Auf der Suche von Ditsch (für Venedig) ================================================================================ Kapitel 1: Auf der Suche ------------------------ Im Leben eines jeden Menschen gibt es Momente, in denen er sich fragt, weshalb er überhaupt auf der Welt ist und darüber nachdenkt, dieses sinnlose Leben einfach zu beenden. Es gab einen hellen Lichtblitz, dann eine Explosion. Ein Schrei ertönte, als das vierstöckige Gebäude, das mit seinen stählernen Türen und gewaltbereiten Wachposten immer uneinnehmbar und unzerstörbar geschienen hatte, in sich zusammen fiel. Die Passanten, die das Glück hatten, weit genug weg zu stehen und daher nicht von durch die Wucht der Explosion auf irrsinnige Geschwindigkeiten beschleunigten Trümmerteilen getroffen wurden, versuchten, so schnell es auf dem zitternden Boden eben möglich war, dieser Hölle zu entkommen, ohne in diesem Moment auch nur einen Gedanken daran verschwenden zu können, was – oder besser gesagt wer – dafür verantwortlich war. Keiner der Forscher, die seit mehreren Jahren tagtäglich in dieses Gebäude gekommen waren, um das große Projekt weiterzuführen, hatte die Explosion überlebt. Allein die Tagebücher des Projektleiters würden später Aufschluss über das geben, womit die Gruppe sich all die Zeit lang beschäftigt hatte. Wenn noch jemand in der Nähe gewesen wäre, hätte er in diesem Moment einen violetten Schimmer inmitten der dichten Staubwolken gesehen. Dieser schwebte, wie von einer göttlichen Macht bewegt, immer weiter nach oben. Je höher er über dem zusammengefallenen Gebäude und damit auch über die herumwirbelnden Staubpartikel schwebte, desto stärker wurde das mysteriöse Leuchten, bis man schließlich ein etwa menschengroßes Wesen erkennen konnte, das dem Anschein nach die Quelle des Lichtes war. Im ersten Augenblick hätte man – da man immer noch nicht viel von ihm erkennen könnte – fast meinen können, es wäre tatsächlich ein Mensch, doch als sich ein fast runder Kopf mit zwei eher tierisch aussehenden, abstehen Ohren aus dem Staub schälte, war für jeden klar, dass dies ein Pokémon war, auch wenn niemand je zuvor von einem Tier mit einem solchen Aussehen gehört oder es gesehen hatte. Langsam legte sich die Staubwolke und es eilten ein paar Menschen herbei, die sehen wollten, was passiert war, oder denen helfen wollten, die unter den Trümmern begraben waren. Beim Anblick des noch immer am Himmel schwebenden Pokémons hielten sie ehrfürchtig die Luft an. Dieses jedoch schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sein völlig emotionsloser Blick war auf die Trümmer des Labors gerichtet, in dem diese Menschen es herangezüchtet hatten. Sein langer, dunkelvioletter Schwanz zuckte hin und her, als wäre es sich unschlüssig, was jetzt zu tun war. Als es schließlich doch die Lebensformen dort unten auf der Erde wahrnahm, schwebte es zu ihnen herab. Angsterfüllt sahen diese sich an, einige nahmen die Beine in die Hand und flohen vor diesem eigentümlichen Wesen. Völlig geräuschlos setzten seine langen Füße auf dem gepflasterten Boden vor einem jungen Mann auf, der am wenigsten Angst vor ihm zu haben schien. Stattdessen musterte er es interessiert von oben bis unten. „Wer bin ich?“, fragte das Wesen. Nun schrak sein Gegenüber doch zusammen. „Du... du kannst sprechen?“, stotterte er. „Ja“, sagte das Wesen. „Wer bin ich?“ „Ich... ich weiß es nicht. Ich habe noch nie ein Pokémon wie dich gesehen.“ Nun, da er dem durchdringenden Blick dieses Pokémons ausgesetzt war, bekam er es doch so langsam mit der Angst zu tun. „Pokémon?“, fragte das Wesen. Der andere nickte langsam. „Ja, ich... denke schon, dass du ein Pokémon bist.“ Ohne das Wesen aus den Augen zu lassen, zog er seinen PokéDex hervor. „Unbekannte Spezies“, konstatierte dieser in seiner gewöhnlich blechernen Stimme. „Was ist ein Pokémon?“, fragte das Wesen. „Na ja, das ist... eine Kreatur, die kein Mensch ist... ein Pokémon eben.“ Mit jeder Frage wurde er nervöser, erste Schweißtröpfchen bildeten sich auf seiner Stirn. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, dass sich alle anderen davongemacht hatten. Er nahm es ihnen nicht übel. „Bist du auch ein Pokémon?“, fragte das Wesen. „Nein, ich bin ein Mensch.“ „Was ist ein Mensch? Warum bist du ein Mensch und ich ein Pokémon?“ „Na ja.... es ist eben so. Wir sind Menschen, und alles andere sind Pokémon.“ Bei dieser Aussage verengten sich die Augen des Wesens geringfügig. Der Mann biss sich auf die Lippe. „Ich weiß es wieder. Die Menschen sind arrogant. Sie halten sich für überlegen.“ Das Wesen erhob die Hand mit den drei knubbligen Fingern, zwischen denen schwarze Blitze hin- und herzuckten. „Niemand ist mir überlegen. Niemand ist stärker als Mewtu.“ Dem Mann, der ihm bis eben gegenüber gestanden hatte, blieb nicht einmal die Gelegenheit, einen Todesschrei auszustoßen. Sein Name, den die Wissenschaftler immer und immer wieder genannt hatten, war ihm wieder eingefallen, aber Mewtu wusste immer noch nicht, weshalb er eigentlich erschaffen wurde. Sie hatten oft davon geredet, dass er ihnen Ruhm und Ehre einbringen würde und dass sie mit seiner Hilfe alles würden erreichen können. Aber das war für ihn kein Grund, ein lebendes und denkendes Wesen zu erschaffen. Oder gab es etwa keinen Sinn in seinem Leben, war er nur ein Objekt, das die Menschen für ihren eigenen Nutzen geschaffen hatten? Hatten sie sich am Ende überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass jedes Leben einen Sinn haben musste? Es verschaffte Mewtu Genugtuung, dass diese Wesen, die so rücksichtslos über ihn bestimmt hatten, nun tot waren. Sie hätten es nicht verdient gehabt, am Leben gelassen zu werden. In Gedanken versunken schwebte Mewtu lautlos über die Dächer der Stadt, die er gerade erreicht hatte. Es war Nacht, daher würde er den Augen der Menschen wohl fürs Erste verborgen bleiben, selbst wenn der violette Schimmer, der noch immer auf seinem Körper lag, sie sicherlich verwirrte. Mewtu war froh, dass es, abgesehen von den künstlichen Lichtern der Stadt, dunkel war. Im Labor war es immer hell gewesen, selbst, wenn niemand im Raum war und draußen womöglich Nacht. Es war das erste Mal, dass er die Dunkelheit sah, und sie gefiel ihm. Sie hatte eine fast schon beruhigende Wirkung auf ihn, während das gleißende Licht der Sonne oder auch der Scheinwerfer im Labor ihn nur aggressiver machten. Die Menschen hätten wohl gesagt, die Nacht wäre ein Spiegel seiner Seele, aber er wusste nicht, ob er überhaupt so etwas wie eine Seele besaß. Er war im Labor gezüchtet worden, als Kopie irgendeines anderes Wesens, das er nie zu Gesicht bekommen hatte. Er traute es den Menschen nicht zu, eine Seele herzustellen. Falls so etwas wie eine Seele überhaupt existierte. Die Wissenschaftler hatten nie den Anschein gemacht, als besäßen sie etwas anderes als eine gewisse Intelligenz und Skrupellosigkeit. Soweit Mewtu wusste, entstanden diese Eigenschaften aus einem einfachen, menschlichen Gehirn heraus. Nicht aus einer Seele. Ein kleiner, leise vor sich hinplätschernder Fluss erregte seine Aufmerksamkeit. Der violette Schein seines Körpers spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und er konnte Wesen wahrnehmen, die darunter existierten. Er verringerte seine Flughöhe und schwebte schließlich über dem Wasser, das in einem grasbewachsenen Flussbett mitten zwischen den hohen Häusern der Stadt hindurchfloss. „Bist du ein Pokémon?“, fragte Mewtu ein rundes blaues Wesen mit einem schwarzen Strudel auf dem Bauch, das gerade sein Gesicht aus dem Wasser hob, um zu ihm aufzusehen. „Natürlich bin ich ein Pokémon“, sagte es in einer Sprache, die der der Menschen völlig unähnlich war. „Hast du eine Seele?“ Das Pokémon kicherte. „Natürlich habe ich eine Seele, alle Pokémon haben eine Seele.“ „Habe ich auch eine Seele?“ Auch wenn etwas wie Hoffnung das Herz von Mewtu bewegte, blieb sein Blick starr wie eh und je. „Woher soll ich denn das wissen? Wenn du ein Pokémon bist, hast du bestimmt eine.“ „Bin ich ein Pokémon?“ Wieder kicherte das blaue Wesen. „Wie ein Mensch siehst du nicht aus, als wirst du wohl ein Pokémon sein, aus einem Pokémon-Ei geschlüpft, wie wir alle.“ Im nächsten Moment trieb der tote Körper des Pokémons auf dem Wasser und wurde von der sanften Strömung davongetragen. „Warum hast du das gemacht?“, fragte auf einmal ein anderes Wesen, das dem gerade verschwundenen zum Verwechseln ähnlich sah. Es blickte Mewtu böse an. Er fragte sich, warum die Menschen Angst vor ihm hatten, die Pokémon aber nicht. „Ich bin nicht aus einem Ei geschlüpft. Ich wurde erschaffen. Also bin ich kein Pokémon.“ Das Wesen blickte ihn aus großen Augen an, dann sagte es: „Vielleicht gibt es auch Pokémon, die nicht aus Eiern schlüpfen. Wir kennen nur die Pokémon aus diesem Fluss und jene, die an ihm vorbeigehen. Wir kennen keine anderen Orte. Die Welt ist groß.“ „Was hat dein Leben für einen Sinn?“ „Ich lebe, um ein Teil meiner Familie zu sein. Ich lebe, um mich zu paaren und meine Kinder großzuziehen. Reicht das nicht?“ „Familie...?“ „Natürlich! Da sind meine Eltern, meine Schwestern und Brüder, deren Kinder... Hast du keine Familie?“ „Ich bin nicht aus einem Ei geschlüpft. Ich bin ein Experiment.“ Als das Wesen es mit großen Augen ansah, fragte es: „Wie viele gibt es, die so aussehen wie du?“ Das Wesen lachte. „Das weiß ich nicht! Hunderte, Tausende, Millionen... Ich denke, überall wo Wasser ist, gibt es auch Quapsels.“ „Ich bin Mewtu. Es gibt keine anderen, ich bin einzigartig. Was hat mein Leben für einen Sinn, wenn ich keine Familie habe und mich nicht paaren kann und keine Kinder großziehen kann?“ „Du tust mir leid“, sagte das Quapsel. Dann schwamm es davon. Mewtu ließ es am Leben, denn es hatte recht. Er war bemitleidenswert. Er war stark und unbesiegbar, er konnte töten, wen er wollte, aber einen Sinn hatte sein Leben trotzdem nicht. Gerade wollte Mewtu seinen Weg fortsetzen – wohin auch immer er ihn führte – als er aus der Ferne das Quapsel rufen hörte: „Sieh mal, da vorne! Das wäre doch was für dich!“ Mewtu sah auf und entdeckte flussaufwärts einen Menschen, der am Geländer einer Brücke stand und wie hypnotisiert auf das Wasser starrte. Einen Moment lang fragte es sich, was er dort tat, doch als er ins Wasser sprang und erst einige Zeit später mit dem Gesicht nach unten wieder auftauchte – so wie das Quapsel, das Mewtu vorhin getötet hatte – wusste er, was das andere Quapsel gemeint hatte. Ohne zu zögern ließ er sich ebenfalls ins Wasser fallen. Doch es hatte nicht den gewünschten Effekt: zwar drückte das Wasser von allen Seiten gegen ihn, doch wurde er scheinbar von einer unsichtbaren Barriere geschützt, denn seine Nasenlöcher blieben trocken und er hatte sogar das Gefühl, noch normal atmen zu können – falls er die Atmung überhaupt brauchte, um seinen Organismus am Leben zu erhalten. Wütend zischte er wieder aus dem Wasser hervor und peitschte mit seinem Schwanz durch die Luft, was ein sirrendes Geräusch erzeugte. „Warum kann ich nicht sterben?“, brüllte er. „Mein Leben hat keinen Sinn, warum kann ich nicht sterben?!“ Wütend starrte er auf die hell erleuchteten Fenster der ihn umgebenden Häuser. In ihnen waren Menschen, nicht einsam wie er, sondern gemeinsam, in Familien. Warum ging es allen Wesen dieser Welt gut, nur ihm nicht, auch wenn er der Stärkste von allen war? In diesem Moment wünschte er sich fast, er wäre schwächer. So schwach, dass ein bisschen Wasser in seinen Lungen ihn schon töten könnte. Dann müsste er wenigstens nicht noch länger leben auf dieser Welt, die für jeden außer ihm Glück, Zufriedenheit und ein schönes Leben bereitzuhalten schien. Und selbst wenn irgendwer unglücklich war, konnte er sich einfach von einer Brücke stürzen, sowie der Mann es vorhin getan hatte. Es war doch wirklich nicht fair, dass die, die sowieso die Chance auf ein schönes Leben hatten, sich dieses nehmen konnten, und er, der niemals glücklich werden konnte, viel zu stark war, um auch nur verletzt zu werden! Langsam schwebte Mewtu hinauf und stoppte schließlich vor einem Fenster, dessen Vorhänge fast komplett zugezogen waren. Nur ein dünner Spalt zeigt den farbenfroh eingerichteten Innenraum und die Frau, die auf einem Sofa saß und weinte. Mewtu fragte sich, warum sie das tat. Wenn sie mit ihrem Leben nicht zufrieden war, warum sprang sie dann nicht einfach aus dem Fenster? Was für einen Unterschied machte es, ein wenig Flüssigkeit aus ihren Augen abzusondern? Es war ja wohl nicht die Flüssigkeit, die sie unglücklich machte, sondern irgendetwas in ihrem schwachen, menschlichen Herzen. Ein Mann betrat den Raum, blickte die Frau überrascht an und eilte dann zu ihr, um ihr den Arm um die Schultern zu legen. Er schien ihr etwas zuzuflüstern, was Mewtu nicht hörte, doch Sprache war unwichtig, wenn man Gesten verstand. Er strich ihr durch das Haar und über die Wange, berührte mit seinen Lippen ihre Augen, als wolle er die Traurigkeit in Form der Tränen aus ihnen heraussaugen. Mewtu hielt dies alles für absolut sinnlos – denn warum sollte die Trauer durch ein paar Berührungen verschwinden? Sie war doch nicht vom Körper sondern von der Seele bestimmt, und die konnte niemand berühren. Und trotzdem schien es der Frau aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen besser zu gehen, Mewtu sah sogar den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Er wandte sich ab und schwebte davon. Das gerade Gesehene brachte ihn ins Grübeln. Diese Wesen sahen so verschieden aus – die eine hatte langes Haar, ihr Körper bunte Farben und ihre Haut war fast schon weiß; die Haare des anderen sah man fast gar nicht, so kurz waren sie, sein Körper war größtenteils schwarz, bis auf die dunkelblauen Beine... Aber sie konnten sich miteinander verständigen und sich glücklich machen. Man mochte einwenden, dass sie trotz ihres unterschiedlichen Aussehens beide Menschen waren. Aber Mewtu war auch nicht das einzige Pokémon, nur das einzige Mewtu, sowie diese Frau vielleicht die einzige Aki oder Sara oder Mai war. Jeder war einzigartig, auch die Quapsels waren verschieden, selbst wenn sie sich sehr ähnlich sahen. Wieder spürte er einen Anflug von Hoffnung durch seinen Körper strömen. Es musste doch jemanden geben, der ihm zumindest ähnlich war, der ihn verstand und der seine Seele so streicheln konnte, wie er es eben bei den Menschen gesehen hatte. Vielleicht konnte er dieses Wesen finden, dessen genetischen Code die Wissenschaftler als Grundlage für ihn benutzt hatten. Es musste ihm ja irgendwie ähnlich sein, auch wenn sie die DNA sicherlich perfektioniert hatten! Zum ersten Mal zeigte sich etwas, das fast an ein Lächeln erinnerte, im Gesicht Mewtus, und seine sonst ausdruckslosen und matten Augen glänzten vor Aufregung. Er war das stärkste Wesen auf dieser Erde und er war so gut wie unsterblich, es würde also keinerlei Schwierigkeit für ihn darstellen, die ganze Welt nach jemandem zu durchsuchen, der ihn verstand. Sein Blick wanderte zur Wolkendecke, die an einer Stelle aufgerissen war und ein paar entfernt leuchtende Sterne offenbarte. Wenn er hier niemanden fand... ja, wer wusste denn schon, ob es dort draußen nicht auch irgendwo Pokémon gab? Er hatte alle Zeit der Welt. Im Leben eines jeden Menschen gibt es Momente, in denen er sich fragt, weshalb er überhaupt auf der Welt ist und darüber nachdenkt, dieses sinnlose Leben einfach zu beenden. Doch wenn er es schafft, diesen Punkt zu überwinden, kann es für ihn nur noch aufwärts gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)