The Mirror Of The Ancients von CaroZ (Miragia-Trilogie 2) ================================================================================ Kapitel 19: Judgement Day ------------------------- Nach einer sehr durchwachsenen Nacht, in der sich Schlaf und Wachsein unregelmäßig abgewechselt hatten, öffnete Cloud langsam wieder die Augen. Er sah sich um und hatte nun die Gewissheit, dass alles, an das er sich erinnerte, kein böser Traum oder Produkt seiner wirren Fantasien gewesen war. Es war passiert, er war in der Maschine gewesen, hatte Vincent erschossen und war verhaftet worden. Genau wie seine Gefährten, die er schon wieder in etwas mit hineingezogen hatte, das auch für sie gefährlich werden würde. Er fühlte sich schlecht. „Es gibt nicht einmal ein Fenster.“ Nanaki blickte traurig zur Tür, durch deren Spalt ein wenig Sonnenlicht hereinschien. Ansonsten war es immer noch ziemlich dunkel in der kleinen Gemeinschaftszelle auf der S.S.Botterscotch. „Hast du erwartet, die wären hier auf unseren Komfort bedacht?“, gab Tifa übellaunig zur Antwort. „Ich sag’ dir, was gleich kommt: Entweder Komissar Taggert persönlich oder einer von seinen Bücklingen, und dann zücken sie Zettel und fragen uns, was wir zu unserer Verteidigung zu sagen haben, und dann verurteilen sie uns. Unsere Strafe wird sicherlich nicht gerade milde ausfallen.“ Nanaki fuhr sich mit seiner hellrosa Zunge über die Lefzen, bevor er leise nachhakte: „Und in Junon – die ist immer noch in Betrieb ...?“ „In Junon ist die was noch in Betrieb?“ Bevor Tifas fellbedeckter Freund ihr eine Antwort geben konnte, öffnete sich die schwere Eisentür mit unheilvollem Knarren, was die Gefangenen dazu veranlasste, synchron die Köpfe zu heben. Ein Mann trat ein und lächelte. „Hallo, Miss Lockheart.“ Tifa bleckte die Zähne. „Sie schon wieder!“ „Nur nicht aufregen. Ich hatte Ihnen gesagt, dass es so kommen würde, aber keiner von Ihnen hat Anstalten gemacht, meinen Aufforderungen Folge zu leisten – war es nicht so?“ „Und ich hatte bis zu Ihrem Auftauchen wirklich gedacht, die ERCOM sei wenigstens teilweise noch ein ehrenhaftes Unternehmen. Aber das ist sie wohl genauso wenig wie die Mittellandjustiz.“ Stolz reckte sie ihr Kinn vor. „Kommen Sie schon näher und ergötzen Sie sich an unserer Niederlage, Fawkes.“ Er schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich nicht hier. Weder ich noch Kommissar Taggert werden Sie und Ihre Freunde so einfach unter den Tisch fallen lassen.“ Dabei erschien wieder das sonderbare Lächeln auf seinen Lippen. „Sie bekommen alle eine faire Gerichtsverhandlung direkt vor den Argusaugen des Gesetzes. Allen voran natürlich Mister Strife ... wegen Mordes an Mister Valentine.“ Alle Augen richteten sich auf Cloud, der schlaff wie eine Marionette in seinen Fesseln hing. „Das war kein Mord“, sagte Tifa schließlich mit fester Stimme. Fawkes zuckte nur die Schultern. „Eben das muss noch geprüft werden. Tatsache ist, dass er Mister Valentine mit dessen Waffe getötet hat, und zwar mit voller Absicht, dass er weder unzurechnungsfähig war noch im Unklaren über sein Handeln. Was er sich hat zuschulden kommen lassen, das weiß er genau. Deswegen wird es für ihn ein schwieriges Unterfangen werden, vor Gericht seine Unschuld zu beweisen.“ Er und Tifa starrten einander eine Zeitlang in die Augen, keiner von beiden blinzelte oder wandte den Blick ab – bis es letztlich doch Henry Fawkes war, der ihr den Rücken zukehrte und sich auf leisen Sohlen empfahl. „Was für ein Stinktier“, fauchte Tifa, „ich hasse ihn. Noch mehr als Kommissar Taggert. Zum Donner, wie konnten wir überhaupt in so etwas hineingeraten? Wir wollten doch nur verhindern, dass die Shin-Ra-Villa abgerissen wird, und dazu hatte die ERCOM verdammt noch mal kein Recht!“ Wütend ballte sie die Fäuste. „Ich glaube eher, dass das alles Taktik is’“, ließ sich Barret in ruhigerem Ton vernehmen. „Zum Einen sind die ERCOM und die Mittellandjustiz eindeutig auf dasselbe Ziel konzentriert und arbeiten gemeinsam darauf zu. Die Regeln halten beide nich’ ein, aber sie versuchen nicht, sich gegenseitig auszuspielen. Es muss sich zudem um irgendwas handeln, das nich’ an die Öffentlichkeit gelangen darf.“ „Ja. Prima. Und was sollen wir jetzt machen? Was?“ „Was schon? Abwarten, wozu wir verurteilt werden. Vielleicht Zwangsarbeit oder so.“ Tifa seufzte, aber bevor sie etwas dazu erwidern konnte, öffnete sich die knarrende Tür ein weiteres Mal und brachte einige Strahlen von Sonnenlicht mit herein – und außerdem einen Soldaten der Mittellandjustiz. Es handelte sich um einen jungen Mann mit strähnigem, wasserstoffblonden Haar und einem einfältig wirkenden Blick. „Wie spät ist es?“, wollte Tifa als erstes wissen, bevor sie ihn zu Wort kommen ließ. „Äh – oh.“ Der Wärter sah auf seine Armbanduhr. „Es ist ... gleich halb Acht am Morgen. Ich bin hier, um Sie zum Gerichtssaal zu eskortieren.“ „Also befinden wir uns mit diesem Ding hier direkt vor Junon?“ „Ja, so ist es. Ich werde die Ketten lösen und Sie bitten, mir zu folgen. Augenblick.“ Barret war erstaunt darüber, dass die Mittellandjustiz nur einen einzigen Mann schickte, um vier Gefangene vor das Hohe Gericht zu führen. Das war überaus wagemutig, irgendwie ... Andererseits blieben sie alle vier in einer Reihe aneinandergekettet, die Hände zusammengebunden. Eine Flucht war keinem von ihnen möglich. Minutenlang folgten sie dem Soldaten durch das Hauptgebäude der AVALANCHE, den Ausbildungstrakt, in welchem Cloud unterrichtete, und schließlich den eher kleinen Teil des Hangars, über den die Mittellandjustiz verfügte. Gleich hinter diesem befand sich ein weiterer Trakt, der Justizpalast, der allerdings mit einem Palast wenig gemeinsam hatte. „Ich bin mal gespannt, was sie alles für geschmierte Zeugen anschleppen“, murmelte Barret. „Auf das Urteil bin ich eher gespannt“, kam es leise von Tifa. Den Rest des Weges lang war letztlich das leise Rasseln der Ketten das einzige Geräusch, das die unangenehm sterile Stille stetig durchbrach. Yuffie wollte ihren Ohren nicht trauen, als ihr berichtet wurde, was sich – angeblich, denn sie war nicht bereit, es zu glauben – zugetragen hatte. Reeve, der hinter ihr stand, hatte wie als Ansatz zum Sprechen den Mund geöffnet, sagte jedoch kein Wort. Beide waren von der Mittellandjustiz nach Junon gebracht worden und hatten dort Cid und Aeris angetroffen, welche die unheilvolle Nachricht bereits vernommen hatten. Yuffie schaltete ihre Ohren schon nach dem ersten Satz auf Durchzug, denn allein dieser schien eine einzige Lüge zu sein. Cloud hatte angeblich Vincent erschossen, Barret hätte den Keller der Shin-Ra-Villa in die Luft gejagt oder auch anders ... jedenfalls saßen beide, zusammen mit Nanaki und Tifa, irgendwo in einer Gemeinschaftszelle gefangen und würden dem Richter vorgeführt werden. Wenn das nicht insgesamt der größte Blödsinn war, den Yuffie Kisaragi je gehört hatte! Nach dem Vortrag, den ihnen im Übrigen einer der rangniedrigeren Wärter gehalten hatte, lehnte sie sich schwer gegen Reeves Schulter und spürte, wie er den Arm um sie legte. Der Gerichtssaal im Justizpalast war immer noch derselbe. Seit mehr als zehn Jahren war er nicht mehr renoviert worden. Die Bänke und Pulte waren aus Eichenholz, in vielen Metern Höhe über den Köpfen der Zuhörer hing ehrwürdig der Kristallkronleuchter und ließ hin und wieder etwas Staub herunterrieseln. Von den bereits Versammelten – Soldaten und Wärter aller Ränge, darunter auch einige Gestalten in der langen schwarzen Tracht der Geschworenen – wurden Cloud, Nanaki, Tifa und Barret erfreut empfangen. Eine dürre schwarzgekleidete Gestalt eilte auf die Vier zu und fragte aufgescheucht: „Ja, meine Güte, um wen geht es denn heute?“ „Um diesen hier“, antwortete ein Wärter und deutete auf Cloud, „nur um ihn, die Anderen sind zusammen mit dem Rest der Terroristengruppe an der Reihe.“ „Ah ja.“ Der Jurist lächelte nervös und wandte sich Cloud zu. „Nun, Mister Strife, ich bin Ihr Verteidiger, Kevin Vicious.“ Er hielt Cloud die Hand hin, jedoch war sein Gegenüber aufgrund der Fesseln unfähig, diese zu ergreifen. „Mir sind in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden“, sagte Cloud zynisch und wandte sich ab. „Oh, warten Sie doch bitte. Ich habe mich natürlich mit Ihrem Fall befasst. Ich habe Ihre Personalakte gelesen und kenne Ihre Vorgeschichte ...“ „Das ist ja wunderbar für Sie, guter Mann. Dann wissen Sie ja so gut wie ich, dass Sie mich nicht vor dem Henker retten können.“ Vicious schluckte. „Nun ja, ich denke doch, dass ich die Strafe zumindest abmildern kann ...“ „Und inwiefern? Elektrischer Stuhl anstatt der Gaskammer?“ „Nun.“ Der Verteidiger biss sich auf die Unterlippe. „Sehen Sie doch nicht alles so schwarz, als sei morgen die Hinrichtung. Wir können diesen Prozess vielleicht nicht gewinnen, aber wir geben trotzdem alles, was wir haben, nicht wahr? Oh ja, ich habe mir die Argumente sehr gut zurechtgelegt, und ich habe vor, all mein Pulver zu verfeuern!“ „Verdammt, reden Sie nicht von Schüssen“, gab Cloud gepresst zurück. Kurz darauf klatschte Kommissar Taggert nahe des Richterpults in die Hände. „Alle Zuhörer erheben sich! Wir begrüßen den Richter und die Geschworenen. Mister Strife, Sie stellen sich –“ Er packte Clouds Schulter und schob ihn an einen Tisch links vom Richterpult. „– hier hin.“ Anschließend lächelte er dem Richter zu, einem bereits ergrauten Mittsechziger mit harten Gesichtszügen. Es war kaum zu erwarten, dass dieser Mann das Lächeln des Kommissars erwidern würde. Tifa, Barret und Nanaki waren mitten unter den Zuhörern auf Stühle gesetzt worden und verfolgten mit kummervollen Mienen, wie sich der Richter auf seinem Stuhl niederließ – ebenso wie alle anderen Personen im Raum es nun taten – und den Geschworenen, die zu sechst auf jeder seiner beiden Seiten saßen, zunickte. Der Richter erhob seine raue Stimme, und sie hallte laut in dem riesigen Gerichtssaal wieder und übertönte das Getuschel der Anwesenden: „Mister Cloud Strife, Sie sind heute hier vorgeladen als Angeklagter. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, sind von Beruf Ausbilder bei der Friedensorganisation AVALANCHE, ist das soweit korrekt?“ Cloud nickte, und alle Augen richteten sich auf ihn. „Sie haben einen festen Wohnsitz in einem Dorf namens Kalm innerhalb der beiden großen Kontinente.“ „Das stimmt.“ „Sie sind nicht verheiratet, leben aber zusammen mit Ihrer Gefährtin Aeris Gainsborough, neunundzwanzig.“ „Ja.“ „In Ordnung. Dann wird nunmehr die Anklage verlesen. Bitte, Herr Staatsanwalt.“ Der Staatsanwalt erhob sich, ein hagerer Mann mit dicker Brille. „Mister Strife, Ihnen wird Folgendes zur Last gelegt: Am Nachmittag des sechsten Januars sollen Sie unbefugt ein beschlagnahmtes Gebäude betreten und es nachhaltig beschädigt haben. In Ihrer Gesellschaft befand sich ein Mann namens Vincent Valentine, vierunddreißig, und gemeinsam flohen Sie beide mit einigen weiteren Verbündeten, auf welche später noch eingegangen werden soll, in das Haus einer Ihrer Komplizen. Während alle Ihre Freunde von der Mittellandjustiz ergriffen wurden, verschanzten Sie sich mit Valentine, der laut Aussagen eine Verletzung davongetragen hatte, in dem Gebäude und flohen mithilfe einer mittlerweile ebenfalls beschlagnahmten Transportsubstanz in die Midgar-Region, wo Sie gegen Abend Ihren mittlerweile schwerverletzten Verbündeten Valentine mit dessen Waffe erschossen, und zwar direkt ins Gehirn. Sie sind somit des Mordes angeklagt nach Paragraph siebenundsechzig, Absatz drei der Mittelland-Verordnung.“ Er faltete die vorliegenden Berichtpapiere säuberlich und nahm wieder Platz. Der Richter nickte. „Nun, Mister Strife, Sie haben jetzt die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Bitte sprechen Sie.“ „Ich ... habe nichts dazu zu sagen“, antwortete Cloud tonlos. Er sah blass und müde aus, seine blonden Haarsträhnen standen teils in alle Richtungen und fielen andernorts wie stumpfes Stroh ins Gesicht. „Nur ... dass die Verletzung so schwer war, dass wir ... keine Wahl hatten.“ Das Tuscheln im Saal wurde etwas lauter. Wieder nickte der Richter. „Setzen Sie sich. Ich übergebe das Wort wieder an den Staatsanwalt.“ Benannter sprang von seinem Stuhl auf und holte tief Atem. „Hohes Gericht, liebe Geschworenen, Euer Ehren. Ich erlaube mir, meinen ersten Zeugen aufzurufen, Mister Henry Fawkes.“ Cloud rollte kaum merklich die Augen. Fawkes betrat gemächlichen Schrittes den Zeugenstand, nachdem sein Name gefallen war, und hob angesichts des prüfenden Blickes seitens des Richters selbstbewusst den Kopf. „Nun“, begann der Richter, „Sie sind Henry Fawkes, dreiunddreißig Jahre alt, Leiter der Ecology Research Corporation Of Midgar und mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert.“ „Das stimmt, Euer Ehren.“ „Zunächst die Belehrung: Sie sind hier als Zeuge geladen und müssen vor Gericht die Wahrheit sagen, sonst machen Sie sich strafbar. Sie haben das Wort, bitte beginnen Sie.“ „Jawohl, Euer Ehren. Als ich am Tage des sechsten Januars zur Inspizierung des beschlagnahmten Gebäudes, der ehemaligen Shin-Ra-Villa, antrat und mich mit der Organisation der Sprengungen befasste, begegnete ich zu aller erst Strifes Komplizen, die bemüht waren, ihn aus dem Keller des Hauses zu befreien – einem Keller, den zuvor noch niemand betreten hatte, wohlgemerkt. Als Strife endlich auftauchte, trieb er uns zur Eile an, das Haus zu verlassen, und sie alle flohen ins Privathaus von Tifa Lockheart, die selbst eigentlich unter Kommissar Taggerts Kommando stand. Um meine Anweisungen kümmerte sich niemand. Ich weiß jedenfalls, dass sich Strife und Valentine bis zum Schluss in eben diesem Haus einschlossen und den Aufforderungen der Mittellandjustiz keine Folge leisteten.“ „Die Tat mit dem Gewehr haben Sie jedoch nicht unmittelbar erlebt?“ „Nein, Euer Ehren.“ „Dann sind Sie als Zeuge vorerst entlassen, bitte nehmen Sie wieder Platz.“ „Ja, Euer Ehren.“ Cloud rümpfte die Nase angesichts solcher Ehrfürchtigkeit, wie Fawkes sie heuchelte. „Anscheinend gibt es hier gar nichts weiter zu verhandeln“, stellte der Staatsanwalt fest, „da ja offensichtlich die Tat ganz genauso begangen worden ist, wie es hier beschrieben wurde.“ „Auf keinen Fall!“, ließ sich endlich der Verteidiger vernehmen. „Ich rufe hiermit ebenfalls eine Zeugin auf, die Schülerin Vicky Rave!“ Cloud sah auf. Hatte Vicious das gerade wirklich gesagt? Er wollte Clouds Schüler als Zeugen vorführen, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten? Oh, verdammt. Vicky schlich irgendwo weiter hinten aus der Zuhörerreihe und warf dabei erst einmal einen Stuhl um. Sie war nicht nur dann ungeschickt, wenn sie ein Schwert in der Hand hielt ... Schließlich trabte sie flinken Schrittes zum Richterpult und bedachte Cloud dabei mit einem Blick, den jener beim besten Willen nicht zu deuten vermochte. „Vicky Rave“, schnarrte der Richter, „Sie sind fünfzehn Jahre alt, Schülerin der AVALANCHE-Jugend und mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert.“ „Äh .. stimmt, ja.“ Ihr Blick zuckte nervös von einer der dreizehn schwarzen Gestalten zur anderen. „Was soll ich denn jetzt erzählen?“ „Die Fragen stelle ich, Miss.“ „Äh, okay.“ „Sie haben die Anklage gehört. Strife ist seit nunmehr fast sechs Jahren Ihr Lehrer. Trauen Sie ihm die Tat zu, die ihm vorgeworfen wird?“ Vicky schüttelte sofort den Kopf. „Nein, Euer Ehren.“ Es sah aus, als hebe der Richter eine Augenbraue, aber genauso gut hätte es eine optische Täuschung sein können. „Darf ich Sie fragen, wieso nicht, Miss Rave?“ „Nun ... weil ...“ Sie zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie mit vor Nervosität schwankender Stimme fortfuhr: „Master Strife ist kein Mörder, Euer Ehren. Das ist einfach mal unmöglich. Er ist ein bisschen streng, aber wir können uns immer sicher sein, dass er nur unser Bestes im Sinn hat und so weiter und dass es sein Ziel ist, aus uns gute Menschen zu machen, Euer Ehren ... äh, genau ... fragen Sie doch meine Mitschüler! Wir alle vertrauen Master Strife, jaah, wir würden ihm auch unser Leben anvertrauen, weil wir wissen, dass er uns seins ebenso bedenkenlos anvertrauen würde ... und –“ „Miss Rave“, unterbrach der Staatsanwalt sie scharf und rückte seine Brille zurecht, hinter welcher seine Augen wie zwei riesige Pilze hervorzuquellen schienen, „wir sind nicht hier, um über Strifes Moralvorstellungen zu diskutieren.“ „Aber genau danach hat der Richter mich doch gefragt“, antwortete sie trotzig. „Er wollte wissen, warum ich Master Strife die Tat nicht zutraue. Und ich hab’s gesagt – fragen Sie doch in der ganzen Klassenstufe nach! Alle respektieren ihn, seit der Sache mit den Papierfliegern, und –“ „Miss Rave!“, warf der Staatsanwalt erneut ein. „Still.“ Der Richter hob gebieterisch die Hand. „Lassen Sie die Schülerin nur reden, Herr Staatsanwalt. Also, was war das gleich mit den Papierfliegern? Fahren Sie fort.“ Vickys Miene erhellte sich kaum merklich. „Das war damals, als alle noch Angst vor Master Strife hatten, denn er machte immer ein Gesicht ... wie ein Stein, wissen Sie. Man sagte über ihn, er habe den Planeten vor dem Untergang gerettet und solle stärker als der große Sephiroth sein, und wir sahen alle ein Vorbild in ihm. Keiner muckte im Unterricht in irgendeiner Weise auf. Dann hat aber Boris in der Pause einen Papierflieger gebaut und ihn geworfen ... und Master Strife, der gerade reinkam, hat ihn an den Kopf bekommen ... au.“ Sie schürzte die Lippen, um ein hysterisches Grinsen zu unterdrücken. „Es wurde sofort ganz still, weil alle befürchteten, er wurde wütend werden. Das war er noch nie, deswegen fürchteten sich ja alle so davor. Keiner wusste, wie sich das äußern würde. Aber Master Strife hob den Papierflieger auf und warf ihn ebenfalls. Äh, das Ding fiel sofort runter. Und Boris, Himmel, er musste natürlich sagen, dass Master Strife falsch geworfen hätte und ihm vormachen, wie es geht, und wir dachten schon ‚Himmel, jetzt ist es aus, armer Boris’, aber dann hat Master Strife den Papierflieger noch einmal geworfen, diesmal in die andere Richtung, und er flog ganz gerade bis an die Tafel, und Master Strife sagte: ‚Siehst du, das lag dann wohl doch eher am Wind als an meinen Fähigkeiten’, und er war gar nicht wütend und schrieb auch Boris nicht ins Klassenbuch ein oder so. Ab diesem Zeitpunkt hat uns Master Strife dann sogar hin und wieder mal angelächelt. Er ist gar nicht so ... so ... Sie wissen schon. Er ist eigentlich richtig cool. Und wir alle kennen ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals einen Menschen aus diesen sogenannten niederen Beweggründen umbringen würde. Also, nein, ich traue ihm keinen Mord zu, Euer Ehren.“ Cloud hörte sich tief Luft holen. Er hatte sich immer bemüht, einen guten Draht zu seinen Schülern zu entwickeln, aber nie wirklich gewusst, wie mit ihnen umzugehen war. Vickys Aussage war die Bestätigung dafür, dass es ihm letztlich doch gelungen war, das Eis zu brechen. Der Saal war still, aus den hinteren Reihen ertönte ein leises Schnarchen. „Hm.“ Der Richter rieb sich das Kinn. „Ein ... Papierflieger“, wiederholte er mehrmals in sonderbarer Stereotypie. „Soso ... nun. Sie sind als Zeugin nunmehr entlassen, Miss Rave, bitte nehmen Sie Platz.“ „Äh, ja.“ Sich noch einmal flüchtig umsehend, machte Vicky auf dem Absatz Kehrt und huschte auf ihren Platz in einer der hinteren Reihen zurück. „Wenn Sie mich fragen, Euer Ehren“, meldete sich erneut der Staatsanwalt zu Wort, „dann hat das mit dem Papierflieger keinerlei Bedeutung oder Aussagekraft. Das Kind ist erst fünfzehn!“ „Ich habe Sie nicht gefragt, Herr Staatsanwalt“, antwortete der Richter scharf. „Möchten Sie nicht Ihren nächsten Zeugen aufrufen?“ Der Staatsanwalt ließ mit einem leisen Seufzen die angehaltene Luft entweichen. „Sie werden“, rief der Verteidiger plötzlich, „sowieso keinen Zeugen finden, der Ihnen die Tat meines Mandanten hundertprozentig bestätigt! Er war nämlich zur Tatzeit mit Mister Valentine mutterseelenallein!“ „Dann könnte er ihm praktisch noch ganz andere Dinge angetan haben!“, bellte der Staatsanwalt zurück, und seine Brille rutschte ihm auf die Nasenspitze. „Haben Sie die Leiche gesehen, Vicious? Ja? Dann müssten Sie auch wissen, dass Mister Valentine nicht nur ein Loch im Kopf hatte, sondern aufgeschlitzt wie ein Fisch auf dem –“ „Dafür, dass ihm mein Mandant diese Verletzungen zugefügt hat, gibt es keinerlei Beweise!“, fiel ihm der Verteidiger sofort ins Wort. „Er sprach in der Stellungnahme von diesen Verletzungen und nannte sie den Grund, weshalb er Mister Valentine letztendlich umbrachte!“ „Ach ja? Wer soll Valentine denn sonst die Eingeweide herausgerissen haben, wenn doch beide Ihrer eigenen Anmerkung zufolge ganz allein waren? Eben! Strife hat sich und Valentine mit der Transportsubstanz an diesen einsamen Ort teleportiert, so war es doch! Und als man ihn fand, hielt er den Umhang fest ... und die Tatwaffe!“ Vicious holte Luft wie ein sich aufblähender Kugelfisch. „Diese Verletzung im Bauchraum war dieselbe, wegen der Mister Valentine schon in Miss Lockhearts Behausung keinen Schritt mehr allein tun konnte! Sie bestand schon vorher und hatte überhaupt nichts mit Mister Strife zu tun! Außerdem“, fügte er etwas leiser hinzu, „erstattete die Pathologie Bericht darüber, dass kein Gegenstand bekannt sei, mit dem einem Menschen eine solche Verletzung überhaupt zugefügt werden kann.“ Das rattenhafte Gesicht des Staatsanwalts nahm einen beinahe höhnischen Ausdruck an. „Strifes Freunde haben doch allesamt gelogen, als es um die Frage ging, wer an Valentines Verwundung Schuld trug, weil sie unter derselben Decke stecken. Und aus Strifes Vergangenheit ist bekannt, dass er als ehemaliges Mitglied der Shin-Ra Corporation nicht viel Wert auf einzelne Leben legte, sofern ihm nur –“ „Einspruch, Euer Ehren! Strifes Dienstzeit bei Shin-Ra Corp. tut nichts zur Sache!“ Die anschließende Stille war kurz, aber so stickig wie ein Plastiktüte. „Einspruch gewährt“, antwortete der Richter. „Danke, Euer Ehren.“ Vicious sah den Staatsanwalt scharf an, wohl wissend, dass dieser nur seiner sorgfältig zurechtgelegten Strategie folgte. Er griff Vicious’ Schützling persönlich an, um dabei unbemerkt Vorurteile unter den Prozess zu streuen. Bis der Verteidiger überhaupt „Einspruch“ sagen konnte, standen die meisten davon bereits unbeendet, aber unheilvoll im Raum, und jeder hatte sie unwiderruflich vernommen ... „Es geht hier nicht um die Vergangenheit oder das Privatleben meines Mandanten, und ich wünsche nicht, dass er weiter direkt angegriffen wird!“, knurrte Vicious. „Wir handeln lediglich den Prozess aus, der sich allein auf die aktuelle Tat fixiert und keinesfalls auf etwas, das irgendwann geschehen ist oder auch nicht.“ Der Richter und die zwölf Geschworenen nickten einstimmig. Daraufhin fuhren Kevin Vicious und der Staatsanwalt damit fort, sich gegenseitig um Kopf und Kragen zu reden. Jeder spielte der Reihe nach seine Trümpfe aus, wenn der Augenblick passend schien, und um Fakten ging es dabei schon lange nicht mehr. Viel eher glich der Prozess einem Schachspiel, und jeder Zug vonseiten des Verteidigers oder des Staatsanwalts wollte wohl durchdacht sein, denn einer von beiden musste es letztlich fertig bringen, den Richter und die Geschworenen zu überzeugen. Cloud saß auf seinem Stuhl und rieb sich die klammen Finger, die sich immer kälter anfühlten, obgleich der Saal gut geheizt war. Es ist ein verdammtes Spiel, genau das ist es, dachte er müde. Beide können gewinnen, denn sie spielen in etwa gleich gut – der Unterschied ist nur, dass mein Verteidiger ein wesentlich schlechteres Blatt in der Hand hält. „...Tatsache ist“, folgerte schließlich der Staatsanwalt aus irgendeiner seiner zuvor gehaltenen Reden, „dass Mister Strife die Tat genauso begangen hat, wie sie ihm vorgeworfen wird. Aus welchen Beweggründen auch immer, er ist schuldig in jeder Hinsicht ...“ Der Richter hob die Hand. Mittlerweile sah er sehr erschöpft aus. „Danke, Herr Staatsanwalt. Ich denke, dass ich nunmehr genug gehört habe. Haben Sie noch abschließend etwas dazu zu sagen?“ „Jawohl, Euer Ehren! Da Strife ganz offensichtlich schuldig ist, ist er angemessen zu bestrafen. Ich plädiere auf Tod, und – mal ganz unter uns, Euer Ehren – es gibt praktisch keine Indizien, die dieses Urteil noch abwenden könnten ...“ Der Richter winkte ab. „Herr Verteidiger, Ihr letzter Beitrag bitte.“ „Euer Ehren ...“ Vicious seufzte. „Es ist nicht klar festzustellen, was meinen Mandanten zu seiner Tat antrieb, aber ... aus dem geführten Prozess müsste hervorgegangen sein, dass es keinesfalls niedere Beweggründe waren und somit nicht von Mord zu sprechen ist, sondern von Tötung auf Verlangen. Ich plädiere auf eine weitere Untersuchung des Falles ...“ „Danke.“ Mit einem Nicken in Richtung des Verteidigers erhob sich der Richter, und seine zwölf Geschworenen taten es ihm gleich. Mit lauter Stimme verkündete er: „Das Hohe Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Das Urteil wird in wenigen Minuten kundgetan.“ Damit verschwanden die dreizehn Richter in ihren schwarzen Kutten aus dem Saal. Die meisten der Zuhörerblicke richteten sich auf Cloud, der mit unverändert apathischem Gesichtsausdruck auf seinem Platz saß. „Ich habe Vincent nicht ermordet“, sagte er leise, obwohl im Saal niemand würde hören können, dass er überhaupt die Stimme erhoben hatte. „Aber ich habe ihn getötet ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)