunzelnd. „Du hättest nie die Möglichkeit gehabt, Kontakt zu deiner Familie und deinen Rassegenossen zu halten.“ Sie seufzte. „Jaah ... aber vielleicht ... wäre das besser so gewesen.“ Damit wusste Cloud nichts anzufangen. Er begann sich zu fragen, für was er und seine Freunde hier überhaupt ihre Freiheit und ihr Leben riskierten. Rund um die in Trümmern liegende Shin-Ra-Villa waren Dutzende von Wachen postiert, in der Dunkelheit still dastehend wie Zinnsoldaten. Kommissar Taggert hatte eigens den Befehl gegeben, das Gebäude Tag und Nacht zu bewachen. Es hatte zu viele merkwürdige Zwischenfälle gegeben; tatsächlich hatte er selbst sich seit seiner Kindheit nicht mehr so gegruselt. Erst diese plötzlich einsetzenden und dann wieder abklingenden Töne, die das ganze Erdreich zu erschüttern schienen, dann das Verschwinden der Truppenmitglieder, die zur Untersuchung des Kellerschachtes hinab beordert worden waren – Taggert hätte schwören können, zu einigen Zeiten Geräusche und sogar Schreie aus der Tiefe vernommen zu haben. Und tatsächlich war niemand zurückgekehrt. An einem großen Wandtrümmerstück lehnend, steckte er sich einen Zigarillo an und blies den Qualm in die Dunkelheit. Fraglich blieb für ihn, wohin die entflohenen Gefangenen mitsamt ihrer psychokinetisch begabten Cetra-Frau verschwunden waren und warum Henry Fawkes, dieser Trottel von der ERCOM, der jetzt immer noch irgendwo in Junon lauerte, sie so bereitwillig hatte gehen lassen. Wahrscheinlich hatte er gedacht, sie kämen irgendwann von allein zurück, aber das hatten sie nicht getan. Taggert begann, Fawkes immer mehr für einen naiven, machtgeilen Schnösel zu halten. Aber er würde dieses Gedankengut natürlich für sich behalten, solange er ihn unter seiner Kontrolle wusste. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass sich von irgendwo in der Finsternis Motorgeräusche näherten, die dem eines kleineren Aufklärungsfliegers entsprechen könnten. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er den Himmel ab, konnte aber nichts entdecken; bemerkenswerter Weise fiel Licht zu Boden, obwohl es augenscheinlich keine Quelle dafür gab. Der Lärm kam rasch näher. Diese Sache war ihm nun ganz und gar nicht geheuer. Er warf seinen Zigarillo zu Boden, trat ihn aus und entfernte sich raschen Schrittes in Richtung des Zeltes, das die Mittellandjustiz für die Wachenablöse bereitgestellt hatte. Im Winter war es entsprechend kalt darin. Ein junger Soldat, der wohl noch nicht schlief, sprang auf und salutierte. „Sir!“ „Steh bequem, Junge. Weck die Anderen und richtet die Raketenwerfer auf.“ „Raketenwerfer? Ich verstehe nicht, Sir.“ Der Jüngling macht ein ernsthaft verwundertes Gesicht. „Hörst du, was ich höre?“ „Maschinenlärm, Sir?“ „Eben den meine ich. Maschinenlärm ohne Maschine in Sichtweite. Weißt du, was das bedeutet?“ „Nein, Sir.“ „Das bedeutet Tarnplane aus kondensierter MAKO-Energie und Tarn-Substanz, merk dir das! Und das wiederum bedeutet Spion oder Angriff, in jedem Falle Feind. Und mit den Speziallichtgeräten werden wir das verdammte Ding schon orten und vom Himmel pusten!“ „Äh – ja, Sir!“ Taggert grummelte etwas. Hätte doch dieser ganze Spuk längst ein Ende ... Kapitel 34: Wishing ------------------- „Cid, die ham’ uns gehört. Ihr ganzes Lager is’ in Aufruhe. Du musst Cloud und Aeris hier absetzen, und wir verschwinden schon ma zum Zielpunkt, bevor wir von denen noch abgeschossen werden!“ „Alles klar“, gab Cid zur Antwort und ließ die Tiny Bronco dicht über den Boden gleiten. Cloud hielt Aeris’ Arm. „Wir springen ab, wenn du das Kommando gibst, Cid.“ „Na schön, ihr zwei. Dann auf drei. Eins – zwei – drei!“ Mit einem hinreichend großen Satz sprangen Cloud und Aeris durch die geöffnete Tür des immer noch sehr schnell fliegenden Flugzeugs und rollten sich in die entgegengesetzte Richtung auf dem trockenen Grasboden ab. „Argh“, jammerte Aeris mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Das war ... eine Spur zu heftig.“ Cloud umschlang ihre Schultern. „Komm hoch, schnell! Diese Mittelland-Typen werden gleich hier auftauchen, also komm! Nichts wie runter!“ „Wha– ... wo-wohin bringen wir das SPECULUM eigentlich?“, fragte Aeris mit schwankender Stimme, während sie taumelnd auf die Beine kam. „Tja, das ist es ja, weswegen Cid gut daran getan hat, so schnell wieder von hier zu verschwinden. Wir bringen es auf die Highwind.“ „A-aber die ... ist doch in Junon ... das schaffen wir nicht ... die Substanz hat nur eine Reichweite von hundert Kilometern ...“ „Vincent hat es von der Villa bis zu mir ins Klassenzimmer geschafft, das ist ungefähr dieselbe Distanz“, antwortete Cloud unbeirrbar. „Außerdem werden die Anderen jetzt sofort nach Junon fliegen und dort praktisch von der Tiny Bronco in die Highwind umsteigen, damit sie uns gleich entgegenkommen können.“ Er stützte sie, während er zielstrebig auf das abgesperrte Trümmergelände zuhielt. „Armer Cid ... er ist seit Tagen nur am Fliegen.“ „Beruflich macht er doch auch nichts Anderes. Er kommt damit schon zurecht. Warte – da sind überall Wachen, wir können nicht näher rangehen ... ich hätte mir vielleicht mal früher Gedanken darüber machen sollen –“ Sie hielt sich immer noch an seiner Schulter fest, den Blick auf die Gruppe von Wachposten gerichtet. „Sollen wir ... die Substanz benutzen ...?“ „Ich weiß nicht. Dann besteht die Gefahr, dass sie nachher nicht mehr funktioniert. Leider ist dieses Ding nicht besonders zuverlässig.“ „Ich meine die andere, die auf dem ersten Level ... die müssen wir nachher doch sowieso einschmelzen ...“ Er schnippte mit den Fingern. „Ha, da hast du allerdings Recht. Hervorragende Idee. Hauptsache, die schafft das auch schon. Versuchen wir’s.“ Er zog Aeris fest an sich und konzentrierte sich auf die schwächere der beiden Substanzen, die er trug. Es funktionierte reibungslos. Eine Viertelminute später sahen er und Aeris den wohlbekannten, halb eingestürzten Keller der Shin-Ra-Villa vor sich. Hinter ihnen begann die Holzwendeltreppe, zu ihrer Linken befand sich die Tür zu der Kammer mit den Särgen. Der Weg vor ihnen führte zu einer überaus chaotisch zurückgelassenen Bibliothek. „Komm“, sagte Cloud fest, obgleich er ein flaues Gefühl im Magen verspürte. Irgendjemand hatte hier viele Stunden zwischen all den herumliegenden Büchern und umgestürzten Regalen verbracht, denn es lagen teilweise aufgeschlagene Textsammlungen auf den Tischen oder solche, die mit zahlreichen Lesezeichen versehen waren. Es erinnerte Cloud an jenen Tag, an dem er vergeblich versucht hatte, Sephiroth vom Herausfinden seiner eigenen Vergangenheit abzuhalten; nur hatte sein ehemaliger Erzfeind während seiner gierigen Studien keine solche Unordnung verursacht. Bei diesem Gedanken fiel Cloud auf, dass Sephiroth nicht bei ihnen war. Eine weiße Taube wäre vor dieser düsteren Kulisse leicht zu entdecken, ihr Flügelschlag unüberhörbar gewesen. Er war ihnen nicht gefolgt. Cloud bückte sich und schob einige Buchseiten zur Seite, welche die Falltür bedeckten. Sie musste überraschend zugefallen sein ... „Hier runter“, sagte er zu ihr, denn Aeris kannte diesen Ort noch nicht. Sie nickte wortlos und half ihm, die Falltür zu öffnen, wofür es beinahe schon zu eng war in der verwüsteten Bibliothek. Neben der erwarteten Eiseskälte schlug ihnen ein erschauerlicher Geruch entgegen, ein Gänsehaut erregendes Gemisch aus geronnenem Blut, halbverwestem Fleisch, verbranntem Holz und schmelzendem Metall. „Oh Gott“, murmelte Cloud und sog tief die Luft ein, allerdings in weiser Voraussicht nicht durch die Nase. „Wir müssen da runter, Cloud, es gibt keinen anderen Weg, habe ich Recht?“ „Das ... stimmt.“ Im Geheimschacht brannte Licht, aber von oberhalb war außer einigen herabgefallenen Büchern, die zum Teil mit zerknickten Seiten wie verunglückt dalagen, nichts zu sehen. Cloud ging in die Knie und schwang sich die Leiter herunter. Aeris folgte ihm. Unten angekommen war der Gang in Richtung des SPECULUMs bereits geöffnet, die halbflüssigen Wände an den Seiten zurückgeflossen. Den Beiden bot sich ein Anblick, der dem vorherrschenden Geruch durchaus gerecht wurde: Sowohl Mitarbeiter der ERCOM als auch Wärter der Mittellandjustiz lagen kreuz und quer in dichter oder geringer Nähe zum SPECULUM auf dem schimmernden Boden, als hätte jemand eine Handvoll von ihnen einfach aus großen Höhen herabfallen lassen. Blut, sowohl flüssiges als auch geronnenes, bedeckte Wände und Boden. Das Einzige im Umfeld, das ganz und gar unbefleckt geblieben war, war das SPECULUM selbst. So dicht hat Lukretia also keinen herankommen lassen, dachte Cloud. Da passt sie wirklich auf wie ein Schießhund. Er wandte sich Aeris zu, die schreckensbleich in selbige Richtung starrte und aussah, als würde sie jeden Augenblick vor Entsetzen in Tränen ausbrechen. „Ruhig,“ sagte er. „Die sind sowieso alle längst tot ...“ Es klang nicht einmal tröstlich. „Aber wie sie getötet wurden, das kann man in der Luft spüren. Es erdrückt einen fast“, antwortete sie mit gepresster Stimme. „Glaub mir, das kenne ich wirklich nur zu gut.“ Sie schlang beide Arme und den von Cloud. „Du darfst mich nicht loslassen, hörst du? Sonst wird sie sich auf dich stürzen.“ „Ich weiß.“ Beide setzten sich in Bewegung und näherten sich der Maschine, die im hinteren Ende des Tunnels wie eine einsame Träne vor sich hin schimmerte. Sie machten große Schritte über die Leichenteile und deren verstreute Innereien, und der Boden unter ihren Füßen war rutschig von Blut und anderem. Cloud sah aus dem Augenwinkel, dass Aeris ihren Blick starr nach geradeaus gerichtet hielt. Vielleicht sollte er es genauso halten. Unmittelbar vor dem SPECULUM griff Cloud mit zitterten Händen unter seine Jacke und förderte den in Plane gewickelten Substanzbrenner zutage. „Na denn ... fangen wir an.“ „Braucht das Ding keinen Strom?“ „Nein, es läuft mit Batterien ... zum Glück.“ Er stellte es auf den Boden, legte die kleinere der beiden Substanzen in die Halterung und drückte einen Schalter um. Innerhalb weniger Sekunden färbten sich die Brennstäbe glühend hellorange, und der kugelförmige grüne Stein begann in sich zusammenzusinken wie ein Stück Butter. „Das geht ja schnell.“ „Ja, da haben wir Glück. Manchmal dauert es ewig. Sag mal ... hat Sephiroth dir gesagt, was genau wir mit der Substanzschmelze tun sollen?“ „Ja, ich erkläre es dir, wenn es soweit ist.“ Nach der nächsten Minute war von der Substanz nur noch eine hellgrün fluoreszierende Flüssigkeit zurückgeblieben, von welcher Rauchfäden aufstiegen, die verdächtig nach MAKO aussahen. „So, schau her.“ Sie nahm den Brenner mit der Schmelze und kippte diese auf den Boden, wobei sie einen Bogen rund um das SPECULUM beschrieb. Cloud sah ihr kritisch dabei zu. „Und das soll klappen? Einfach einen Kreis aus Substanzschmelze um das Gerät ziehen und dann ...?“ Aeris nahm die andere Transfer-Substanz, die auf dem MASTER-Level, und legte eine Hand an das SPECULUM. Sofort zog sich um die Maschine herum eine Wand aus grünlichem Rauch, der vom Boden aufstieg und am Metall kondensierte. Als die einsatzfähige Substanz dann ihre Wirkung tat, begann das SPECULUM sich tatsächlich zu dematerialisieren. Zwar geschah dies langsamer als bei einem normalen Ort-zu-Ort-Transport, aber es dauerte dennoch nicht lange, bis das ganze riesenhafte Ungetüm von Gerät gänzlich verschwunden war. „Faszinierend“, gestand Cloud beeindruckt. Aeris lächelte triumphierend, hielt sich dabei aber an der Wand fest. „Und jetzt ... sollten wir schnell wieder verschwinden.“ „Das stimmt.“ Er half ihr zurück über den Leichenteppich, wobei sie sich an ihm festkrallte. Kein einziges Mal hatte sie den Körperkontakt zu ihm unterlassen, verantwortungsbewusst wie sie war. Als die Beiden bereits mehrere Meter vom ehemaligen Standort des SPECULUMs entfernt waren, erklang unerwartet ein helles Lachen im Schacht. Die Herkunft des Geräusches war nicht auszumachen, es schien von überall zugleich herzukommen. „Halt den Mund, Lukretia“, murmelte Cloud, während er die bleiche Aeris vorwärts schleppte. „Deine Drohungen und Verhöhnungen sind für die Hunde, siehst du? Deine geliebte Erfindung ist doch sowieso längst weg!“ Das Gelächter wurde noch etwas lauter, aber keine Freude sprach aus ihm. Es klang nach einer Schauspielerin, die sich beizubringen versuchte, auf Kommando zu lachen. „Sie ist ... wirklich hier“, stöhnte Aeris. „Sie beobachtet uns ...“ „Das stimmt, und ich weiß genau, was ihr vorhabt“, antwortete Lukretias Stimme, die von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen zu werden schien, von undefinierbarer Lautstärke im Raum ihre Runde machte und dabei den Schatten einer schwachen Existenz nach sich zog. „Warum ... tust du das alles?“, stellte Cloud voller Abscheu endlich die Frage, die er ihr schon lange hatte stellen wollen. „Du tötest sie alle. Du hast auch Vincent getötet. Warum?“ Während er sprach, kämpfte er sich weiter in Richtung Leiter vor, mit Aeris im Schlepptau. Die Antwort kam nicht sofort. Irgendwann, als Cloud schon im Begriff war, Aeris die Leiter hinaufzuschieben, sagte Lukretia plötzlich: „Ich ... bin unglücklich. Ich kann nichts tun. Nur das. Ob ich will oder nicht. Niemand darf dem SPECULUM zu nahe kommen. Ich beschütze die Cetra ... und JENOVA schenkt mir keinen Frieden.“ Clouds Finger, um eine Sprosse der Leiter geschlossen, fühlten sich kalt an. „Warum nicht?“ „Sie hat die Cetra immer gehasst. Deswegen hat sie sie ausgerottet. Ich bin an ihr Schicksal gebunden. Ich kann nicht sterben.“ Aeris zwang sich mühsam Sprosse für Sprosse hinauf. „Du könntest damit aufhören“, sagte Cloud etwas leiser. „Mit dem Töten? Nie. Ich will die Cetra und ihr Verheißenes Land schützen. Dagegen kann ich mich nicht wehren ... der Hass ist stärker als ich. Würdest du dich nicht wie ein ängstliches Kind an Ifalnas Tochter klammern, dann würde ich ... dich in Stücke reißen –“ „Das kannst du nicht“, erwiderte Cloud furchtlos, „und das weißt du. Ich bin genauso an JENOVA gebunden wie du. Ich kann dich bekämpfen.“ Lukretia lachte wieder ihr freudloses Lachen. „Du weißt nicht, wofür du kämpfst oder wie du es anstellst.“ Cloud erinnerte sich daran, dies bereits im Traum von ihr gesagt bekommen zu haben, und antwortete nicht. Dicht hinter Aeris kletterte er die Leiter hinauf, und oben angekommen, verschlossen sie die Falltür, die mit einem dumpfen Dröhnen herabfiel, erneut. Kapitel 35: The Mirror Of The Ancients -------------------------------------- Aeris atmete tief die frische Luft ein, mit dem Rücken gegen ein umgestürztes Regal gelehnt. „Ich wusste nicht, dass sie mit uns sprechen kann“, murmelte Cloud. An seinen Schuhsohlen klebte Blut, wie er voller Abneigung feststellte. „Ich auch nicht“, gab sie zu. „Dass doch noch so viel von ihr übrig ist ... aber warum hat sie vorher nie zu uns – .... warte, es sei denn, wir haben erst dafür gesorgt, dass sie wieder ...“ Die Cetra unterbrach sich und blinzelte. „Was meinst du?“, hakte Cloud nach, aber da lehnte sie sich schon nach vorne und ergriff ein Häufchen loser Zettel, das vor ihr auf einem der Tische gelegen hatte. „Meine Güte, Cloud, schau dir das an! Das sind Forschungsberichte ...“ „Ach .... über die JENOVA-Sache?“ Aeris schüttelte den Kopf. „Nein ... über den ... Spiegel des Alten Volkes ...“ „Was? Zeig her!“ Er ließ sich neben ihr nieder, riss ihr dabei jedoch fast das Papier aus der Hand. Mit zusammengekniffenen Augen las er, was er im schummrigen Licht gerade noch entziffern konnte. March the 12th, 8:14 a.m. Ronven Charizad Cosmo Canyon Seit genau einem Tag darf ich nun Bugenhagens Meisterwerk eines Sternenkonstellationsmodells bewundern. Erstaunlich, dass es an diesem Gerät sogar eine Funktion gibt, die den Lebensstromkreislauf des Planeten darstellt. Respekt! Die Personen, für die ich eigentlich hierher gekommen bin, sind leider noch nicht aufgetaucht. Trotzdem wurde ich von den Bewohnern des Cosmo Canyon überaus freundlich empfangen. Aber nun zum Wesentlichen: Ich habe einen direkten Verdacht, was den Spiegel des Alten Volkes betrifft. Ich glaube sogar, ganz dicht auf der Spur zu sein. Meine Annahme könnte sich wohl bestätigen, aber dazu muss ich mir mehr Zeit nehmen, wenn ich meine momentane Studie abgeschlossen habe. Wenn mein Bruder Sephiroth zum Zeitpunkt seines Todes wirklich eine Transfer-Substanz bei sich hatte, dann könnte diese durch die Ansammlung von Lebensstrom reagiert haben. Ergo hat er sich nicht nur in seine einzelnen Atome aufgelöst, sondern sich an einem anderen Ort wieder zusammengesetzt. Was sagt man dazu? Aber dazu mehr in den folgenden Berichten. Was den Spiegel des Alten Volkes angeht, das untersuche ich, wenn ich im Keller der Shin-Ra-Villa wirklich fündig geworden bin. Wenn meine Mutter mir damit nicht nur eine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder aufgetischt hat, dann befindet sich dort der größte Hinweis von allen auf den Aufenthaltsort dieses Spiegels. Wobei „Spiegel“ ja eigentlich ein eher unpassendes Wort ist, nicht wahr? Oh, unten beginn ein Aufruhr. Mein Gott, von hier oben aus kann ich die Highwind sehen, das Transportmittel der Besucher, auf die ich warte. Rauchzeichen sind also schon zu etwas gut, die müssen sie angelockt haben. Eintrag Ende „Ich werde nicht schlau daraus“, sagte Aeris. Cloud seufzte. „Ich schon. Lass uns den Bericht mal analysieren, und ich erkläre dir, worum es geht. Also, eindeutig hat ihn Ronven, Sephiroths Schwester, verfasst ... zu einer Zeit, als du ... tot ... äh, in Miragia im Wald der Toten ...“ „Ist gut, ist gut, erzähl schon!“, drängte sie ihn voller Ungeduld. „Ähm – also, den Bericht hat sie einen Tag nach JENOVAS Vernichtung geschrieben, nachdem wir Sephiroth im Nordkrater besiegt hatten und ihn für tot hielten. Zu dieser Uhrzeit, die sie hier angegeben hat, sind wir etwa im Canyon angekommen und auf sie gestoßen ...“ „Deshalb der Hinweis auf die Highwind vor dem Fenster.“ „Ja, genau. Wir fanden sie in Bugenhagens Observatorium. Allerdings ... sie hat nie, kein einziges Mal davon gesprochen, dass sie nach dem Spiegel des Alten Volkes sucht. Sie hat ihn nie erwähnt. Und laut diesem Bericht schien sie sogar zu wissen, dass sich im Keller der Villa etwas befinden muss ... aber davon hat sie auch nie gesprochen. Sie sagte, sie sei hier in der Bibliothek gewesen und habe alle Berichte über das JENOVA-Projekt durchstudiert ... wieso hat sie dann nicht gleich nach diesem ‚Hinweis’ gesucht, den sie hier erwähnt?“ „Dieser ‚Hinweis’ ist das SPECULUM, soviel ist sicher. Sie hat es nie entdeckt, wusste aber von seiner Existenz ...“ „Ja, weil Lukretia ihr davon erzählt hat, als sie noch ein Kind war. So steht es hier.“ Aeris sah ihm zweifelnd ins Gesicht, dann betrachtete sie wieder den handgeschriebenen Text. „Was mich am meisten verwundert“, begann sie, „ist: Wenn Ronven vorhatte, den Spiegel des Alten Volkes ausfindig zu machen – mehr noch, wenn sie sogar schon einen Verdacht hatte, worum es sich dabei handelt –, warum hat sie dann im Shin-Ra-Versteck Selbstmord begangen, anstatt ihre Studien fortzusetzen?“ Cloud furchte die Stirn. „Tja ... anscheinend wusste sie etwas, das wir nicht wussten ... vielleicht hatte sich da ihr großer Verdacht ja schon bestätigt.“ „Aber was war das für ein Verdacht? Sie schreibt, ‚Spiegel’ sei ein unpassendes Wort dafür. Was glaubte sie ist der Spiegel des Alten Volkes wirklich?“ Cloud dachte einen Moment lang nach, dann zuckte er die Schultern. „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ Er stand wieder auf und trat über ein Regal hinüber zur Tür. „Hörst du das? Da oben rumort’s ziemlich. Wir haben wohl mit der Tiny Bronco einen ziemlichen Tumult ausgelöst.“ „Gut möglich.“ „Gehen wir?“ „Okay. Ich nehme die Berichte mit.“ „Mach das. Wobei fraglich ist, wie sie überhaupt hierher kommen ... wenn niemand diesen Keller betreten hat und lebendig zurückkam ... tja, na ja, beschäftigen wir uns später damit ... jetzt aber schnell auf die Highwind. Hoffen wir, dass alles gutgegangen ist und die Anderen auch dort sind.“ Er nahm ihre Hand, zog sie vom Boden hoch und konzentrierte sich ein weiteres Mal auf die Transfer-Substanz, darauf hoffend, dass sie auch funktionierte. Die Highwind, nachträglich mit der Tarnplane verhüllt, glitt wie ein riesiger silberner Schwan durch eine dunkle Wolkendecke. Zu seinem Missfallen hatte Cid vor einigen Jahren, als er der AVALANCHE beitrat, die leichtbekleidete Dame auf dem Rumpf überstreichen müssen, da sie einfach nicht den vorgegebenen Richtlinien der Friedensorganisation entsprach. Mit einem viel größeren Eigengewicht, einer extremen Luftverdrängung und in Verbundenheit mit einer nicht eben mäßigen Geräuschkulisse war die Highwind wesentlich aufwändiger zu tarnen als die verhältnismäßig leichte, kleinere Tiny Bronco. Seit einer notwendigen Umprogrammierung – die Besatzung der Highwind war vor etwa acht Jahren aufgrund eines WEAPON-Angriffs auf Nimmerwiedersehen geflohen – pflegte Cid sein liebstes Stück ganz allein zu fliegen. Im Frachtraum nun standen alle Anderen um die wohl aufsehenerregendste Erfindung seit den Zeiten des MAKO-Reaktors herum. „Das ist es also“, stellte Tifa fest, mit verschränkten Armen und kritischem Blick das SPECULUM begutachtend. „Das Ding sieht aus wie ... eine Telefonzelle vom andern Stern.“ „Das habe ich auch gedacht, als wir da im Keller waren“, stimmte Yuffie zu. Nanaki umrundete die Maschine und schnupperte an ihr. Seine Schnurrhaare vibrierten. „Brrrr. Es strahlt nur Kälte aus. An ihm haften immer noch alle Gerüche, denen es in der letzten Zeit ausgesetzt war ... Chemikalien, Blut, Verwesung ...“ „Das“, sagte Cloud mit erhobener Stimme, „ist Lukretias große Erfindung, die ihr mithilfe der Technologie des Alten Volkes möglich war. Also, für alle, die das Ding noch nicht gesehen haben, könnte dies ein historischer Augenblick sein.“ „Ergreifend!“, hauchte Reeve. „Tja. Den Bericht von Ronven habt ihr ja auch gesehen ... was glaubt ihr hatte sie in Bezug auf den Spiegel des Alten Volkes für einen Verdacht?“ „Das ist doch jetzt erst mal unwichtig“, erwiderte Nanaki. „Lass uns das Ding benutzen! Lass uns ins Verheißene Land reisen und die Cetra besuchen ... und Bugenhagen!“ Sein Schwanz klopfte hektisch auf den Boden. Cloud warf ihm einen ernsten Blick zu. „Ich habe Ifalna versprochen, niemandem Zugang zu gewähren.“ Alle Umstehenden machten enttäuschte Gesichter. „Außerdem“, fuhr Cloud fort, „kann sowieso nur einer allein reisen. Seht ihr? Da drinnen ist gar nicht mehr Platz.“ „Aber ich würde doch keinem dort was tun“, bettelte Nanaki weiter und machte Hundeaugen, was er meisterlich beherrschte. „Bitte. Die machen bestimmt eine Ausnahme. Ich bin schließlich kein Mensch!“ „Red, darum geht es nicht. Es geht um mein Versprechen. Himmel, ich habe die Cetra schon einmal enttäuscht, was sollen die denn jetzt von mir denken, wenn ich schon wieder so unvorsichtig mit ihren Warnungen umgehe? Ach, und überhaupt, ihr habt es mir doch selbst erzählt: Als ihr in der Vergessenen Stadt nach der Transfer-Substanz gesucht habt, hielten alle Cetra sich dort auf. In Miragia wirst du also keinen von ihnen treffen.“ Verunsichert warf er Aeris einen Blick zu, die blass gegen die Wand gelehnt dastand, beide Hände über ihrem Bauch gekreuzt. „Cloud, erlaube mir“, begann sie müde, „dass ich nach Miragia gehe ... das hat mit deinem Versprechen nichts zu tun.“ „Du?“, fragte er überrascht. Damit hätte er am allerwenigsten gerechnet. „Aber du ... in deinem Zustand ... ist das nicht gefährlich für das Kind ...?“ „Wenn das Kind ... bisher alles überstanden hat ...“ „Aber das wissen wir ja nicht hundertprozentig!“ Sie schüttelte den Kopf, während alle rundherum sie anstarrten. „Ich glaube kaum, dass dem Kind Gefahr droht. Während Lukretia diese Maschine konstruiert hat, war sie ebenfalls schwanger, mit Sephiroth.“ „Oh.“ Cloud hielt Inne. „Du hast Recht. Meinst du, sie ... hat Miragia je selbst besucht?“ „Ich kann die Cetra danach fragen“, antwortete Aeris, „wenn du mich jetzt gehen lässt.“ „Hm. Na schön.“ Er trat beiseite. Sie ließ die Wand los und machte einige schwerfällige, langsame Schritte auf das SPECULUM zu, dann bekam sie den Griff der Einstiegsluke zu fassen. „Wartet einfach, bis ich zurück bin. Ich werde zurück sein. Tut einfach nichts.“ Cloud befielen Zweifel, während er Aeris ins Innere des SPECULUMS klettern sah. Nervös kniete er sich direkt davor und warf einen Blick durch die kleinflächige Panzerglas-scheibe. Sie hatte den Blick geradeaus gerichtet und legte eben eine Hand auf das kleine Schaltpaneel auf der anderen Seite – sofort schossen von allen Seiten des kleinen Innenraumes Drähte herbei, Kabel, was auch immer, und setzten kleine schimmernde Fortsätze auf ihre Stirn, ihre Hände, ihre Schläfen, während sie die Augen schloss und ihr Körper wie tot zurücksank. Er schluckte. Komm bloß heil zurück, dachte er, auch wenn er wusste, dass seine Sorgen vielleicht völlig unbegründet waren. Ganz am Rande seiner Aufmerksamkeit bekam er mit, wie Sephiroth, der beim Betreten der Highwind zurückgekehrt war, von seiner Schulter aufflatterte und sich in Nichts auflöste. Kapitel 36: Welcoming --------------------- Die Welt hatte sich in eine Reihe von Erschütterungen verwandelt. Partikel, Sterne, was auch immer – alles sauste funkelnd an der Cetra vorbei; in welche Richtung, das vermochte sie nicht festzustellen. Sie trachtete nur danach, sich irgendwo festzuhalten, Sicherheit zu bekommen, aber die Synapsen ihres Gehirns waren sich vollkommen darüber einig, dass sie mitten im leeren Raum umhergewirbelt wurde. In ihrem Inneren flehte sie, dieses Ziehen von allen Seiten, diese Koordinationsunfähigkeit möge endlich ein Ende haben. Sie fühlte sich, als sei sie mit einem Katapult in den Nachthimmel hinaufgeschossen worden und dort in einen Wirbelsturm geraten. Dann aber, schlagartig, hatte ihre Reise doch ein überraschendes Ende. Plötzlich waren all die äußeren Eindrücke wie verschwunden. Stattdessen lag Aeris wie benommen auf einer riesigen grünen Wiese, auf welcher Massen von Blumen blühten und über die sich ein weiter azurblauer Himmel spannte. Diese Welt schien ihren sehnlichsten Wünschen entsprungen zu sein ... Eben erhob sie sich mühsam aus dem Gras, als sie auch schon Schritte näherkommen hörte. Viele Schritte. Als sie sich umwandte, sah sie mindestens ein Dutzend ihrer Artgenossen auf sich zueilen. Alle strahlten und winkten, während sie sich näherten. Ganz vorn lief eine Person, die Aeris nie wieder zu sehen geglaubt hatte. „Mutter!“ Von Freude erfüllt sprang sie auf, soweit ihr ermüdeter Leib es zuließ, und warf sich Ifalna in die Arme. „Aeris, Kind! Endlich bist du gekommen, endlich! Ich hatte schon geglaubt, du kämst mich gar nicht mehr besuchen.“ Lächelnd drückte Ifalna ihre Tochter an sich. „So, na, wir wollen’s mal nicht übertreiben, sonst zerquetschen wir noch das Kind, nicht wahr?“ Sie wich ein Stück zurück, beugte sich herab und betrachtete neugierig Aeris’ Bauch. „Ja, das sieht doch ganz gut aus. Du wirst bestimmt eine hervorragende Mutter. Aber schließlich hattest du ja auch ein gutes Vorbild!“ „Das ist wahr“, stimmte Aeris schmunzelnd zu, „obwohl du meiner Stiefmutter ja nie begegnet bist. Aber nun – ...“ „Oh, ich weiß. Du hast bestimmt eine Menge Fragen. Die hatte Cloud auch ...“ „Was hältst du eigentlich von Cloud?“ Diese Frage beschäftigte sie nun schon eine ganze Weile. „Oh, er ist auf jeden Fall der Richtige.“ „Nein, ich meine ... denkst du auch, dass er euch alle –“ Ihr Blick huschte über die Reihen von Cetra, die hinter Ifalna standen. „– an diese ERCOM verraten hat? Oder zugelassen hat, dass man euch gefährdet?“ Ifalna schüttelte den Kopf und legte ihrer Tochter beide Hände auf die Schultern. „Nein, Aeris, hör mal. Niemand verurteilt Cloud. Niemand behauptet, er habe etwas getan oder nicht getan. Wenn er deswegen besorgt ist, beruhige ihn bitte. Wir alle haben nach wie vor vollstes Vertrauen in ihn. Wenn jemand unsere Sicherheit garantieren kann, dann er.“ „Hm. Das sehe ich genauso. Er wird euch nicht enttäuschen.“ „Davon bin ich überzeugt. Weißt du, eigentlich wollte ich dir, sobald du hier eintriffst, alle deine Verwandten vorstellen, die du an JENOVA verloren hast ... deine Tante, deinen Onkel ...“ Sie nickte einigen Cetra hinter sich zu, die lächelnd, aber mit verhaltener Neugier zu Aeris hinübersahen. „... aber wir haben leider nicht genug Zeit für ein Familienkaffeekränzchen. Sie sind jetzt alle aus der Vergessenen Stadt zurückgekommen, um dich zu sehen, aber die Party wird warten müssen. Komm mit mir mit, ja, und ich zeige dir etwas.“ Sie fasste Aeris’ Arm und zog sie sanft mit sich. Eine kurze Weile lang schaute Aeris zurück zu den versammelten Cetra, die ihr hintersahen und zum Teil immer noch winkten, dann richtete sie ihren Blick geradeaus, wo sich ein Tor über den Rasen spannte, das aus dünnen Drähten verschiedener Stärke zu bestehen schien. „Ein ganz wichtiger Ort“, sagte ihre Mutter geheimnisvoll. „Immer geschützt gegen unbefugtes Betreten. Ophiem!“ Von hinten kam ein zerstreut wirkender Vertreter des Alten Volkes herbeigelaufen. „’Tschuldigung, Ifalna. Hallo, Aeris! Willkommen! Zum Spiegel wollt ihr?“ „Wenn schon, denn schon“, antwortete Ifalna schlicht und wartete, bis sich das Tor vor ihr soweit gehoben hatte, dass sie ohne Bücken hindurchtreten konnte. „Komm, mein Kind. Jetzt wird es interessant.“ Hinter dem Tor war die Wiese zu Ende, ebenso der Himmel. Um die Körper der Beiden floss irgendein Materiestrom, hellgrün wie MAKO-Energie. Fasziniert starrte Aeris dieses halbflüssige Gas an und fühlte sich jäh an Lebensstrom erinnert. „Von hier aus“, setzte Ifalna an, „erhält der Planet Miragia aufrecht. Auf der Seite gegenüber befindet sich der Wald der Toten – dies hier ist praktisch der Gegenpol dazu. Hier ist auch der Abreisepunkt, von dem aus wir in die Außenwelt aufsteigen können. Und hierher kommen wir auch zurück.“ Ihr Blick wanderte durch die konsistenzlose Umgebung. „Ich habe Sephiroth gesagt, er soll sofort hier auftauchen, aber mir scheint, er flattert immer noch bei deinen Freunden in der Außenwelt rum. Meine Güte! Naja, lassen wir ihm etwas Zeit. Die Reise dauert auch einige Minuten, weißt du.“ Aeris blinzelte. „Hat nicht der Torwächter irgendetwas von einem ... Spiegel gesagt?“ „Spiegel? Ja, natürlich.“ „Dazu hätte ich nämlich eine Frage.“ „Bitte, nur zu, stell sie.“ „Mutter ... hast du je etwas vom Spiegel des Alten Volkes gehört?“ Ifalna furchte die Stirn, was im grünlichen Schein der Umgebung noch gut zu erkennen war. „Hm. Spiegel des Alten Volkes? Meine Güte, es gibt vieles, das man so nennen könnte ... aber direkt gehört habe ich das noch nie ...“ „Was könnte man so nennen?“, hakte Aeris eifrig nach, aber bevor ihre Mutter eine Antwort geben konnte, flammte über den Köpfen der Beiden ein helles Licht auf. „Das wurde aber auch Zeit“, kommentierte Ifalna und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht wurde zu einem glühenden Punkt, ähnlich einem Stern, der herabfiel und dabei einen Schweif hinter sich herzog. Er kam näher und gewann dabei an Größe und Helligkeit, bis er wie ein Meteor in einiger Entfernung auf den unsichtbaren Boden aufschlug. Umrundet von Lichtreflexen nahm der Stern allmählich Gestalt an. Das Schimmern verschwand. Sephiroth erhob sich aus der Hocke und streckte sich; sein schwarzer Flügel wirbelte Mengen an Lebensstrom auf. „Ah. Ihr seid schon hier.“ „Du bist ein notorischer Zuspätkommer, du Mensch“, murmelte Ifalna. „Aeris ist hier, siehst du?“ „Wie ... eindrucksvoll“, murmelte Aeris und versuchte krampfhaft, ihren bohrenden Blick von Sephiroths Flügel abzuwenden. „Ich schätze, das ...“ „Der ist cool, oder?“, erkundigte sich Sephiroth mit der Art eines kleinen Jungen, der seinen Freunden ein neues Spielzeug vorführt. „Oh, ja, ziemlich.“ Ifalna erhob die Stimme. „Genug jetzt mit dem Firlefanz! Der Spiegel. Komm, mein Schatz, den zeigen wir dir, dann wird deine Frage schon beantwortet werden.“ Barret lugte misstrauisch durch die Glasscheibe. „Meinste, sie is’ okay?“ „Natürlich ist sie okay“, antwortete Cloud und schob damit seine eigene Besorgnis beiseite. „Sag lieber Cid, er soll uns irgendwo landen.“ „Hab’ ich ja. Wir sind schon fast da.“ Cloud starrte weiterhin ins Innere des SPECULUMs, und seine Finger trommelten nervös auf das Metall. „Sephiroth ist auch weg. Ich wette, er ist ins Verheißene Land zurück, um mit ihr zu reden ...“ „Tja, kann ja sein. Und? Biste jetz’ neidisch, weil du irgendwelche Neuigkeiten nich’ mitkriegst?“ „Ich weiß nicht. Ich wäre natürlich mitgekommen, wenn das möglich gewesen wäre.“ „Ach, hör doch auf. Vielleicht labern die ja auch irgend’n belangloses Zeugs. Komm doch mit aufs Deck zu den Anderen.“ „Ich bleibe lieber hier.“ Seit mehr als einer Viertelstunde war Cloud nun alleine mit der seltsamen Maschine zurückgeblieben; seine Freunde hatten sich an Deck oder im Steuerraum etwas ausgeruht. Barret war gekommen, um wenigstens einmal nach dem Rechten zu sehen. „Dann erfahre ich wenigstens alle Neuigkeiten aus erster Hand, wenn sie zurückkommt.“ Missmutig zuckte Barret die Schultern. Seine Hände steckten wieder einmal tief in seinen Jackentaschen. „Hmm. Na gut. Ach, warte mal, irgendwas wollte ich noch ... ich sollte dir noch irgendwas sagen ... ach ja.“ Er streckte die gesunde Hand in Clouds Richtung aus. „Tifa hat drum gebeten, sich ma Vincents Umhang anseh’n zu dürfen.“ „Vincents ... Umhang“, wiederholte Cloud, dann schien er den Sinn hinter den Worten zu entdecken. „Oh, ja, richtig ... nein, warte. Den gebe ich ihr dann doch selbst. Erst mal will ich wissen, was sie damit vorhat.“ „Äh, wie du meinst ... he, he, jetzt warte wenigstens auf mich!“ Cloud war bereits durch die Frachtraumtür entwischt, ehe Barret registrierte, dass er sich überhaupt bewegt hatte. „Pass du auf Aeris und die Maschine auf. Ich bin ja gleich wieder da.“ „Jaah jaah.“ Barret sah Cloud kurz hinterher, dann begann er von Neuem damit, das SPECULUM argwöhnisch zu betrachten. Tifa stand an der niedrigen Reling des Highwind-Decks und ließ sich den frostigen Morgenwind um die Ohren blasen. Neben ihr lag, alle Viere von sich gestreckt, Nanaki und döste vor sich hin, Yuffie hing luftkrank in irgendeiner Ecke und Reeve bemutterte sie. Habe ich jetzt eigentlich die Ruhe gefunden, die ich wollte?, fragte sich Tifa, den düsteren Blick in weite Ferne gerichtet. Jetzt, wo ich meinen Job als Botschafterin wahrscheinlich sowieso los bin? Ach, verdammt. Wieso läuft das alles acht Jahre lang gut und geht dann plötzlich alles auf einmal den Bach runter? Verdammt! „Tifa?“ Sie zuckte zusammen. „Hu-huch! Ich hab’ dich gar nicht kommen gehört. Ist Aeris noch nicht wieder da?“ „Wir werden uns wohl noch etwas gedulden müssen, bis wir wieder etwas von ihr hören“, antwortete Cloud, der hinter ihr stand. Der kalte Wind vermochte kaum, seine starren blonden Strähnen in eine Richtung zu drängen. „Du wolltest doch den Umhang sehen.“ Er hielt ihr das abgewetzte Stück Stoff entgegen, welches flatternd seine ausgefransten Seiten sehen ließ. „Hm, ja, genau. Gib mal her.“ Mit konzentrierter Miene nahm sie ihm das Kleidungsstück ab und betrachtete es, wobei sie sich so in die Fahrtrichtung drehen musste, dass ihr der Saum nicht ins Gesicht wehte. „Tja, er ist etwas unpraktisch für unsere Zwecke ... er hat vorne am Kragen fünf Lederriemen mit Schnallen.“ „Vincent hat immer nur die oberen drei zugemacht“, erinnerte sich Cloud mit leiser Stimme. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich jedoch nicht. „Nun, ich ... könnte ja eine Änderung daran vornehmen ...“ Mit einem Mal wirkte Cloud erschrocken. „Nicht! Das ist Vincents Umhang, wir können damit nicht einfach machen, was wir –“ „Cloud, das war Vincents Umhang!“, fiel sie ihm streng ins Wort. „Er hat ihn dir geschenkt! Du musst den Gedanken loslassen, Vincent könnte zurückkommen und ihn wiederhaben wollen! Er wollte, dass du ihn benutzen kannst. Schweben können, das bedeutet einen ungeheuren Vorteil!“ „Ich ... weiß“, antwortete Cloud, erläuterte aber nicht näher, woher er das wusste. „Ähm ... na ja, das hätte ihm bestimmt auch nicht gefallen, wenn du seinen Umhang hast und damit nichts anfangen kannst. Wir müssen ihn so haben, dass man einfach ... leicht raus- und reinschlüpfen kann ... du weißt schon, einfach so über den Kopf ziehen. Weißt du was? Ich näh’ ihn um. Ich trenne die Schnallen ganz raus und mach’ den Kragen etwas weiter. Dann passt das schon.“ Sie schaute Cloud erwartungsvoll ins Gesicht, aber dieser sah nicht besonders begeistert aus. Nachdenklich ließ er den Blick über den Stoff gleiten. „Hm ... mach einfach damit, was du willst. Es wird schon richtig sein.“ „Nicht so schnell, Cloud. Du wirst mir zuschauen. Damit du dich gleich mit dem Gedanken anfreunden kannst, mit dem Ding herumzulaufen.“ Er schnitt eine Grimasse. „Muss das wirklich sein?“ „Ja!“ „Aber Aeris ...“ „Du hast selber gesagt, dass wir auf sie noch eine Weile warten müssen. Die Änderung dauert keine fünf Minuten. Ich kann das nämlich gut.“ „Und wie? Hier auf der Highwind? Mit Nadel und Faden?“ Seine Miene verriet nach wie vor Unwillen und Skepsis. „Wir landen doch gleich, Cloud – und zwar in Midgar.“ „Ach ja, bei deiner Freundin Helen. Wir müssen ja noch ihren Zaun wieder hinstellen“, gab er zynisch zurück. „Na schön, okay. Meine Güte. Von mir aus.“ Tifa erlaubte sich ein selbstzufriedenes Lächeln, als sie den Umhang faltete, glatt strich und ihn über ihren Arm hängte. Kapitel 37: Witness Of Truth ---------------------------- Aeris wollte ihren Augen nicht trauen. Was sich da langsam vor ihren Augen aus den grünlichen Nebelschwaden schälte, das war ... ein richtiger Spiegel, wie man ihn in alten Häusern an Wänden vorfand. Er schwebte einfach mitten in der Luft. Stolz zeigte Ifalna auf den ehrfurchteinflößend aussehenden Gegenstand. „Das ist er, der Südpol unserer kleinen Welt. Ob es der Spiegel ist, den ihr sucht, das weiß ich nicht.“ Aeris betrachtete den Spiegel, dann schüttelte sie den Kopf. „Hm, nein ... was wir suchen, darf nicht wirklich ein richtiger Spiegel sein.“ Sie erinnerte sich an Ronvens Bericht, in welchem stand, dass das Wort Spiegel eigentlich unpassend sei. „Das ist ja kein gewöhnlicher! Schau mal hier.“ Ifalna deutete auf den Rahmen des Spiegels, wo ein kleiner Splitter fehlte. „Den hat ...“ „Cloud“, sagte Aeris sofort. „Ich weiß. Sephiroth hat ihm den mitgegeben.“ „Das stimmt.“ „Und das hat einen Grund gehabt“, fügte Sephiroth hinzu. „Schau mal hin.“ Er streckte seine Hand nach der kleinen Lücke aus, wo das Stück fehlte. Sogleich begann das Bild des Spiegels, das zuvor nur verwaschenes Grau gezeigt hatte, feinere Konturen und Farbkontraste auszubilden. Ein kleines Haus war zu sehen, auf der rechten Seite davon das Heck der Highwind. Eben sah man Cloud und Tifa gemeinsam in Richtung Haustür gehen. „Das ist ... überwältigend!“, sagte Aeris hingerissen. „Du konntest ihn also beobachten, wann immer du wolltest, weil er den Splitter mit sich getragen hat?“ „Ja, genau. Und ich konnte ihm sofort Gesellschaft leisten ... denn der Spiegel ist unsere Abreisezentrale, wenn man es so nennen kann. Siehst du?“ Mit der schwarzbehandschuhten Fingerspitze tippte Sephiroth sacht gegen das Spiegelglas, und die Oberfläche kräuselte sich wie die einer Pfütze. „Man nimmt Anlauf und stürzt sich kopfüber hinein – schon ist man direkt am Ort des Geschehens. Gleichzeitig wird dabei die Metamorphose zur Gestalt einer Taube ausgeführt. Fühlt sich merkwürdig an, aber man gewöhnt sich irgendwie daran.“ Aeris zog die Stirn kraus. „Und was würde passieren ... wenn ich mich durch den Spiegel stürzen würde?“ Sephiroth schüttelte wie zur Warnung den Kopf. „Ich kann’s dir nicht sagen, aber du solltest es nicht ausprobieren. Ich weiß nicht, was dann passiert. Ob du anschließend noch zurückkehren kannst ... oder ob dein Körper in der Außenwelt stirbt und für immer im SPECULUM eingesperrt bleibt ... ich weiß es nicht.“ „Hm.“ Nachdenklich betrachtete sie den Spiegel, ging einmal um ihn herum. „Also, Cloud konnte einen Splitter davon mit in die Außenwelt nehmen ...“ „Ja“, antwortete Sephiroth. „Ich könnte natürlich auch dir einen geben ... aber ich glaube eigentlich nicht, dass du ihn brauchst.“ „Glaube ich auch nicht. Aber wenn ich etwas mit nach draußen nehmen kann – lässt sich dann auch etwas aus der Außenwelt mit nach Miragia nehmen?“ „Tja, ich weiß nicht. Cloud hat es nicht ausprobiert.“ „Ich schon.“ Sie griff in eine der weiten Taschen ihres Umstandskleides. „Ich habe vorsorglich daran gedacht, etwas bei mir zu tragen.“ Aus dem Inneren der Stoffhöhle förderte sie eine kleine Panflöte aus Bambusrohr zutage. „Sieh an, das hat funktioniert.“ Ifalna hinter ihr stieß einen Laut des Entzückens aus. „Du hast sie noch, Aeris?“ „Na klar habe ich sie noch.“ Ihre Tochter lächelte. „Meine Mutter hat sie mir geschenkt, als ich noch ganz klein war“, erklärte sie an Sephiroth gewandt. „Ich verstehe.“ Mit einem Mal zog Ifalna die Stirn kraus, als sei ihr der Gedanke gekommen, fehl am Platz zu sein. „Wisst ihr was? Ich lasse euch noch eine Weile unter vier Augen reden. Wenn du zurück nach draußen willst, Aeris, dann komm einfach zur Wiese zurück, okay?“ „Oh – ja.“ „Na schön, dann bis nachher.“ Mit einem sanften Lächeln entfernte sich Ifalna aus dem grünlichen Materiestrom, bis sie durch das weit entfernt scheinende Tor verschwunden war. Sobald sie nicht mehr zu sehen war, streckte Aeris Sephiroth die Panflöte entgegen. „Hier.“ Er schaute fragend drein. „Ich ...?“ „Du bist immer noch musikalischer als ich. Vielleicht kannst du das Lied, das du in der Gold Saucer gesungen hast, ja auch auf einer Panflöte spielen.“ „Ach, das ... dieses alte Lied ... hm. Ich hatte das noch nie vorher gehört, keine Ahnung, woher ich es überhaupt kenne.“ „Es ist ein Lied des Alten Volkes. Und jetzt nimm, bevor mein Arm erlahmt.“ „Schon gut.“ Sephiroth nahm ihr die Panflöte aus der Hand, setzte sie an und entlockte ihr einen Laut, der mehr nach Luft als nach Ton klang. „Oh ... nun ja.“ „Du wirst schon eine Weile üben müssen.“ „Fürchte ich auch. Ifalna wird aber bestimmt nicht erfreut sein.“ „Sie muss es ja nicht erfahren.“ „Äh, na gut ... danke ... oh, und bevor ich zu fragen vergesse ...“ Sein Blick glitt an ihr herab und blieb an ihrem Bauch haften. „Wie ... läuft es denn bisher ...?“ „Gut, komplikationslos ... danke der Nachfrage.“ Sephiroth holte tief Luft. „Aeris ... du weißt aber sicherlich, dass ... dass Cloud ...“ „Hm, was?“ Neugierig wartete sie darauf, dass er den angefangenen Satz beendete. „... dass Cloud ...“ „Dass er was?“ „... zeugungsunfähig ist.“ „Was?!“ Sie schnappte nach Luft. „Er ist ein Klon, ein JENOVA-Klon.“ „Ja – aber – ...“ „Klone sind unfruchtbar. Ich habe die Berichte damals in der Bibliothek alle gelesen ... Cloud ist genauso ein Klon wie Zack und ich, das weißt du ja ...“ „Ja ... aber ... was bedeutet denn das jetzt?“, fragte Aeris verwirrt, sich gegen eine offensichtliche Erkenntnis zur Wehr setzend. „Das bedeutet im Klartext“, sagte Sephiroth schonungslos, „dass er keine lebensfähigen Spermazellen produziert. Er ist infertil. Verstehst du?“ Aeris öffnete den Mund und schloss ihn wieder, dann wanderte ihr Blick an ihrem Bauch herunter. „Aber – das kann nicht ...“ „Irgendwann hättest du das sowieso herausgefunden, oder ein Arzt hätte es dir gesagt.“ Sie wollte es nicht glauben. Das war nicht möglich. Mühsam zwang sie die aufwallenden Emotionen, die Hilflosigkeit zurück, bemühte sich, alle Festigkeit in ihre Stimme zurückzubringen. „Also ... ist das Kind nicht von Cloud. Na gut. Schön. Wenn du das sagst. Aber da stellt sich mir spontan die Frage: Von wem ist es dann? Ich habe schließlich nicht –“ „Ich weiß“, sagte er rasch. „Und ich kann dir darauf eine Antwort geben. Hör zu: Die Berichte in der Bibliothek haben auch darüber Auskunft geliefert – du warst für lange Zeit Hojos Versuchsobjekt.“ Bei der Erwähnung des Namens erstarrte Aeris’ Gesicht wie zu einer leblosen Maske. „Ah, ich verstehe ... er hat mir irgendwas eingepflanzt.“ „Ja. Eine ruhende Zygote, die sich dann in die Gebärmutter einnisten sollte, wenn du dich innerhalb deines dreißigsten Lebensjahres befindest.“ „Und du wusstest das? Die ganze Zeit? Warum hast du nie ... warum hast du, als wir später ... als du von JENOVA befreit warst ... warum hast du nie ein Wort gesagt? Warum nicht?“ Er seufzte. „Das war ein Fehler von mir. Ich dachte, dadurch, dass du eine Zeitlang tot warst, wäre der Prozess gestoppt worden. Ich hatte doch damals keine Ahnung, dass du hier in Miragia im Wald der Toten weiterexistiert hattest! Verdammt, ich wollte es euch ja sagen, euch beiden! Aber irgendwie ...“ Er hob zaghaft den Kopf. Sie schwieg. „Verzeihst du mir?“ Anstatt eine Antwort zu geben, fragte sie: „Weißt du, was das für ein Ding wird, das ich da austrage? Wird es ein Kind? Ein Monster? Womit ist die Eizelle befruchtet worden?“ „Ich ... weiß es nicht.“ Aeris ließ die Schultern hängen. „Dann müssen wir also einfach abwarten.“ „Vielleicht, ja ... aber habt ihr denn keine Ultraschallbilder oder Ähnliches gesehen ...?“ „Doch, aber auf denen lässt sich jetzt noch nicht viel erkennen. Man könnte zwar schon feststellen, welchen Geschlechts das Kind sein wird und ob es Behinderungen haben wird, aber wir haben darauf verzichtet.“ „Hm. Na gut.“ Auf Distanz bleibend, warf Sephiroth einen vorsichtigen Blick zu ihr hinüber. „Ja, schon gut“, seufzte sie. „Ich verzeihe dir.“ Irgendwie machte Helen Clancy einen merkwürdigen Eindruck. Sicher, sie hatte Freude gezeigt, ihre Freundin Tifa und deren Begleiter wiederzutreffen – nicht zuletzt, weil Cid und Barret ihren Zaun wieder aufgestellt hatten –, aber sie wirkte irgendwie zerstreut und nervös, nicht mehr so ruhig und selbstsicher wie bei ihrer ersten Begegnung. Cloud und Yuffie saßen am Wohnzimmertisch und tranken Pfefferminztee, mitten in der Nacht, während Helen, scheinbar überhaupt nicht aus dem Schlaf gerissen oder Ähnliches, um sie herumwuselte und Zucker und Zitronensaft brachte. Reeve half Barret und Cid dabei, das SPECULUM samt Aeris in eine Ecke des Frachtraumes der Highwind zu rücken, damit noch etwas Anderes dort Platz finden konnte, das Cloud unbedingt noch aus dem nahen Kalm holen und mitnehmen wollte: das Daytona-Motorrad. Wie er so plötzlich auf diese Idee gekommen war, blieb fraglich. Tifa ihrerseits nutzte die Zeit, um Vincents Umhang angemessen und effizient zu besserer Benutzbarkeit umzuändern. Cloud sah ihr über den Rand seiner Teetasse hinweg dabei zu. „Hehe, so, ist schon fertig. Komm her, Cloud, stell dich hin!“ Cloud gab einen leisen Seufzer von sich, dann erhob er sich wie in Zeitlupe von seinem Stuhl. Tifa zog ihm den ausgeweiteten und umgenähten Kragen über den Kopf, was problemlos ging. Der Rest des Umhangs hing hinter Cloud wie ein Schweif herab. Wider Erwarten schien sich Cloud gar nicht so besonders unwohl zu fühlen. „Hey, cool – ich kann mein Gesicht bis zur Nase dahinter verstecken“, stellte er fest und senkte den Kopf, um es zu demonstrieren. „Du siehst aus wie ein Gangster“, kommentierte Yuffie fröhlich. „Aber irgendwie steht dir das Ding richtig gut. Verdammt beeindruckend sogar. Du solltest das anlassen. Deine Schüler werden sich in die hintersten Bankreihen verkrümeln, wenn du in den Klassenraum kommst.“ Cloud rang sich ein Lächeln ab, das erst zu sehen war, als er weit genug den Kopf hob. „Wenn ihr meint, na gut.“ „Führ das wenigstens mal vor! Jetzt will ich sehen, was der Fetzen kann, also zeig!“ „Das hast du doch bei Vincent schon oft genug gesehen.“ „Trotzdem!“ Cloud zuckte die Schultern und machte dann einen kleinen Satz, der ihn fast bis unter die Decke beförderte, wo er wie schwerelos in der Luft stehen blieb. „Hoppla, das ist auch ganz schön gewöhnungsbedürftig.“ Tifa verschränkte die Arme. „Cloud, komm da wieder runter. In Häusern anderer Leute wird nicht geflogen!“ „Herrje, du versuchst schon wieder, mich zu dominieren.“ „Du gehörst zu den Leuten, die es manchmal nötig haben! Und jetzt lande gefälligst!“ Helen warf einige neugierige Blicke durch den Spalt der Küchentür, ehe sie sich wieder ihren selbstkreierten Blätterteig-Kirschtaschen zuwandte. Nie im Leben hätte Helen damit gerechnet, dass Tifa und ihre merkwürdigen Reisebegleiter so schnell zu ihr zurückkommen würden. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, während sie dem Blätterteig mit den Fingern eine Form zu verleihen versuchte. Dann, mit einem Mal, klingelte hinter ihrem Rücken auch noch das Telefon. Sie biss sich so fest auf die Lippe, dass ein Blutstropfen ihr Kinn herunterrann. Ihr Hand verharrte direkt über dem Telefonhörer, ehe sie doch noch zupackte. „Clancy ...?“ „Helen, ich bin’s noch mal. Warum hast du letztens so plötzlich aufgelegt? Du verschweigst mir doch irgendwas.“ Sie schmeckte das Blut umso deutlicher, als Henry Fawkes’ Stimme an ihrem Ohr einen misstrauischen Unterton annahm. Sie musste sich jetzt entscheiden, wen sie auf ihrer Seite wissen wollte ... „Nicht jetzt. Später. Ich erzähl’s dir später ...“ „Meine Güte, du klingst furchtbar aufgewühlt. Was ist denn passiert?“ „Ich kann’s dir nicht sagen!“, zischte sie, während sie es vermied, seinen Namen auszusprechen, und fragte sich, ob sie es ihm je würde sagen können. „Verstehst du?“ Er schwieg einen Augenblick. Aus dem Wohnzimmer drang fröhliches Gelächter heran, und Yuffies Stimme quiekte: „Cool, wenn du fleißig übst, schaffst du vielleicht auch noch ’nen doppelten!“, woraufhin Tifa ein tadelndes „Ihr seid wirklich wie Kleinkinder!“ vernehmen ließ. „Was sind denn das für komische Stimmen im Hintergrund?“, fragte Henry neugierig. „Hast du Besuch?“ „Ich ... ja ... mein Bruder und seine Familie sind zu Besuch ...“ „Bruder? Seit wann hast du einen Bruder? Helen! Nicht auf–“ Fast schon hatte sie den Hörer wieder in seine Halterung gedrückt, hielt dann jedoch Inne. „Ich werde jetzt auflegen ...“ Im Wohnzimmer erhob sich wieder Tifas Stimme: „Cloud, jetzt hör auf der Stelle mit diesen Kindereien auf!!“ Helen seufzte. „Cloud?“, echote Henry wie ein Papagei. „Cloud?! Was, zum Teufel, die sind doch nicht alle –“ Helen hielt den Hörer hoch in die Luft und rief in Richtung Wohnzimmer: „Leute, kommt mal bitte aller her, jetzt gleich! Wir müssen was klären. Auf der Stelle!“ „Kann uns dieser Spiegel auch noch andere Dinge zeigen? Also nicht nur jemanden, der einen Splitter hat, sondern auch ...?“ „Der Spiegel ist immerhin ein Pol des Planeten. Es ist wahrscheinlich, dass er alles sehen kann“, antwortete Sephiroth, „uns aber nicht alles zeigt. Was weiß ich. Warum fragst du?“ „Vielleicht kann er mir vorhersagen, was das in meinem Bauch für ein Wesen sein wird.“ Aeris beugte sich zögernd über den Spiegel. „Wie ... wie gibt man ihm einen Befehl?“ „Einen Befehl?“, wiederholte Sephiroth mit sichtlicher Überraschung. „Keine Ahnung. Ihm was zu befehlen habe ich noch nie versucht. Werde ich auch nicht.“ „So, ich muss ihn um Auskunft bitten, oder was?“ „Glaubst du? Ist er ein lebendiges Wesen?“ „Du bist derjenige, der darüber Bescheid wissen sollte!“, gab ihm Aeris ärgerlich zur Antwort. „Hm, na schön. Dann mach ihm wenigstens klar, was du von ihm willst.“ „Wie denn? Meinen Bauch an die Spiegeloberfläche halten, oder was?“ „Ja, zum Beispiel.“ Sie verdrehte die Augen, aber schlussendlich schien ihr die Idee doch gar nicht ganz so abwegig. Je näher sie dem Spiegel kam, desto mehr war auf seiner Oberfläche zu erkennen ... „Siehst du was? Mir ist mein Bauch im Weg.“ Sephiroth versuchte, seitlich an ihrem Körper vorbeizuschielen. „Also, was man da sieht, das ... nun.“ „Was?“ „Geh noch ein Stück dichter ran, bitte.“ Aeris tat wie ihr geheißen und drehte sich ratlos nach Sephiroth um. „Was denn nun?“ „Ich sehe zwar keine Zukunftsvision von deinem Kind, aber dafür kann ich direkt in dich hineinsehen.“ „Oooh ... und? Ich meine, siehst du zufällig auch das Kind?“ „Ich denke schon ... leider ist von ihm noch nicht viel zu erkennen. Es sieht eben aus wie ein fünf Monate alter Embryo ....“ „Ein menschlicher?“ „Ja. Ziemlich eindeutig.“ Aeris atmete auf und trat von dem Spiegel zurück. „Gut, okay. Wenn es zumindest aussieht wie ein Mensch, dann werde ich es lieben wie mein eigenes Fleisch und Blut ...“ „Es ist dein eigenes Fleisch und Blut. Hojo hat die Zygote, die er dir eingepflanzt hat, ehemals auch aus deinem Körper entnommen. Ich weiß nur nicht, womit er sie befruchtet hat.“ „Verstehe. Na gut ... danke, dass du es mir überhaupt gesagt hast.“ Er nickte still. Wahrscheinlich wusste er selbst nur zu genau, dass er zumindest Cloud davon hätte erzählen müssen. Aeris überließ ihn seinen reumütigen Gedankengängen und beäugte ein weiteres Mal den Spiegel. „Ein Problem hätten wir da immer noch“, sagte sie direkt an den unwirklich anmutenden Gegenstand gewandt, „nämlich Lukretia. Wir müssen wissen, womit wir sie uns vom Hals halten, also womit wir sie Unschuldigen vom Hals halten.“ Als sie das sagte, weilten ihre Gedanken hintergründig bei Vincent und all den blutüberströmten Wächtern im Kellergeheimschacht. Sie tippte gegen die Oberfläche des Spiegels; diese fühlte sich warm und trocken an, aber eher wie Sand denn wie Glas. Das Bild, das er zeigte, blieb dunkel, nicht einmal eine kleine Lichtreflexion war zu erkennen. „Ach, verdammt, wisst ihr denn nichts darüber? Du, der Spiegel, der alles sieht, was sich in der Außenwelt abspielt? Weißt du denn nichts, aber auch gar nichts über Lukretia, die das SPECULUM gebaut hat? Lukretia, jetzt erinnere dich mal!“ Mit einem Mal färbte sich die Spiegeloberfläche. Ein gestochen scharfes Bild zeigte sich, als stünde man selbst direkt an dem Ort, den es projizierte. Zu sehen war ein kleines, weiß gekacheltes Zimmer mit einem merkwürdig aussehenden Tisch und einem Sideboard, auf welchem Dutzende argwohnerweckender Geräte und Apparaturen scheinbar willkürlich aufgereiht standen. Eine junge bildschöne Frau, die Aeris noch nie in ihrem Leben gesehen hatte – von der sie aber vermutete, dass es sich um Lukretia handelte –, stand inmitten dieses Szenarios, ihr Blick zuckte unruhig durch den ganzen Raum, als befände sie sich auf der Flucht und hoffte auf ein sicheres Versteck. Auffallend an ihr war der dicke Bauch, der sie als hochschwanger kennzeichnete. Von der anderen Seite des Raumes erklang eine drängende, flüsternde Stimme: „Psssst, komm hier rüber! Hier raus!“ Lukretia drehte sich um und folgte der Stimme, und das Spiegelbild ließ zu keiner Zeit von ihr ab. Hinter einigen Regalen zwängte sich die Schwangere einer schmalen, kaum erkennbaren Tür entgegen, und eine andere Frau, der die helfende Stimme zu gehören schien, half ihr dabei. Aeris wollte ihren Augen nicht trauen. Schon die Stimme war ihr bekannt vorgekommen, und nun, da sie diese zweite Frau erblickte, bestand kein Zweifel mehr: Lukretias Begleiterin, das war Ifalna. Meine Mutter kannte Lukretia? Warum kannte ich sie nicht? Schließlich kam Aeris zu dem Schluss, dass es sie selbst zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben haben konnte. Lukretia war schwanger mit Sephiroth. Da hat an mich doch noch gar keiner gedacht. Seite an Seite flohen Lukretia und Ifalna einen dunklen betonierten Tunnel hinunter, scheinbar eine Art Geheimgang. Der Ort des Geschehens musste Hojos Laboratorium im damaligen Shin-Ra-HQ sein. „Komm, wir sind gleich durch“, sagte Ifalna mit aufmunternder Stimme und legte beide Hände um Lukretias Handgelenk. „Er kann dich doch nicht ewig verfolgen.“ Lukretia schniefte hysterisch. „Er wird mich ewig verfolgen“, schluchzte sie. Dann hielt sie inne und stieß einen Schrei aus. „Was? Was ist los?“ Ifalna schlang beide Arme um die Schultern der Freundin. „Beruhige dich doch! Was hast du?“ Lukretia schrie und jammerte nur noch etwas lauter, lehnte den Kopf gegen Ifalna und starrte auf ihren Bauch. „Das – das macht nur die Aufregung“, brachte sie schließlich hervor. „Aber jetzt ...“ Ifalna furchte die Stirn. „Will er raus?“ „Jiiii-jiaaaah ...“ „Jetzt sofort? Oh, verflucht! Junge, kannst du nicht wenigstens noch vierundzwanzig Stunden da drin bleiben?“, zischte die Cetra und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Wölbung von Lukretias Bauch. „Das wird doch unmöglich, eine Geburt auf der Flucht vor dem Erzeuger! Was machen wir denn jetzt?“ Aeris sah fasziniert hin, griff dann mit einer Hand geistesabwesend nach Sephiroths Ärmel. „He, schau dir das an! Der Spiegel zeigt uns, wie du geboren wirst! Lukretia wollte dich nicht Hojo überlassen, wie es scheint. Und meine Mutter war auch noch an der Sache beteiligt ...“ Sephiroth blieb neben ihr stehen und beugte sich zu dem Spiegel hinunter. „So ... war das also? Warum soll das jetzt für den Kampf gegen Lukretias Restexistenz irgendwie von Interesse sein?“ „Pscht, das werden wir ja noch sehen. Lass uns erst mal sehen, wie’s weitergeht.“ „Ehrlich gesagt will ich das nicht sehen. Schlimm genug, was meine Mutter für mein Leben auf sich genommen hat. So genau muss ich das nicht wissen ...“ „Ich will’s aber sehen.“ Endlich schaffte es Aeris, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen innerhalb des Spiegelbilds zuzuwenden. Lukretia wand sich unter Wehenschmerz auf dem kalten grauen Boden und wimmerte vor sich hin. Ifalna stand über sie gebeugt und wischte ihr die schweißfeuchten Strähnen aus dem Gesicht. „Nun sei mal ganz ruhig, Liebes. Weißt du, wenn er jetzt auf der Stelle raus will, kannst du ihn sowieso nicht aufhalten. Lass ihn raus, das erspart uns Hektik und dir große Schmerzen.“ „Spinnst du denn?!“, fuhr Lukretia auf. „Ich kann ihn nicht mitten in so einem schmutzigen Tunnel zur Welt bringen ...!“ „Dir wird nichts Anderes übrig bleiben! Aber mach dir keine Sorgen, weil ich dir helfen werde. Ich kann das nämlich. Hörst du, wenn du darauf bestehst, ihn an einem sterilen Ort zu gebären, dann wird als erstes Hojo auftauchen und ihn dir wegnehmen. Und Lukretia, du kennst das Theater. Du hast schon einmal ein Kind auf die Welt gebracht.“ „Er wollte Ronven nicht haben“, jammerte die Schwangere. „Er will nur ihn. Aber er darf ihn nicht kriegen ...“ „Ganz meine Meinung, deswegen solltest du deinem Kleinen jetzt schnell das Leben schenken, damit wir weiterkönnen. Alles klar?“ Ein erneuter Schrei Lukretias ging in einer schrillen Folge von Schluchzern unter, aber sie schien sich nunmehr mit der Tatsache abzufinden, dass sie hier und jetzt auf der Stelle ihr Kind bekommen musste. Und es war erstaunlich, wie rasch das vonstatten ging. Die anschließenden Szenen erschütterten Aeris ziemlich. Selten hatte sie eine Frau solche Qualen erleiden gesehen, und sie hätte auch nicht für möglich gehalten, dass bei einer Geburt solche Unmengen von Blut fließen könnten. Als sie den Kopf zur Seite wandte, stellte sie überrascht fest, dass Sephiroth, ziemlich blass, sich mit einer Hand die Augen zuhielt. „Kannst du kein Blut sehen?“, wollte sie wissen. „Doch, kann ich. Du weißt, ich habe schon eine Menge Blut gesehen.“ Trotzdem ließ er seine Hand, wo sie war. Nachdem sich innerhalb des Spiegelbildes schon fast der ganze sichtbare Betonboden rot gefärbt hatte und Lukretias Schmerzensschreie immer matter und erschöpfter wurden, rief Ifalna endlich freudig aus: „Jetzt nur noch ein bisschen, und wir haben’s hinter uns! Na komm!“ Sie förderte aus einer Manteltasche ein zusammengefaltetes Trockentuch zutage, das sie – so ließ sich vermuten – vorausahnend bei sich trug. Nun gebrauchte sie es dazu, das blutüberströmte Geschöpf in Empfang zu nehmen, es bestmöglich abzuwischen und es dann der wie leblos daliegenden Lukretia in die Arme zu legen. Diese war zu entkräftet, sich zu rühren. „Ifalna ... muss ein Neugeborenes ... nicht schreien?“ Die Cetra zuckte zusammen. „Oh Himmel, du hast Recht! Wir wissen ja gar nicht, ob er atmet!“ „Und du kannst so was ... man sieht’s.“ Mit einem letzten Rest Kraft setzte Lukretia sich auf und schlug das Tuch über dem Kopf des Kindes zurück. „Oh Gott ...“ „Es ist ein sehr hübscher Junge, und er sieht aus wie ein Mensch“, sagte Ifalna fest. „Also nimm ihn, er braucht dich. Er ist kein Monster.“ Als Betrachter sah man das Kind nun sehr deutlich. Es war ziemlich klein und bewegte sich nicht, hatte strahlend helle türkisfarbene Augen, die weit geöffnet in die schmutzige Welt ringsherum blickten, und ein wenig hellgrauen Flaum auf dem Kopf. „Oh ja“, kommentierte Aeris vor dem Spiegel in Sephiroths Richtung. „Das bist du, unverwechselbar.“ Sephiroth, der immer noch versuchte, sich Augen und Ohren gleichzeitig zuzuhalten, murmelte etwas Unverständliches. „Hey!“ Aeris packte ihn am Arm. „Jetzt schau nicht weg! Stell dich! Die schlimmen Szenen sind sowieso vorbei. Guck doch mal, wie niedlich du bist.“ Vorsichtig nahm Sephiroth die Hand zur Seite, und Aeris sah deutlich eine Träne auf seiner Wange, ehe er sie rasch fortwischte. „Warum hasst meine Mutter mich nicht dafür, dass ich ihr das angetan habe?“ „O-ho, da haben wir also wieder die Selbtsmitleidsnummer. Also, du glaubst, du hattest damals eine Wahl, hm? Erinnerst du dich noch direkt daran, die Entscheidung getroffen zu haben, sofort geboren werden zu wollen? Oder besser, hast du aus reiner Bosheit dafür gesorgt, dass die Geburt so schmerzhaft wird?“ „Hör auf.“ „Was du schon wieder redest, ist der größte Käse seit Yuffies Gorgonzola-Selbstversuch. Ich weiß, dass du traumatisiert bist. Aber wenn du bei jeder Konfrontation damit so ein Theater machst – und man bedenke, du bist ein erwachsener Mann und der stärkste Krieger der Welt –, dann wird sich vermutlich auch nie was daran ändern.“ Sephiroth gab keine Antwort, starrte nur weiter auf das Spiegelbild, wo Lukretia das Neugeborene liebevoll, wenn auch immer noch weinend, an ihr Herz drückte. Ifalna blickte neugierig zu Mutter und Sohn herüber. „Und?“ „Es scheint ihm gut zu gehen“, antwortete Lukretia mit schwacher Stimme. Das Kind schmiegte sich an sie. „Weißt du, ich nenne ihn Sephiroth.“ „Warum denn?“, erkundigte sich Ifalna neugierig. „Weil ich das von Anfang an vorhatte, deswegen.“ „Und Hojo soll sich da wohl ja nicht einmischen, wie?“ „Er wird ihn nicht bekommen. Sephiroth ist mein Kind, ganz allein meins, und wenn er es haben will, dann muss er mich töten. Verdammt ... ich wusste doch nicht, dass in ihm so ein Ungeheuer steckt ... dass er nur seine Experimente im Kopf hat ... er ich dachte, er liebt mich ... aber er liebt mich nur als sein Forschungssubjekt.“ Ifalna streichelte ihr über den Kopf. „Du wirst schon durchkommen, Liebes. Nun lass Sephiroth erst mal leben und die Welt schnuppern. Versuch jetzt, ihn zu stillen.“ „Jetzt sofort?“ „Je eher, desto besser.“ Lukretia wickelte das Tuch von ihrem Kind und legte es sich an die Brust. Eine Zeitlang sahen beide Frauen angespannt hin. „Ifalna, er tut es nicht!“, stellte Lukretia schließlich mit erneut wachsender Hysterie fest. „Er trinkt nicht! Was mach’ ich jetzt, was mach’ ich jetzt?!“ „Nur die Ruhe! Jede Hektik überträgt sich auf ihn! Wenn du denkst, etwas ist nicht in Ordnung, dann denkt er das auch. Entspann dich!“ Lukretia holte tief Atem, dann fuhr sie damit fort, Sephiroth sanft anzustupsen. „Komm – komm – komm“, sang sie leise. „Trink Milch, für Mami, ja?“ Glücklich schmiegte das Kind seine kleine Wange an die Brustwarze, aus der es trinken sollte. Ifalna machte ein ratloses Gesicht. „Ehrlich, das versteh’ ich nicht. Er scheint gar keinen Saugreflex zu haben, der alle Kleinkinder normalerweise sofort dazu bringt, alles in den Mund zu nehmen, was ihre Wange berührt, und daran zu nuckeln. Der Kleine ist nicht im Geringsten interessiert.“ „Aber wenn er nicht trinkt“, setzte Lukretia unheilvoll an, „dann ... stirbt er doch ... oder?“ Ifalna schüttelte entschieden den Kopf. „Quatsch, nicht sofort. Es ist zwar so, dass die erste Milch die wichtigste ist, aber wenn es jetzt noch nicht geht, dann versuch es einfach später noch mal. Und jetzt ..... oh – hörst du das ...?“ Alle Drei spitzten die Ohren, selbst der kleine Sephiroth erstarrte mitten in einer Bewegung. „Oh, bitte nicht ... er hat uns ... aufgespürt ...“ Lukretia umklammerte mit einem Arm Ifalna und mit dem anderen Sephiroth. „Ich höre seine Stimme ... wir müssen ...“ „Pscht! Komm mit, komm, wir hängen ihn schon ab ...“ „Nicht diese Richtung!“, wisperte Lukretia. „Die andere ...“ Plötzlich erstrahlten von beiden Seiten des Tunnels helle Lichter. Geblendet blinzelten alle Drei in die entsprechenden Richtungen und versuchten sich abzuwenden. „Sie haben uns, mein Kleiner“, flüsterte die Mutter ihrem neugeborenen Sohn ins Ohr. „Aber keine Angst. Sei stark. Was auch immer passiert, ich liebe dich, Sephiroth, mein Kleiner.“ Aeris fuhr damit fort, den Spiegel nachdenklich zu betrachten, auch als er sich längst wieder unscheinbar dunkel gefärbt hatte. „Tja“, sagte sie. „Unglücklicherweise hast du nie einen Tropfen echte Muttermilch getrunken ... das erklärt so einiges ...“ Sephiroth hinter ihr ließ zunächst nichts von sich hören. Erst nach ein paar Minuten des Schweigens sagte er: „Also, was hat das mit deiner Frage zu tun, wie wir Lukretia von dem SPECULUM wegkriegen?“ „Gar nichts.“ „Hm.“ „Vielleicht müssen wir irgendetwas tun, um sie zu erlösen. Du weißt schon. Wie die Geister in Gruselfilmen, die keine Ruhe finden. Irgendetwas muss die Menschen ja auf diese Idee gebracht haben, warum dann nicht eine wahre Begebenheit?“ „Du meinst also, jemand muss diese Last von meiner Mutter nehmen, damit auch der letzte Rest ihres Seins sich in Lebensstrom verflüchtigt?“ „Sie hat selber gesagt, dass JENOVA sie nicht sterben lässt.“ „Vielleicht will sie aber auch gar nicht sterben.“ „Was soll sie stattdessen wollen?“, fragte ihn Aeris. Sephiroth zuckte die Schultern. „Finden wir’s raus, was bleibt uns Anderes übrig?“ „Ich habe die Befürchtung“, gestand Aeris, „dass du der Einzige gewesen wärst, der etwas hätte tun können. Aber in Gestalt einer Taube wirst du nicht besonders viel ausrichten.“ Sie nahm Haltung an und wandte sich vom Spiegel ab. „Also gut, ich schätze, es wird trotzdem Zeit, zurückzukehren. Danke für diese ... Einblicke.“ „Danke für die Flöte.“ „Nichts zu danken. Lass dir von den Cetra ein paar Lieder beibringen, sie kennen sehr viele.“ Aeris biss sich fast auf die Unterlippe. Ihre größte Furcht nahm bei einem einzigen bestimmten Gedanken wieder klar vor ihr Gestalt an. „Und bitte“, fügte sie fast weinerlich hinzu, „bitte pass auf Cloud auf. Lass nicht zu, dass ihm wieder solche Dinge passieren. Er kommt nicht besonders gut damit zurecht. Ich will nicht, dass er schon wieder verletzt wird.“ Schutzsuchend ging sie zu ihm hin und lehnte sich gegen ihn. Sephiroth legte geistesabwesend einen Arm um sie, aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass er angestrengt über irgendetwas nachdachte. „Ist gut, mach dir keine Sorgen. Er ist stärker als du denkst.“ „Wahrscheinlich.“ Aeris ließ ihn ratlos zurück, fühlte sich aber beruhigter als bei ihrer Ankunft. Vor dem Tor auf dem Weg zur Wiese fand sie ihre Mutter vor. „Aeris, Liebes, hast du jetzt genügend Antworten für den Anfang?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht“, antwortete ihre Tochter vage. „Ich muss jetzt erst mal wieder zurück. Wie geht das?“ „Das ist das Einfachste an der ganzen Sache.“ Lächelnd ergriff Ifalna Aeris’ Hand. „So, und jetzt Augen zu.“ Kapitel 38: Sharp Words ----------------------- Sephiroth verharrte still vor dem Spiegel, beide Hände um die kleine Bambusrohrflöte geklammert. „Warum hast du uns das gezeigt?“, fragte er den Spiegel laut, wohl wissend, dass dieser kaum eine Antwort geben würde. „Meine Mutter tobt da draußen als Überrest einer spirituellen Existenz herum, mordet wie ein Monster und stirbt dabei jede Sekunde einen schmerzvollen Tod, und wenn wir dich fragen, was zu tun ist, dann zeigst du uns ... die Geburt ihres Kindes. Was hat das Ganze mit mir zu tun? Ich kann nicht zurück, auch wenn ich wollte. Was erwartest du, das wir unternehmen?“ Die Oberfläche des Spiegels kräuselte sich leicht, blieb aber dunkel. „Wie konntest du uns das überhaupt zeigen? War das die Wahrheit oder nicht? War es vielleicht eine Möglichkeit, wie es hätte ablaufen können, oder ist es wirklich so passiert?“ Sephiroth schüttelte den Kopf. „Zeitreisen sind unmöglich. Nichts kann schneller sein als das Licht. Das Gesetz der Erhaltung der Masse würde seine Gültigkeit verlieren, das Prinzip von Ursache und Wirkung würde umgekehrt ... diese Voraussetzungen einer Welt, die unabhängig von uns existiert, können nicht außer Acht gelassen werden. Aber dich interessiert das nicht, oder?“ Er merkte, dass er nunmehr zu dem Planeten sprach und längst nicht mehr nur zu dem Spiegel direkt vor sich. „Was solche Materialisten wie Cloud sagen oder genau wissen, ist im Verheißenen Land bedeutungslos. Du lässt die Außenwelt unabhängig von ihren Bewohnern existieren, aber nicht Miragia. Bezweckst du irgendetwas damit?“ Dünne grünliche Rauchfaden stiegen vom unsichtbaren Boden der Spiegelhalle auf und schlängelten sich um Sephiroths Körper. „Das scheint mir genauso ein Paradoxon wie die Tatsache, dass ich selbst hier bin, ich, der dich damals beinahe ausgelöscht hat. Du verzeihst mir, was die Bewohner der Außenwelt mir nie verzeihen könnten. Und das nur, weil ich nicht aufgrund von Komplexen gehandelt habe? Was ist, wenn ich das doch habe?“ Der Spiegel antwortete nicht. Vielleicht waren ihm Sephiroths Fragen zu umfangreich, um sie klar zu beantworten, oder sie erreichten ihn überhaupt nicht. Mit einem leisen Seufzen berührte Sephiroth die Stelle, an welcher auf der Spiegeloberseite ein Splitter fehlte, sah Cloud und die Anderen an dem ihm bekannten großen Eichenholztisch sitzen und stürzte sich ein weiteres Mal direkt in dieses Szenario. „Hallo, Mister Fawkes. Wer hätte gedacht, dass wir uns je auf diese Weise unterhalten würden?“ „Strife“, nuschelte die Stimme des ERCOM-Leiters mit merkwürdig resigniertem Unterton. „Ich habe Ihnen eine Menge zugetraut, aber nicht, dass Sie auch meine engste Freundin auf Ihre Seite ziehen würden.“ „Das würde ich auch nie versuchen“, antwortete Cloud gelassen. Das Telefon stand auf dem Eichenholztisch mit eingeschaltetem Lautsprecher, und rundherum saßen neben Helen und Cloud, um dessen Hals immer noch der Umhang lag, auch noch Tifa, Yuffie, Reeve, Barret und Cid; Nanaki lag als einziger lang über der Tischplatte ausgestreckt, und seine Schwanzspitze klopfte gleichmütig auf das Holz. „Was wollen Sie?“, fragte Henry Fawkes vorsichtig. „Überlegen Sie mal.“ „Tun Sie Helen nichts an.“ „Sie ist nicht unsere Geisel oder so, aber das könnte sich ändern, wenn Sie wieder versuchen, uns zu irgendetwas zu zwingen. Wir sind nur auf einen nächtlichen Sprung zum Tee vorbeigekommen, und Helen war so freundlich, uns aufzunehmen. Hören Sie, wir haben die Maschine der Cetra aus dem Kellerschacht herausgeholt.“ „Ich weiß“, murmelte er, „der Einbruch wurde mir gemeldet, konnte aber aufgrund der Gefahr, die der Keller birgt, nicht bewiesen werden. Sie erwarten jetzt wahrscheinlich, dass ich Sie damit entkommen lasse.“ „Ganz und gar nicht.“ Clouds Fingernägel trommelten lässig auf die Tischplatte und erzeugten zusammen mit Nanakis Schwanzklopfen einen einheitlichen Beat. „Wir möchten, dass Sie herkommen und sich das ansehen, was Sie so gierig in Ihren Besitz bringen wollen.“ Fawkes gab zunächst keine Antwort, als hätte es ihm die Sprache verschlagen, dann stotterte er: „Sie ... Sie wollen, d-dass ich mir das ... aber ... Sie würden mir zeigen, wie man ...?“ „Sie dürfen gern hineinklettern und es sich von innen ansehen.“ „Aber das Monster ...“ „Es ist immer noch im Kellerschacht eingesperrt, und wir werden eine Möglichkeit finden, es ganz loszuwerden. Kommen Sie einfach her. Aber allein. Denken Sie an Ihre Helen.“ „Ich ... ja. In Ordnung. Haben Sie Geduld, bis zum Morgen schaffe ich es.“ „Sehr schön, dann freuen wir uns schon auf Ihre Ankunft.“ Der Sarkasmus in Clouds Stimme, ehe er auf den Abbruchknopf drückte, ließ die Anwesenden unwillkürlich schmunzeln. „Glaubt ihr, der Sack hält sich dran?“, fragte Barret misstrauisch in die Runde. „Er wird meine Gesundheit nicht aufs Spiel setzen“, sagte Helen fest. „Also macht euch keine Sorgen.“ Sie sammelte die leeren Teetassen ein und trug sie in die Küche, als plötzlich eine silbrige Manifestation direkt über dem Tisch Gestalt annahm. Cloud schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: „Da bist du ja wieder, komm her.“ Die Taube landete vor ihm auf dem Holz. „Also ist Aeris wieder zurück.“ „Rrrrrrrrru“, machte der Vogel und sträubte sein Gefieder. Cloud hob die Augenbrauen. „Lern doch bitte, dich etwas klarer auszudrücken.“ Im nächsten Moment klopfte es an die Haustür. Cid sprang auf. „Wartet. Sie ist es, ich lass’ sie rein.“ Aeris hatte schnell die Kontrolle über ihren erkalteten Körper wiedergefunden und war von der Highwind aus durch die stockfinstere Nacht zum Haus herübergetrottet. Cid öffnete ihr die Tür und bat sie mit einer verschwörerischen Geste hinein: „He, wir haben ihn an der Angel, diesen ERCOM-Clown.“ Sie nickte. „Ich habe euch auch was zu erzählen. Sind alle hier?“ „Ja, alle. Komm.“ Sie folgte ihm und sah ihre alten Freunde allesamt, einschließlich Helen Clancy, um den Wohnzimmertisch versammelt und freudvoll auf das darauf stehende Telefon blicken. Cloud bot den interessantesten Anblick, denn er trug eine scheinbar abgewandelte Version von Vincents weinrotem Umhang. Der deprimierte, steinerne Ausdruck war endlich gänzlich aus seinem Gesicht gewichen und hatte einer optimistischen Zufriedenheit Platz gemacht. Nanaki wedelte freundlich mit dem Schwanz, als er Aeris sah, und sprang vom Tisch. „Da bist du ja! Los, erzähl uns, was du gesehen hast!“ Er versuchte gar nicht erst, seine Neugier auf das Verheißene Land zu verstecken. „Nun“, setzte Aeris nachdenklich an. Sie nahm gar nicht erst Platz, sondern blieb auf der Wohnzimmerschwelle stehen. „Also, was den Spiegel des Alten Volkes betrifft ... ich kenne jetzt schon drei Dinge, für die diese Bezeichnung zutreffend scheint ...“ „Leg los“, forderte Barret sie munter auf. „Es gibt zunächst das SPECULUM. Dieses Wort bedeutet Spiegel auf einer Sprache, die nicht mehr gesprochen wird. Vielleicht ist das gemeint. Dann ist dort die Welt selbst, Miragia, die einen Spiegel der Außenwelt darstellt, auf der wir uns jetzt befinden.“ „Das wurde mir auch gesagt“, entsann sich Cloud. „Ein Spiegel der Außenwelt.“ „Als Letztes“, fuhr Aeris fort, „gibt es in einem begrenzten Raumabschnitt innerhalb Miragias einen richtigen Spiegel, der zeigen kann, was immer er will, und durch den die Cetra treten müssen, wenn sie in Vogelgestalt unsere Welt besuchen wollen.“ Erwartungsvoll sah sie in die Runde. „Das Letzte habe ich allerdings schon ausgeschlossen, da ja Ronven von etwas sprach, das nicht wirklich ein Spiegel genannt werden kann.“ „Die Frage ist nun: Wenn es kein richtiger Spiegel ist, was ist es dann?“ „Tja, sie hat ihre Vermutung ja leider nicht niedergeschrieben.“ „Glaubst du?“ Aeris warf Cloud einen verwirrten Blick zu. „Was heißt Glaubst du? Du hast doch selber vorgelesen, was in dem Bericht stand ...“ „Ja, habe ich, aber woher wollen wir wissen, ob das ihr einziger Bericht war? Nach unserem Treffen mit ihr hat sie nur noch Berichte über Sephiroth verfasst, aber davor? Vielleicht sollten wir da noch etwas energischer nachforschen.“ „Hm. Da hast du wahrscheinlich Recht.“ Nanaki begann erneut mit dem Schwanz zu wedeln: „Bitte, Aeris, erzähl uns, was du noch gesehen hast! Bugenhagen, war er da?“ „Ich habe nicht mit ihm gesprochen, obwohl ich das vielleicht hätte tun sollen“, antwortete Aeris zögerlich. „Weißt du, diese Sache mit dem Spiegel hat sich zu lange hingezogen, um in aller Ruhe –“ „Dann kann ich jetzt gehen, oder? Darf ich?“ Er machte Hundeaugen. Das beherrschte er einfach wie kein Zweiter. Cloud war derjenige, der ihm anstatt von Aeris nachdrücklich zur Antwort gab: „Zuallererst werden wir niemand Anderen nach Miragia schicken als unseren übelsten Widersacher.“ Alle, die bei ihm am Tisch saßen, rissen überrascht die Augen auf. „Moment mal, meinste etwa diesen ... Kerl?“, fragte Barret und beugte sich dabei über den Tisch in Clouds Richtung. Seine Augen verrieten mehr Misstrauen denn je. „Ich dachte, du hätt’st den verarscht! Das hältste nich’ wirklich für ’ne gute Idee, Cloud! Erzähl mir das nich’. Das wäre ja genau das, was du die ganze Zeit mit aller Kraft zu verhindern versucht hast. Hast selber gesagt, dass du dran gescheitert wärst.“ „Alle Cetra vertrauen ihm“, sagte Aeris ruhig. „Ich weiß, was ich tue“, antwortete Cloud scharf. „Anders können wir ihn doch gar nicht von dieser Idee abbringen. Er weiß nicht, auf was er sich da überhaupt einlässt, versteht ihr das nicht? Er muss es mit eigenen Augen sehen. Vielleicht will er gar nicht mehr als das. Sephiroth?“ Die Taube auf dem Tisch drehte ihren Kopf in seine Richtung. „Du weißt, was du zu tun hast, wenn wir ihn ins Verheißene Land schicken.“ Sephiroth nickte. Kapitel 39: The Search Goes On ------------------------------ Friedlich rollte sich Nanaki auf dem Sofa in Helen Clancys Wohnzimmer zusammen und döste. Er hatte kein Problem damit, noch ein wenig länger auf seine Gelegenheit zu warten; Geduld war eine seiner guten Eigenschaften. Auch wusste er genau, was er Bugenhagen fragen würde. Seit seiner ersten Begegnung mit Lukretias Geist, während des Treffens in Nibelheim, als dieser grausliche Ton aus dem Erdreich gedrungen war, hatte ihn diese Furcht vor ihr nicht mehr losgelassen. Irgendetwas an ihrer ruhelosen Anwesenheit versetzte ihn in derartige Panik, dass seine Muskeln beinahe erlahmten und jeder klare Gedanke ihn verließ. Sobald er sie spürte, war er auf der Flucht. Und ja, er würde Bugenhagen fragen, warum Lukretia eine solche verängstigende Wirkung auf ihn ausübte. Als Bibliothekar und Buchhalter hatte Skylar Goodsworth ein hervorragendes Gespür dafür entwickelt, wo und in welchen Büchern man nach bestimmten Informationen suchen konnte. Zwar hatte er die Vermutung, was er suchte könne zu jung sein, um sich schon im Einband eines Buches zu befinden, aber vielleicht war es völlig unerheblich, aus welcher Zeit die gefundenen Informationen stammten. Ein Hinweis, ein Fingerzeig musste genügen. Schummriges Licht erleuchtete die Bibliothek von Gongaga, die größte noch existierende Ansammlung an Büchern auf der ganzen winzigen Erdkugel. Die Anwesenheit so vieler, zum Teil uralter Bücher veranlasste automatisch zu Stille und Ehrfurcht. Bewusst hatte Skylar nicht die Wissenschaftsabteilung angesteuert, sondern direkt die für Sagen und Legenden, die auf Wahrheit gründen könnten. Sein Finger huschte flink über die staubigen, ihm zugewandten Ledereinbände. Auf einigen war kaum noch etwas zu erkennen. Freilich, Gongaga hatte damals für den Aufstieg seiner Bibliothek alle Bücher eingesammelt, die in anderen Büchereien aussortiert worden waren ... Seine Lider zuckten und sein Finger verharrte vor einem Buchrücken, auf welchem in mit Serifen versehen Buchstaben der Titel mehr oder weniger deutlich zu lesen war: The Ancients. Das Alte Volk. Natürlich. Es war anzunehmen, dass die Cetra vor vielen Jahren noch als ein unergründetes Geheimnis galten und fantasievollen Menschen genug Anreiz dazu gaben, Geschichten über sie zu erfinden, die mit der Wirklichkeit vielleicht nur noch wenig zu tun hatten. Umso überraschter war Skylar, als er im Inneneinband Informationen über den Autoren studierte: Prof. Dr. Wikisag war Ahnenforscher und Archäologe. Konnte ein solcher Mann sich dazu hinreißen lassen, überlieferte Legenden über eine sagenumwobene Rasse niederzuschreiben? Wohl kaum. Bereits die ersten Seiten bewiesen, dass er viel mehr den wissenschaftlichen Hintergrund all dieser Geschichten beleuchtete und kritisch erörterte, was an ihnen wahr sein könnte und was mit Sicherheit erdacht worden war. Irgendwie, dachte Skylar zufrieden, ist das ja auch das, wonach ich gesucht habe. Er nahm dieses Buch an sich und setzte seine Suche in der nächsten Regalreihe fort. Die Nachtluft war kalt und frostig. Cloud starrte zum dunkel-zwielichtigen Horizont von Midgar herüber, der selbst nach jahrelanger Reinigung immer noch ungesund grünlich aussah. Sein Atem kondensierte zu rasch forttreibenden Dampfwolken. Nahe des Gartenzaunes stand Helen, einen selbstgestrickten Poncho übergeworfen, und rieb sich die klammen Hände. Mittlerweile kroch eine blasse Morgendämmerung über die Plattenbaudächer der Industriestadt. „Keine Spur von ihm“, sagte Cloud. „Er kommt schon noch“, gab ihm Fawkes’ Geliebte zur Antwort, und ihre Finger wurden noch ein wenig mehr zu Krallen. „Warum bist du dir da so sicher?“ „Weil ich ihn kenne.“ „Er wird also dein Wohlergehen nicht riskieren.“ „Um keinen Preis.“ „Und warum nicht?“ Helen wandte sich um und warf ihm aus halb zusammengekniffenen Augen einen merkwürdigen Blick zu, der im Halbdunkel schwer zu deuten war. „Versetz dich selbst in seine Situation. Wenn dir gesagt würde, du sollst dich zu einem Ort begeben, an dem Aeris festgehalten wird – würdest du irgendetwas unternehmen, das sich gegen die von den Entführern aufgestellten Bedingungen richtet?“ Cloud schwieg. Ein schwacher Winterwind bauschte seinen roten Umhang. „Also nicht.“ „Ich schätze nicht.“ Sie rollte die Augen. „Du gehörst zu der Sorte von Männern, die für ihr Leben gern reden, und denen man nie etwas aus der Nase ziehen muss, oder? Solche Typen sind für Gespräche die allerbesten.“ Es war purer Sarkasmus. „Bis vor Kurzem kannte ich einen, auf den das noch mehr zutraf als auf mich“, antwortete Cloud und hielt einen Zipfel des Umhangs hoch. „Oh. Verstehe. Euer gefallener Freund, hm? Tifa hat mir erzählt, dass ihn diese Lukretia von innen heraus in Stücke zerrissen hat ... und dass du ihm dieses Ende glücklicherweise erspart hast.“ „Tja.“ „Hast du dich je gefragt, ob das vielleicht falsch war?“ Cloud stieß ein solches Schnauben aus, dass es in einem Tremolo endete. „Je? Ich frage mich das seitdem jede Minute! Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto richtiger erscheint es mir im Nachhinein. Weißt du ... das Schlimme an der Sache mit Lukretia war ja nicht nur, dass Vincent gar nicht wusste, dass sie es war ... sondern dass sie wusste, dass er es war.“ Helen furchte die Stirn. „Jetzt mal einen etwas kürzeren Satz. Was wolltest du eben ausdrücken?“ „Dass sie ihn getötet hat, obwohl er zu Lebzeiten in sie verliebt war. Er hätte alles für sie getan, er hätte ihr auch sein Leben geopfert. Tja, und jetzt ist es dazu tatsächlich gekommen ... was für eine boshafte, tragische Ironie.“ Eine kurze Zeitlang überlegte Helen, ob er vielleicht eine Antwort erwartete und was sie ihm für eine geben konnte, dann aber wurde die Stille jäh durch leise, gedämpfte Motorengeräusche unterbrochen. Cloud hob alarmiert die Hand. „Nicht hingehen, warte!“ „Ich bewege mich doch gar nicht!“, zischte Helen zurück, blickte aber weiterhin geradeaus in die Richtung, aus welcher das vertraute Rattern ertönte. „Das sollte ja auch eine Vorwarnung sein. Geh ins Haus, damit du fürs Erste unerreichbar bleibst.“ „Ganz wie du befiehlst, oh furchtloser Anführer“, murmelte Helen und huschte ins Haus, wo sie die Tür hinter sich schloss. Cloud selbst setzte sich in Bewegung und ging gezielt auf die für seine Augen nicht sichtbare Quelle der Geräuschkulisse zu. Als der Lärm so laut war, dass er die Vibration seiner Trommelfelle regelrecht spüren konnte, streckte er eine Hand vor und stieß auf kaltes Metall. Metall, das sich merkwürdig formlos anfühlte, als ändere sich die Beschaffenheit seiner Oberfläche ständig und liefere dem Gehirn nur ein angedeutetes Bildnis. Woher das kam, war ihm im selben Augenblick klar: Dieses motorenbetriebene Transportmittel verfügte ebenfalls über eine Tarnvorrichtung, nicht zu verwechseln mit der bekannten Tarnplane, wie man sie der Tiny Bronco oder der Highwind bei Bedarf überzog. Er drehte sich um und schaute in die Richtung, in der er den Ausstieg des Gefährtes vermutete. „Strife?“ Cloud reagierte auf die Aussprache seines Namens. „Ja ... ich bin hier.“ „Finden Sie das nicht unvorsichtig? Ich könnte Ihnen jetzt eine Waffe an den Kopf halten und anschließend einen Geiselaustausch fordern.“ „In dem Moment, in dem Sie eine Waffe ziehen, Fawkes, ist Helen tot“, log Cloud. Mit Unwahrheiten hatte er mittlerweile keinerlei Schwierigkeiten mehr. Das Lügen war im Verkehren mit einigen Personen einfach unverzichtbar. „Ich verstehe.“ „Wie erfreulich. Dann kommen Sie jetzt raus und begleiten mich ins Haus.“ Henry Fawkes sprang in einer völlig anderen Richtung als Cloud erwartet hatte aus dem Flieger und warf seinem Gegenüber einen grimmigen Blick zu. Irgendwie musste ihm die vermeintliche Entführung seiner Geliebten mehr zugesetzt haben als angenommen. Er war bleich, und das schwarze Haar wand sich wirr um seinen Scheitel. Neben Cloud blieb er stehen und starrte düster zum Haus hinüber. Cloud hörte, wie hinter seinem Rücken das Flugzeug wieder abhob, und entschloss sich, keine Zeit zu verschwenden. „Sie gehen vor, und ich behalte Sie im Auge. Na los.“ Fawkes setzte sich widerspruchslos in Bewegung. Hinter ihm und Cloud kroch langsam die Sonne den Horizont hinauf. Barret und Cid nahmen Helen zwischen sich und packten vorsichtshalber ihre Arme, damit es wenigstens so aussah, als wäre sie ihre Gefangene. „Nur zur Sicherheit“, raunte Barret ihr leise zu. „Mach einen auf verängstigt.“ „Mach ich“, seufzte sie, obwohl ihr der Gedanke, ihren Freund unnötig in solche Panik zu versetzen, nicht sonderlich gefiel. Aber die Lage war angespannt. In der ganzen frühen Morgenluft lag etwas Bedrohliches, es hing direkt über dem taufeuchten Gras wie durchsichtiger Nebeldunst. Mittlerweile hatten alle Helen Clancys Haus verlassen und sahen Cloud und Fawkes, die sich Schritt für Schritt über den Asphaltweg näherten, erwartungsvoll entgegen. Ohne den Blick von den beiden Näherkommenden abzuwenden, blieb Tifa vor der unsichtbaren Highwind stehen und griff nach etwas neben sich, das genauso wenig zu sehen war wie das Flugschiff selbst; mit einem Mal jedoch hob sie etwas hoch, das sich in die Länge zu ziehen schien, und dabei schälte sich die ganze monströse Gestalt des metallenen Ungeheuers aus der klaren Morgenluft und verdeckte die Sonne, was einen langen Schatten auf Cloud und Fawkes warf, die inzwischen fast bei den Anderen waren. Tifa hielt die Tarnplane hoch, unter welcher die Highwind hervorgekommen war. „So, dann ist ja mal alles klar.“ Sanft gab Cloud seinem Gefangenen einen Schubs zwischen die Schulterblätter. „Da hinein, in das Flugzeug.“ „Sie haben dieses riesige Ding die ganze Zeit hier herumstehen lassen?“ „Allerdings. Und jetzt möchten wir Ihnen zeigen, was das eigentlich ist, auf das Sie da so wahnsinnig scharf sind. Wenn Sie also bitte eintreten möchten ... dort ist die Strickleiter.“ Henry Fawkes spürte immer noch Strifes Handfläche mit nachhaltigem Druck auf seinem Rücken, obwohl er gern die Füße in den Boden gestemmt und sich nicht weiter gerührt hätte. Unsicherheit hatte blitzschnell von ihm Besitz ergriffen. Auf was hatte er sich eingelassen? Warum hatte Strife so plötzlich darauf bestanden, ihm die Maschine zu zeigen, wobei er doch vorher schon so zappelig geworden war, wenn auch nur jemand in die Nähe dieses Objekts kam? Dies alles war ihm suspekt. Als er um sich sah, erblickte er all jene Personen, die die ERCOM mithilfe der Mittellandjustiz aufgrund zweifelhafter Indizien gefangengehalten hatte. Er suchte den Blick seiner Geliebten. „Helen?“ Sie sah gehetzt zu ihm herüber, aber die beiden Kerle links und rechts von ihr schienen sie grob an den Schultergelenken festzuhalten. „Helen, ich hol dich da raus. Ich würde alle Forderungen dieser Leute erfüllen, damit du freikommst.“ „Ich weiß“, antwortete sie mit zittriger Stimme. Strife schob ihn erneut vorwärts auf das Flugzeug zu, und Fawkes ergriff die erste Sprosse der Strickleiter, um sich wie in Zeitlupe daran hochzuziehen. Er war sich nicht sicher, ob Strife ihm folgte. Mühsam widerstand er dem Impuls, einfach von der Leiter zu springen und auf Helen zuzurennen; stattdessen kletterte er Sprosse für Sprosse höher, die Hanfseile brennend zwischen den Fingern. Schließlich erreichte er das obere Ende des Strickleiter und damit das Deck. Es war solide und mit einer niedrigen Reling versehen wie ein Kreuzsegler. Eine Tür führte ins Innere des Flugschiffes. „Immer der Nase nach in den Frachtraum“, ertönte hinter ihm eine Stimme, die einem von Strifes Genossen gehören musste, die Fawkes aber nicht zuordnen konnte. Er ging also weiter, eine schmale Metalltreppe hinunter. Im riesigen Innenraum der Highwind, wie dieser Koloss von Transportmittel anscheinend genannt wurde, sah er sich zunächst einer Frau gegenüber, die er auf den ersten Blick erkannte. „Sie sind ... Strifes Freundin.“ „Aeris Gainsborough. Kommen Sie mit, Mister Fawkes, und ich zeige Ihnen, was wir von Ihnen möchten.“ Fawkes versteifte sich. War das nicht schon wieder unvorsichtig von Strife? Machte er sich keine Sorgen um seine Freundin? Sie könnte nun selbst zu einer Geisel werden, denn niemand sonst war da, um sie zu beschützen ... „Denken Sie nicht, dass Sie unbeobachtet sind“, sagte eine leise, melodische Stimme hinter ihm, die von einem relativ tiefen Standpunkt aus kommen musste. Überrascht drehte er sich um und erblickte im Schatten einer Ecke das seltsame vierbeinige Pelzwesen, jene furchterregende Kreatur, die, so vermutete er, einem von Hojos oder Gasts Laboren entstammen musste. Hojo und Gast waren, laut Fawkes Informationen, sehr radikale, risikofreundliche Forscher gewesen ... Strifes Mädchen packte sein Handgelenk. „Er wird Sie im Auge behalten, und er ist mit Zähnen und Krallen ausgestattet – mal ganz abgesehen von seinem Kopfschmuck.“ „Sie sind eine Cetra“, murmelte Fawkes benommen, während er ihr in den Frachtraum folgte. „Wie Strife gesagt hat. Sprechen Sie mit dem Planeten?“ „Fällen Sie dieses Urteil selbst. Schauen Sie jetzt dorthin – da ist es, das Sie unbedingt wollen.“ Vor ihm an einer fleckigen Betonwand stand die Maschine aus dem unterirdischen Kellerschacht, von einer unfindbaren Lichtquelle beschienen und schimmernd wie ein stiller Weiher inmitten eines schwarzen Waldes. Sie übte eine klare, überirdische Aura um sich herum aus, die einen beinahe in sich hineinzuziehen suchte. „Gehen Sie“, forderte ihn die junge Frau auf, als sei nichts dabei. „Setzen Sie sich hinein und berühren Sie das Schaltpaneel. Dann werden Sie schon erfahren, was Ihnen diese Erfindung für unvergleichliche Vorteile bescheren wird. Denn es sind doch Vorteile, auf die Sie aus sind, oder?“ „Heben Sie sich Ihre Beschuldigungen für später auf.“ Ihm war klar, dass seine nächste Aktion ein Risiko barg. Seine Neugier war zu groß, als dass er gegen sie würde bestehen können; außerdem wusste er, dass Strife in dieser Maschine gewesen und lebend zurückgekehrt war. Und was Strife konnte ... Als Henry Fawkes sich an Aeris vorbeischob und sich durch die Luke in den Innenraum des SPECULUMS zwängte, flatterte von der Hinterseite des kleinen Raumes eine weiße Taube auf, streifte mit einem Flügel Aeris’ Schulter und löste sich dann in flüchtenden Partikelstaub auf. Aeris und Nanaki wechselten einen vielsagenden Blick. Innerhalb der Maschine war ihr unbeliebter Gast mit dem Schaltpaneel in Berührung gekommen und machte nun die Erfahrung, bis aufs Letzte mit der Technologie des Alten Volkes verbunden zu werden. Kapitel 40: A Real Mirror ------------------------- Die Erde hörte nicht auf, diese furchtbaren Wellen von Beben und Bersten von sich zu geben. Ein Sirren und Flimmern durchflutete die zähflüssige Luft und verlieh ihr eine ungreifbare Kälte. Fawkes glaubte von sich selbst, immer noch still in der Maschine zu sitzen, aber die Eindrücke von außerhalb berichteten ihm etwas ganz Anderes. Er fürchtete, die Besinnung zu verlieren, und eine Reihe furchterregender Gedanken kam ihm in den Sinn. Erstens: Strife hatte herausgefunden, wie man die Maschine programmierte, und sie so manipuliert, dass sie jeden Eindringling zu Tode folterte. Zweitens: Irgendwo war ein Schalter umgelegt worden, und jeder, der an die Maschine angeschlossen würde, wäre auf ewig in ihr gefangen. Drittens: Weitere gewagte Horrorfantasien ... und berechtigt, denn was sonst könnten Strife und seine terroristischen Spießgesellen denn im Sinn haben, als ihn loszuwerden, genau wie er sie! Hätte Taggert ihn und die ERCOM doch nur nicht zu solchem Handeln gezwungen ... Aber mit einem Mal gab es eine Art Aufschlag, und das grauenvolle Gefühl von allen Seiten war von einer Sekunde auf die nächste verschwunden. Es folgte nur träges Halbdunkel und weiches Gras unter dem Rücken. „Okay, sehr schön, das ging erstaunlich schnell“, sagte eine Frauenstimme irgendwo neben ihm. Eine Reihe geschäftiger Schritte umkreisten seinen platt daliegenden Körper. „Jungs, tut mir den Gefallen und hebt ihn hoch. Ihr wisst schon, wo wir ihn hinbringen ... ich bitte Ophiem, das dunkle Tor zu öffnen.“ „Gut, wir beeilen uns.“ Fawkes wollte etwas wie „Hey!“ rufen und sich wehren, aber keiner seiner Muskeln gehorchte ihm bisher. Seine Nerven und die vielen Millionen Tastrezeptoren seiner Haut jedoch verrieten ihm, dass man ihn an diversen Extremitäten gepackt hatte und davon schleppte. Durch seine geschlossenen Augenlider sah er helles Licht hindurchschimmern, doch je weiter diese Menschen – waren es welche? – ihn trugen, desto dunkler wurde es rundherum. Die Schritte traten gleichmäßig durch das Gras, dann auf Sand und schließlich auf etwas Härterem, vielleicht Asphalt. Schließlich hielt seine Eskorte an. „Tor auf, bitte!“ „Jaja, kommt gleich – ist nur so schwierig. Das dunkle Tor wird so selten geöffnet, dass schon die Scharniere eingerostet sind. Muss demnächst mal geölt werden, der ganze Kram!“ Ein schweres Knarren und Quietschen folgte diesem Ausruf. Als es Henry Fawkes endlich gelang, die Augen zu öffnen, erblickte er vor sich ein meterhohes, mit Eisengittern versehenes Tor aus Ebenholz, das ganz allmählich aufschwang und das präsentierte, das sich hinter ihm befand: Dunkelheit. Wie ein Höllenschlund tat sich ein schwarzer Abgrund auf, der nicht erkennen ließ, wohin er führte. „Argh!“, quiekte Fawkes und klammerte die Finger um das Handgelenk eines Trägers. „He, lass los! Nur die Ruhe! Hier tut dir niemand etwas, klar?“ „Wo bin ich?“, schrie Fawkes. „Träume ich? Bin ich tot?“ „Ich fürchte nicht. Hier kommt gleich jemand, der dir erklärt, wo du bist.“ Mit diesen Worten holten sie Schwung, zählten bis drei und warfen ihn direkt in den schwarzen Rachen des Eisentors. Finsternis und Stille umgab ihn, nachdem das Tor sich hinter ihm geschlossen hatte. „Denkt bloß nicht ... dass ich Angst habe. Ich bin der Leiter der ERCOM. Wo bin ich?“ „Was denken Sie, wo Sie sind? Äußern Sie eine Vermutung.“ Fawkes fuhr herum. „Wer sind Sie? Und wo sind Sie?“ Die Finsternis war so undurchdringlich, dass er beim besten Willen nichts erkennen konnte. Er fühlte nur eine hinterhältige Kälte seinen Rücken hinaufkriechen. Ihm wurde klar, dass sein Gesprächspartner, wer auch immer das war, wahrscheinlich hervorragend sehen konnte. „Zeigen Sie sich, bitte.“ „Tja, wenn Sie mich so freundlich ansprechen ... sicher.“ Aus einer völlig unerwarteten Richtung flammte ein kleines Licht auf, mehr blau als Rot, kalt und abweisend. Fawkes erblickte eine schlanke schwarze Gestalt, allerdings mit einer unverwechselbar männlichen Körperform. Viel mehr war nicht zu erkennen als fließendes vermutlich silberfarbenes Haar und etwas Schwarzes, ein Umhang oder so etwas, das so überwältigend schwarz war, dass einen das Gefühl überkam, nicht richtig hinsehen zu können. Was einen aber wirklich dazu brachte, den Blick abzuwenden, waren diese stechenden türkisfarbenen Augen. Die Beschreibung ... passte auf irgendjemanden. Irgendeine historische Person. Tja. Wer war das? Fawkes’ Blut gefror, als er schließlich zu dem Schluss kam, dem allergefährlichsten Menschen gegenüberzustehen, der je die Erde betreten hatte. „Sie – Sie sind ...“ Die Worte stießen krächzend heraus. „Ja, sagen Sie’s nur“, antwortete der dunkle Krieger geduldig. Die Sanftheit seiner Stimme bot einen krassen Gegensatz zu seinem Auftreten. „Mister Sephiroth?“ „Mister Fawkes?“ „Äh – angenehm.“ „Gleichfalls.“ „Äh, nun. Werden Sie ... mich töten?“ „Möchten Sie, dass ich das tue?“ Fawkes zog die Stirn kraus. „Den Aufzeichnungen zufolge haben Sie niemals rhetorische Fragen gestellt.“ „Tja, man stellt diese Art von Fragen, wenn jeder die Antwort kennt, damit der Gesprächspartner das trügerische Gefühl hat, mitentscheiden zu können ... natürlich streben Sie in erster Linie danach, am Leben zu bleiben. Nun – lassen Sie mich erklären, was es mit der Maschine aus dem Kellerschacht auf sich hat.“ Erwartungsvoll richtete Fawkes seinen Blick nun doch auf Sephiroth, erhielt aber keine Antwort. „Ja – bitte“, sagte er schließlich versuchsweise. „Also, kennen Sie sich mit den Cetra und JENOVA aus? Wenigstens ein bisschen?“ „Ich weiß alles darüber“, antwortete Fawkes nicht ohne Stolz. „Also packen Sie schon aus. Ist das hier vielleicht der Spiegel des Alten Volkes, den ich suche?“ „Das hier? Nein. Das ist das Verheißene Land, nach dem die Cetra ein Leben lang gesucht haben. Mit der Maschine, genannt das SPECULUM, kann es jeder von der Außenwelt erreichen.“ Fawkes starrte ihn an. „Das kann doch nicht sein ... wer sollte ... wer könnte in der Lage sein, eine solche Erfindung ...“ „Meine Mutter.“ „Ihre Mutter!?“ „Sie war mit Ifalna, Prof. Gasts Frau vom Alten Volk, befreundet. Sie hat schreckliche Torturen und Versuche über sich ergehen lassen müssen. Sie ist jenes Monster, das Sie und Ihre Mitarbeiter so fürchten.“ „Meine Güte! Lassen Sie mir Zeit, das zu verstehen.“ „Kann ich nicht. Ich muss Ihnen klarmachen, was Sie für Schaden anrichten, wenn Sie mit dem SPECULUM oder gleich mit der ganzen Sache an die Öffentlichkeit gehen. Sie würden uns Schaden zufügen. Aber nicht nur uns ... lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen.“ Sephiroth ging auf Fawkes zu, und jener versuchte sich wegzuducken, aber der schwarze Krieger packte ihn am Handgelenk. „Das Verheißene Land hat, wie die Außenwelt, zwei Pole. Den einen benutzen wir, um in die Außenwelt zu wechseln. Und den anderen ... sehen Sie jetzt. Den verbirgt das dunkle Tor.“ „Wir sind schon dort?“ „Nicht ganz. Eine spezielle Gegend macht den schwarzen Pol aus, und das ist der Wald der Toten.“ Fawkes lachte hysterisch. „Wald der Toten?“, echote er wie ein Papagei. „Ja, das klingt ganz schön kitschig, nicht wahr? Wie eine Bezeichnung aus einem schlechten Horrorfilm ... vielleicht aus einem dieser sehr schlechten von Ash Gystone ... aber er heißt wirklich so. Cetra, die in der Außenwelt sterben, bleiben dort gefangen, bis derjenige stirbt, der sie umgebracht hat. Die meisten von ihnen sind frei, weil JENOVA, die sie mit ihrem Virus tötete, ausgelöscht ist. Aber einige nicht ...“ Und damit begann Sephiroth, seinen widerstrebenden Besucher hinter sich herzuziehen. „Sehen Sie hin. Schauen Sie es sich an.“ „Glauben Sie mir, ich bin nicht scharf darauf!“ „Gut, ich glaube Ihnen. Kommen Sie trotzdem mit.“ Es blieb Fawkes nichts Anderes übrig als Sephiroth zu folgen. Obgleich er diesen fürchtete, so hatte er vor seiner düsteren Umgebung doch noch viel mehr Angst. Dicht drängte er sich an das schwarze Cape und nahm Schritt für Schritt über einen undefinierbar weichen und elastischen Untergrund. Ein Pol des Verheißenen Landes. Verdammt, wo bin ich hier gelandet? Warum konnte Strife mir das nicht einfach sagen? Warum muss ich das durchmachen – verdammt! Aber dann kam ihm ein anderer Gedanke: Hätte ich es je geschafft, die Maschine in meinen Besitz zu bringen – mich hineinzusetzen wäre das Erste gewesen, was ich getan hätte. „Ich weiß“, sagte Sephiroth. Fawkes fuhr zusammen. Er liest meine Gedanken!, schoss es ihm durch den Kopf. „Das stimmt.“ Er sieht alles, was ich denke? „In der Tat“, antwortete Sephiroth laut, während er mit seinem furchtsamen Begleiter an der Hand zielstrebig vorwärts ging. Na klasse. Und wenn ich jetzt an eine nackte Frau denke? „Dann sehe ich sie ebenfalls.“ Verdammt. „Hm, nein – die eben war nicht gerade nach meinem Geschmack.“ „Versuchen Sie doch mal, an etwas nicht zu denken, und merken Sie, wie schwierig das ist!“, stieß Fawkes trotzig hervor. Der schrille Ton seiner Stimme verriet die starke Überbeanspruchung seiner Nerven. „Ich weiß. Aber nackte Frauen werden Ihnen gegen das, was Sie gleich sehen, auch keine hilfreiche Ablenkung sein. Ich werde Ihr Schaudern genießen.“ Er ließ ihn los. Die Highwind flog durch die frühen Morgenstunden. Wenige zartrosafarbene Wolken zogen träge am Firmament entlang, einige Zugvögel folgten dem Luftschweif des Flugzeugs. Im Frachtraum saßen nur Aeris, Cloud und Nanaki rund um das SPECULUM herum. Helen hatte einen einzigen Blick auf die Maschine geworfen und sich dann hinaus an Deck verzogen. „Was glaubst du, wann wird er zurück sein?“, wandte sich Cloud an Aeris. „Das kommt ganz darauf an, wann Sephiroth mit ihm fertig ist.“ „Also noch lange nicht.“ „Wahrscheinlich.“ Cloud hielt das Kinn in die Hände gestützt. Nach wie vor hatte er Vincents Umhang nicht wieder abgelegt. „Gut, dass wir nach Kalm fliegen. Ich muss nicht nur das Motorrad holen. Noch etwas Anderes.“ Argwöhnisch hob Aeris die Augenbrauen. „Doch nicht etwa Nox, oder?“ „Den doch nicht.“ Cloud schnitt eine Grimasse. „Weißt du, Nanaki, sie wollte diesen Kater unbedingt haben. Aber wer füttert ihn? Nicht etwa Aeris!“ „Ich wollte doch nur tagsüber nicht so alleine sein, wenn du arbeiten gehst“, gab Aeris trotzig zurück. „Und du magst ihn doch auch.“ „Na, von mir aus. Trotzdem will ich ihn nicht mitnehmen. Noch etwas Anderes.“ Aeris warf Nanaki einen Blick zu. „Weißt du es?“ „Nein.“ Der Vierbeiner schüttelte den Kopf. „Werdet ihr schon sehen“, sagte Cloud geheimnisvoll. „Ich meine, Fawkes und die ERCOM sind ja nicht unsere einzigen Gegner.“ Er blickte wissend in die Runde, als ihn sein PHS mit wiederholtem schrillen Piepton an seine Anwesenheit erinnerte. „Oh, wartet einen Augenblick.“ Er holte es hervor und drückte die Annahmetaste. „Ja ...“ „Cloud!“ „Vater?“ „Aber hallo! Ich weiß jetzt, was der Spiegel des Alten Volkes ist!“ „So? Dann raus damit. Ist es irgendein altes vergessenes Artefakt oder existiert es gar nicht?“ „Weder noch“, antwortete Skylar vergnügt. Er genoss es sichtlich, als Einziger die gesuchte Antwort zu kennen. „Ich bin ewig in Gongagas Bibliothek rumgerannt und hab’ Literatur durchforstet noch und nöcher. Und jetzt hab’ ich es rausgefunden.“ „Nun mach’s doch nicht so spannend. Nanaki und Aeris springen mir gleich an den Hals vor Neugier!“ „Nun, es ist ... eine Rasse, die den Planeten bewohnt.“ „Eine Rasse!?“, stießen Cloud, Aeris und Nanaki beinahe gleichzeitig hervor. „Wie kann das sein?“, fragte Aeris. „Wie kann eine Rasse der Spiegel des Alten Volkes sein?“ „Laut eines haarspalterischen Berichts von Prof. Dr. Wikisag hat diese Rasse sich vor vielen Millionen Jahren von den Cetra abgespalten und sich – glaub es oder nicht! – parallel entwickelt. Also teilte sich der Stammbaum praktisch in der Mitte, und die beiden Rassen entwickelten sich gleichsam weiter wie die Zinken einer Gabel. Eben genau symmetrisch. Das hat die Forscher damals erstaunt.“ „Ja – aber ... warum ist denn heute fast nichts mehr darüber bekannt?“ „Weil diese Spezies aufgrund von Lebensraumverdrängung genau wie die Cetra immer mehr zurückging ... mal ganz davon abgesehen, dass sie bei der Herrscherrasse, den Menschen, nicht allzu beliebt war.“ „Also war es nicht der Mensch selber?“ „Natürlich nicht, der ist ja schließlich nicht seltener geworden, sondern eher häufiger.“ „Hm. Aber ich kenne keine Spezies, die den Cetra ähnlich sieht. Nur den Menschen.“ „Das ist ja das Verwunderliche. Der Spiegel des Alten Volkes sieht dem Alten Volk selbst so gut wie gar nicht ähnlich. Dabei haben sie sich kaum auseinander entwickelt.“ „Also ist es schlicht irgendeine stark bedrohte Spezies?“ „Eine bedrohte hochintelligente Spezies, nicht zu vergessen.“ Cloud sah zweifelnd die Anderen an. „Aber was gibt es außer Menschen und Cetra noch für hochintelligente Wes– ...“ Er erstarrte, und es schien ihm wie Schuppen von den Augen zu fallen. Nanaki, der bis zu diesem Zeitpunkt träge ausgestreckt auf dem Boden gelegen hatte, spürte plötzlich unangenehm prickelnd die Blicke von Cloud und Aeris auf sich ruhen. „Hey – warum starrt ihr mich denn plötzlich so an?“ Kapitel 41: Changing Minds -------------------------- Der Waldboden war sumpfig und bedeckt von trockenen schwarzen Ranken, die sich krankhaft durch das Unterholz wanden wie wuchernde Geschwüre. Riesige, endlose kahle Baumstämme ragten in krummen Winkeln in den Himmel, den man aufgrund des schwarzen Blätterdaches nicht zu sehen vermochte. Seltsam gelbliches Gras spross an einigen weniger matschigen Stellen in Büscheln aus der faulig-feuchten Erde. „Schön hier“, kommentierte Fawkes vorsichtig. „Finde ich überhaupt nicht“, antwortete Sephiroth. „Das war Ironie.“ „So? Nun, mein rhetorischer Scharfsinn hält sich leider in Grenzen.“ „Den Eindruck hatte ich bisher nicht. Warum sind wir hier?“ „Weil Sie von allen Orten, die das Verheißene Land zu bieten hat, am ehesten den hier zu sehen bekommen sollten. Und ich merke, was er für Gefühle in Ihnen weckt.“ „So ... welche denn?“ „Das wissen Sie selbst. Vorwiegend Abneigung, Abscheu, Ekel. Na, wollen wir mal nachsehen, was sich hinter diesem Tannenwall verbirgt?“ Nein!, dachte Fawkes. Sephiroth schob ihn nachdrücklich vorwärts. „Oh, großer Gott, was – wer sind diese Menschen?“ „Es sind Cetra. Sie können noch nicht gehen, solange ihr Mörder am Leben ist.“ Hinter einer Reihe dunkler Nadelbäume war ein Feld zum Vorschein gekommen, auf welchem zusammengekrümmte Personen lagen, mindestens ein Dutzend, mit durchscheinenden, schimmernden Ketten an den Erdengrund gefesselt und fast bewegungsunfähig gemacht. Bei ihrem jämmerlichen Anblick stellten sich selbst Henry Fawkes die Nackenhaare auf. „Aber – wir müssen sie losbinden!“ „Nein, das können wir nicht. Wissen Sie, was das Ergebnis dieser Bemühungen wäre? Sie würden ebenfalls mit Ketten gefesselt neben ihnen liegen. Wagen Sie das nicht. Gehen Sie nicht hin und sprechen Sie keinen von ihnen an. Cloud ist diesem Schicksal bei seinem Besuch nur sehr knapp entgangen.“ „Strife haben Sie auch hierher gebracht?“, fragte Fawkes ungläubig. „Nein, habe ich nicht. Er kam ohne das SPECULUM hierher, vor einigen Jahren, unbeabsichtigt. Er hatte keine Warnungen erhalten. Das hier ist der Mittelpunkt des Spiegels, die Totalreflexion. Hier kann man sich auf nichts verlassen, schon gar nicht auf das, was einem von den Cetra, die hier festliegen, gesagt wird. So, und nun sind Sie mir ein paar Antworten schuldig, Fawkes.“ „Ich – ja, von mir aus ... aber erst, wenn Sie mich von diesem grauenerregenden Ort wegbringen!“ „Kein Problem, folgen Sie mir einfach den Weg zurück.“ Fawkes ergriff vorsichtshalber einen Zipfel des schwarzen Capes. Ihn schauderte, als er der schwach glimmenden Punkte rundherum gewahr wurde, die ihn von einem Versteck zwischen den Bäumen aus anzustarren schienen. „Ignorieren Sie sie“, sagte Sephiroth ruhig und schloss eine Hand um Fawkes’ Handgelenk. „Das ist überhaupt die Antwort auf unser Rätsel“, stellte Aeris beinahe ergriffen fest. „Der Spiegel des Alten Volkes ... ist ganz einfach Reds Spezies.“ „Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen“, gab Cloud perplex zu. „Hätte mein Vater nicht danach gesucht ...“ „Also darf ich annehmen, dass mir das endlich eure Anerkennung eingebracht hat?“ „Wenn du so willst ... von mir aus ...“ Nanaki wackelte unruhig mit den Ohren. „Sagt mal, was nützt uns das? Was haben wir denn davon, dass wir jetzt wissen, was Henry Fawkes sucht?“ „Ganz einfach. Er suchte ja danach, weil er wusste, dass es im Kellerschacht einen Hinweis darauf geben würde ...“ „Jaja, aber wo war denn dieser Hinweis? Hat denn das SPECULUM in irgendeiner Weise darauf hingewiesen, dass meine Rasse der Spiegel des Alten Volkes ist?“ Cloud und Aeris tauschten einen Blick. „Eigentlich ... nicht.“ „Eben.“ Mit nachdenklicher Mine kreuzte Cloud die Arme vor der Brust. „Das bedeutet ... wir haben etwas übersehen. Wir haben das Rätsel gelöst, bevor wir den Hinweis erhalten haben. Aber wenn das SPECULUM der Hinweis ist oder wenigstens einen liefert ... wieso haben wir darüber nichts herausgefunden?“ „Vielleicht war nicht das SPECULUM der Hinweis“, spekulierte Aeris. „Nicht, und stattdessen? Ansonsten war doch da unten nichts.“ „Doch. Ein unsichtbares, mordendes Wesen.“ „Du meinst Lukretia.“ „Genau. Sie weiß oder wusste viel mehr über das alles, als wir uns vorstellen können. Warum soll sie das mit Reds Rasse nicht gewusst haben? Vielleicht hatte sie einen Hinweis. Vielleicht hat sie ihn uns auch gegeben, und wir haben ihn nicht verstanden.“ Cloud zog die Stirn kraus. „Also, diese Vermutung klingt mir jetzt doch ein bisschen zu phantastisch.“ „Warum? Schließlich wissen wir nicht, wie sie auf Red reagiert hätte.“ „Ja, weil er ihre Anwesenheit mehr fürchtet als Hojos Experimente. Er wird sich nicht in ihre Nähe wagen.“ „Das stimmt“, bekräftigte Nanaki leise. „Vielleicht muss er das aber“, sagte Aeris entschieden. „Vielleicht zeigt sie uns noch etwas, das sie weiß, wenn sie daran erinnert wird. Wir müssen Red zu ihr bringen.“ Der Vierbeiner gab ein Winseln von sich und kauerte sich mit angelegten Ohren zusammen. „Aeris, das können wir nicht machen! Er ist gänzlich frei von JENOVA, Lukretia wird ihn zerfleischen, genau wie Vincent!“ Sie ergriff seine erhobenen Handgelenke und beugte sich zu ihm herüber. „Cloud, beruhige dich. Red ist immerhin ein Spiegel des Alten Volkes. Ich glaube nicht, dass sie ihm etwas antun wird.“ „Aber du kannst es nicht wissen. Du riskierst sein Leben, wenn du ihn zwingst, zu ihr zu gehen.“ „Du hast Recht.“ Sie ließ ihn los und wandte sich zu Nanaki herab. „Hör mal ... ich will dich nicht in Gefahr bringen. Ich halte das für die einzig richtige Möglichkeit, aber du sollst dabei nicht verletzt oder getötet werden. Vielleicht ist es für uns auch gar nicht so wichtig, die ganzen Hintergründe zu kennen.“ „Wir sollten sie aber eigentlich kennen, weil wir die Einzigen sind, die sie noch kennen lernen können“, murmelte Nanaki von Zweifeln erfüllt. Seine Furcht war groß, seine Risikobereitschaft auch, und seine Neugier toppte beides noch. „Ich kann es machen. Ich mache es, wenn ihr mitkommt ... und wenn ich vorher das Verheißene Land besuchen darf.“ „Das kann ich dir nicht länger verbieten“, gab Aeris widerwillig zu. „Aber Red, überleg dir deine Entscheidung, bitte. Du begibst dich in Gefahr. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, so besonders scharf darauf zu sein, dass du mitmachst ... und es war auch falsch, dich überhaupt dazu zu drängen. Letztlich ist es besser, wenn du ihr weiterhin fernbleibst.“ Er schüttelte den Kopf. „Dein Gefühl wird dich schon nicht täuschen. Wir konnten uns bisher immer darauf verlassen.“ „Auch die Cetra sind nicht unfehlbar.“ „Und wenn schon. Der Versuch ist es wert. Ich will meine Existenz nicht länger in irgendeinem dunklen Geheimnis verschüttet wissen ... wenn meine Spezies wirklich eine so überragende Rolle spielt, wo auch immer, dann will ich ihr gerecht werden.“ Cloud furchte die Stirn und bedachte Nanaki mit einem nachsichtigen Lächeln. „Glaubst du, dass es das ist, was sich Seto für dich wünscht?“ „Nein. Aber ich glaube, dass es das ist, was sich Bugenhagen für mich wünscht.“ Irgendetwas an dem Verheißenen Land wirkte nicht echt. Darüber wurde sich Henry Fawkes ein weiteres Mal klar, als das bedrohliche Dunkle Tor sich hinter seinem Rücken geschlossen hatte und wieder diese seltsame, blumenübersäte Wiese vor seinen Füßen ansetzte. Der Himmel war zu blau, das Gras zu grün, die Blumen zu bunt ... es sah aus wie eine Szene aus einem Bilderbuch. Und es war so verdammt still. Hier gab es keine Tiere, verständlicherweise. Irgendetwas daran sah gefälscht aus, ins Kitschige übertrieben, wie eine Plastikblume im Vergleich zu einer echten. „Es ist Gewöhnungssache“, sagte Sephiroth neben ihm verallgemeinernd. „Eigentlich lässt es sich hier ganz gut einleben.“ Zum ersten Mal fiel Fawkes der schwarze Flügel über dessen Schulter auf, und er tat so, als interessiere ihn das nicht. „Ich frage mich eher, wie Sie und die Cetra das hier aushalten“, erwiderte er und machte vorsichtshalber einige Schritte von dem Tor fort. Sephiroth warf ihm einen fragenden Blick zu. „Inwiefern?“ „Naja ... Ihnen ist schon klar, dass Sie gerade mal seit sieben oder acht Jahren hier zu Hause sind, aber wie lange wird das andauern? Ewig? Es werden Jahrhunderte und Jahrtausende vergehen, und Sie können nichts tun, als dabei zuzuschauen, für immer. Erschreckt Sie das nicht?“ „Hm.“ Erst nach einigem Zögern gab der Schwarzgekleidete zögerlich zu: „Ich habe nie darüber nachgedacht.“ „Dann sollten Sie wohl bald damit anfangen.“ „Ach, all diese Dinge gehen Sie ohnehin nichts an, Mister Fawkes. Würde Cloud und den Anderen nicht so viel daran liegen, Sie lebend zurückzubekommen, dann hätte ich Sie glatt in den Glasberg zu den WEAPONs geschickt. Oder besser noch, ich hätte Sie selbst erledigt – würde ich nicht seit jener Zeit eine Abneigung dagegen empfinden, meine Klinge durch lebendiges Fleisch zu rammen –“ „Sie sind also doch, wie die Aufzeichnungen sagen“, gab Fawkes einen verächtlichen Kommentar von sich. Es überkam ihn gerade so, obgleich er wusste, dass Sephiroth wohl immer noch seine Gedanken las. „Sie wollten JENOVA den Planeten überlassen, habe ich Recht? Sie führten bereitwillig ihren Willen aus und ließen dabei eine Menge Leichen zurück. Warum sind Sie hier, wenn Sie all das wirklich verschuldet haben?“ Fawkes hatte vonseiten Sephiroths eine andere Reaktion erwartet als die stattfindende. Sein Gegenüber sog tief die Luft ein, als sei das in einem bereits verschiedenen Zustand wirklich noch notwendig, und verdrehte mit einer Andeutung von Genervtheit die Augen. „Haben Sie allen Ernstes gesagt, Fawkes, dass Sie alles über diese Sache wissen?“ „Ich weiß, was niedergeschrieben wurde. Das und mehr nicht. Wenn das alles falsch ist, belehren Sie mich.“ „Nein, dazu habe ich keine Lust. Ich will das jetzt nicht schon wieder alles herunterbeten, schon gar nicht jemandem, der sowieso nicht auf meiner Seite ist.“ „Haben wir denn Seiten?“, fragte Fawkes mit einem Versuch der Versöhnung, aber Sephiroth ging nicht darauf ein. „Ich schlage vor, Sie kehren jetzt wieder zurück, es ist sowieso höchste Zeit. Schließen Sie die Augen und –“ „Was ist das dort?“, unterbrach Fawkes ihn dreist mit einer Frage und deutete auf den Gegenstand, den Sephiroth die ganze Zeit über in einer Hand festgehalten hatte. „Was? Das hier?“ „Genau. Ist das nicht ...“ „Eine Panflöte, was dachten Sie?“ „Ich fragte mich, wozu man hier so etwas braucht.“ Sephiroth zögerte. „Das wird sich zeigen“, sagte er vage. „Und jetzt tun Sie, was ich sage. Ich bringe Sie zurück. Und ich hoffe, dass Sie die ganze Geschichte jetzt etwas anders betrachten.“ „Das wird sich zeigen“, zitierte Fawkes selbstgefällig, kam aber jeder weiteren Aufforderung nach. Kapitel 42: A Battle Starts --------------------------- Cloud konnte nicht umhin, in Kalm bei seiner eigenen Behausung nach dem Rechten zu sehen. Aeris hatte, bevor sie zusammen mit Cid Nibelheim verlassen hatte, wohl daran gedacht, alle Fenster zu schließen und Lampen zu löschen, wie es schien. Auf halbem Wege in die dunkle Wohnstube rannte ihm vorwurfsvoll miauend der Kater Nox entgegen, und sein Fell stand struppig in alle Richtungen. „Mein Armer“, murmelte Cloud und hob ihn hoch. „Du wurdest seit Tagen nicht gebürstet.“ Cloud selbst war es, der Nox’ Fellpflege im Normalfall übernahm; morgens beim Frühstück lag die Katzenbürste direkt neben der Butter, was Aeris grauenhaft fand. Nox legte beide Pfoten mit ausgefahrenen Krallen über Clouds Schulter, dann schnupperte er an Vincents Umhang und machte ein fragendes Gesicht. Das Haus war dunkel, denn hilfsbereiter Weise hatte die alte Nachbarin Miss Nightley alle Jalousien heruntergelassen. Einziges Geräusch neben Nox’ unglücklichem Maunzen war das Rauschen der Heizung im Keller. „Na schön, dann werd’ ich mal holen, was ich brauche“, sagte Cloud und setzte den Kater auf dem Küchenboden ab. „Du wartest hier.“ Cid warf bereits stirnrunzelnd einen Blick auf seine Uhr, als Cloud endlich zurückkam. Er schob mit einer Hand am Lenker das Motorrad, unter dem anderen Arm hielt er ein längliches Bündel. „Das wurde aber auch Zeit, Mann. Ich dachte, du wüsstest im Voraus, was du holen willst. Na schön – wenn du diesen Feuerstuhl auf die Highwind haben willst, dann muss ich dir die Laderampe runterlassen, denn mit der Strickleiter wird’s schlecht gehen.“ „Danke, Cid.“ „Eins noch: Der Typ ist aus der Maschine geklettert. Er war ein wenig verwirrt. Wir haben ihn im Konferenzraum eingesperrt.“ Cloud hob die Augenbrauen. „Sieh an, da hat sich also doch was getan bei dem.“ „Ich würd’ trotzdem vorsichtig sein“, murmelte Cid mit seiner Zigarette zwischen den Zähnen, „denn bestimmt wird er weiterhin Ärger machen.“ Dann kletterte er flink die Strickleiter zum Deck der Highwind hinauf. „Hey – werden Sie mich bald mal hier rauslassen?“, fragte Fawkes durch die abgeschlossene Schiebetür hindurch. „Nein“, antwortete Yuffie auf der anderen Seite, lässig gegen die kunststoffverkleidete Metallwand gelehnt. „Sie bleiben da drinnen, und ich passe auf, dass Sie nicht rausgehen, bis wir Zeit haben, uns anzuhören, mit was für Storys man Sie im Verheißenen Land so zugetextet hat.“ Er muss mich für eine ganz schöne Göre halten, dachte sie selbstgefällig. „Das können Sie nicht machen! Ich bin immer noch Leiter der ERCOM, Sie haben kein Recht, mich hier –“ „Blablabla, denken Sie bitte an Ihr Mädel, das ist auch noch bei uns, ne?“ Er schnaubte. „Sie werden das alles hier noch bereuen.“ „Och, glaub’ ich nicht.“ Da er nichts mehr sagte, richtete Yuffie ihre Aufmerksamkeit auf Cid, der an ihr vorbei in Richtung Frachtraum ging, in welchem immer noch die sonderbare Maschine stand. „Hey, Yuffie. Macht er Mätzchen?“ „Nö, er labert bloß. Was hast du denn vor?“ „Wir holen Clouds Motorrad an Bord. Frag mich nicht wieso, er scheint sich damit besser zu fühlen.“ „Was machen Sie da?“, drang die Stimme des Gefangenen erneut durch die Wand. „Motorrad?“ „Schnauze“, antwortete Cid fröhlich und legte im Frachtraum den Hebel für die Laderampe um. Neben der Rampe standen auch Helen und Tifa; erstere schien sich in ihrer Rolle nicht besonders wohl zu fühlen, weshalb Tifa die Zeit damit verbrachte, ihrer Freundin gut zuzureden. Cloud hatte das Motorrad schon beinahe ganz den rostigen Pfad hinaufgeschoben, als vom Himmel in südwestlicher Richtung jäh Motorenlärm aufbrandete. Windstöße fegten über Kalm, dass es die Highwind zum Schwanken brachte. Das spärliche Gras wellte sich. „Zum Teufel“, knurrte Cloud. „Was ist denn los, was kommt jetzt?“, brüllte Tifa, den Lärm übertönend. „Ich weiß nicht, klettert lieber schnell in die Highwind und schmeißt die Tarnplane wieder drüber!“ „Okay!“ Tifa packte Helens Handgelenk und zog sie hinter sich her die Laderampe herauf. Kurze Zeit später verschwand das ganze Flugzeug unter einer unsichtbaren Decke. Cloud, dem der Wind seine Frisur ruinierte, trat gestresst wieder auf den Weg vor dem Haus und suchte den Himmel nach der Ursache des Lärms ab. Nichts war zu entdecken. „Henry!“ „Helen?“ „Hörst du den Krach?“ „Ja ... der ist selbst durch die Tür nicht zu überhören!“ „Woher kommt das? Sag es uns, wenn du es weißt!“ „Natürlich weiß ich es, das ist die Mittellandjustiz mit ihren Langstreckenbombern. Die Dinger haben Radarnasen, weißt du, und eine Hochleistungstarnvorrichtung.“ „Na bestens ... dann sehen sie uns also?“ „Ich denke ja. Liebling, geht es dir gut?“ „Ach, lass uns später darüber reden.“ Helen Clancy wandte sich von der verschlossenen Konferenzsaaltür ab und rannte wieder in den Frachtraum, gefolgt von Tifa, die ums Schritthalten bemüht war. „He, Cid! Ab ins Cockpit, du musst uns hier wegbringen!“ Cid starrte sie entgeistert an. „Jetzt? Wieso? Nur weil ein Geschwader über Kalm zieht, das uns sowieso nicht sehen kann?” „Die können uns sehen“, setzte Tifa nach, „weil sie mit Radaren ausgestattet sind.“ Die Miene des Piloten verdüsterte sich. „Na wundervoll. Dann sagt Cloud, er soll seinen Arsch schleunigst von der Rampe bewegen, denn solange die offen ist, fliegt das Baby nicht.“ „Das machst du“, forderte Helen ihre Freundin auf. „Bin schon weg.“ Ein paar Schritte die Rampe hinunter, und Tifa hatte Cloud am Ärmel gepackt. „Hey! Roll endlich das Ding nach oben, damit wir die Rampe einziehen können!“ Cloud starrte immer noch in den Himmel. „Ich wünschte, ich hätte Vincents Augen.“ „Hä, sein Umhang reicht dir also nicht?“ „Nein, ich meine ... er hätte die Flugzeuge da oben sehen können, trotz Tarnung.“ „Egal. Wir wissen, was es für Flieger sind, und deswegen müssen wir hier weg, also mach Tempo!“ „Schon gut. Komm mit.“ Mit Tifa an der Hand hastete er zurück zur Rampe und schob das Motorrad die letzten Meter in den Frachtraum. „Fertig. Legt los.“ Langsam gerieten die Seitenpropeller und Triebwerke der Highwind in Bewegung. Sie brauchten wie immer ihre Zeit. Der weiche Boden dämpfte den Lärm, nicht aber die gewohnte stetige Vibration, die wellenartig den Flugzeugrumpf durchlief. Düster zogen vor dem großen Fenster im Cockpit die Wolkenfetzen in rasantem Tempo an der dunkelgrauen Fassade des Himmels vorbei. Cloud starrte trübe nach draußen. Vor ihm hielt Cid konzentriert das Steuerhorn umklammert, um die Triebwerke der Highwind nach unten richten und sie dadurch zu einem raschen Senkrechtstart bewegen zu können. In Clouds Adern rollte langsam und seltsam kalt das Blut und brachte seine Gedanken zum Gefrieren; etwas Merkwürdiges war am Geschehen, und es war nicht richtig so. Er fragte sich auf einmal, warum er all das getan hatte, als das Flugzeug unter seinen Füßen schon von dem charakteristischen Ruckeln durchlaufen wurde und im Begriff war, sich vom Erdboden zu erheben. „Wartet ma!“ Es war Barret, der plötzlich in heller Aufregung nach geradeaus zum Fenster zeigte. „Himmelnocheins, das sind doch – “ Cloud sah hin und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. „Das ist unmöglich!“ Leise seufzend fragte Cid: „Ich schätze, ich soll jetzt doch nicht starten, ist das richtig?“ „Wir können nicht ... wir dürfen sie nicht ihnen in die Arme rennen lassen!“ Helen schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich versteh’ überhaupt nichts, wer sind denn all diese schwertfuchtelnden Blagen, und wo kommen die her?“ „Das sind meine Schüler von der AVALANCHE!“, gab Cloud kummervoll zur Erklärung. „Und sie können die Flugzeuge der Mittellandjustiz nicht sehen!“ „Das war ein Scheiß, hierher zu kommen, und ich mach’s nie wieder!“, stöhnte Kaine. „Wir machen das für Master Strife“, erinnete ihn Vicky, „denk dran. Oder willst du lieber bei diesem schnöseligen Professor Sackgesicht-Leckmichdoch Curtis Mathe haben? Boah! Wenn’s dazu kommt, wandere ich ab.“ „Trotzdem, trotzdem. Diese Diskussion über unsere Minderjährigkeit an der Fährstation hat mich echt den letzten Nerv gekostet!“ Gemeinsam trotteten Vicky, Boris und Kaine mit dem Rest des vertrauenswürdigen Teils der Klasse über die Straße. Es war nicht besonders hell, und dieser Teil der Stadt sah unglaublich verfallen aus. „Seid ihr ganz sicher, dass Master Strife hier irgendwo ist?“, erkundigte sich die gewitzte Jenny Flint von weiter hinten. „Klar. Diese Ische wird schon wissen, wo sie uns hinführt“, murmelte Boris mit einem Seitenblick auf ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, das nicht viel älter als er und die Anderen war. „Stimmt doch?“, sprach er jene an. „Du hast doch gesagt, du kennst den Weg, weil dein Vater der Präsident ist. War doch so.“ „Ja“, antwortete das Mädchen, ohne ihn anzusehen, und ging mit verkniffener Miene voraus. „Ah ja. Äh, wie war noch mal dein Name?“ „Marlene.“ „Ah ja, stimmt. Weißt du, deinen Vater haben wir schon mal getroffen. Er –“ „Still!“ Marlene hob die Hand, der Zug von Schülern stoppte abrupt. „Hört ihr die Motorengeräusche?“ Kaine machte ein entsetztes Gesicht. „Die kommen ja direkt auf uns zu! Aber man kann nichts sehen!“ „Das sind irgendwelche Feinde, die eurem Lehrer auf den Fersen sind, wenn ihr mich fragt“, erwiderte Marlene düster. „Die haben bestimmt Tarnvorrichtungen. Immerhin ist das ein Zeichen dafür, dass wir am richtigen Ort sind und dass mein Peilsender funktioniert ... jetzt seid ihr dran. Es ist ja eure Rettungsaktion. Jetzt packt eure Schwerter aus und rennt den Feind nieder.“ Irgendwie klang ihre Stimme nicht ehrlich. „Schaffen wir das denn?“, fragte Boris zweifelnd. „Was weiß ich! Ihr habt darauf bestanden, es zu versuchen, und ich habe euch hergeführt. Mit ’nem Schwert umgehen kann ich nicht.“ „Ähm, na gut ... ihr habt es gehört, Schüler der AVALANCHE!“, rief er hinter sich zu den Anderen. „Wenn diese Pappnasen gleich landen, dann hauen wir ihnen eins auf den Deckel, alles klar? Schwerter hoch!“ Choral wurden die weichmetallenen Übungsschwerter gezogen, ein einheitliches blechernes Geräusch erklang dabei und maß sich mit dem Lärm von oben. „Bleibt dicht bei mir! Ich gebe euch das Zeichen! Und jetzt ... formiert euch!“ „Die sehen auch uns nicht“, stellte Cloud resigniert fest, „weil die Highwind genauso unsichtbar ist.“ „Das ist ein denkbar unpassender Zeitpunkt“, sagte Aeris leise. „Damit bringen die Kinder uns in ziemliche Schwierigkeiten.“ „Denkt nicht, dass ich sie da unten lasse! Wer weiß, was die Mittellandjustiz ihnen antut!“ Cid seufzte. „Schon gut, wir sind ja schon beinahe wieder auf dem Erdboden, dann kannst du ihnen zur Hilfe eilen ... wenn du dir viel davon versprichst!“ „Ich muss ihnen helfen!“ „Meinst du nicht, die verteidigen sich alleine?“, wollte Yuffie wissen. „Du trainierst sie doch, oder?“ „Was die da in den Händen halten“, erklärte Cloud ungeduldig, „sind Übungsschwerter! Die sind so stumpf, dass man damit nicht einmal ein Stück Käsekuchen zerteilen kann!“ Er schüttelte den Kopf. „Das Schlimme an alldem ist, dass Kommissar Taggert nach wie vor denkt, wir würden Fawkes gewaltsam festhalten.“ „Na ja, das tun wir ja auch, im Konferenzsaal“, erinnerte Tifa vorsichtig. „Ja, aber – ... das ist doch nicht dasselbe ... ach, was soll’s, wir holen ihn da raus. Helen, du und er, ihr könnt gehen ... vielleicht beruhigen die sich dann ...“ „Oh nein“, entgegnete Helen entschieden. „Ich gehe nicht, ich bleibe jetzt bis zum Ende bei Tifa und dir. Außerdem, was soll ich hier in Kalm? Ich wohne in Midgar! Nee, da müsstet ihr mich schon zu Hause absetzten, wie sich’s gehört.“ Cloud warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Na schön ... dann ... geh mal trotzdem lieber deinen Holden befreien. Hol ihn hierher zu uns. Vielleicht macht er ja mal etwas richtig und schafft uns Taggert vom Hals!“ „Ich geh’ ihn holen“, murmelte Helen und verließ das Cockpit. Sanft setzte die Highwind wieder auf dem Boden auf, und Cloud nahm sogleich seinen Weg zum Frachtraum. „Cid, ich lass’ die Rampe runter“, erklärte er beim Hinausgehen. Kapitel 43: Bravery ------------------- Unter den Lärm des landenden Fliegergeschwaders mischte sich dem Erdboden nahe ein anderer, vertrauterer Laut. Er übertönte das satte, volle Dröhnen und Knurren der Flugzeugtriebwerke zwar nicht, machte jedoch die Anwesenheit einer weiteren, andersartigen Maschine deutlich. „Was macht er?“, fragte Cid die Anderen mit gerunzelter Stirn. „Er hat doch außer seinem Motorrad gar nichts Anderes – ...“ Er unterbrach sich. „He, hat er etwa noch was geholt?“ „Ich weiß nicht“, antwortete Tifa, mit Überlegungen beschäftigt. Cloud hatte gesagt, er würde noch etwas holen, aber das sei nicht die Katze ... Einiger Meter von der Highwind entfernt, durch die große Frontscheibe sehr deutlich zu sehen, wurde das Gras unter einem enormen Gewicht von oberhalb deformiert. Dies bedeutete die bereits vollzogene Landung einiger der kleinen Flugzeuge. Die Wiese vor dem Rande von Kalm wurde von den Luftstößen der Triebwerke gepeitscht. Verdattert stand die kleine Gruppe von Jugendlichen Rücken an Rücken den unsichtbaren Feinden zugewandt. Die kleine Flugzeuggruppe hatte sich rundherum Platz geschaffen und einen Kreis um die Schüler gebildet. Ein leises Geräusch sich öffnender Türen erschallte, und dann scharten sich wie aus dem Nichts bewaffnete Sturmtruppen der Mittellandjustiz um die AVALANCHE-Jugend. Tifa erschrak. „Da ist auch Marlene!“, schrie sie und zeigte mit zitterndem Finger auf die große Scheibe. „Du liebe Zeit, sie hat Recht“, murmelte Cid. Es war unübersehbar, dass Barret seinen Augen nicht trauen wollte. „Nein – nich’ meine Marlene! Diese Ärsche können jeden haben, aber nich’ sie!!“ In Voraussicht auf das, was Barret als nächstes unüberlegt tun würde, griffen Reeve, Cid und Aeris gleichzeitig nach seinen Armen. „Nicht rausgehen!“, gellten sie im Chor. „Aber ich werd’ sie denen nich’ überlassen!!“ In Ermangelung eines Gegenarguments schwiegen die Umstehenden, hielten ihn aber weiterhin fest. Im selben Augenblick erklangen schneller Schritte auf dem Treppenaufgang, und kurz darauf betrat Helen, gefolgt von Henry Fawkes, das Cockpit. Barret drehte sich um und trachtete danach, den Leiter der ERCOM am Kragen zu packen, aber dieser wich rasch zur Seite aus. Seine Miene zeigte düstere Beklemmung. „Schauen Sie, was wir hier für einen Salat haben!“, fauchte Cid und deutete nach geradeaus. „Die sehen uns zwar nicht, aber dafür stürzen sie sich jetzt auf unsere Schüler!“ Fawkes nickte mit wenig ausdrucksvollem Gesicht und sah sich um. „Wo steckt Strife?“ „Er ist draußen ...“ setzte Tifa an, konnte den Satz aber nicht beenden, denn gleich darauf zeigte Cloud selbst, wo er war: direkt am Ort des Geschehens. Vorn über den Lenker gebeugt stürzte er sich von der Laderampe mitten in den sich enger ziehenden Kreis aus Soldaten und Wärtern, der seine Schüler umzingelt hielt. Das Motorrad bäumte sich am Fuße der Rampe mit einem knirschenden Heulen auf und hielt dann in einem schier irrsinnigen Tempo direkt auf die Widersacher zu, die erst in vorsichtigen, dann in eiligen Schritten zur Seite auswichen. Cloud durchbrach ihre Ansammlung genau mittig und drehte dann eine so scharfe Kurve, dass im Boden eine lehmige Bremsspur zurückblieb und das Gras zur Seite stob. Der weinrote Umhang schmiegte sich wie ein paar Flügel an seine Rückenseite. Während er wieder auf die Feinde zuhielt, griff er mit einer Hand hinter sich und zog mit einem sirrenden Geräusch einen schlanken schimmernden Gegenstand zwischen seinen Schultern hervor. Keine Frage, es war die Ultima Weapon, sein Schwert, das er seit knappen acht Jahren nicht angerührt hatte. Als er damit zuschlug, schien die Luft geteilt zu werden. Ein bläulicher Schweif folgte dem Weg der Klinge, und an den Flanken des Motorrads stürzten sich die Soldaten aus seiner unmittelbaren Nähe, um nicht von der furchteinflößenden Waffe halbiert zu werden. Tifa spürte, wie sich ihr die Nackenhärchen aufstellten, und ein Schauer überlief sie. „Was macht er?“, brachte sie heraus, aber zu leise, als dass jemand die Frage verstehen konnte. Mehr denn je wurde ihr mit einem wohligen Kribbeln bewusst, dass es ihr die ganze Zeit über sehr gefehlt hatte, Cloud in Aktion zu erleben. Während ihnen der Wind eisig um die Ohren pfiff und von allen Seiten entsetzlicher Lärm ertönte, starrten die Schüler der AVALANCHE nur auf ihren Lehrer, der – vollkommen unerwartet – aufgetaucht war, um sie aus dieser aussichtslosen Situation zu befreien, und dass, obwohl sie selbst doch ihn hatten retten wollen ... Jedenfalls kamen sie aus dem Staunen einfach nicht mehr heraus, während sie dem Gefecht zusahen, das so schnell abzulaufen schien, dass das Auge nur schwerlich folgen konnte. Cloud beherrschte sein Motorrad auch auf dem gefrorenen Grasboden perfekt; mit einer Hand hielt er den Lenker, um das Fahrzeug in abrupten Manövern herumzureißen, mit der anderen schwang er in eindrucksvollen Kurven das fürchterliche, monströse Schwert. Sie starrten ihn an, während die Feinde rundherum sich zerstreuten, und waren mehr von Stolz und Zuneigung zu ihrem Lehrer erfüllt denn je. Sie brauchten deshalb eine Sekunde, um zu realisieren, dass Cloud für wenige Sekunden neben ihnen anhielt, sich eine schweißfeuchte Haarsträhne aus dem Gesicht wischte und sagte: „Ihr seht, meine Damen und Herren, das stupide Zustoßen und Parieren ist in der Praxis letztlich zu nichts zu gebrauchen. Ich wollte euch nur mal zeigen, wie man’s richtig macht, wenn man es kann.“ „Wie schön“, sagte eine mit Ironie durchtränkte Männerstimme in einiger Entfernung. Cloud drehte sich um, seine Hände mit den Handschuhen, aus denen die Fingerspitzen hervorschauten, schlossen sich fest um den Lenker des Motorrads. Sein Atem kam in kurzen keuchenden Stößen, während er den Blick auf Kommissar Taggert richtete, Tifas ehemaligen Vorgesetzten. „Ist schon gut, Strife. Beruhigen Sie sich. Niemand hat vor, Ihren Schülern etwas zu tun.“ Letztere drängten sich in einem Knäuel hinter Cloud und das Motorrad und klammerten sich haltsuchend an den ausgefransten Umhang. „Eben sah mir das noch ganz anders aus“, antwortete Cloud mit Grabesstimme, und seine Miene büßte nichts von ihrer offensichtlichen Feindseligkeit ein. „Mag sein, aber nun entspannen Sie sich und steigen von Ihrem Monsterbike, damit wir eine friedliche Lösung für all das finden können ...“ Cloud schüttelte leicht den Kopf, ohne den Blick abzuwenden, und hielt das leuchtende Schwert nun mit beiden Händen vor seinen Körper. „Ihnen trau’ ich nicht mehr, Taggert. Erwarten Sie das nicht von mir.“ Die Schüler hinter ihm schwiegen und wagten keine Regung. „Na gut, also, ganz wie Sie möchten.“ Taggert wähnte sich im Besitz der Karte, die das Spiel entscheiden würde. Er zuckte kurz die Schultern und wandte sich ein Stück zur Seite; im selben Moment riss er plötzlich seine Dienstwaffe hoch und gab einen Schuss ab. Die Kinder stießen, während sie zur Seite sprangen, wie aus einer Kehle einen schrillen panischen Schrei aus, und ein grässlich zischendes PENG ertönte. Strife war zusammengezuckt und starrte immer noch Taggert an, hatte sich aber sonst nicht gerührt. Taggert rührte sich ebenfalls nicht, hielt seinen Blick nur in stiller Erwartung auf Strife gerichtet. Dann realisierte er, dass sein Schuss Strife nicht ins Herz getroffen hatte und dass sein Widersicher dementsprechend auch nicht im Begriff war, von seinem Motorrad zu stürzen und sein Leben auszuhauchen. Ihm kam der unangenehme Gedanke, dass der Schuss an Strifes breiter Klinge abgeprallt sein musste ... „Das habe ich mir gedacht“, sagte Strife leise, und auf seinem Gesicht breitete sich ein diabolisches Lächeln aus, als er das Schwert betont langsam über seinen Kopf hob. Taggerts Blick verriet Cloud, dass das Magazin seiner Pistole keinen einzigen Schuss mehr aufwies. Mit verängstigtem Blick taumelte der Kommissar der Mittellandjustiz nach rückwärts, blieb dann aber stehen, als sein Rücken gegen den Rumpf eines der unsichtbaren Kampfflieger stieß. Dort sank er furchterfüllt in grauenhafter Erwartung des Schwertstreichs in sich zusammen. „Sie dürfen mich nicht töten ...“, setzte er an. „Nein, nach Paragraph dreiundzwanzig, Absatz zehn der Mittelland-Verordnung darf ich das nicht“, antwortete Cloud ruhig und genoss den Augenblick. „Aber wissen Sie, was mich das gerade schert?“ Taggerts Gesicht verzerrte sich zu einer weinerlichen Grimasse, im Angesicht seines vorzeitigen Ablebens, das ihm wohl oder übel blühte. Er kniff die Augen zusammen. Kapitel 44: Fight On -------------------- „Cloud, nicht!“ Eine helle, hysterisch anmutende Frauenstimme ließ Cloud jäh innehalten. Erst einige Sekundenbruchteile später konnte er den Aufschrei Tifa zuordnen, die aus Richtung der Highwind herbeigeeilt kam. Ihr folgten Yuffie, Cid und Nanaki. Cloud tat ihr Näherkommen mit einem Seufzen ab und entsann sich seiner Schüler, die hinter ihm standen und ihn anstarrten. „Hört mal ...“, begann er, aber dann fühlte er vor sich eine leise Bewegung. Taggert war aufgesprungen und hatte wie wild beide Arme gehoben, und das war unmissverständlich ein Zeichen. Die kleineren Flugzeuge rundherum fuhren ihre Torpedos hoch. „Sanfte Geschosse“, erklärte der Kommissar grinsend. „Wir wollen ja nicht die ganze Stadt wegpusten.“ „Haut ab!“, schrie Cloud und versetzte seiner Schülerschar einen nachdrücklichen, unsanften Stoß, der sie aus der Gefahrenzone befördern sollte. Schon krachte das erste Geschoss an die Luft und jagte Cloud mit einem fürchterlichen Scheppern das Motorrad unter dem Körper weg. Es wurde nicht beschädigt, blieb aber in einiger Entfernung seitlich liegen. Cloud selbst schob das Schwert rasch in die beiden magnetischen Schlösser auf seinem Rücken, dann stürzte er los und erwischte mit je einem Arm Kaine und Boris, um sie vor sich hinzuwerfen, als der zweite Torpedo fauchend über ihren Köpfen vorbei sauste. Die Lage hatte sich so überraschend schnell verändert, dass er kaum mehr Zeit fand, es zu bedauern. Jetzt war es nur wichtig, dass sie alle entkamen. Eins allerdings schwor er sich: Weglaufen vor diesen verfluchten feigen Intriganten würde er nicht. Er begann seine Schüler zusammenzusuchen, während immer noch Torpedosalven rundherum ganze Grassoden aufschleuderten und jedes Geräusch mit ihrem berstenden Krachen übertönten. Sie folgten ihm, rannten ihm hinterher, klammerten sich vertrauensvoll an ihn. Er musste sie nur um sich behalten, damit sie ihm nicht verloren gingen ... und auf die Highwind zuhalten ... Es war unmöglich, wie er feststellen musste. Alle Streitkräfte der Mittellandjustiz trachteten danach, ihm seine Kinder abzujagen, eins nach dem anderen. Sie waren so viele, dass er bald nicht mehr Freund von Feind zu unterscheiden wusste. Er schlug mit dem Schwert um sich, konnte aber nie sicher sein, dass er nicht einen seiner Verbündeten oder gar seiner Lehrlinge traf. Immer und immer wieder schlugen dicht neben ihm Geschosse in den Erdboden. Seine Lungen brannten und seine Nerven spannten sich zum Zerreißen. Sein Schwert war ihm nutzlos, die Feinde überrannten ihn und verschleppten alle seine Schüler auf ihre unsichtbaren Flugzeuge. Eben stieß er mit der Schulter gegen eines, das er nicht hatte sehen können, und dachte geistesgegenwärtig daran, der Kanonenmündung nicht zu nahe zu kommen. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie zwei Soldaten Vicky Rave packten, die mit vor Panik aufgerissenen Augen beide Arme nach ihm ausstreckte, und ihren Schrei mit ihren behandschuhten Händen erstickten. Kaine schlug ungeschickt mit dem Übungsschwert in verschiedene Richtungen, aber außer einigen Beulen trugen die Soldaten keine Verletzungen davon, schon gar keine, die sie an ihrem Tun hinderten. Cloud spürte den Schweiß an seinem Rücken herunterrinnen. Sein Umhang war am Saum von einer Torpedoexplosion arg zerfetzt worden, das Schwert wurde mittlerweile schwer in seiner Hand, seine Bewegungen ungelenk. Wir können nicht gewinnen. Diese Schlacht verlieren wir. Welche ... Schande ... Er stürzte vorwärts, in Richtung Highwind, auf die Rampe zu. Dort stand Barret und hielt seinen Arm mit der Gatling Gun geradeaus gerichtet; kein Eindringling würde an ihm vorbeikommen und das große Transportflugzeug besetzen. Als er Cloud sah, schwenkte er zur Seite und ließ ihm einen Weg zum Hindurchkommen frei. Durch einen Blick über die Schulter sah Cloud auch Cid und Yuffie in Richtung der Highwind drängen. Die Ninja-Tochter schlug tapfer mit ihrem Shuriken um sich, teilte mit katzenhafter Geschmeidigkeit Rundumhiebe aus und ließ keinen der Wärter zu nahe kommen. Pistolenschüsse hatten sich längst so unter die schwer zu ertragende Geräuschkulisse gemischt, dass man sie kaum mehr heraushören konnte. Nanaki machte einen Satz nach oben und huschte dann mit seiner erstaunlichen Sprungfähigkeit über die Köpfe der verdutzten Mittellandsoldaten, ebenfalls in Richtung Highwind. Es sah so aus, als würden es alle noch schaffen ... nur Clouds Schüler nicht, die sich nicht verteidigen konnten. Cloud vernahm durch den Schleier aus Lärm und Orientierungslosigkeit hindurch Barrets Stimme nahe seines Ohrs: „Cloud, jetzt beweg dich endlich und komm rein! Wo haste Marlene gelassen? Siehste sie irgendwo?!“ Er wandte sich dem Schlachtfeld hinter sich zu und schüttelte benommen den Kopf. Er sah überhaupt nichts mehr, nur eine unförmige Masse von Leibern, die meisten davon in Uniformen, die sich aneinander drängten und in Feindschaft einander fortstießen, wobei sie Waffen schwangen oder abfeuerten. Es war ein bizarres, horrorvolles Chaos. Dann packte Barret Cloud am Kragen und schubste ihn hinter sich ins Innere des Frachtraums. Mit seiner Highwind’schen Lanze bewaffnet war Cid ein Gegner, dem man besser nicht zu nahe kam. Selbst Schüsse wehrte er durch schnelle Bewegungen der länglichen Waffe einfach ab. Sein grimmiger Ausdruck wirkte so abschreckend, dass man sich nicht einmal mit dem Gedanken beruhigen konnte, es handele sich bei ihm nur um einen gewöhnlichen Ingenieur und Piloten. Zunächst war es ihm gelungen, Marlene freizukämpfen, aber nun wurde auch er zunehmend zurückgedrängt, und allein hatte Barrets Zöglingstochter keine Möglichkeit, sich effektiv zu verteidigen. Ob sie wollte oder nicht, sie war ihren Feinden ausgeliefert, und so stark in der Unterzahl konnte auch niemand das ändern. „Komm her!“, fauchte Barret irgendwo. „Cid, beeil dich endlich! Wir müssen hier weg, jetz’ gleich! Ich halt’ hier frei, beweg dich!! “ Ohne ihn würde die Highwind nicht fliegen, so viel war Cid klar. Die Strecke war glücklicherweise nicht mehr besonders lang. Er stieß seine Gegner mit der waagerecht gehaltenen Lanze zurück, drehte sich zu Barret um und rannte, hin und wieder Stöße nach beiden Seiten austeilend. Er erreichte Barret und die Laderampe kurz bevor ihn ein Schuss in die Schulter traf. Cid zuckte zusammen, blieb aber nicht stehen und ließ sich auch sonst keine Beeinträchtigung anmerken. Das Adrenalin verschluckte den brennenden Schmerz innerhalb der nächsten Sekunden. Gleich darauf hatte Barret den Soldaten, der den Schuss abgegeben hatte, mit seinem Maschinengewehr niedergestreckt. Etwas Rotbraunes huschte mit eigentümlichem Rascheln vorbei; Nanaki war an Bord gelangt und wandte sich nun neben Barrets Seite zähnefletschend den Angreifern zu. Sein Kopfschmuck half ihm gegen diese Übermacht längst nicht mehr. Mit gluterfüllten Augen und hochgezogenen Lefzen, aus denen fadenziehender Geifer tropfte, bot er den furchterregenden Anblick eines in die Enge getriebenen Raubtiers. Benebelt starrte Cid die sich zurückziehenden Mengen an bewaffneten Trupplern an. Als er geistesabwesend eine Hand auf die verletzte Schulter legte, wurde er gewahr, dass sowohl sein rauwollener Schal als auch seine ausgeblichene Jacke sich zunehmend dunkelrot färbten. „Was ... was machen wir jetzt?“, murmelte er. „Du musst uns hier wegbringen!“, schnappte Barret, immer noch Ausschau nach Marlene haltend. Mittlerweile verzogen sich jedoch die letzten Angreifer mitsamt ihrer Beute wieder in die kleinen Kampfflugzeuge. „Himmelarsch ... ich glaub’ das einfach nich’ ...“ „Sie haben Marlene, oder?“, fragte Cid schwach. „Ja.“ Barret nickte ernst. „Aber nich’ nur das. Sie haben ja auch alle unsere Schüler. Und nich’ zuletzt ... Yuffie.“ „Yuffie?!“, echote Cid fassungslos. „Siehste se hier irgendwo?“ Er schwieg, dann machte er sich mühsam auf den Weg ins Cockpit. Auf dem Weg kam ihm Cloud entgegen, der nun wieder sehr gefasst und konzentriert wirkte. „Cid, das tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass das passieren würde ...“ „Spar dir das. Beruhigen solltest du Barret, der sich um Marlene Sorgen machen muss. Wenigstens haben sie das SPECULUM nicht gekriegt ... und das wollten sie schließlich unbedingt haben.“ Cloud seufzte. „Sie sind nicht gestartet. Sie warten darauf, was wir tun werden ... und während des Fluges können sie uns mit ihrem Radar orten ...“ „Na dann“, grummelte Cid, „zeigen wir ihnen doch, was wir tun werden. Die sollen uns ruhig folgen.“ Angesichts seiner Schussverletzung hob Cloud nur die Augenbrauen, sagte aber nichts weiter als: „Na schön.“ Als Cloud zuletzt das Cockpit betrat, packte Reeve ihn an den Schultern und fragte ihn seltsam eindringlich, wo Yuffie sei. „Er hat uns nicht glauben wollen, dass Taggert sie mitgenommen hat“, sagte Tifa müde. „Das kann doch nicht sein!“, fiepte der Entsetzte, und seine Stimme setzte schier aus. Cloud entfernte Reeves Finger von seiner Schulter und murmelte etwas wie „Lass mich in Ruhe“, was er später nicht mehr allzu genau wusste. Durch das große Fenster auf der Brücke der Highwind war nicht mehr zu sehen als an einem gewöhnlichen Wintertag; lediglich das aufgewühlte Gras, Stofffetzen, Blut und nicht zuletzt das herumliegende Motorrad machten deutlich, dass ein Kampf stattgefunden hatte. An Bord allerdings wussten alle, dass der plötzliche Frieden trügerisch war: Noch immer standen mindestens fünf getarnte Kampfflugzeuge im Gras der Parkanlage und lauerten auf den Abflug der Highwind. Helen stand an die Wand gelehnt und betrachtete den Fußboden. Irgendetwas stimmte mit diesem Bild nicht; erst kurz darauf fiel Cloud ein, was es sein könnte. „Hey – wo ist ... Fawkes?“ Helen deutete mit dem Daumen zum Fenster. „Bei ihnen.“ In Clouds Gesicht wechselten sich plötzlich Wut und Betroffenheit ab, bis eine steinerne nichtssagende Grimasse zurückblieb. „Verdammt noch mal. Er ist wieder übergelaufen ... ich hätte es wissen müssen.“ „Ich habe versucht, ihn aufzuhalten!“, rechtfertigte sich Helen. „Das hat sie wirklich“, bekräftigte Tifa. „Cloud, es ist nicht ihre Schuld.“ Er seufzte. „Ich weiß.“ Sein Blick wanderte zu Cid, dem Aeris kommentarlos ein Leinentuch um die durchschossene Schulter wand. „Kannst du fliegen?“ „Ja“, knurrte der Pilot. „In Ordnung.“ „Wohin willst du? Was sollen wir jetzt noch machen, he?“ „Wir machen dort weiter, wo wir unterbrochen wurden“, sagte Cloud fest. „Der Spuk muss ein Ende haben, es ist längst Zeit dafür. Weitere Zeit dürfen wir nicht verlieren, schon gar nicht mit irgendwelchen sinnlosen Aktionen ...“ Allen war klar, dass er diesen Vorwurf auf sich selbst bezog. „... und deshalb müssen wir jetzt weiter. Die Gefangenen holen wir uns noch früh genug zurück, aber wir müssen uns klarmachen, dass das eine geringere Rolle spielt als unser Vorhaben.“ Er hob den Kopf und sah in die Runde. „Also auf nach Nibelheim.“ Kapitel 45: Return To The Place ------------------------------- Yuffie saß in eine Ecke gekauert zwischen einigen Jugendlichen, die sie nicht kannte, einer davon war Marlene. Gemeinsam waren sie in einen der kleineren Transporter verfrachtet worden, die sich unauffällig mitten unter das Geschwader der Kampfflieger mischten. Ihre Waffen waren an irgendeinem anderen Ort unter Verschluss genommen worden. Es gab nun nichts Anderes mehr zu tun, als mit gefesselten Händen und Füßen in diesem engen unbequemen Raum auszuharren und abzuwarten. Das Licht war schwach und die metallische Luft merkwürdig stickig. Gedämpft klangen aus dem nahen Cockpit Unterhaltungen zu ihnen herüber. Yuffie schluckte und erinnerte sich an ihre Anfälligkeit für Luftkrankheit. Bitte nicht hier und jetzt, betete sie. Vor dem kleinen Guckloch schoss die Landschaft vorüber, Festland und schließlich das Meer, in dem sich der blaue Himmel spiegelte. Verdammt, wohin fliegen wir überhaupt? „Ich hab’ ziemliche Angst“, murmelte ein schlaksiger Junge direkt neben ihr. „Ich auch“, antwortete sie. Marlene schwieg, während sie den Beiden den Rücken zuwandte. „Haben Sie irgendeinen Plan?“ „Nein“, antwortete Yuffie wahrheitsgemäß und wünschte sich, etwas Anderes behaupten zu können. „Nichts außer Warten.“ Der Junge seufzte. „Ich wünschte, Master Strife wäre noch bei uns. Ich würde mich überhaupt nicht fürchten, wenn ich wüsste, er nutzt die nächste Gelegenheit, um uns hier rauszuholen.“ Yuffie machte eine entschlossene Miene. „Wenn du denkst, dass er uns aufgegeben hat, dann kennst du Cloud –“ Sie korrigierte sich. „– Master Strife ziemlich schlecht. Er und die Anderen sind ja da draußen und wissen ganz bestimmt, was sie machen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann verfolgen unsere Entführer sie jetzt gerade irgendwohin ...“ „Und wohin?“ „Weiß nicht, abwarten.“ Er seufzte wieder. „He, wie heißt du noch mal? Ich hab’ dich im AVALANCHE-HQ doch schon gesehen.“ „Kaine Crawford. Ich krieg in Master Strifes Unterricht immer die Verantwortung für den Kabinenschlüssel ...“ „Ah ja ... oh ... weißt du was? Ich habe ein PHS bei mir, das mir diese Eimer nicht abgenommen haben. Ich könnte damit die Anderen erreichen, wenn ich nicht gefesselt wäre.“ „Ich kann das nicht ändern, bin ja auch gefesselt“, antwortete Kaine seltsam ernsthaft. „Aber ... wenn wir uns ein bisschen zusam– ...“ „Pscht, warte mal!“, unterbrach Yuffie flüsternd. „Hörst du das?“ Er lauschte. Ein Gespräch drang von weiter vorne zu ihnen nach hinten. „Und Sie haben eine Ahnung, wohin die fliegen?“ „Sagen wir, ich habe eine Vermutung. Behalten Sie sie nur im Auge.“ „Das tun wir, wir können die Radiosignale auf dem Radarbildschirm sehen, allerdings können wir aufgrund der Tarnplane keine Zielanvisierung vornehmen.“ „Das wird auch nicht nötig sein. Es wäre unklug, das Schiff zu zerstören, da sich etwas äußerst Wertvolles an Bord befindet. Folgen Sie ihnen einfach, der richtige Moment wird noch früh genug kommen.“ „Wie Sie meinen, Sir.“ Yuffie schnitt eine Grimasse. „Immerhin können die meine Freunde nicht abschießen, solange sie fliegen ... schon praktisch, diese Tarnplane ...“ „Hoffen wir, dass sie auch genau wissen, wo sie hinfliegen!“, jammerte Kaine. „Sie werden uns nicht einholen“, sagte Cid mit zusammengebissenen Zähnen, während er hochkonzentriert bemüht war, die Highwind mit den Fußpedalen gegen einen scharfen Windstrom auszurichten. „Aber sie sehen uns vermutlich.“ „Das macht nichts. Eine Tarnplane behindert jeden Zielerfassungsscanner“, sagte Helen unbeirrbar. Der Pilot warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. „Du musst es ja wissen.“ Nanaki hatte sich über der Luke des Luftschachts zusammengekauert. Sein Fell stand seltsam struppig von ihm ab. „Red, was ist los?“, erkundigte sich Tifa. „Hm? Nichts. Ich habe nur ein wenig Angst. Ich meine ... wir gehen nach Nibelheim ... und ich werde zu Lukretia gehen und sie um Auskunft bitten ...“ „Aeris und ich begleiten dich“, versicherte ihm Cloud, der mit vor der Brust verschränkten Armen hinter Cid stand. „Ja, ich weiß, aber ... was wird mir das nützen, wenn sie mich ...?“ Cloud und Tifa wechselten einen Blick. „Oh, na ja ... ich glaube, ich ... werde mich einfach mal beruhigen ...“ Mit einem unsicheren Blick in die Runde erhob er sich vom Boden und verließ die Brücke. Cloud schaute ihm mit einem Stirnrunzeln hinterher, dann wandte er sich wieder an Cid: „Sag mal, wie weit ist es noch bis Nibelheim?“ Der Angesprochene schnaubte. „Cloud, wir kommen aus Kalm, und da liegt Nibelheim eben nicht gerade nebenan. Wir müssen den Kontinent verlassen, was wir jetzt ja auch getan haben, aber ein Stündchen dauert es jetzt schon noch. Hoffen wir also, dass unsere Verfolger nicht die Ausdauer verlieren.“ „Tja ... um das zu unterbinden, könnten wir sie ja auch etwas neugierig machen.“ Aus seiner Hosentasche holte er das PHS und tippte Yuffies Code-Zahl ein. Yuffie erschrak, als ihr PHS unverhofft seinen gewohnt schrillen Ton von sich gab. Verdammt, was soll das, warum jetzt?? Inständig hoffte sie, es möge schnellstens wieder verstummen. Zu spät. Schon erklangen Stimmen von vorn, Schritte näherten sich. „Ich werde das übernehmen“, sagte die Stimme, die zu den Schritten gehörte, und Yuffie glaubte plötzlich, diesen weichen, schleimig klingenden Tonfall zu kennen. Er kam herein und schloss die Tür hinter sich, sodass von vorne aus dem Cockpit keinerlei Geräusche mehr im Laderaum zu vernehmen waren – und umgekehrt auch nicht. Vor ihr und den anderen Gefangenen blieb er stehen. „Hallo, Miss Kisaragi.“ Yuffies Gesichtsausdruck änderte sich von Überraschung über Erkennen und Entsetzen. „Sie? Oh mein Gott!“, stieß sie empört hervor. „Mister Fawkes reicht eigentlich schon“, sagte er lässig und griff mit einer Hand in ihre Jackentasche, um ihr PHS herauszuholen. „Stimmt ja, an diese putzigen kleinen Geräte hab’ ich ja gar nicht mehr gedacht. Mal gucken, wer so spät noch anruft.“ Er drückte den Annahme-Knopf. „Guten Tag.“ „Verdammt, nein ... ich hätte jeden erwartet, aber Sie, nein, so langsam will ich Ihre Stimme nicht mehr hören, Fawkes!“ „Mister Strife ... beruhigen Sie sich, Ihre Energie werden Sie früh genug noch brauchen.“ „Ich will verdammt noch mal nichts von Ihnen wissen. Richten Sie Taggert aus, dass wir mitsamt der Cetra-Maschine nach Nibelheim fliegen – ja, dort, wo Sie die Villa gesprengt haben.“ „Okay, werde ich machen“, antwortete Fawkes geduldig, immer noch beobachtet von Yuffie und dem Rest der Gefangenen, der gefesselt vor ihm auf dem Boden saß. „Das hoffe ich stark für Sie.“ „Keine Angst, Strife. Taggert würde Sie bis ans Ende der Welt verfolgen. Trotzdem, danke für den Hinweis. Möchten Sie mit Miss Kisaragi sprechen? Bestimmt hat sie einige Worte für Sie übrig.“ Er hielt das PHS an Yuffies Wange. „Cloud!“, rief sie sofort. „Cloud, mach diese Arschlöcher fertig –“ „Schön, Miss Kisaragi, das dürfte dann auch schon reichen.“ Mit einem zustimmenden Lächeln beendete Fawkes das Gespräch und schob das PHS wieder in ihre Jackentasche. „So. Und nun ganz im Ernst: Ich spiele hier für Taggert nur mal eben den Mitläufer, damit das klar ist.“ „Oh, klar“, fauchte Yuffie mit triefender Ironie und hätte ihm ins Gesicht gespuckt, wäre ihr Mund in diesem Moment nicht viel zu trocken gewesen, um ausreichend Speichel zu liefern. „Klar“, sagte er und quittierte die Tatsache, dass sie ihm kein Wort glaubte, mit einem nachsichtigen Lächeln. Schließlich beugte er sich erneut zu ihr herunter und griff nach ihren aneinandergebundenen Handgelenken. Yuffie hörte ein Sirren und spürte für einen Sekundenbruchteil kaltes Metall im Bereich der Fesseln auf ihrer Haut, dann fielen die Stricke mit einem leisen RATSCH zu Boden. Fassungslos hob sie ihre Hände vor das Gesicht, während Fawkes sich unbekümmert mit seinem Taschenmesser an ihren Fußfesseln zu schaffen machte. „Sie könnten mir auch helfen und schon mal einen der Schüler losbinden, Miss Kisaragi“, sagte er. „Aber wehe, Sie und der Rest des Clans hier lässt sich anmerken, dass sie nicht mehr verschnürt sind!“ „Äh“, antwortete Yuffie. „Äh, Sie helfen uns wirklich? Aber ... warum?“ Er zuckte die Schultern. „Tote haben etwas sehr Überzeugendes an sich“, sagte er vage. Das Festland lag schwarz und zum Großteil schneebedeckt in vielen hundert Metern Entfernung. Aeris, in die Behinderungen ihrer Schwangerschaft ergeben, hatte sich neben Nanaki gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie strich ihm mit einer Hand über die struppige Mähne, während sie sehnsüchtig zum Fenster starrte, eine unergründliche Tiefe in ihren grünen Augen. „Worüber denkst du nach?“, fragte der Vierbeiner neugierig. „Hm ... ich frage mich, warum wir allein gestanden haben“, antwortete sie. „Du meinst gegen Kommissar Taggert und die Mittellandjustiz?“ „Ich frage mich, wo meine Verwandten waren. Die Cetra. Sephiroth. Sie hätten uns helfen können. Wo sind sie? Was treiben sie? Ob sie uns nur durch den Spiegel beobachten und über unsere Narrheit den Kopf schütteln ...“ „Quatsch.“ Nanaki klopfte mit seiner glimmenden Schwanzquaste auf den kühlen Boden. „Sie passen einen geeigneten Augenblick ab. Ich glaube nicht, dass sie uns je einfach alleine lassen würden, nachdem sie solange daran gearbeitet haben, uns auf den richtigen Weg zu schicken.“ „Ich weiß“, seufzte sie. „Das sage ich mir auch immer wieder ...“ Cloud trat neben die Beiden. „He, wir sind so gut wie da. Gleich naht die Stunde der Wahrheit.“ Aeris hörte Nanaki neben sich schwer schlucken und spürte sein Erzittern unter ihren Fingerspitzen. Sie schaute Cloud ins Gesicht, und er erwiderte ihren Blick, aber dennoch konnte sie nicht lesen, was er dachte. „Komm, Red“, sagte sie und stupste ihren vierbeinigen Freund aufmunternd an. Kapitel 46: Coming Together --------------------------- Nibelheim mit seiner düsteren Fassade lag still und unscheinbar zwischen den weißen Spitzen des Nibelgebirges. Der Platz in seiner Mitte war menschenleer. Senkrecht landete die Highwind in einigen Metern Entfernung. Cloud ließ die Strickleiter vom Deck herunter, während ihm der eisige Wind um die Ohren pfiff und seinen Umhang bauschte. Nanaki und Aeris folgten ihm als erstes herunter, aber auch die Anderen hatten sich entschieden, mitzukommen – wenn auch nicht bis ganz hinunter, da Lukretias Gegenwart trotz Clouds stark ablenkender Wirkung ein zu großes Risiko barg. Über den teils grasbewachsenen, teils betonierten Boden huschten die Gefährten in Richtung der eingestürzten Villa, wo Lukretia in ihrem Keller eingesperrt worden war. „Ich finde es keine gute Idee“, gestand Tifa, „das SPECULUM an Bord der Highwind zu lassen.“ „Aber die sehen die Highwind nicht ohne ihre Radarinstrumente“, antwortete Cloud, während er zügig voranging, „und außerdem weiß keiner von ihnen, dass es dort ist.“ „Natürlich, Fawkes weiß es!“ „Er wird es ihnen nicht erzählen.“ „Was? Wie kannst du dir da so sicher sein?!“ „Weil ich einfach nicht glaube, dass der Besuch im Verheißenen Land für ihn folgenlos geblieben sein soll“, sagte Cloud schlicht. Er log, natürlich log er. Taggert wusste schon lange, dass das SPECULUM an Bord war. Sie dürfen die Highwind nicht sehen, bis wir zurück sind. Wenn einer von uns dort bleibt und sie dann kommen ... wird es eine Sofort-Exekution ganze ohne Verhandlung geben ... Er zitterte innerlich. Tifa schüttelte verständnislos den Kopf und schwieg. Von oben näherten sich bereits wieder die unheilvollen Geräusche von Flugzeugen, stetig anschwellend und dominant. „Bleibt nicht stehen!“, rief Cloud hinter sich. „Kommt, einfach weitergehen!“ Die zerstörte Villa bot einen so traurigen Anblick, dass es Cloud die Kehle zuschnürte, als er einen Fuß in die stillen Trümmer setzte. Die Anderen folgten ihm schweigend. Über ihnen zogen rasch die Wolken vor einem dunklen Himmel vorbei. Vor der noch erhaltenen hölzernen Wendeltreppe blieb Cloud stehen und drehte sich um. „Kommt, schnell. Sie werden gleich landen. Sie sehen, wohin wir gehen. Kommt mit ...“ Nacheinander schritten sie langsam genug, aber dennoch zügig, die Treppe herunter. Kälte umgab sie von allen Seiten. Im Inneren der Bibliothek lagen noch immer Bücher und Berichte verstreut; seit der Entwendung des SPECULUMs hatte logischerweise niemand mehr, nicht einmal die ewig hungrigen Ratten, die für gewöhnlich durch das Gemäuer huschten, den Keller betreten. Vor der verschlossenen Falltür knickten Nanakis Beine unter seinem Körper ein, und er zog zitternd die Luft ein, ehe er sich mit einem Wimmern zu Boden sinken ließ. „Ich – ich kann nicht“, jammerte er. „Ich habe solche Angst ... ich kann mich nicht bewegen ...“ Aeris kniete neben ihm nieder. „Nicht jetzt, Red! Wir sind zu nahe dran, um jetzt umzukehren. Wir werden uns ihnen ausliefern, verstehst du, und ihnen die Cetra ausliefern, wenn wir diese Sache jetzt nicht endlich zu Ende bringen!“ Sie fuhr ihm mit beiden Händen über den Kopf. „Bitte, nimm dich zusammen ...“ Die Anderen waren ratlos neben den Beiden stehen geblieben, verloren aber allesamt beinahe das Gleichgewicht, als aus dem Geheimschacht unter der Falltür ein schreckliches Grollen heraufrollte, gefolgt vom bereits bekannten unheilvollen Basston, den jenes unsichtbare Grauen bereits bei seiner ersten näheren Begegnung mit Nanaki von sich gegeben hatte. Der Boden vibrierte unter der Tiefe und Intensität des Geräusches, und dabei blieb es nicht: was folgte, hörte sich ganz so an, als kratze jemand mit langen Fingernägeln über eine Schiefertafel. Es ging durch Mark und Bein. Nanaki presste sich beide Vorderpfoten auf die Ohren und gab ein gequältes Geheul von sich, als sein empfindliches Gehör mit dieser akustischen Absurdität konfrontiert wurde. Cloud holte tief Luft und versuchte, den grauenhaften Laut zu ignorieren. Er griff nach dem sich windenden Vierbeiner und hob ihn vom Boden auf. Bekräftigt stellte er fest, dass Aeris ihm half. „Ihr müsst auf uns warten“, sagte er zu den Anderen, bemüht, das säbelnde Ziehen und Zischen, von dem der Keller erfüllt war, zu übertönen. „Hört ihr? Es ist zwar anzunehmen, dass sie sich auf mich oder auf Aeris konzentriert – wenn aber nicht, dann endet ihr wie Vincent!“ „Beeilt euch“, presste Tifa hervor, die nur einmal kurz ihre Hände von den Ohren nahm. Cid und Reeve bückten sich beherzt zu der Falltür herunter und öffneten sie mit vereinten Kräften. Als die Pforte offen stand, wurde der Laut etwas intensiver, aber Cloud zwang sich, Nanaki festzuhalten und sich nicht darum zu kümmern. Aeris neben ihm tat dasselbe. Mühselig kletterten sie nacheinander die Leiter herab und schlossen anschließend die Falltür wieder über ihren Köpfen. Das ist eine Sache, auf die ich mich niemals hätte einlassen sollen, dachte Cloud, die warme pelzige Gestalt Nanakis auf seinen Armen. Wäre der Vierbeiner nicht von so zierlicher Statur, wäre es sicher problematisch geworden, ihn den ganzen Weg zu tragen. Hätte doch Vincent gar nicht erst davon angefangen. Er würde noch leben, wir wären nicht in diese gottverdammte Situation hineingeraten. Wann wird es endlich vorbei sein? Wann hat der Planet endlich seinen Tribut von uns gefordert? Warum müssen wir im Namen der gesamten Menschheit dafür herhalten? Ich raff’s einfach nicht. Um ihn herum schimmerten unwirklich die Geräte aus der versunkenen Technokultur des Alten Volkes, stapelten sich diverse Mengen verschiedener Chemikalien, floss die schimmernde Wand über die kuppelförmigen Ausbuchtungen der Decke durch den ganzen Raum. Eine tiefe, unverständliche Melancholie haftete alldem noch immer genauso an wie bei Clouds erstem Besuch. Er schauderte; dann stellte er fest, dass ihn der fürchterliche kratzende Ton nicht länger belästigte. Die gesamte Geräuschkulisse war zu einem sanften, fast einschläfernden Summen in den Hintergrund getreten. „Wieder einmal betreten wir alleine diesen Ort“, murmelte Aeris. Gemeinsam traten sie auf den Tunnel zu, vor welchem die halbfesten Wände bereits zurückzufließen begannen und einen Weg freigaben. Mittlerweile erfüllte ein grauenerregender Leichengeruch den separaten Schacht, eine Mischung aus Tod, Vergänglichkeit und schauriger Gegenwärtigkeit des Endes selbst. Dort, wo zuvor ehemals das SPECULUM seinen festen Platz gehabt hatte, lagen noch immer die Leichen der Soldaten in ihren Blutlachen aufgeschichtet und deformierten sich langsam im zähen Laufe der Zeit. Nanaki in Clouds Griff regte sich mit einem leisen Stöhnen. „Ich – will nicht ...“ „Nur die Ruhe“, murmelte Cloud. „Warum ... ist sie nicht ...?“ „Ich kann sie auch nicht spüren“, stellte Aeris stirnrunzelnd fest. „Sie muss hier sein“, antwortete Cloud schärfer als beabsichtigt und fügte betont fest hinzu: „Niemand hat sie rausgelassen, das wisst ihr.“ Aeris warf ihm von der Seite einen zweifelnden Blick zu. „Wissen wir das wirklich?“ Als Kommissar Taggert, gefolgt vom Rest seines Einsatzkommandos, das Trümmerfeld betrat und zielstrebig auf den oberen Ansatz der Wendeltreppe zusteuerte, wurde er jäh am Arm zurückgehalten. „Seien Sie nicht wahnsinnig, Sir! Sie wissen aus meinen Berichten, was sich dort für ein Monster herumtreibt!“ „Fawkes, ich schere mich nicht weiter um Ihre Berichte oder Ihre Warnungen. Sie wollten mir diese Maschine bringen, und daran sind Sie kläglich gescheitert, und jetzt auf einmal wollen Sie mir irgendwelche Vorträge zugunsten meines Wohlergehens halten? Gehen Sie mir aus dem Weg, Mann!“ Taggert stieß den Störenfried von sich. „Sir, das Monster ist existent“, sagte Fawkes augenrollend und versuchte, Geduld in seine Stimme zu legen. „Ach ja? Und dann springen Strife und seine Kumpanen da fröhlich hinunter in den sicheren Tod? Wollen Sie mich vielleicht auf den Arm nehmen?!“ „Strife kann es bändigen“, sagte der Leiter der ERCOM gewichtig. „Ha, na sehen Sie. Wenn er das tut, droht uns logischerweise keine Gefahr mehr, habe ich Recht?“ „Im Gegenteil, Sir. Ihm und seinen Freunden droht keine Gefahr mehr – mit seinen Feinden sieht es natürlich anders aus.“ Taggert holte tief und frustriert Atem. „Bitte, was schlagen Sie vor, Sie elender Klugscheißer? Haben Sie sich schon einen Plan zusammengebastelt, wie sich eine Alternative bewerkstelligen lässt?“ „Habe ich, ja“, sagte Fawkes ruhig und blieb stehen, ohne sich der Treppe weiter zu nähern. „Vertrauen Sie mir einfach.“ „Ihnen?“ Taggert schnaubte, blieb aber ebenfalls stehen. „Niemand, nicht einmal die billigste Hure, würde Ihnen freiwillig vertrauen, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.“ Fawkes umging die Beleidigung mit einem lässigen Achselzucken. „Manche Menschen können mir in manchen Dingen durchaus vertrauen, Taggert.“ Er fasste den Kommissar am Arm und drehte ihn von der Treppe weg; gleichzeitig machten alle Soldaten hinter ihnen auf dem Fuße Kehrt. Etwas, das sich anfühlte wie eine Brise, strich an Clouds Wange vorbei, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er blieb stehen; gleichzeitig überrollte ihn eine Welle dumpfer Depression und Hoffnungslosigkeit. „Sie ist hier“, murmelte er. „Wir sind ... am Ende des Weges angekommen.“ Tapfer hob er den Blick. „Lukretia, komm ruhig her. Du weißt genau, dass du mir nichts tun kannst, also versuch es nicht ... wir haben das SPECULUM nicht, du brauchst ihn nicht zu –“ Ein scharfes Zischen und Schreien von mindestens einem Dutzend hysterischer Stimmen bohrte sich schmerzhaft direkt in sein Bewusstsein. „Cloud!“ Diese Stimme wiederum gehörte Aeris, und sie packte ihn an den Schultern und drängte ihn, sie anzusehen. „Cloud! Hörst du mich?“ Ihre besorgten grünen Augen tauchten vor seinen auf. „Ich habe das mit dem Körperkontakt vergessen, ich weiß ...“ „Nein ... warte ...“ Cloud bückte sich schwerfällig und legte das zitternde rotbraune Bündel vor sich auf den glänzenden schneeweißen Kachelboden. „Sie war eben hier. Sie ist furchtbar unruhig, was wohl daran liegt, dass sie das SPECULUM nicht in ihrer Nähe weiß.“ Aeris wandte sich von ihm ab und reckte ihren Kopf in die blutgetränkte Luft, die sie schwer vom Verwesungsgeruch umgab. „Dann ... werde ich sie beruhigen und sie bitten, mich als Sprachrohr zu benutzen, damit sie sich ausdrücken kann.“ „Dich als ... was?“, kam erschrocken Clouds Nachfrage. „So was kannst du? Sie durch dich reden lassen?“ „Das müsste gehen“, beteuerte Aeris voller Überzeugung. „Du bleibst hier neben Red sitzen, egal was passiert. Lass ihn nicht los.“ Widerspruchslos kam Cloud ihrer Anweisung nach und kniete sich neben den benommen daliegenden Nanaki. „Gut ... aber bitte, übernimm dich nicht, okay?“ Sie lächelte, als sie seines besorgten Gesichtsausdruckes gewahr wurde. „Mach dir keine Sorgen um mich, Cloud.“ Er zuckte kurz zusammen. Sie hatte das schon einmal gesagt ... und war mit einem Schwert im Bauch geendet. Kapitel 47: Ancient Story ------------------------- Ein leises Summen erfüllte immer noch den Raum, und nun schwoll es zu einem volltönenden Rauschen an, das sich wie ein Schleier über jedes Ohr legte und es ertauben ließ. Cloud kniete neben Nanaki, die Hand auf dessen Flanke, und fixierte Aeris mit einem in sich gekehrten Blick, während sie dastand und mit offenen, aber abwesenden Augen in eine Dimension schaute, die er nicht zu sehen vermochte. So etwas wie eine silberne, schweigende Aura haftete ihr an, die, wie Cloud wusste, nur den Cetra eigen war. Schließlich verschränkte Aeris beide Hände vor dem Bauch und sagte leise: „Ich ... habe Angst.“ Cloud hob die Augenbrauen. „Du bist ... Lukretia?“ „Warum habt ihr das getan?“, verlangte die Stimme aus Aeris’ Mund zu wissen, und das Gesicht der Cetra nahm einen drohenden Ausdruck an, einen so kalten, emotionskalten Ausdruck, dass Cloud spürte, wie ein Frösteln in ihm hinauf bis in seine Fingerspitzen kroch. „Damit habt ihr den größten Fehler gemacht, der euch offen stand. Ich verstehe es nicht ... selbst sie haben dich um Hilfe gebeten, Cloud Strife ... aber was hast du getan?“ „Was meinst du?“, brachte er mühsam hervor, ohne den Blick von ihrer grauenerregenden Person abwenden zu können. „Wo ist es?“ „Was? Das SPECULUM?“ „Ich habe es nicht in jahrelanger Geheimhaltung erschaffen, damit sich Menschen einen Zugang zu den heiligen Gründen der Cetra verschaffen!“, fauchte sie. „Gebt es mir zurück, und ich lasse euch am Leben. Wenn ihr es nicht tut, werde ich euch alle vernichten. Niemand wird wagen, es anzurühren ...“ Plötzlich wurde ihr Gesicht todunglücklich. „... aber ich kann es nicht beschützen, wenn es so weit weg ist ... gebt es mir zurück!“, forderte sie. „Tut es, oder ihr werdet es bereuen!“ Cloud zitterte; schließlich raffte er seinen Mut zusammen und sagte ruhig: „Warte. Wir haben niemals gesagt, dass wir es ausliefern oder dass du es nicht zurückbekommst. Wir geben es dir. Wenn du uns sagst, was du über ihn weißt ...“ Er deutete auf Nanakis reglos daliegende Gestalt. „... über den Spiegel des Alten Volkes. Erinnerst du dich?“ Ihre Miene verfinsterte sich, als würde sich am Himmel eine große Regenwolke vor die Sonne schieben. „Du forderst etwas von mir?“, zischte sie. „Ja“, antwortete Cloud und sah ihr immer noch in die Augen, Aeris’ Augen. „Nur die Ruhe. Sag es uns, und wir sorgen dafür, dass dir niemand je mehr deine Erfindung wegnehmen wird. Du kannst sie beschützen, bis du – ... tja, was weiß ich ...“ „Hojo hat es getan“, sagte sie rasch. „Er hatte diesen dort, den er RedXIII nannte, lange in seiner Gewalt. Und es gibt Ergebnisse seiner Experimente. In seinem Labor ... in dem ich ... niedergekommen bin ... hatte er sie alle ... in Gläser sortiert.“ „Wen?“ „Embryonen. Geklont aus RedXIIIs Erbsubstanz. Sie sind immer noch hier unten. Wenn du dir die Schränke vor dem Tisch anschaust, dann wirst du sie finden. Aber das ist alles, was noch existiert ... es gibt keine weiteren seiner Rasse.“ „Dann hat Hojo ihr Überleben gesichert.“ „Beschönige es, wie du willst“, gab sie schroff zurück. „Ich habe dir alles gesagt. Dein Teil der Abmachung, bitte.“ Er holte tief Luft. „Okay. Wenn du uns wieder hier herausgehen lässt, dann bringen wir es dir zurück ... aber jetzt sofort lässt sich das nicht bewerkstelligen.“ Zornerfüllt flammten Aeris’ Augen auf. „Nein. Wir hatten eine Abmachung, an die ich mich sofort halten musste! Ich verlange dasselbe von dir! Cloud –“ Mit vorgestreckten, zu Krallen gekrümmten Händen ging sie einen Schritt nach dem anderen auf ihn zu. „– du bist nach wie vor nur ein Mensch, vergiss das nicht. JENOVA oder nicht. Ich bin dir in allem überlegen!“ „Du bist nur eine körperlose Seele“, sagte er mutig, aber fluchtbereit zu ihr. „Auch wenn du Anderen so grausame Dinge antun kannst, du würdest es nie fertig bringen, mich zu zerfleischen ... außerdem würde dein geliebtes Kind Sephiroth das nicht wirklich gut finden ...“ Sie kreischte heiser auf, und ihre Stimme war nicht länger die von Aeris. Sie war ein heiseres, bösartiges Grollen, ein schrilles und zugleich abgrundtiefes Brüllen von der Hässlichkeit eines Stahlgiganten. Über Aeris’ Körper gebietend, stürzte sie sich mit einer unerwarteten Heftigkeit auf ihn. Cloud wurde von ihr zu Boden geworfen und suchte sie von sich herabzustoßen, allerdings auf Vorsicht bedacht, da es sich nach wie vor um Aeris handelte. Ihre Krallen bohrten sich in seine Handgelenke, als sie diese mit ihrem Gewicht auf den kalten Boden presste. Er starrte sie an, ihr furchtbares und hasserfülltes Antlitz unmittelbar vor sich, und die Wirkung ihrer tiefen Hilflosigkeit lähmte ihm die Glieder. Er konnte sich, konfrontiert mit solchen seelischen Qualen, nicht mehr rühren, und spürte kaum durch den Dunst der grauen Selbstlosigkeit, wie sich Aeris’ schlanke Finger mit überraschender Kraft um seinen Hals schlossen. Sie will mich töten, dachte er, dann erschlaffte auch der letzte seiner rebellisch gegenhaltenden Muskeln. In der unterirdischen Bibliothek neben der Falltür saßen Barret, Tifa, Helen, Reeve und außerdem Cid, dessen Schulterverband bereits mit Blut durchtränkt war, das langsam seine Seite heruntersickerte. Ihnen blieb nichts Anderes übrig als zu warten, und das taten sie mit einer Ausdauer, die von tiefstem Vertrauen zeugte, Vertrauen zu Cloud und Aeris und ihren Fähigkeiten, die Situation bestmöglich zu meistern. „Hört ihr diesen Krach da draußen?“, fragte Helen nach einer Weile. Barret nickte, beide Hände in den Taschen. „Irgendwie komisch. Die waren schon gelandet, und jetzt haben die da schon wieder irgend ’ne Maschine angeschmissen ... hoffentlich isses keine Planierraupe ...“ Kopfschüttelnd ließ sich Tifa auf einem Stapel Bücher nieder. „Und Cloud hat auch noch darauf bestanden, diesem ERCOM-Heini zu vertrauen – ... nichts gegen dich, Helen“, wandte sie sogleich ein. „Schon okay“, antwortete die Freundin. „Ich hätte auch nicht für möglich gehalten, dass Henry zu so etwas in der Lage ist. Aber er ist ehrgeizig, ein Materialist ... und außerdem stets auf den Vorteil bedacht.“ „Ja, das haben wir auch schon gemerkt ...“ „Ich mache mir Sorgen um Yuffie“, sagte Cid plötzlich. „Sie ist mit diesem Haufen von Spinnern schließlich allein ... bis auf ein paar Kids mit stumpfen Schwertern ...“ „Und Marlene!“, erinnerte Barret scharf. „Ja, gut, die muss das auch irgendwie durchhalten ...“ „Und ich hab’ mich die ganze letzte Zeit gar nich’ um sie gekümmert. Ich muss ’nen echt miesen Vater abgeben, irgendwie.“ Tifa wollte gerade etwas erwidern, das ihm sein Gewissen erleichtern sollte, als die Kellerdecke über ihren Köpfen zu beben und zu bröckeln begann. „He, die wollen uns lebendig begraben!“, fuhr Tifa auf. Helen schüttelte den Kopf. „Henry würde nie zulassen, dass ich hier unten sterbe, ob ihr nun dabei seid oder nicht!“ „Ach ja?“ „Ja!“ Einige große Brocken Putz und Erde kamen herunter und bildeten kleine Hügel auf den Büchern. Dann krachte ein Geschoss direkt durch die Erdschicht hindurch und schlug haarscharf neben Helens Fuß in das Parkettholz ein. „Argh!“ „Quod erat demonstrandum“, murmelte Tifa, packte mit einer Hand Helen und mit der anderen Reeve und zog sie in Richtung Wendeltreppe. Cid und Barret waren bereits dorthin unterwegs. „Was ist mit Aeris, Cloud und dem Pelzwesen?“, rief ihr Helen ausgebracht zu. „Hast du eine Idee, wie man ihnen von hier aus helfen kann?“, knurrte Tifa zurück. „Nein –“ „Dann komm!“ Trübe, flirrende Schatten huschten bereits durch Clouds Sichtfeld, und ihm kam der Gedanke, dass wohl die Blutversorgung seines Gehirns etwas schlecht funktionierte, woran in erster Linie Aeris’ begehrliche Versuche, seine Luftröhre zu zerdrücken, Schuld sein mochten. Er versuchte, ihr etwas zu sagen, aber kein Ton kam über seine Lippen. Ihre kalten, glühenden Augen waren nach wie vor fest auf sein Gesicht gerichtet und erwarteten erste Anzeichen, die ihnen bestätigen würden, dass ihr Feind im Begriff war, sein Leben auszuhauchen. Als Cloud zu merken begann, dass seine Gedanken verblassten und abdrifteten, wurde sie, die auf seinem Brustkorb saß, jäh nach vorne gestoßen, wodurch ihr Griff sich zunächst festigte und dann von ihm abließ. Kreischend fuhr sie herum. Cloud nutzte die Gelegenheit, seine Lungen mit Frischluft zu füllen und die Benommenheit abzuschütteln, während er aus den Augenwinkeln verfolgte, wie Nanaki sich vor Aeris aufrichtete, ihr seinen tödlichen Kopfschmuck präsentierend, mit einem Katzenbuckel, um größer zu wirken. „Red ... tu ihr nichts“, brachte Cloud mühsam hervor. „Es ist immer noch Aeris ...“ Nanaki warf ihm einen kurzen Blick zu, dann machte er einen Schritt in Aeris’ Richtung und fletschte die Zähne. Sie wich vor ihm zurück, fast taumelnd, und dann löste sich von ihr plötzlich so etwas wie silberner Staub, ihr Blick klärte sich und ihre Züge entspannten sich. Erschöpft sank sie in sich zusammen, und Cloud war sofort zur Stelle, um sie aufzufangen. „Cloud ... ich – ich ... hätte dich fast umgebracht ...“ „Nicht du“, sagte er sanft und legte beide Arme um ihre Schultern, während er neben ihr hockte. Nanakis Blick zuckte durch den Raum, seine Muskeln waren angespannt. „Lukretia ist immer noch hier, und ihr habt gehört, was sie gesagt hat! Wir dürfen auf gar keinen Fall zulassen, dass dieser Keller zerstört wird wie der Rest der Villa, genauso wenig dürfen wir irgendjemanden an das SPECULUM ranlassen ...“ „Ich habe versprochen, es ihr zurückzugeben“, sagte Cloud, noch immer Aeris streichelnd. „Und sie hat versucht, dich zu erdrosseln!“ „Das ändert nichts daran, dass ich mein Wort halte. Sag mal, Red ... wieso hast du so plötzlich die Angst vor ihr verloren?“ Nanaki scharrte nachdenklich mit einer Pfote über den Boden. „Sagen wir, ich habe sie ... überwunden, als ich sah, dass du dich nicht gegen sie wehren konntest.“ „Danke.“ Cloud nickte ihm zu. „Aber es tut mir Leid für dich, dass sie dir nicht mehr über deine Spezies erzählen konnte, als dass es Klone von ihnen gibt ...“ „Das ist besser als nichts“, antwortete der Vierbeiner optimistisch. „Aber sollten wir nicht jetzt ...“ „Ja, ich weiß, wir müssen hier rauskommen, ohne gleich eingefangen zu werden ... hoffentlich sind die Anderen noch auf freiem Fuß. Verdammt, war das eine blöde Idee, das alles!“ Cloud hob Aeris vorsichtig hoch und stellte sie auf die Beine. Sie schwankte, blieb dann aber halbwegs senkrecht stehen, als er sie losließ. „Geht’s?“ „Ich – ja.“ „Hör mal, wir müssen Lukretia ihre Erfindung zurückbringen, ganz egal, was sie mit uns vorhatte ...“ Aeris schüttelte den Kopf. „Nein ... das hilft ihr nicht. Sie hat gesagt, dass all das hier geschehen ist ... weißt du, als ich in Miragia war, habe ich in diesem Spiegel, von dem ich euch erzählt habe, gesehen, wie sie mithilfe meiner Mutter Sephiroth geboren hat. Das war hier, Cloud. Hojo hat sie eingefangen und ihr das Kind weggenommen. Sie hasst diesen Ort so sehr wie jeden anderen ... Wenn wir sie erlösen und außerdem die Cetra für immer von der Außenwelt abkapseln wollen, dann müssen wir – ...“ „Das SPECULUM zerstören?“ „Ja.“ „Wie soll das gehen?“, fragte er verzweifelt. „Ich weiß es nicht. Das Material ist feuerunempfindlich und härter als Diamant. Sie hat es sich beim Bauen genau überlegt. Es ist somit unzerstörbar für alles, was existiert ...“ „Auch für die Technologie des Alten Volkes?“ „Ich weiß nicht. Selbst wenn nicht, von uns ist doch nichts mehr übrig ...“ Resigniert senkte Cloud den Blick, aber nur für wenige Sekunden. Eine Erschütterung kam von oberhalb des Geheimschachtes. „Oh nein ...“ „Wir müssen hier raus“, stellte Nanaki stirnrunzelnd fest. Als er von den Anderen keinen Widerspruch hörte, setzte er sich mit raschen Sprüngen in Bewegung. Cloud packte Aeris an beiden Schultern und schleppte sie mühsam hinter sich her. Während er der Leiter und der Falltür immer näher kam, verankerte sich wieder Lukretias flehende und gepeinigte Stimme in seinem Bewusstsein, die ihn anschrie, ihr das SPECULUM zurückzubringen. Kapitel 48: Two Parties ----------------------- Die Kampfflugzeuge der Mittellandjustiz verfügten über eine außerordentliche Schusskraft. Henry Fawkes beobachtete mit zunehmender Beunruhigung, wie die Trümmer der Shin-Ra-Villa unter Einwirkung einiger kraftvoller Explosionen auseinander flogen. Anders als er zeigte sich Kommissar Taggert überaus begeistert. „War ein guter Einfall von Ihnen, Mann. Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Magnesiumoxid-Schwarzpulver-Sturmgeschosse eine solch überragende Wirkung haben!“ „Äh“, antwortete Fawkes mit kippender Stimme. „Äh, ich auch nicht ...“ Der Kommissar warf ihm einen zweifelnden Seitenblick zu. „Was schauen Sie denn so erschrocken? Diese Maschine ist doch sowieso nicht mehr da unten. Und Strife und seinen Komplizen wird das den Rest geben!“ Er lachte selbstgefällig. „Ja ... aber Sir, warten Sie einen Moment.“ Fawkes leckte sich die Lippen und legte demonstrativ beide Hände auf die Lehne von Taggerts Sitz, hinter dem er wie angewachsen stand. „Wir dürfen auf keinen Fall all unsere Geschosse verpulvern. Eventuell brauchen wir sie noch ... der bisherige Beschuss dürfte ausgereicht haben –“ „Ach, wenn wir alles jetzt verballern, dann haben wir wenigstens die Gewissheit, dass wir sie garantiert nicht noch einmal brauchen!“, gab Taggert fröhlich zurück und stierte durch die Seitenscheibe auf den lädierten Erdboden. „Wir haben so gut wie gewonnen. Anschließend suchen wir diesen verfluchten fliegenden Riesentransporter und holen diese Cetra-Maschine raus. Und fertig. Natürlich darf der Präsident des Mittelland-Paktes nichts Genaues darüber erfahren.“ Bei letzteren Worten zwinkerte er Fawkes verschwörerisch zu. Dieser hatte glücklicherweise soweit seine Fassung zurückgewonnen, um in gewohnt schleimendem Tonfall zu antworten: „Die ERCOM steht so treu hinter Ihnen wie keine andere Organisation, Sir.“ „Na, das will ich doch meinen!“ Vergnügt wandte sich der Kommissar wieder zufriedenen Blickes nach vorne. Hinter ihm jedoch hatte Henry Fawkes’ Miene sich wieder in einen düsteren, unheilvollen Ausdruck verwandelt, der angestrengte Überlegung vermuten ließ. Ihm musste dringend etwas einfallen, um das Leben von Strife, dessen Freunden und – nicht zuletzt – das von Helen zu retten. Aeris ergriff mit überraschender Kraft Clouds Arm, während er sie immer noch mühsam mit sich schleppte. „Was ist?“, fragte er sie, während er weiterrannte. „Cloud, es ... es passiert nichts! Siehst du ...?“ „Wo passiert nichts?“, erkundigte er sich mit einer gewissen Schärfe, die von Nervosität und Rastlosigkeit zeugte. „Hier unten ... es wird uns nichts auf den Kopf fallen, weil ... der Schacht aus demselben Material besteht ... es ist ... alles Cetra-Technologie.“ Cloud hielt an, um seinen Blick hektisch über die milchigen, leise fließenden Wände gleiten zu lassen. Sie hatte Recht; noch immer waren die Erschütterungen zu fühlen, aber dem Geheimschacht selbst schien das mitnichten etwas anhaben zu können. „Du meinst, der Tunnel ist unzerstörbar?“ „Wenn wir irgendwo sicher sind, dann hier ...“ Cloud steckte zwei Finger in den Mund und pfiff, was den Lärm ringsherum stark übertönte. Wie erwartet, hielt Nanaki, bereits bei der Leiter angekommen, sofort Inne und drehte sich innerhalb eines Sekundenbruchteils zu den Beiden um. „Red, komm zurück! Nicht zur Falltür!“ „Aber wir – !“, setzte Nanaki an. „Wenn wir da rausgehen, werden wir unter Trümmern verschüttet!“, rief Cloud drohend. Es war deutlich zu sehen, dass der Vierbeiner zuerst versucht war, ihn zu ignorieren, aber die Autorität in Clouds Stimme schien ihn Vernunft annehmen zu lassen. Er machte Kehrt und entfernte sich in großen Sätzen von der Leiter, ehe die Falltür, aus ihren Angeln gerissen, unter dem Gewicht von Trümmern herunterstürzte und die Leiter zur Seite schleuderte. Durch die Öffnung in der Decke kamen allerhand Brocken von Wänden, Boden und letztlich Erde herunter und verschütteten diese gänzlich. Die kleine Lawine stoppte, als das Gewicht von oberhalb sie festdrückte. Cloud hob die Augenbrauen. „Wir ... kommen hier nicht raus“, stellte er fest. „Andernfalls wären wir tot“, murmelte Aeris, die sich nun ebenfalls der aussichtslosen Situation bewusst wurde und zitternd Clouds Arm losließ. „Mag sein, aber ... was machen wir denn jetzt, verdammt? Ich habe keine Transfer-Substanz mehr dabei!“ Nanaki blieb mit vibrierenden Schnurrhaaren neben seinem rechten Fuß stehen. „Ich sag’ dir was, Cloud – wenn wir noch ewig hier unten bleiben, dann ersticken wir.“ „Da hat er Recht“, murmelte Aeris. „Ja, wie schön, dann sagt mir, was ich machen soll!“ Aufgebracht wandte Cloud sich von den Beiden ab und machte ein paar Schritte in Richtung der Schränke. Nichts, was sich hier befand, war in irgendeiner Weise hilfreich. Allerhand Geräte und Behälter mit Chemikalien stapelten sich auf den Tischen rundherum, und in den Vitrinen mussten sich, so hatte Lukretia schließlich gesagt, die Genome von Nanaki und einigen seiner Verwandten befinden ... Lukretia, fiel es Cloud prompt ein, wohin ist die denn plötzlich verschwunden? Er sah sich um, als würde sie sich ihm zuliebe irgendwo zeigen. Natürlich sah er nichts. Das Summen war, so fiel ihm nun ebenfalls auf, gänzlich verstummt und einem stillen, drückenden Schweigen gewichen. Keine Erschütterungen folgten mehr. Nichts ... Er sah, dass Nanaki ebenfalls lauschte. „Cloud, wo ist Lukretia?“, fragte er beunruhigt. Cloud zuckte die Schultern und antwortete wahrheitsgemäß: „Keine Ahnung.“ „Aber ... normalerweise würde sie doch wenigstens einen von uns attackieren!“ „Ja, ich weiß ...“ Nachdenklich, von einem sehr unguten Gefühl ergriffen kratzte er sich halbherzig am Hinterkopf. „Das kann letztlich nur bedeuten ...“ Aeris presste sich eine Hand auf den Mund, und ihre Miene gefror. „Sie ist draußen“, nuschelte sie irgendwo unter ihrer Handfläche hervor, so undeutlich, dass Cloud und Nanaki im Chor „Was?“ fragten. „Ich sagte, sie ist draußen“, wiederholte sich Aeris, weil dazu aufgefordert, und wurde noch ein wenig blasser. „Eben, als die Falltür eingestürzt ist ... da muss sie entkommen sein. Sie hat nur darauf gewartet, wisst ihr, aber als wir vorhin reingekommen sind, da wird sie wohl nicht schnell genug gewesen sein ...“ „Du liebe Güte, das ist gruselig“, stöhnte Nanaki und begann, wie verhaltensgestört hin und her zu laufen. „Wir sind hier eingesperrt und können nicht raus ... und Lukretia ist schon draußen, an unserer statt, und sie wird bestimmt irgendwas anrichten, verdammt“, zitierte er Clouds Lieblingsfluch. „Vor allem“, fügte Aeris düster hinzu, „ist die Hoffnung, von den Anderen hier rausgeholt zu werden, ja gleich null. Die sind entweder verschüttet oder nicht, und bestenfalls stehen sie ohne jede Ausrüstung da.“ Cloud schüttelte betrübt den Kopf. „Also ... ich hätte nicht gedacht, dass es so einen Ausgang nehmen würde. Alles sah so gut für uns aus. Aber jetzt haben wir alles verloren ...“ Amüsiert blickte Kommissar Taggert immer noch durch das runde Fenster zu seiner Seite. Der Staub verzog sich allmählich, und nun war die alte, rattenzerfressene Villa endgültig dem Erdboden gleichgemacht worden. Das Erfreuliche: Strife und seine Spießgesellen genauso. So leicht und beflügelt sich der Kommissar auch fühlte, er wusste genau, dass er sich noch um etwas kümmern musste. Fawkes konnte er nicht mehr ohne Weiteres trauen ... und der Leiter der ERCOM war schlecht darin, dies zu verbergen. Er war so nervös gewesen, als all das begonnen hatte, und seine Überzeugtheit schien verflogen zu sein. Taggert roch praktisch seinen Angstschweiß. Ja, um Fawkes würde er sich noch kümmern müssen ... und wie dringend er das musste, das würde er, so war ihm klar, schon bald herausbekommen. Genussvoll wartete er ab, was der Mann hinter seiner Rückenlehne tun würde. Er war nicht überrascht, als er hinter sich ein scharfes Klicken vernahm, das normalerweise dann zustande kam, wenn jemand hastig ein neues Magazin in eine Pistole lud. Kurz darauf fühlte Taggert am Hinterkopf kaltes Metall. „Ich kann’s nicht mehr mit ansehen, was Sie hier treiben, Taggert. Sagen Sie dem Piloten und dem Rest des Geschwaders, dass sich alle von hier entfernen und zum Stützpunkt in Junon zurückfliegen sollen.“ Fawkes’ Stimme zitterte, sehr zu Taggerts Wohlgefallen. „Lieber Junge, was machen Sie denn?“, fragte der Kommissar mit aufgesetzt väterlicher Stimme. „Ts, ts. Wissen Sie, ich hab’ nur drauf gewartet, dass Sie so eine Dummheit anstellen. Nehmen Sie Ihren Pistolenlauf von meinem Kopf und setzen Sie sich, dann reden wir von Mann zu Mann darüber.“ „Nein“, sagte Fawkes verächtlich. „Das war keine Bitte, Mister Fawkes, sondern eine Drohung.“ „Nein.“ „Wie Sie möchten.“ Immer noch lächelnd, warf sich Taggert plötzlich nach rückwärts und stieß Fawkes’ Hand von sich fort; ein Schuss löste sich und schlug einen Sprung in die Seitenscheibe. Taggerts Hände schlossen sich um die Unterarme des ERCOM-Leiters wie Schraubstöcke, und Letzterer stellte rasch fest, dass ihm der recht bullige Kommissar an Körperkraft um Einiges überlegen war. „Na – ich schätze, dass Sie sich das anders vorgestellt haben“, sagte Taggert triumphierend, und das Lächeln war kein einziges Mal aus seinem Gesicht gewichen. „Ja, das kann man wohl sagen“, murmelte Fawkes und versuchte trotz seiner überaus misslichen Lage selbst eine überhebliche Miene aufzusetzen. „Aber warten Sie nur ...“ „Worauf denn?“, fragte der Kommissar grinsend, hob mit der freien Hand Fawkes’ Dienstwaffe auf, setzte sie seinem Gefangenen an die Schläfe und legte frohlockend den Zeigefinger auf den Abzug. Kapitel 49: Start Anew ---------------------- „Die Idee war ziemlich gut, Barret, das muss ich ja zugeben ... aber was glaubst du, wie lange du das Ding noch halten kannst?“ Der Angesprochene gab unter Zähneknirschen ein undefinierbares Geräusch von sich. Inmitten des riesigen Trümmerfeldes hatte sich die kleine Gruppe unter einen kaum noch stehenden Torbogen gerettet, über dem kurz darauf die Sperrholzplatten herabgestürzt waren. Barret hatte beherzt nach der Tür gegriffen, sie angezogen und damit die Trümmer von sich und seinen Freunden größtenteils ferngehalten; Reeve war ihm dabei zu Hilfe geeilt. Das Problem war daraufhin, dass das Gewicht der Dachüberreste die Tür Richtung Boden drückte und sie alle unter sich begraben würde, sobald sie die Kräfte verließen. „Lasst mich was versuchen“, murmelte Cid, „ist ja schließlich eigentlich nur der eine Bogen, auf dem das Gewicht lastet, also hoffen wir mal das Beste ...“ Er zwängte sich unter Reeves Schultern vorbei, hob, so weit möglich, seine Lanze über den Kopf und stemmte die Spitze in den Boden, um damit die Tür abzustützen. „Okay – jetzt bitte mal probeweise loslassen ...“ Barret und Reeve tauschten einen Blick und machten dann vorsichtig einen Schritt nach rückwärts, beide Hände bis auf die Fingerspitzen von der Tür abhebend. Die mächtige Massivholzplatte rutschte um einige Millimeter, wobei sie leise ächzte, dann verharrte sie unbeweglich. „Na also.“ Tifa atmete auf. „Gut, dass wir das Problem gelöst haben ...“ „Wir sitzen trotzdem hier fest“, knurrte Barret und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. „Auch wenn’s oben offen is’ und der Raum an sich ’ne große Fläche bietet ... ich glaub’ kaum, dass einer von uns da hoch klettern kann. Ziemlich stabil, die Grundmauern ... und wer weiß, ob Cloud, Aeris und Red die Sache gut überstanden haben ...“ „Hast ’nen Vorschlag, wie wir das rauskriegen sollen?“ „Ja, allerdings – jetz’, wo ich das Scheißteil nich’ mehr halten muss. Geht zur Seite! Cid, pass auf, dass dein Speer ganz bleibt!“ Entschlossen trat Barret weit zurück – fast bis an die hintere Mauer – und richtete seinen Gewehrarm auf das ungefähre Zentrum der Türplatte. „Sprengmunition!“ Die Anderen duckten sich in unheilvoller Erwartung hinter ihn. Mit einem furchtbaren Krachen, dem Bersten von morschem Holz und dem Getöse einiger hundert Kilogramm Steinwandgewicht schoss die Tür nach rückwärts, noch bevor sie in der Mitte entzwei brach. Steine, Putz, Holz und Geröll stoben nach allen erdenklichen Richtungen und wirbelten Staubwolken auf, die die Sicht trübten und in den Augen brannten. Hustend wichen die Fünf auseinander. Das Gerümpel rundherum lud geradezu zum Stolpern ein. „Das ... war ’ne tolle Aktion“, krächzte Tifa und rieb sich die Augen. Ihrem Haar und ihrer Kleidung haftete weißer Kalkstaub an, als wäre sie soeben aus einem Mehlsack gestiegen. „Es hat was gebracht“, verteidigte sich Barret. „Leider muss ich euch dran erinnern, dass wir grade voll inner Schusslinie steh’n. Also nix wie weg!“ Henry Fawkes hatte angenommen, Taggert mit seinem Seitenwechsel ziemlich zu überraschen; anscheinend war dem aber ganz und gar nicht so gewesen. Während der Kommissar ihn an beiden Armen packte, überlegte Fawkes bereits fieberhaft, woran er sich das wohl hatte anmerken lassen, aber kurz darauf war es dann Taggert, der ihm seine eigene Dienstwaffe an die Schläfe setzte. „So schnell kann sich das Blatt zum Gegenteil wenden, Mister Fawkes. Wissen Sie, ich habe nichts dagegen, sofort abzudrücken. Niemand wird mir etwas anlasten. Ich trage Handschuhe, was bedeutet, dass die einzigen Fingerabdrücke auf Ihrer Waffe Ihre eigenen sein werden, und da es keine Zeugen gibt, wird von einem Freitod ausgegangen werden.“ Fawkes rollte die Augen und glaubte, Taggerts Grinsen im Rücken zu spüren. „Dann erschießen Sie mich, Mann! Fangen Sie nicht an zu schwafeln, sondern drücken Sie ab!“ „So scharf auf den Tod, Fawkes?“ „Bei einer so langen Zeit in Ihrer Gegenwart kein Wunder.“ „Ah ja? Aber niemand wird herausbekommen, dass Sie es nicht selbst getan haben.“ „Und wenn schon. Das Gesetz wird Sie richten.“ „Ich bin das Gesetz, Fawkes. Ich leite die Mittellandjustiz, Sie leiten die ERCOM. Möchten Sie vielleicht noch schnell ein Zettelchen schreiben: ,Ich war’s nicht, Taggert hat mich abgeknallt!’?“ Er lachte amüsiert. Fawkes schwieg und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus die Tür zum Frachtraum. Er wurde nicht enttäuscht: So lautlos wie eine Katze näherte sich von dort die junge Kisaragi, entgegen Fawkes’ Anweisung, sich still zu verhalten. Sie hatte ihr Shuriken in der Hand, das ebenfalls im Frachtraum gelagert worden war, und schlich sich nun, so schnell wie möglich, außerhalb von Taggerts Sichtfeld auf die Beiden zu. Das wurde auch verdammt Zeit, dachte Fawkes und hoffte, Taggert noch lange genug hinhalten zu können. Leider schien dem Kommissar die Lust am Plaudern jedoch vergangen zu sein, und er machte jäh Anstalten, den Abzug zurückzudrücken. Na bestens. Leise wie ein herabfallendes Blatt warf sich Strifes Kameradin nach vorne und stieß mit der Klinge des Shuriken den Pistolenlauf zur Seite. Der Schuss krachte knapp über ihrem Haarschopf in den Flugzeugrumpf. „Was?!“, stieß Taggert hervor, aber geistesgegenwärtig packte Fawkes mit beiden Händen die Pistole in dessen Hand. „Wir können ihn überwältigen“, flüsterte Miss Kisaragi, leise und schnell atmend, in gebeugter Haltung dastehend wie ein Raubtier kurz vor dem Angriff. „Sollen wir ihn nur ausschalten oder gleich – ?“ „Ausschalten“, antwortete Fawkes fest. „Wir brauchen ihn noch für das Kriegsgericht.“ Bestürzt ging Tifa einige Male um jene Stelle herum, an der zuvor noch die Wendeltreppe zum Keller aus dem Erdboden geragt hatte. Die erste Stufe war noch zu sehen, der Rest versank im Schmutz. „Oh nein ... der Keller ist zugeschüttet bis obenhin!“ „Das war nicht anders zu erwarten“, stellte Reeve stirnrunzelnd fest. „Also, wir sollten uns ... ganz schnell was einfallen lassen ...“ „Transfer-Substanz!“, rief Cid. „Wer hat die?“ „Ich!“ Tifa griff in eine Tasche und hielt die kleine grünschimmernde Kugel über ihren Kopf. „Koppel sie mit Alle, und dann runter mit uns!“ Sie schaute misstrauisch drein. „Bist du sicher, dass es da unten noch Hohlräume gibt? Vielleicht teleportieren wir uns ja direkt in diesen Schutt –“ „Tifa, jetzt mach schon! Zwei von diesen beschissenen Flugzeugen richten schon wieder ihre Kanonen auf unsere Ärsche, siehst du das nicht?“ Tifa biss sich auf die Lippe und nickte stumm. Die Fünf drängten sich rasch zusammen und lösten sich in einen flirrenden Nebel auf, der sich ebenso schnell verflüchtigte. Cloud atmete schwer die angefeuchtete Luft ein, während er vorsichtig näher an die Masse an Geröll und Sand herantrat, die sich aus der Falltür ergossen hatte. „Das sieht ganz schlecht aus für uns ... selbst mit entsprechenden Werkzeugen wären wir tagelang am Graben.“ „Dann können wir nichts tun.“ Resigniert ließ Aeris sich neben der Wand nieder. „Sie ist draußen, wir sind drinnen. Wir werden sterben, und sie wird noch mehr töten ...“ Cloud gab keine Antwort, aber Nanaki erstarrte plötzlich in einer Bewegung und reckte den Hals. „He ...“ Ein sanftes Flirren mitten in der Luft entstand gleich einem silbernen Wirbel unmittelbar zwischen den Dreien. Cloud machte einen Schritt nach rückwärts, als ihm der Gedanke kam, es könne sich doch um Lukretia handeln; kurz darauf jedoch durchströmte ihn Erleichterung und Euphorie, denn er erkannte sofort, dass es sich bei den fünf langsam Gestalt annehmenden Silhouetten um die seiner Freunde handelte. Sie wirkten allesamt sehr mitgenommen und zerzaust, und überall haftete ihnen Staub an. Tifa blinzelte und schaute sich um, dann breitete sich auf ihrem Gesicht ein glückliches Lächeln aus. „Cloud, Aeris, Red – wir dachten schon, ihr seid hier drinnen draufgegangen ...“ „Das wären wir, wenn ihr jetzt nicht aufgetaucht wärt“, gab Cloud zu. „Aber ihr seid auch ziemlich knapp davon gekommen, wie es aussieht.“ „Das is’ ’ne komische Geschichte, lass uns später drüber sprechen“, warf Barret rasch ein. „Wir müss’n erst mal hier raus, und dann ma seh’n, wie wir die Nasen da aufhalten ...“ „Und Lukretia“, ergänzte Nanaki, woraufhin er von allen Seiten verblüffte Blicke auf sich zog. „Wie bitte?“ „Sie ist uns ... entwischt“, erklärte er unsicher. Cid, auf dessen Kleidung aufgrund des Blutes besonders viel Kalkpulver klebte, presste kummervoll beide Hände gegen die Stirn. „Na klasse, dann ist ja jetzt alles gegessen.“ „Hört auf damit.“ Cloud stieß ihn an der Schulter an und wandte sich dann an Tifa. „Los, die Transfer-Substanz. Wir finden schon einen Weg. Denkt dran, dass Yuffie und die Kinder noch bei denen sind.“ „Und Marlene“, stöhnte Barret. „Marlene war in ‚Kinder’ mit einbegriffen, aber von mir aus. Tifa, jetzt mach schon!“ Seufzend raffte Tifa, umringt von den Anderen, ein weiteres Mal ihr magisches Potenzial zusammen und entlockte der Substanz ihren charakteristischen Transport-Zauber. Kapitel 50: The Hand Turns -------------------------- Der Himmel über Nibelheim hatte sich verdunkelt, allerdings nicht unter Wolken. Kleine, flatternde Gestalten warfen kurze Schatten auf den Erdboden und verdeckten die Sonne mit ihren dunklen schlanken Leibern. Es waren Tausende weiße Tauben. Yuffie starrte entgeistert aus dem Fenster des kleinen Flugzeugs. Zwischen ihr und dem bleichen, aber längst wieder gefassten Leiter der ERCOM lag immer noch Kommissar Taggert auf dem Boden, den sie selbst mit dem Griff des Shuriken bewusstlos geschlagen hatte. Die beiden Piloten in dem winzigen Cockpit weiter vorne hatten davon nicht das Geringste mitbekommen, wohl aber sahen sie die Massen an Vögeln am Himmel. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Mister Fawkes, nachdem er selbst durch das Fenster geblickt hatte. „Das ist doch nicht wirklich ein ... Naturphänomen?“ Yuffie schüttelte den Kopf. „Glaub’ ich kaum. Ich vermutete, das sind die Cetra. Das Alte Volk.“ „Jaja, ich weiß ... ja, natürlich, das sind sie. Schließlich bin ich ihnen im Verheißenen Land begegnet ...“ Sein Blick wirkte verwirrt und schuf damit einen Gegensatz zu dem, was er sagte. „Wie auch immer, sind die Kinder alle noch hinten?“ „Ja, es geht ihnen gut und keines trägt mehr Fesseln. Wissen Sie, ich fühle mich irgendwie nicht geneigt, Ihnen zu vertrauen, aber angesichts der Tatsache –“ „Hey, ich habe mich gegen Taggert gewandt und damit mein Leben riskiert! Und dieses ist mir verdammt viel wert, wie sie sich denken können!“ „Oooooh ja. Und wie Sie Ihr falsches Spiel gespielt haben! Aber wie sagt man so schön: Der Zweck heiligt die Mittel.“ Sie wandte sich vom Fenster ab und trat zurück zum Frachtraum. „Ich brauche ein Telefon, wenn ich effektive Hilfe anfordern soll.“ „Es gibt hier keins“, antwortete er. „Allerdings ... Sie haben doch dieses kleine Gerät, dieses ...“ „Das PHS?“ „Das, auf welchem Strife Sie vorhin angefunkt hat.“ „Ja, das ist ein PHS, eine Art schnurloses Interntelefon, damit kann ich ausschließlich andere gleiche Geräte erreichen, und das andere hat zurzeit Barret ... oh, Moment! Wir haben drei! Und das dritte hat Clouds Vater!“ Sie schnippte triumphierend mit den Fingern. „Das ist es!“ „Ich verstehe nicht“, gab Fawkes irritiert zu. „Warten Sie einen Augenblick, alles wird gut gehen“, antwortete Yuffie zuversichtlich, holte das PHS aus der Tasche und begann zu wählen. Es war dunkel draußen an der Luft, so dunkel, dass Cloud und die Anderen dicht zusammengedrängt stehen blieben, weil sie, von der Helligkeit des Geheimschachtes verwöhnt, kaum etwas erkennen konnten. „Irgendwo sind noch diese Flugzeuge“, sagte Reeve müde, „aber ich sehe sie nicht ...“ „Die sind wahrscheinlich immer noch getarnt, aber die Kanonen sind in der Regel gut sichtbar, sobald sie aktiv sind“, antwortete Helen. „Gut, aber das ändert nichts daran, dass ich sie nicht sehe!“ Kurz darauf wurden rundherum in erschreckender naher Position helle Lichter angeworfen. Tifa hielt sich die Hand vor die Augen. „Scheint, als sei es den Flugzeugpiloten auch zu dunkel“, sagte sie gepresst. Der Wind der Rotoren näherte sich von allen Seiten, und der inzwischen nur zu bekannte, ungemein nervenaufreibende Lärmpegel stieg wieder an. „Sie haben uns schon wieder eingekreist“, stöhnte Nanaki. Cloud ließ mit zusammengekniffenen Augen den Blick umherschweifen. „Kanonen ... ich sehe sie. Sie richten sich alle auf uns, sie haben uns als Ziele lokalisiert ...“ „Scheiße“, sagte Barret. „Dem stimme ich zu.“ „Haben wir ’ne Chance, wenn wir rennen?“ „Glaube ich kaum.“ „Dann gute Nacht, Leute. War schön mit euch.“ Der Lärm schwoll an, und ein Ziehen und Zischen mischte sich darunter. Kurz darauf folgte ein Krachen und ein nicht weniger schlimmes Echo, und die Welt verwandelte sich in eine Reihe gleißender Lichter und Schmerzen an allen nur erdenklichen Körperteilen, begleitet von elektrischen Impulsen, die vom Erdboden aus aufstiegen. „Es kann sich jetzt nur noch um Minuten handeln“, sagte Yuffie zuversichtlich. „Eine Viertelstunde vielleicht. Sagen Sie, was war das eben für ein Lichtspektakel vor dem Fenster?“ Fragend richtete sie ihren Blick auf den Leiter der ERCOM, der sich soeben mit beunruhigender Miene vom Fenster abgewandt hatte. „Das ... das war eine Magnesium-Blendgranate“, sagte er leise. „Und das Schlimme daran ist, dass es Strife und alle Anderen erwischt hat ...“ „Was?“ Yuffie stürzte zum Fenster. Er hatte Recht: Dicht nebeneinander waren Cloud, Aeris, Barret und alle Anderen wie tot zu Boden gegangen. „Aber ... was war das für ein Zeug ...?“ „Es verursacht einen schwachen Schock im Gehirn, der für sofortige und längere Bewusstlosigkeit sorgt“, antwortete Fawkes trocken. „Ich war selbst an der Entwicklung dieser Waffe beteiligt und habe sie mit meinem Team auf Umweltverträglichkeit getestet ...“ Yuffie fühlte förmlich, wie ihr Gesicht einen gehetzten Ausdruck annahm. „Aber das bedeutet ...“ „Der Rest hängt von Ihrer Hilfe ab, die Sie soeben angefordert haben, und bei der es sich, wie Sie sagten, nur noch um Minuten handeln kann ...“ „Vielleicht sind das ein paar Minuten zu viel!“ Schon war an den sichtbaren ausgefahrenen Kanonen der Flugzeuge zu erkennen, wie sie erneut zu Boden sanken. Der Lärm ebbte ab und der Wind hörte auf, das Gras in seinen irren Wehen zu peitschen. Dennoch war es nicht still; nun, da die Flugzeuge schwiegen, war das schrille Kreischen und Schreien der Taubenschwärme am Himmel umso deutlicher zu vernehmen. Die Furcht und Erregung in ihren Vogelstimmen löste in Yuffie eine nur noch größere Panik aus. „Sir“, drang die Stimme des Co-Piloten zu ihnen nach hinten und ließ sie auffahren, „Kommissar Taggert, sollen wir ebenfalls zur Landung ansetzen?“ Yuffie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihr Blick blieb an Fawkes haften. Dieser räusperte sich und rief: „Tun Sie das! Jetzt, äh, haben wir Strife und seine Spießgesellen am Wickel, ahahaha! Und dann sammeln wir sie ein und sperren sie alle in Junon ein und exekutieren sie, jaha, äh, genau das machen wir ...“ Yuffie warf ihm einen bösen Blick zu und formte mit den Lippen ein deutliches ‚Das reicht’. Beinahe gelang es ihr, durch bloße Mimik ein Ausrufezeichen dahinter zu setzen. Er nickte in ihre Richtung. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hoffte, dass sie nicht zu spät kam, dass ihre Hilfe nicht zu spät kam und dass sie die Mittellandjustiz irgendwie noch lange genug würden hinhalten können. Truppen hechteten über das schimmernde, sich sanft wiegende Gras nahe dem Trümmerfeld der Villa und scharten sich um die acht wie leblos daliegenden Gestalten. Man prüfte, ob sie am Leben waren, und sammelte sie der Reihe nach vom Boden auf. „Bringen Sie sie nicht zu weit weg“, gab der Oberoffizier der Mittellandjustiz zur Anweisung. „Wir suchen immer noch nach der Maschine, die Taggert will.“ Auch darum wurde sich bereits gekümmert. Mithilfe von Detektoren war die Highwind innerhalb einer knappen Minute aufgespürt und besetzt. Wärter und Soldaten tummelten sich auf dem Deck und im Innenraum, musterten die Maschinen und Getriebe mit anerkennenden Blicken und entdeckten im Frachtraum das SPECULUM, welches strahlend und einladend wie ein einzelnes Juwel in immer noch derselben Ecke stand. „Bestens!“, frohlockte der Oberoffizier. „Taggert wird zufrieden sein. Was lange währt, wird endlich gut. Achso, da fällt mir ein“, wandte er sich an einen Soldaten, den er am Ärmel packte, „wo bleibt der Kommissar denn eigentlich?“ „Er war auf dem Transporter, wo auch die Gefangenen waren“, antwortete der junge Mann und entwand sich dem unbequemen Griff. „Nun ... dann warten wir eben hier auf ihn. Aufgepasst! Keiner rührt die Maschine an, damit das klar ist!“ Die versammelte Gruppe salutierte gleichmütig, behielt aber dicht neben dem SPECULUM Stellung. Sie erwartete nur noch ihren Oberbefehlshaber. „Gehen Sie zu denen runter, Fawkes. Außer Taggert denkt doch jeder von denen, sie wären ... hm ...“ „Auf deren Seite?“, beendete ihr Gegenüber mit gehobenen Augenbrauen den Satz. „Ich schätze, ich sollte dafür sorgen, dass sie das auch weiterhin denken.“ Yuffie nickte. „Eben ... aber passen Sie gut auf.“ „Mir passiert so schnell nichts.“ „Ja, das hab’ ich gesehen“, gab sie in einem Ton zur Antwort, der durchblicken ließ, wie wenig sie seiner Meinung war. Ihr einen kurzen Blick zuwerfend, schob er seine Dienstwaffe in ihr Polster zurück und schickte sich an, das gelandete Flugzeug zu verlassen, während Yuffie im Frachtraum bei den anderen Gefangenen ausharren und abwarten würde. Kapitel 51: The Other Side -------------------------- Der Oberoffizier der Mittellandjustiz kratzte sich soeben in einer unziemlichen Gegend, als Fawkes dicht hinter ihm stehen blieb. „So, hier haben wir es also.“ Der Mann fuhr zusammen, drehte sich um und salutierte. „Mister Fawkes, haben Sie mich erschreckt! Äh, nun ... ja, das ist es, also diese Maschine. Wo ist Kommissar Taggert?“ „Er hat entschieden, uns den Rest der Mission zu überlassen und vertraut darauf, dass wir das Gut gesichert nach Junon bringen.“ Damit deutete Fawkes mit einem Kopfnicken auf das SPECULUM. „Wir sollten ihn also nicht enttäuschen. Wo befinden sich die Gefangenen?“ „Oh, die sind ... gleich hier drüben.“ Der Soldat trat beiseite und wandte sich in Richtung der Abtrennung, hinter der normalerweise ein Chocobo untergebracht wurde. Fawkes hob die Augenbrauen, als er hinter dem Gitter, das von fachkundigen Soldaten noch durch ein hochwirksames Plasmanetz verstärkt worden war, jene acht vermissten Personen erblickte, darunter natürlich auch seine Helen, die genauso reglos dalag wie der Rest seiner ehemaligen Gegenspielerpartei. „Oh ... sieh an ... sie sind alle noch betäubt?“ „Ja, das hat ein Magnesium-Blendgeschoss nun mal so an sich“, antwortete der Oberoffizier, verdutzt über die offensichtlich leicht entsetzte Miene des ERCOM-Leiters. „Aber das bleibt ohne Folgen, die sind in der nächsten Viertelstunde wieder alle putzmunter.“ „Das will ich hoffen“, murmelte Fawkes. „Sie hätten sie auch etwas vorsichtiger hinlegen können. Das sind immer noch Menschen.“ „Wir haben ihnen nichts angetan.“ „Das will ich hoffen“, wiederholte Fawkes und wandte sich von ihm ab zu der Maschine hin. Sie wirkte so reizvoll wie eh und je auf ihn, aber jetzt, da er wusste, wozu sie gut war, hatte er kein Interesse mehr daran, besser über sie Bescheid zu wissen. Er hatte noch nicht einmal eine Ahnung, was Strife eigentlich vorhatte und wie er gedachte, sie vor Taggert und anderen Eindringlingen zu schützen ... aber er fuhr fort zu hoffen, dass Strife selbst das etwas genauer wusste. Denn wenn nicht, dann war diese ganze Unternehmung aussichtslos und würde ihnen am Ende nichts weiter einbringen als das Kriegsgericht oder sogar weitere Hinrichtungen ... Während ihm diese Gedanken kamen, wurde er eines klammen Gefühls am Hals gewahr, das sich um ihn herumschlich und ihn zurückzudrängen schien. Erschrocken wich er von dem SPECULUM zurück, als ihm klar wurde, um was es sich nur handeln konnte. „Nicht du“, stöhnte er und merkte, wie ihm sofort der Schweiß ausbrach. „Stimmt was nicht, Mister Fawkes?“, erkundigte sich ein nebenstehender Soldat. „Ich? Oh – nein, schon gut.“ Gleichzeitig fragte er sich jedoch, wie sie aus ihrem Loch im Boden heraus gekommen war, wenn doch Strife sich sicher gewesen war, sie eingesperrt zu haben ... Sein Blick wanderte unwillkürlich zu Strife hinter der Absperrung hinüber, welcher unruhig atmend halb auf der Seite zwischen dem vierbeinigen Wesen und seiner Gefährtin Aeris lag. Ich hoffe für dich, dass du einen Plan hast, Cloud, dachte Fawkes grimmig, und trat noch weiter zurück, um Lukretias schwachen, aber dennoch eisigen Griff gänzlich abzuschütteln. Verblüfft stellte er fest, dass, sobald er dies geschafft hatte, sich der Himmel vor den Fenstern lichtete, dass sich eine weiße Taube nach der anderen in Luft auflöste und ihr Kreischen verstummte. Sie kehren ins Verheißene Land zurück. Warum? Mit in sich gekehrtem Blick blieb er vor dem SPECULUM stehen, hoffend, dass Lukretia ihn nicht erneut anzugreifen gedachte. Clouds Blick wanderte durch eine unwirkliche Gegend. Krumme, verkrustet aussehende Bäume reckten sich in kranken Winkeln und bedrohlichen Ansammlungen in einen düsteren, wolken- und konturlosen Himmel hinauf. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf am Boden liegende Gestalten und silbrige Ketten. Er wusste sofort, wo er sich befand. Ich weiß. Ich habe das SPECULUM nicht betreten, aber trotzdem bin ich hier, genau wie damals. Ich habe meinen ganz eigenen Zugang zum Verheißenen Land ... vielleicht sollte ich stolz darauf sein. Andererseits gab es ihm zu denken, dass er jedes Mal, wenn ihn ein Übermaß an Emotionen unter sich zu begraben drohte, ausgerechnet im Wald der Toten landete, wo Trug nicht von Wahrheit zu unterscheiden war. Normalerweise war es ja auch Sephiroth, der ihn hierher brachte, und Sephiroth hatte er seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen, nicht einmal in Taubengestalt. Ich hatte gedacht, er und die Cetra hätten uns letztlich uns selbst überlassen ... bis ich diesen riesigen Schwarm am Himmel gesehen habe. Ganz schön beeindruckend ... Er sollte Angst haben an diesem Ort, aber er verspürte keine. So sehr auch die blauen Kugeln zwischen den schwarzen Blättern glommen und ihn anzustarren schienen, er ignorierte sie. Etwas Anderes war viel wichtiger. Cloud folgte dem grauen Pfad auf dem Boden, pflügte sich seinen Weg durch hohe, sich wiegende Grashalme, bis er schließlich in einiger Ferne ein einzelnes Tor vor sich erkennen konnte, vom schwärzesten Schwarz, das er je gesehen hatte, und in etwa so abweisend wie ein Büro im Quartier der Mittellandjustiz. Das war eigentlich klar. Hier gibt es für alles ein Tor. Logisch, dass es auch für den Wald eins gibt. Sich der Wichtigkeit seiner Aufgabe nur allzu bewusst, warf er sein ganzes Gewicht gegen dieses Ungeheuer von einem Tor, das ihn um einige Meter überragte, und schaffte es schließlich, den Spalt zum Passieren weit genug zu vergrößern. „He, nicht drängeln“, ertönte überraschenderweise eine seltsam bekannte Stimme von außerhalb der schwarzen, farblosen Geisterwelt. „Ich mach’ dir das Tor schon auf, nur sind die Scharniere noch immer nicht geölt.“ „Ophiem?“, fragte Cloud, als er den Torwächter zu erkennen glaubte. „Wer denn sonst? Gut, dass du hier bist.“ „Ihr seid wieder da ... aber ihr wart doch eben noch alle draußen! Oder bist du als einziger ...?“ „Nein, nein, mein Lieber, ist schon richtig, wir waren alle in der Außenwelt, um bei den Böslingen ein bisschen Eindruck zu schinden. Jetzt, wo du hier angekommen bist, sind wir rechtzeitig wieder da. Von der schnellen Truppe eben.“ Er schenkte Cloud ein warmes Lächeln und half ihm, sich durch die Tür zu zwängen. „Ich muss dich was fragen“, fuhr Cloud nervös fort. „Warum kann ich in speziellen Situationen auch ohne das SPECULUM hierher?“ „Oh ... tja, weiß nicht. Du darfst das nicht durch bloße Willenskraft fertig bringen, schon gar nicht, wenn du bei Bewusstsein bist.“ „Das bin ich nicht, ich habe ... glaube ich jedenfalls ... eine Ladung Kampfflugzeugtorpedos abbekommen ...“ „Jau, das hab’ ich von oben gesehen. Du bist nicht tot, keine Angst! Pass auf: Wir sind genauso ratlos wie du. Wir wissen nicht, was wir machen sollen. Es wird sogar von einigen vermutet, dass wir am sprichwörtlichen Arsch sind, denn Lukretia kann uns auch nicht ewig beschützen, die hat ’ne Menge von ihrer ursprünglichen Kraft eingebüßt.“ „Um sie geht es mir auch“, sagte Cloud rasch. „Bringst du mich zu Ifalna?“ „Nichts leichter als das“, antwortete Ophiem und nahm ihn bei der Hand. „Komm mit, ja?“ Cloud hatte erwartet, die Cetra in Aufruhr zu erleben, aber das waren sie nicht. Gesittet und still standen sie auf der großen Wiese versammelt, alle mit gesenkten Köpfen, und ein unheimliches Schweigen lag über ihnen. Eine sanfte Brise zauste im Schein einer nicht existenten Sonne ihre genauso irreale Kleidung. „Aber ...“, setzte Cloud an, als sich auch schon Ifalna aus der Menge löste und auf ihn zutrat. Die übrigen Cetra rührten sich nicht, als hätten sie keine Notiz von ihm genommen. „Schon gut, Cloud. Wir haben verloren. Es ist vorbei ...“ „Nein, das ist es nicht!“ „Aber du und alle deine Freunde, ihr seid ausgeschaltet und könnt in eurem Zustand nichts in eurer Welt ausrichten.“ „Darum geht es nicht“, fauchte Cloud voller Ungeduld und beobachtete den Unwillen in ihrer Miene. „Jetzt vertrau wenigstens deiner Tochter! Wenn wir nichts unternehmen, wird sie auch sterben. Dann werden wir alle sterben. Und ich verlasse mich besser nicht darauf, dass wir alle hier landen!“ Sein Blick zuckte über die Menge. „Wo ist Sephiroth?“ Ihr Gesicht verlor noch ein wenig mehr an Ausdruck. „Ich werde es nie schaffen, ihm zu vertrauen, Cloud. Genauso wenig werde ich es schaffen, dir zu vertrauen.“ Er rollte die Augen. „Wir haben keine Zeit, Ifalna. Bring mich zu ihm.“ „Er ist nicht hier. Wenn du ihn unbedingt sehen willst, dann komm mit zum Weidenhain.“ Damit drehte sie sich um und ging voraus, ohne auf ihn zu warten. Cloud war leicht verwirrt. Warum war Sephiroth nicht bei den Anderen? Insgesamt schien unter den Angehörigen des Alten Volkes kein so reibungsloses, märchenhaftes Klima mehr zu herrschen, wie er am Anfang den Eindruck gewonnen hatte. Kopfschüttelnd ging er ihr nach, bemüht, ihren großen Schritten zu folgen. Bereits auf halbem Weg über den Pfad verlor das Gras seinen satten, bilderbuchhaften Grünton und wies an einigen Stellen gelbe Halme auf; genauso war der Himmel von mehreren, langsam an Größe gewinnenden Wolken verhangen. „Etwas stimmt hier nicht“, stellte Cloud fest. „Beurteile das selbst“, antwortete Ifalna schlicht. Er wusste darauf nichts zu erwidern, aber er horchte auf, als ein melodisches Geräusch die seltsam konturlose Luft erfüllte. Es waren unverkennbar die Töne einer Panflöte. „Die Flöte“, sagte Ifalna sofort, als müsse sie irgendetwas erklären, „gehört eigentlich meiner Tochter. Weiß der Geier, wie sie in seinen Besitz gekommen ist. Weißt du, ich wollte ihm ein Lied beibringen. Ein ganz bestimmtes Lied. Aber er ist nun mal keiner von uns, er kann es einfach nicht.“ Cloud begriff nicht, was ein Lied für eine wichtige Rolle spielen sollte, dann erinnerte er sich an die Vorfälle in der Gold Saucer vor acht Jahren. „Tja“, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Ifalna hielt an und klopfte gegen einen Baum. „He, komm her. Er ist zurückgekommen.“ Das ungeschickte Flötenspiel brach augenblicklich ab, und Sephiroths düstere Gestalt mit dem ausgebreiteten befiederten Flügel löste sich aus der willkürlichen Anreihung blattbesetzter Bäume. Gleichzeitig spürte Cloud, zu seiner eigenen Zufriedenheit, wie diese Hektik, diese Kraft, die ihn zum Handeln drängte, erneut Besitz von ihm ergriff. Er lief zu Sephiroth und packte ihn bei den Schultern, wobei er sich fast auf die Zehenspitzen stellen musste. „Hilf mir!“ „Was soll ich tun?“, fragte Sephiroth ihn, ohne eine Bewegung zu unternehmen. „Lukretia, du musst sie aufhalten. Und das SPECULUM, wir können es nicht beschützen, wir müssen es zerstören –“ „Cloud“, sagte Sephiroth sanft und löste Clouds verkrampfte Finger von seinen Schulterschützern. „Langsam.“ „Lukretia, deine Mutter, sie ist wahnsinnig geworden – und die Mittellandjustiz, die –“ „Sie haben sich auf der Highwind eingefunden und schicken sich an, das SPECULUM nach Junon zu bringen.“ „Aber Lukretia wird sie aufhalten. Sie wird sie alle töten ... verdammt, wir sind am Ende!“ Sephiroth blickte zu Boden, Ifalnas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Ich denke nicht, dass der Planet all das zulassen wird, meine Freunde. Ihr macht euch viel zu viele Gedanken.“ Die Drei fuhren aufgeschreckt herum und versuchten den Besitzer dieser irgendwie bekannten Stimme auszumachen. Cloud sah ihn zuerst; er näherte sich schwebend und mit einem breiten Lächeln im leicht runzeligen Gesicht, wie schon zu Lebzeiten. „Bugenhagen!“ „Na, Cloud? Nach all den Jahren erinnerst du dich noch an mich.“ Ifalna fiel ihm sofort ins Wort: „Bitte, erweck jetzt hier keine falschen Hoffnungen, ja? Nichts wird den Planeten dazu bringen, irgendwas zu unternehmen.“ „Vielleicht ist das ja auch nicht nötig“, antwortete Bugenhagen mit hinterm Rücken gefalteten Händen. „Ifalna, du sagtest, du hättest Sephiroth das Lied beigebracht?“ „Ja“, antwortete sie müde, „habe ich ... da er damals ja das Lied des Todes gesungen hat, warum auch immer, hielt ich es ohnehin für angebracht, ihn das Lied der Geburt zu lehren. Aber kein Cetra würde sich mit der Panflöte so ungeschickt anstellen.“ Sie warf Sephiroth einen verdrossenen Blick zu. „Du weißt aber sicherlich“, fuhr Bugenhagen ruhig fort, „dass es das einzige unserer Lieder ist, das eine Katharsis einzuleiten vermag.“ „Daran brauchst du mich nicht zu erinnern.“ Cloud hob beide Hände. „Moment mal! Was ist das für ein Lied? Und was ist eine Katharsis?“ „Eine Katharsis ist eine seelische Reinigung“, erklärte Ifalna. „Bugenhagen glaubt, damit ließe sich Lukretias Zorn zerstäuben ... oder so. Leider hat Miragia nichts davon“, setzte sie gereizt hinzu. „Es heilt praktisch Herzschmerz?“ „Ja, wenn du es so nennen willst. Aber dein Freund hier stellt sich dumm an.“ „Ich gebe mir Mühe!“, verteidigte sich Sephiroth. „Jaah, das sieht man!“ „Seid still.“ Cloud hob autoritär einen mahnenden Zeigefinger. „Sephiroth, spiel das Lied. Wenigstens versuchsweise.“ Sephiroth zuckte die Schultern, setzte die obere Reihe der Panflöte an die Lippen und entlockte ihr eine Reihe von Tönen. Cloud hörte ihm zu, und bereits nach einigen Sekunden breitete sich ein fremdartiges, seltsames Gefühl in ihm aus, kroch ihm bis in die Fingerspitzen. Ifalna sah Sephiroth nicht allzu begeistert beim Spielen zu, aber Cloud war sich mit einem Mal sicher, dass sie die Wirkung des Liedes unterschätzte. Er spürte selbst nur zu deutlich, dass es wirkte, wirkte wie eine Droge, die in ordentlichen Portionen Glückshormone in die Blutbahn spuckte. Fast wollte er weinen vor Gerührtheit, aber er verkniff es sich. „Äh“, sagte er, „danke, das reicht.“ „Es ist völlig unausgereift“, keifte Ifalna. „Nein, ich glaube nicht“, antwortete Cloud und fuhr sich verstohlen über die Augen. „Wie schaffen wir es, dass das Lied auch in der Außenwelt zu hören ist? Dort wird es schließlich gebraucht.“ „Das ist eben das Problem. Wir haben nur ein einziges Tor zur Außenwelt, und das ist das SPECULUM.“ „Cloud meint, es sollte zerstört werden“, sagte Sephiroth seufzend. „Anders kann es nicht beschützt werden.“ Ifalna hob die Augenbrauen. „Seid ihr sicher, dass ihr das wollt?“, wandte sie sich an Cloud. „Es muss sein. Allerdings kann man das Material nicht beschädigen, glaube ich, und in unserer momentanen Situation haben wir kaum Möglichkeiten, irgendeinen Plan umzusetzen. Es sei denn ...“ Cloud ließ seinen Blick über die sinkende Sonne am Himmel schweifen. „... ich handele gleich von hier aus ...“ Kapitel 52: Suffer ------------------ Sephiroth starrte ihn verständnislos an. „Cloud, ich kann dir nicht ganz folgen.“ Cloud warf ihm einen kurzen Blick zu, aber anstatt ihm eine klare Auskunft zu geben, fuhr er damit fort, leise murmelnd in Kreisen umherzugehen, wobei er irgendetwas an den Fingern abzählte. „Ich hab’s“, sagte er schließlich. „Ja, aber was hast du? Sagst du es uns bei Gelegenheit mal?“ „Passt auf. Das hier ist keine Realität, sondern eine versetzte Realität, genaugenommen nennt man es die dritte Realitätsebene.“ Ifalna, Sephiroth und Bugenhagen warfen ihm teils zweifelhafte, teils erwartungsvolle Blicke zu. Er versuchte zwanghaft, sich das ins Gedächtnis zu rufen, was er seit fast sieben Jahren den Schülern der AVALANCHE einzutrichtern bemüht war. Der Realitätsfaktor a ist in allen drei Realitätsebenen gleich. P wird mit den Ausdehnungsfaktoren d1 für die erste Ebene und d2 für die zweite Ebene sowie a berechnet, und a ist mit 5 multipliziert immer proportional zur quadrierten Masse m des Lebensstroms. „Letztlich“, sagte er vorsichtig, „läuft es darauf hinaus, dass man ... theoretisch ... einen Übergang zwischen Miragia und der Außenwelt herstellen kann. Mithilfe von Lebensstrom, der sich in eine bestimmte Richtung ausdehnt ...“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Cloud“, sagte Ifalna gedehnt, „das nützt uns nichts. Nichts, verstehst du? Wir können den Lebensstrom nicht dazu bringen, sich in irgendeiner Weise auszudehnen –“ „Doch, können wir“, antwortete er überzeugt. „Und das bedeutet gleichzeitig, dass auf diese Weise das SPECULUM zerstört werden kann, wenn der bereits existierende Übergang – ihr wisst schon, durch den man als Normalsterblicher raus und rein kommt – implodiert, also in sich selbst zusammenfällt. Aeris sprach von einem Spiegel ...“ In Ifalnas Gesichts breitete sich jähe Furcht aus. „Cloud, lass den Spiegel da raus! Wir haben nur den einen! Tu nichts Unüberlegtes, bitte ...“ „Keine Angst, ich habe mir das bestens überlegt“, sagte er. „Der Spiegel funktioniert doch auf dieselbe Weise. Die Reaktion wird sich fortpflanzen wie eine Welle und sie wird aufgrund der Trägheit des Lebensstroms in der dritten Realitätsebene auch nicht anhalten!“ Eifrig nachdenkend setzte sich Cloud in Bewegung, vom Weidenhain fort. Zwar kannte er den Weg nicht, aber wenn sich der Wald der Toten in der Richtung befand, aus der er gekommen war, dann befand sich der positive Pol logischerweise auf der anderen Seite. Er war sich bewusst, dass ihm Sephiroth, Ifalna und Bugenhagen mit einigen Metern Abstand folgten. Was er vorhatte, war gefährlich; Aeris hatte ihm die Bedenken Sephiroths und der anderen Cetra mitgeteilt, was den Spiegel betraf. Sie konnten ihn benutzen, aber kein Besucher sollte es je versuchen. Cloud nickte Ophiem zu, der sich bereits vor einem Tor postiert hatte, das den Eindruck erweckte, aus Draht zu bestehen; es wirkte zierlich und doch überaus standhaft. Das erste, was Cloud sah, als er das Tor durchschritt, waren Dunkelheit und grünliche Schwaden von gasförmigem Lebensstrom. Sein Blick huschte durch die schattenhafte Einrichtung des rund aussehenden Raumes und entdeckte in der genauen Mitte einen schwebenden Spiegel, so groß wie er selbst. Na, sieht doch schon mal nett aus, dachte Cloud und ließ seine Fingerknöchel knacken. Wollen mal sehen, ob das Ding was taugt. Er ging zurück, um Anlauf zu nehmen. Im selben Moment erreichte ihn Sephiroth und packte seinen Arm. „Cloud, tu das nicht!“ „Du machst es doch auch so.“ „Aber ich bin bereits tot ... Cloud, niemand kann absehen, was das für Folgen hat!“ „Ich habe mir die Folgen gerade durchgerechnet. Ihr büßt eure Fähigkeit, die Außenwelt zu besuchen, nicht ein. Es ist ein Spiegel, und deswegen gibt es immer ein Spiegelbild. Wenn es nicht funktioniert, aus irgendeinem Grund, dann habe ich Pech gehabt. Wenn aber doch, dann ist das die einzige Chance für dich. Wirst du sie nutzen, als Lukretias Sohn, für deine Mutter?“ Er deutete mit dem Blick auf die Panflöte in Sephiroths anderer Hand. „Ich – ja, natürlich ...“ „Okay, danke.“ „Aber, Cloud ...“ „Nichts aber, lass mich los. Sonst platzt gleich Ifalna hier rein.“ Sephiroth ließ ihn los. Cloud atmete tief ein, dann rannte er auf den Spiegel zu, eine Beschleunigung aufbauend wie beim Weitsprung, den er als Leichtathletik-Kategorie in der Schule stets gehasst hatte. Die glänzende Oberfläche des Spiegels schimmerte trübe, nichtssagend und grünlich, weder einladend noch abweisend. Dennoch wartete er auf ihn. Mit einem Sprung stieß sich Cloud vom formlosen, mit Nebelschwaden überzogenen Boden ab und stürzte sich, den Kopf furchtsam zur Seite geneigt, vornüber mitten durch die Spiegelscheibe. Der Oberoffizier der Mittellandjustiz richtete seine Dienstwaffe auf Tifa. „Gehen Sie von ihm weg.“ „Wer weiß, was Sie ihm mit Ihrer Scheiß-Blendgranate für Schaden zugefügt haben!“, fauchte sie zurück. Beachtlicherweise waren sämtliche Gefangenen nach wenigen Minuten wieder erwacht; alle bis auf Strife, der nach wie vor mit halb geöffneten Augen auf der Seite lag und keine Regung tat. Seine Gefährten hatten sich um ihn geschart wie Hühner um einen Haufen Körner und redeten von allen Seiten auf ihn ein. Der Offizier war nicht der Einzige, dem das furchtbar auf die Nerven ging. Fawkes, der das Ganze still und ohne jede Unternehmung beobachtete, nur Helen gelegentlich einen gleichmütigen Blick zuwarf, zog es vor, dem SPECULUM näher zu stehen als jeder andere Anwesende. Er tat das, weil er sicher war, dass Lukretia sich zuerst auf denjenigen stürzen würde, der ihre Erfindung am ehesten zu bedrohen schien; Fawkes glaubte so die Anderen vor ihr schützen zu können. Ob das selbstlos, albern oder einfach nur dumm war, interessierte ihn in dieser angespannten Situation wenig. Früh genug würde einer der Soldaten darauf aufmerksam werden, dass Kommissar Taggerts Auftauchen längst überfällig war. Weiterhin fragte sich Fawkes, wo die von Yuffie Kisaragi herbeigeorderte Verstärkung blieb ... irgendwie verlief alles ganz und gar nicht nach Plan. Er seufzte, sah dann aber aus den Augenwinkeln, wie Strife sich mit einer trägen Handbewegung über die Augen fuhr. Cloud sah nur ein verschwommenes Bild, und die Realität traf ihn mit all ihrer Härte wie ein Hammer. „Ich bin zurück“, murmelte er. „Wo warst du, Cloud?“, flüsterte Aeris, sich zaghaft umsehend, und ergriff seine erkaltete Hand. Neben ihr beugten sich alle seine Freunde mit wenig aussagekräftigen Blicken über ihn. „Das SPECULUM ... ist es noch ...?“ „Es ist noch nicht weg“, raunte Tifa, „und wir sind auch noch nicht abgeflogen. Eigentlich sollten wir ja längst auf dem Weg nach Junon sein, wo die das Ding beschlagnahmen wollten ...“ Cloud schüttelte den Kopf. „Aber ich habe ... eine Überlastung ausgelöst ... es müsste eigentlich ... detonieren ... oder verschwinden ... ich weiß nicht.“ „Wovon redest du?“, zischte Cid. „Kannst du dich nicht auch ohne Fachsprache verständlich machen?“ Cloud erhob sich mit einem Seufzen vom Boden, wurde sich bewusst, wo er war und sah sich um. Er begegnete dem Blick von Henry Fawkes und wandte sich zornerfüllt von ihm ab. „Verdammt noch mal, da sitzen wir aber ordentlich in der Patsche! Wo ist Taggert, das Walross?“ „Wir wissen es nicht. Er ist nicht aufgetaucht. Cloud, jetzt sag doch, was du gemacht hast –“ „Nicht jetzt.“ Cloud biss sich auf die Lippen. Er hatte versagt, seine Rechnungen waren fehlgeschlagen. Lukretia würde das Lied nicht hören, das SPECULUM würde nach Junon gebracht ... warum all das? Hatte er diese Mühen, Befürchtungen und Wagnisse gänzlich umsonst auf sich genommen? Das war einfach nicht fair. Er spürte, dass ihn Henry Fawkes immer noch anstarrte und dass in seinem Blick so etwas wie eine stille Übereinkunft lag. Er nickte Cloud kaum merklich zu. Cloud verstand nicht. Im selben Augenblick begann der Boden zu vibrieren. Kalte Klauen schlangen sich um Clouds Hals, und als er hektisch um sich sah, fiel ihm mit erschreckender Eindringlichkeit auf, dass es keinem Anderen in diesem Raum anders ging. Alle wichen mit furchterfüllten Gesichtern vor etwas Unsichtbarem, Furchteinflößenden zurück, das einen emotionsgeladenen Druck auf ihre schwachen Gemüter ausübte. Tifa warf Cloud einen angstvollen Blick zu und griff sich an den Hals, Nanaki fröstelte unter der grausigen Einwirkung, und Cloud selbst spürte Lukretias Klauenhände nicht weniger stark. Sie nutzt ihre Chance. Sie will es beenden. Auf dem falschen Weg ... Als nun Lukretias Wüten alle Umstehenden wie eine Krankheit befallen hatte und recht schnell an Intensität zunahm, entging jedoch niemandem, dass neben ihrer zornigen, bösartigen Kraft noch etwas Anderes existierte, etwas gleichfalls Unsichtbares, das sich auf eine andere Weise äußerte; schwächer, weniger tobend, wenn auch mit nicht minder starkem Druck, von tiefgründiger Melancholie erfüllt. Cloud brauchte nicht lange, um es zu erkennen ... oder besser gesagt ihn. Er und Aeris tauschten einen flüchtigen Blick, und ihre Lippen formten, genau wie seine, das Wort Vincent. Das kann nicht der richtige Weg sein, warum geht ihr ihn alle? fragte Cloud, von Depressionen beinahe in die Ohnmacht gewürgt, die beiden Teilexistenzen in seiner unmittelbaren Umgebung. Von dir hätte ich das nicht erwartet, Vincent ... aber ich weiß, dass du bis zum Ende nicht aufhören konntest, sie zu beschützen ... du wurdest enttäuscht ... und du kannst nicht aufhören, das zu tun, was du dir einredest, dringend tun zu müssen ... Einige Soldaten stürzten unter Schmerzen zu Boden, und aus ihren Mündern, Ohren und Nasen sickerte bereits Blut. Dieses Mal ließ Lukretia ihrem Zorn so freien Lauf wie lange nicht, jetzt da sie ihre Kräfte auf ein Maximum zusammengerafft hatte. Vincent konnte sie entweder nicht aufhalten oder wollte es nicht. Kapitel 53: The Crash --------------------- Cloud wurde mit einem Mal klar, dass die sanfte Vibration, die den Boden der Highwind erfüllte, nicht von Lukretia ausging. Es war das SPECULUM, das wellenförmig seinen wenig harmonischen Ruf aussandte und dabei mehr und mehr an Stabilität verlor. Ich wusste es ... ich habe nur vor lauter Aufregung nicht daran gedacht. Jeder Aktivierung einer Reaktion mit Lebensstrom folgt immer eine gewisse Verzögerungszeit ... und die ist jetzt vorüber. Nun folgt die Detonation. Das SPECULUM schien sich voll zu saugen mit Erschütterungen, schien sich aufzuladen mit MAKO-Energie, die es im Moment des Zusammenbruchs selbst produzierte. Es leuchtete, stieß seine verseuchten Strahlen wie leuchtende Speere von sich, inmitten dieser Massen sich windender, vor Schmerzen kreischender Menschenleiber, die Lukretia zu zerfleischen suchte. Die Helligkeit war überwältigend und entbehrte nicht einer gewissen Dramatik; die Erschütterungen folgten in Abständen von Sekunden und brachten das Transportflugzeug gefährlich zum Schwanken. Mittlerweile drohten Cloud seine Kräfte zu verlassen. Die Maschine der Cetra hauchte vor seinen Augen ihr Leben aus und verwandelte es in ein gleißendes Feuerwerk, das alles Lebendige um sich herum verzehrte. MAKO-Strahlen von solcher Intensität – nicht mehr flüssiger Lebensstrom, sondern eine plasmatische, hochenergetische Substanz, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hatte – konnte kein Lebewesen überleben, und wo auch immer sie auf etwas Organisches stießen, fraßen sie es bis auf das Letzte Molekül auf, als wäre es nie gewesen. Resigniert wurde Cloud sich klar, dass er zwar das SPECULUM vernichtet und damit die Cetra gerettet hatte, dass er jedoch mit seinem Eingriff jeden, der sich auf der Highwind befand, rettungslos zum Tode verurteilt hatte. Als er sich aber gerade hinlegen und versunken in seinem eigenen Kummer die Augen schließen wollte, schwoll ein sanfter, lieblicher Ton an und erfüllte den Frachtraum mit ungeahnter Intensität. Es war die Panflöte aus dem Verheißenen Land, die das Geburtslied des Alten Volkes in die Außenwelt sandte, einzig um der Mutter desjenigen, der sie spielte, ewigen Frieden zu schenken. Die Soldaten, die sich brüllend zu Boden geworfen hatten, hörten zur selben Zeit auf zu schreien. Entweder taten sie das, um die überirdische Musik besser hören zu können, oder weil Lukretias Griff sich von ihnen zu lösen begann. Cloud selbst spürte, wie sie prompt reagierte, wie ihre Einwirkungen schwächer wurden, als würde ihr Wille, Leid und Schmerzen zu verbreiten, mehr und mehr schwinden. Schließlich zog sie sich zurück und gab all ihre Opfer endgültig frei. Längst erklang das Flötenlied so volltönend in den Ohren aller Anwesenden, dass Schmerzen vergessen wurden und sich trotz aller Aussichtslosigkeit Ruhe und tiefe Zufriedenheit in jedem ausbreitete. So würde ich den Tod gern in Empfang nehmen, dachte Cloud besänftigt, endlich bestätigt darüber, dass all seine Pläne geglückt waren. Wenn er auch sterben würde, so wie jeder Andere in diesem Raum, so war es ein Tod, wie es keinen süßeren geben konnte. Es schien, als tat das SPECULUM einen letzten Atemzug. Eine Lichtkugel, erfüllt von fluoreszierendem Silberstaub, hüllte es vollkommen ein und bäumte sich auf wie ein Recke, der kurz vor seinem Fall noch einen letzten tödlichen Stoß an seine Feinde ausführt. Lichtblitze zuckten, dann löste sich die schillernde Wand der Maschine auf, fiel auseinander, verblasste. Hebel fielen ab, Knöpfe verschwanden. Der Lichtschein auf der Flanke des SPECULUMS nahm einmal mehr die Form einer Träne an und zog sich dann irisierend in die Helligkeit des zerfallenden Außenmaterials zurück. Das ist das Ende. Jetzt folgt die Druckwelle, die uns alle auslöschen wird. Wie ironisch ... die Highwind wird hier stehen, als sei nichts passiert, als habe sie nie jemand betreten ... Die Lichtkugel des SPECULUMS breitete sich mit einem Mal aus und verschluckte, was in ihre Nähe kam. Cloud fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah ihr dann scheu entgegen, während sie ihre heiße, tödliche Umarmung ohne jedes Zögern auf ihn zu sandte. Ehe die Lichtwand ihn und seine Freunde, die ebenso reglos um ihn herumsaßen, erreichte, bewegte sich etwas Anderes in ihren Weg. Etwas, das keine Gestalt hatte, aber dennoch seine Existenz nicht würde leugnen können. Cloud spürte die Nähe am ganzen Körper, und er erkannte sie sofort als die von Lukretia und Vincent. Beide zusammen schlossen sie ihre Energie gleich einem Schutzschild um Clouds Körper und die der Anderen. Sie sandten kein Leid und keinen Zorn mehr von sich, als sie das taten; viel mehr ging eine Ruhe von ihnen aus, wie nur das Lied der Cetra es hatte bewirkt haben können. Sanftes, kaum merkliches Funkeln vor den Augen und ein Kribbeln am ganzen Leib erfüllte Cloud, als die Lichtkugel ihn einschloss und hinter ihm durch die Außenhülle der Highwind ins Nichts entschwand. Er erlitt keinerlei Schaden. Sie hatten ihn vor dem Tod bewahrt, ihn und Aeris, Tifa, Barret ... auch Helen und Henry Fawkes, der dem SPECULUM bereits bedrohlich nahe gewesen war. Lukretia und Vincent hatten gleichermaßen ihren Frieden gefunden und ihn mit Anderen geteilt, um deren Leben zu retten. Cloud verstand die Bedeutung dieser Tat und erinnerte sich unwillkürlich an Aeris’ Worte, die sie einst an ihn gerichtet hatte: Menschen tun nur Gutes, wenn es sich für sie lohnt. Es passiert selten, dass jemand von sich aus, ganz allein und ohne jeden Hintergedanken etwas tut, das Anderen oder der Allgemeinheit nutzt. Wir nennen das eine reine Intention, und die ist sozusagen ... eine Fahrkarte ins Verheißene Land. Von jäher Erwartung gepackt, hob Cloud den Kopf und sah das Licht langsam verblassen. Das SPECULUM war fort, pulverisiert, und mit ihm alle ehemals anwesenden Soldaten der Mittellandjustiz. Clouds Blick trübte sich vor Tränen, aber aus den Augenwinkeln sah er, wie sich aus dem Nebel um ihn herum die Silhouetten zweier weißer Tauben lösten und flatternd nach aufwärts strebten. Hubschraubergeräusche durchbrachen den rot hervorbrechenden Morgen nur kurze Zeit später. Eingehüllt in die Strahlen einer aufgehenden Sonne setzten drei riesige Helikopter auf der Wiese auf, unmittelbar zwischen den unglücklich postierten und nunmehr unbemannten Kampfflugzeugen der Mittellandjustiz. Auf ihren ovalförmigen Rümpfen stand in fetten gelben Buchstaben der Name AVALANCHE. Cloud glaubte zu hören und zu sehen, wie sich Männer und Frauen in entsprechenden Uniformen um ihn und seine Freunde versammelten und diese behutsam versorgten. Kurz darauf wurde er selbst sanft an der Schulter berührt. „He, Cloud, hörst du mich?“, drang eine vertraute männliche Stimme an sein Ohr. „Mann, du bist ja ganz voller ... Staub? Was ist denn das für’n Zeug?“ „Vater?“, murmelte Cloud müde. „Jepp, das bin ich und werde ich immer sein. Sag mal, bist du verletzt? Was ist denn das für ein schicker Umhang? Obwohl, der fällt ja bald auseinander ... egal, komm, steh auf.“ Skylar Goodsworth’ Arme griffen unter Clouds Schultern und stellten ihn auf die Beine. Cloud fürchtete, seine Knie würden unter ihm wegknicken, und griff mit einer zitternden Hand nach der Schulter seines Vaters. „Aber wie ... wie kommt ihr hierher ...?“ „Die AVALANCHE hat mich mitgenommen. Weißt du, Yuffie hat mich auf dem PHS angerufen und mich gebeten, sofort alle in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das war etwas chaotisch, aber so schnell wie möglich sind dann alle zusammengekommen ... und jetzt sind wir eben hier.“ „Aber Yuffie ... wurde von Taggert gefangen gehalten ...“ „Oh, keine Angst, sie erfreute sich bester Gesundheit, als wir ankamen ... weder war sie gefesselt noch irgendwie verletzt.“ „Jaha, weil ich nämlich ein schlaues kleines Mädchen bin!“, ließ sich Yuffies nervtötende Stimme in unmittelbarer Nähe vernehmen. „Weil wir so gut zusammengearbeitet haben, gelle, Mister Fawkes?“ „Ja, vermutlich“, murmelte Henry Fawkes in einiger Entfernung. Cloud glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Moment mal –“ „Schon okay, Cloud, ich erklär’ euch nachher bis ins kleinste Detail, wie geschickt wir diese Rettungsaktion eingefädelt haben. Vorausgesetzt natürlich, du erzählst uns, wie du schon wieder eine so aussichtslose Situation in einen vollen Erfolg verwandelt hast!“ „Das würde ich auch gerne wissen“, bekräftigte Cid, der an einer Wand lehnte, sich Staub von der Hose klopfte und seine Schussverletzung geduldig von Fachkräften untersuchen ließ. „Du bist und bleibst mir einfach ein Rätsel, Cloud.“ Cloud, immer noch gestützt von Skylar, rang sich ein schwaches Lächeln ab. Ein Rätsel zu bleiben würde ihm nicht viel ausmachen. „Jetzt komm aber, Cloud, und halt dich gerade. Wir bringen euch alle nach Junon ins HQ. Draußen wartet eine Schar Halbwüchsiger ... wie die hierher kommen, weiß ich auch nicht. Jedenfalls wollen sie dich alle sehen.“ „Das sind meine Schüler.“ Skylar furchte die Stirn. „Ah ja ... reizende kleine Persönchen.“ „Man lernt sie lieben, irgendwann.“ „Kann ich mir denken. Äh. Na gut. Jetzt aber los.“ Gemeinsam schleppten sie sich alle in die Transporthubschrauber der AVALANCHE, die sie verlässlich nach Junon brachten. Als sie das HQ erreichten, war die Sonne bereits hoch am Himmel aufgestiegen und kündigte trotz winterlicher Frische einen herrlichen neuen Tag an. Kapitel 54: Epilog ------------------ Der Klassenraum war erfüllt von konzentriertem Gemurmel. Cloud wusste, dass er eine schwierige Aufgabe gestellt hatte, eine harte Nuss, die nur seine besten Schüler würden lösen können: Wie dehnt sich a aus, wenn d1 und d2 außer Acht gelassen werden, dafür aber m eine Unproportionalität zu 5a zugewiesen wird und P sich auf alle drei Realitätsebenen bezieht? Es war eine hundsgemeine Aufgabenstellung ... Gemächlich schlenderte Cloud durch die Klasse, lauschte dem Kritzeln von Füllfederhaltern auf Karopapier und dem aufgeregten Getuschel zwischen den Sitzreihen. Hin und wieder warf er einen forschenden Blick über die Schulter eines Schülers, der daraufhin meistens inmitten eifrigen Schreibens Inne hielt, da er sich beobachtete fühlte, und erst fortfuhr, als Cloud weitergegangen war. Sein weinroter Umhang, am Saum zerfleddert wie eh und je, flatterte lautlos hinter ihm her. Es war der sechzehnte Januar, sein erster Arbeitstag seit den jüngsten Ereignissen, für die AVALANCHE-Jugend der erste Schultag. Er war überrascht, wie gut seine Schüler all das verarbeitet hatten. Naja, schließlich hab’ ich sie ausgebildet. Kein Wunder, dass sie alle recht hart im Nehmen sind, was? Er zog weiter seine Kreise, bis er neben Boris’ Platz zum Stehen kam. Was dieser sowieso sehr dreiste Junge da schon wieder trieb, sah verdächtig wenig nach Rechnen aus ... dazu wären nicht solche Mengen an Tinte nötig gewesen. „Boris, was machst du da?“ Der Angesprochene fuhr auf wie eine losgelassene Sprungfeder, sich gar nicht gewahr darüber, dass Cloud hinter ihm angehalten hatte. Aber Boris hatte schneller seine Fassung wieder, als es einem Lehrer manchmal lieb war. „Ich male“, sagte er trotzig. „Ah ja. Und was wird das?“ „Ein ... Kasper.“ Er zeigte Cloud das Papier, auf welchem mit Tinte der Kopf eines pausbäckigen Männleins gemalt war, das eine Narrenkappe trug. „Na, das ist ein guter Start. Schließlich fangen ja die meisten großen Künstler zunächst mit Selbstportraits an.“ Die Klasse kicherte verhalten, einige glucksten. Boris warf Cloud einen kurzen Blick zu, dann zog er seinen Kragen hoch und verdeckte sein Gesicht darunter. „Und das wird jetzt wohl eine Tarnkappe?“, erkundigte sich Cloud, während die Umsitzenden sich über Boris’ albernes Aussehen amüsierten. „Ja, für den nächsten Sturmangriff“, nuschelte Boris. „Außerdem will ich erreichen, dass Sie mein Gesicht nicht erkennen, damit Sie, wenn Sie vorne bei Ihrem Pult angekommen sind, nicht wissen, wen Sie ins Klassenbuch eintragen wollten.“ „Denkst du, dass ich das auf halbem Wege vergesse?“, fragte Cloud gespielt vorwurfsvoll und stützte sich mit beiden Ellenbogen auf Boris’ Tisch. „Also, Mister Callaghan, Sie rechnen jetzt lieber weiter, nicht wahr, sonst droht Ihnen eine Disziplinarstrafe.“ „Verstanden, Sir!“ Boris salutierte und steckte tatsächlich das Kasper-Kunstwerk in die Tasche, um ein sauberes Blatt hervorzuholen. Cloud nickte, erhob sich dann und sah die ausgestreckte Hand von Vicky Rave, die ihn mit einem Blick fixierte, der um Aufmerksamkeit geradezu bettelte. „Augenblick, meine Lieben. Vicky, was möchtest du sagen?“ „Ich finde“, begann sie in ihrem wenig intelligenten Tonfall, „dass wir über das sprechen sollten, das passiert ist. Also, was überhaupt passiert ist, wieso es passiert ist und was die Folgen davon sind.“ „Findet ihr, dass sie Recht hat?“, wandte sich Cloud an den Rest der Klasse, und einstimmiges Gemurmel erhob sich. „Na gut, wie ihr möchtet. Dann räumt jetzt euer Rechenzeug weg, wir lassen die Aufgabe noch an der Tafel.“ Er schritt durch den Gang nach vorn, damit alle ihn sehen konnten, und begann zögerlich seinen Bericht der ganzen Angelegenheit, bedacht darauf, sie kindgerecht zu vermitteln, ohne Einzelheiten auszulassen. Er benötigte die ganze Schulstunde und auch die Hälfte der folgenden, ehe er zu einem Ende fand. „... aber euer Auftritt“, schloss er mit an Kaine gerichteten Blick, „war definitiv einer der Höhepunkte des Tages, das muss man euch einfach lassen. Aus euch wird noch etwas, Leute, wenn ihr weiter daran arbeitet.“ „Was passiert denn jetzt mit dem Geheimkeller?“, rief Emma über die Tische. „Wird der freigeschaufelt?“ „Meines Wissens ist das bereits erledigt“, antwortete Cloud, „und die AVALANCHE wird bei Gelegenheit jeden Winkel davon unter die Lupe nehmen.“ Boris meldete sich spontan. „Gibt es Kommissar Taggert und die Mittellandjustiz noch? Was ist mit dem ERCOM-Typen passiert?“ „Die Mittellandjustiz“, antwortete Cloud, „gibt es noch, denn ohne sie wären wir schon irgendwo schlecht dran. Allerdings wurden eine Reihe Personen ihrer Ämter enthoben, darunter auch Kommissar Taggert, wie ihr euch denken könnt. Diese Posten werden neu besetzt werden, von fähigen Anwärtern, wie ich hoffe. Was Fawkes betrifft, ihm droht lediglich eine Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung, nachdem wir als Zeugen auftreten mussten um klarzustellen, dass nicht die ERCOM die Mittellandjustiz bestochen, sondern die Mittellandjustiz die ERCOM bedroht hatte. Allerdings wird die ERCOM sich nunmehr auf die ihr zugewiesenen Gebiete beschränken. Ihr seht also ... alles wendet sich letztlich wieder zum Guten. Halbwegs.“ „Wird man dann Reds Artgenossen aus den Reagenzgläsern klonen?“, wollte Jenny Flint wissen. „Ich weiß es nicht. Wenn ich etwas Näheres erfahre, seid ihr die ersten, denen ich’s mitteile, okay?“ Damit waren seine Schüler zufrieden. Nach und nach holten sie alle ihre Geschichtsbücher für den Unterricht hervor, nun da ihr Wissensdurst gestillt war. Cloud blieb stehen. Er erinnerte sich an die Geschehnisse der letzten Tage, von denen er seinen Schülern nichts mitgeteilt hatte – zum einen die Unterschrift des Bürgermeisters von Nibelheim auf jenem Vertrag, der die Überreste der Shin-Ra-Villa unter Denkmalschutz stellte ... zum anderen das Untersuchungsteam der AVALANCHE, das sich – anders als die ERCOM – damit beschäftigen durfte, den ganzen Geheimschacht durchzusehen, zu reinigen und das gesamte angesammelte Material der Forschungsergebnisse zu studieren ... und natürlich Tifas Wiedereinstellung in den Beruf der Botschafterin, den sie seither wieder pflichtbewusst übernahm. Er erinnerte sich aber auch an die Verbrennung von Vincents Leichnam, die grelllodernden Flammen mit den sich auftürmenden Rauchmassen in der kalten Winterluft und die Schar von Tauben, die sich der eher kleinen Gruppe engster Freunde hinzugesellt hatte. Sephiroth hatte auf Clouds Schulter gesessen, Ifalna auf der von Aeris, die anderen Cetra tummelten sich wie eine einzelne wogende Schneemasse auf dem trockenen Gras. Nur die beiden jüngst ins Verheißene Land aufgenommenen Beschützer des Planeten hatten etwas abseits gehockt, dicht beieinander mit sich berührenden Schnäbeln und in die Glut gestarrt. Es war vollbracht, abgeschlossen, alles hatte zu einem Ende gefunden, einem natürlichen Ende. Die Gedanken zogen sich zurück; Clouds Blick glitt zum Fenster und erhaschte seinen Chocobo auf der Wiese des Schulhofs, wie er angeschlossene Fahrräder anknabberte. Choco würde einfach nie klug werden. Aber wer war schon klug? Kapitel 55: Was sonst noch geschah ---------------------------------- Achter Februar. Cloud öffnete die Augen und erwachte dicht neben Aeris halb auf einem Bett liegend, das nicht sein eigenes war. Es musste so um die Mittagszeit sein. Sobald er sich aufsetzte, jagte ihm eine Reihe Hammerschläge gegen die Innenseite seines Schädels, und er griff sich an die Stirn. „Autsch. Verdammter billiger Fusel.“ „Na, Cloud, bist du wieder halbwegs du selbst?“, witzelte Aeris mit schlaftrunkener Stimme von irgendwo unter der Decke. „Weiß nicht. Ich kann mich kaum noch an gestern erinnern. Aber ich glaube zu wissen, dass es eine glänzende durchsoffene Party war, die wir da für deinen dreißigsten geschmissen haben, meine Liebe, nicht wahr?“ „Es war klasse“, sagte sie verträumt. „Ich konnte zwar keinen Alkohol trinken, aber ich hab’ mich trotzdem amüsiert ... nicht zuletzt über euch.“ Cloud lehnte sich mit verschränkten Armen neben sie in die Kissen zurück. „Ich glaube, ich war seit Jahren nicht so betrunken wie gestern.“ „Da warst du nicht der Einzige, falls es dich tröstet. Ich glaube, Barret kannte seinen eigenen Namen nicht mehr.“ „Was haben wir überhaupt die ganze Nacht gemacht?“ „Gefeiert natürlich. Wir haben uns bestens amüsiert. Wir haben Trivial Pursuit gespielt, aber ihr wart alle schon so dicht, dass ich Runde um Runde gewonnen habe, da als Einzige nüchtern.“ Sie tippte ihm mit dem Finger sacht gegen die Seite. „Aber du bist niedlich, wenn du betrunken bist.“ „Na ja, solange ich nicht herumschreie oder mit Dingen um mich werfe ...“ „Ach Quatsch, ihr habt euch alle passabel benommen.“ „Auch Yuffie?“, fragte er zweifelnd. „Och, na ja, Yuffie hat sich ständig übergeben, aber das ist ja immer so ...“ „Ah ja ... richtig. War schon immer ein Problem. Inzwischen kümmert sich kaum einer mehr darum, sondern weicht nur einfach der nächsten Ladung zur Seite aus ... äh. Wie spät ist es?“ Aeris warf einen Blick auf die Nachttischuhr. „Kurz nach Eins am Nachmittag.“ „Hm. Ich kann mich nicht erinnern, dieses Zimmer betreten zu haben ...“ „Hast du auch nicht, Reeve und ich haben dich ins Bett getragen. Dass wir hier in Helens Haus gefeiert haben, das weißt du aber noch?“ „Oh, ja, natürlich. Du hattest ja nicht nur uns, sondern auch sie eingeladen, woraufhin wir die Party einfach hierher verlegt haben. Dass sich Willi und Kai mal wieder selber einladen würden, war ja nicht vorherzusehen.“ „Willi und Kai?“ „William’s Christ und Caipirinha. Das Zeug ist tödlich. Mein Kopf fühlt sich an wie ein laufender Presslufthammer.“ „Das hat ein Kater nun mal so an sich.“ „Apropos Kater ... wer füttert denn Nox?“ „Miss Nightley wird das übernehmen“, antwortete Aeris und schwang sich munter aus dem Bett. „Jetzt aber raus, dann mach’ ich dir auch ein Wundermittel zurecht, damit deine Kopfschmerzen weggehen.“ „Danke.“ Cloud rieb sich die Stirn, stieg aus dem Bett und folgte ihr schwankend zur Treppe. Auf dieser kam den Beiden eine müde und zerzaust aussehende Tifa entgegen, die Clouds Jacke trug. „Morgen, ihr zwei.“ „Hallo Tifa ... sag mal, wieso hast du meine Jacke an?“ „Keine Ahnung. Bin damit aufgewacht. Ich glaube, du hast sie mir gegeben, weil mir so kalt war ... kein Wunder nach all dem Schnaps.“ Sie wischte sich mit dem Finger eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. „Es ist komisch, oder? Nach so einer Nacht wache ich jedes Mal mit einem pelzigen Geschmack auf der Zunge auf und frage mich, warum ich gerade jetzt Lust auf kalte Pizza habe.“ Cloud grinste trotz des pochenden Protests in seinem Kopf. „Wir haben schon verdammt viele solcher Partys gefeiert, früher.“ „Ja, hast Recht“, stimmte Tifa ihm mit einem Anflug von Nostalgie zu. „Oft haben wir in der Shin-Ra-Villa gefeiert. Vincent hat sich nie zurückgehalten, obwohl er von uns allen den Alkohol mit schlechtesten vertrug.“ „Er war nie sehr trinkfest, das stimmt. Aber ich fand es nicht schlecht, wenn er so lustig wurde. Dann hat er Dinger rausgehauen, hui, damit hätte man nie gerechnet ...“ Er seufzte leise, als ihm erneut klar wurde, dass derartige Erinnerungen letztlich verblassen und aus seinem Leben verschwinden würden. Vincent würde an keiner Party mehr teilnehmen, und statt ihm würde es nun Aeris sein, die in Trivial Pursuit am häufigsten gewann. Aber trotzdem ... Vincent war mit Lukretia im Verheißenen Land, und dort gehörten die Beiden verdammt noch mal hin. Ehe Cloud mit Aeris die Treppe erreichte, stürmte ihnen ein putzmunterer Nanaki entgegen. „Na, ihr Nachteulen?“ „Boah“, stöhnte Cloud. „Wieso geht es dir so gut und mir nicht?“ „Weil Alkohol für Jugendliche ungesund ist und ich ein vernünftiger Jugendlicher bin“, antwortete Nanaki fröhlich und huschte vorbei. Cloud rollte die Augen. „Mal gucken, wer mir auf dem Weg ins Wohnzimmer noch über den Weg läuft ...“ Er stieg die Treppe herunter und schaute sich um. Die Spuren des nächtlichen Gelages prägten den Anblick des gesamten unteren Stockwerkes. „Oh, haben wir das etwa alles getrunken ...?“ „Ich würde wohl kaum ein paar leere Flaschen dazustellen, damit es mehr aussieht“, sagte jemand aufgesetzt vorwurfsvoll und sammelte einige Gläser vom Tisch. „Du bist ... ja auch schon wach.“ „Ja, zum Glück. Als ich aufgewacht bin, dachte ich noch, ich wäre tot und läge als Tequila-Leiche unter diesem Tisch“, antwortete Henry Fawkes und klopfte mit dem Fingerknöchel auf die Spanholzplatte, als er daran vorbeiging. Cloud fuhr sich mit der Hand durch das abstehende strohblonde Haar. „Und, Helen schon wach?“ „Nein, die schläft wie ein Baby.“ „Na Gott sei Dank, dann können wir das Chaos noch wegräumen, bevor sie wieder zu sich kommt und einen Herzanfall erleidet.“ „Ja, gute Idee. Wenn ihr wollt, dann fangt doch mit den Flaschen in der Küche an. Das heißt, wartet ... da ist ja noch was Wichtigeres.“ Er trat zum Fenster und zog die Jalousien so weit hoch, dass man nach draußen sehen konnte. Das ganze Fensterbrett war komplett besetzt mit weißen Tauben, die neugierig durch die Scheibe linsten. „Oha“, war der einzige Kommentar, der sich Clouds Lippen entwand. „Warten die schon lange?“ „Scheint so. Vielleicht wollen sie nachträglich dem Geburtstagskind gratulieren“, antwortete Fawkes mit einem Seitenblick auf Aeris, die eine Hand auf ihren prallen Bauch gelegt hatte. „Ich geh raus“, murmelte sie, löste sich von Clouds Arm und ging zur Tür. „Ihr könnt schon mal mit Aufräumen weitermachen.“ Cloud und Fawkes sahen ihr nach, dann tauschten sie einen gleichmütigen Blick, zuckten die Schultern und wandten sich schließlich den Mengen an herumstehenden Flaschen zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)