Elfenseele & Drachenherz von abgemeldet ================================================================================ Prolog: Gefährliche Gäste ------------------------- Widmung: Allen Rudelmitgliedern Klick klack klick klack. Klick klack klick klack. Ein kräftiger Ruck an den Zügeln. Klick klack. Klick. Mit dem Verklingen des letzten, glockenhellen Hufschlages senkte sich Stille über die kleine Talmulde. Stille, zu tief und allumfassend, um hier oder anderswo in der bekannten Welt natürlichen Ursprungs sein zu können. Nicht einmal mehr der Wind, der ununterbrochen klagend und jaulend durch die eiszerklüftete Landschaft streifte, wagte an diesem Ort noch sein trauriges Lied zu spielen. Das Sattelleder knarrte, als Selene sich herumdrehte und mit einer in weichem Kaninchenleder steckenden Hand auf der Kuppe ihrer Fuchsstute abstützte. Ihre Augen, schwarz wie ein See in tiefster, mondloser Nacht, glitten langsam über die Felswand und blieben schließlich an dem Durchgang hängen, durch den sie vor wenigen Augenblicken die Talmulde betreten hatte. Der Spalt war gerade breit genug für ein Pferd samt Reiter und mehrere hundert Meter lang. Dahinter, in der eisigen Einöde, wartete ihre Garde. Fünfzehn Kämpfer des Morgenrots, ein jeder so viel wert wie fünf gewöhnliche Männer mit guter Ausbildung. Mindestens. Selbst der Kaiser konnte keine Ritter vorweisen, die dieser Einheit gewachsen waren. Der Gedanke erfüllte sie weder mit Stolz, noch mit Genugtuung. Die Männer waren einfache Werkzeuge, welche entweder gut funktionierten oder ausgesondert wurden, sobald sie sich als untauglich erwiesen. Und die Ansprüche des Morgenrots waren hoch. Mit einem lautlosen Knurren zog Selene die Füße aus den Steigbügeln und ließ sich zu Boden gleiten. Das Rascheln ihrer schneeweißen, mit Gold bestickten Robe unter dem pelzbesetzen Umhang klang in der vollkommenen Stille unnatürlich laut. Sie empfand auch nach den Tagen der Reise durch Frost und Schnee noch immer heißen Groll ob der bodenlosen Frechheit, dass diese Priester – sie belegte das Wort in Gedanken mit einem verächtlichen Klang – es gewagt hatten, sie zum Erscheinen ohne Begleitung aufzufordern. Nein, es ihr zu befehlen! Ginge diese Anweisung nicht konform mit ihren eigenen Plänen, Selene hätte nicht im Traum daran gedacht, ihre Garde in der Einöde zurück zu lassen. Doch sie würde sich merken, mit wem sie es heute zu tun hatte, und irgendwann waren auch diese Werkzeuge abgenutzt. Dann konnte sie sich angemessen für das anmaßende Verhalten erkenntlich zeigen. Jetzt gab es Wichtigeres. Die jung anmutende Frau drückte den Rücken durch und schritt mit kurzen, energischen Schritten auf das Portal zu, welches sich in der ihr gegenüberliegenden Felswand befand. Ein schwarzes, bogenförmiges Loch im glitzernden Gestein, hoch genug, zwei Männer übereinander hindurch zu lassen, und noch einmal fast genauso breit. Ihre weichen Samtpantoffeln fanden auf dem spiegelglatt ausschauenden Untergrund sicheren Halt. Hier lagen weder Schnee noch gab es Eis. Niemand vermochte zu sagen, um was es sich bei der transparent bis bläulich glitzernden Schicht auf den Felsen handelte. Sie überzog innerhalb der Talmulde alles, wie eine dicke Schicht aus geschmolzenem und wieder erstarrten Glas, die Wände, den Boden. Dort, wo sie sich zu funkelnden Kristallen verformt hatte, brachen sich die Strahlen der Sonne in deren Inneren in allen Farben des Regenbogens. Nur wenige, besondere Menschen – Menschen wie Selene – wussten um die Höhlen, die sich hinter dieser Glasschicht verbargen und um die wenigen Legenden, die sich um Orte wie diesen rankten. Sie erreichte die schmale Treppe, die hinauf zu dem Portal führte. Der Durchgang lag matt schimmernd vor ihr. Mit einem verhaltenen Luftholen schritt Selene die wenigen Stufen hoch und trat in die bogenförmige Schwärze. Es war jedes Mal von Neuem ein merkwürdiges Gefühl, die Barriere zu durchbrechen, und ließ sich durch keine ihr bekannte Situation beschreiben. Am ehesten glich es noch dem Empfinden eines Eimers mit Eiswasser, der unversehens über ihrem Kopf entleert wurde. Für einen viel zu langen Sekundenbruchteil fraß sich tödliche Kälte bis in ihre Seele, raubte ihr den Atem und ließ sie verschreckt nach Luft schnappen. Dann war sie auf der anderen Seite und zurück blieb nur noch das ahnungsvolle Kribbeln, einer großen Gefahr so gerade noch entkommen zu sein. Mit jedem Durchschreiten wurde es schlimmer, ging die Kälte tiefer und nahm die Ahnung eine deutlichere Gestalt an. Stimmen, leise und zurückhaltend, drangen an ihr Ohr und Selene schlug die unwillkürlich geschlossenen Augen auf. Das Bild, welches sich ihr bot, ähnelte denen, die sie schon an anderen Orten dieser Art gesehen hatte: ein in den Fels geschlagener Raum, 20 mal 20 Schritt groß. Die behauenen Wände waren so lange geschliffen und poliert worden, bis man keine auch noch so kleine Unebenheit mehr in ihrer grauen Oberfläche fand. Gleiches galt sowohl für den Boden als auch die hohe Decke. Weiße, kugelförmige Gebilde zwei Schritt über ihren Köpfen verbreiteten ein milchiges Licht und direkt in der Mitte des Raumes stand der Altar. Sein Aussehen war überall gleich: eine aus weißen Stein gemeißelte, in sich gedrehte Säule, die sich zur Mitte hin verjüngte und auf Hüfthöhe eines erwachsenen Mannes zu einer flachen Schale öffnete. Innerhalb der Schale befand sich eine transparente Flüssigkeit, in der sich ein Kristall spiegeln würde. Ein Kristall, der oberhalb der Schale gar nicht vorhanden war. Selene registrierte beiläufig, dass das dezente Murmeln mit ihrem Eintreffen verstummt war, und richtete ihre Aufmerksamkeit ungeteilt auf die übrigen Anwesenden. Keiner von ihnen verneigte sich oder senkte auch nur respektvoll den Kopf. Ihre vollen Lippen verzogen sich unwillig. ‚Später. Eure Mäntel und Masken vermögen euch nicht zu schützen.’ Obgleich sich die Priester hinter einer Maske verbargen und ihre Gestalt in bodenlange Mäntel gehüllt hatten, erkannte Selene jeden einzelnen von ihnen. Der ganz rechts außen mit der steifen Haltung, als hätte er ein Brett an seinen Rücken gebunden, musste Bornham sein. Und der Mann daneben, dessen Augen unruhig hin und her huschten und keinen Punkt länger als drei Sekunden fixierten, war ohne Zweifel Dain. Nahe dem Altar stand der alte Thurim, der mehr Arroganz ausstrahlte als alle anderem im Raum zusammengenommen. Und dahinter … Selene kniff die Augen zusammen. Die Gestalt in dem dunkelgrauen Umhang war kein Priester. Jedenfalls keiner der ihr bekannten. Der dunkle, schwere Stoff verdeckte seinen gesamten Körper bis auf den Boden, und er trug die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, dass darunter nur Schwärze erkennbar wurde. Das prägnante an ihm aber war, dass man ihn übersah. Als sie den Raum betreten hatte, war er ihr nicht aufgefallen und auch jetzt noch, als Selene ihn direkt anschaute, schien er sich ihren Blicken immer wieder zu entziehen. Sie blinzelte. Die Gestalt in dem Kapuzenumhang war verschwunden. „Lady? Ist mit Euch alles in Ordnung?“ Die nasale Stimme zwang Selene dazu, ihren Blick von der Stelle, an der eben noch die Kapuzengestalt gestanden hatte, loszureißen und sich dem Sprecher zuzuwenden. Thurim natürlich, wer sonst wagte auch, sie offen ohne ihren Titel anzusprechen. In den blassblauen Augen des Priesters ruhte der stille Hunger eines Mannes, der Zeit seines Lebens niemals genug Macht erlangt hatte, um zufrieden zu sein, und in Anbetracht seines nahenden Endes alles versuchte, dieses Ziel doch noch zu erreichen. Egal, welche Mittel und Wege er dazu verwenden musste. Alles in einem also ein gefährlicher Mann. Ihn nach der sechsten Person, die plötzlich verschwunden zu sein schien, zu fragen, bedeutete das Präsentieren einer Schwäche, die sie sich nicht leisten konnte. Vielleicht war es nur einer seiner Spione gewesen, vielleicht etwas anderes – damit würde Selene sich befassen, wenn sie alleine war, und so überging sie die Nachfrage des Priesters mit aller Herablassung, zu der sie fähig war. Ihre Stimme schnitt klar und kühl durch den Raum: „Ich hoffe, ihr habt alles Nötige vorbereitet? Ich habe nicht viel Zeit. Dann lasst uns beginnen…“ tbc Kapitel 1: Nächtliches Treffen ------------------------------ „Fiep.“ Ordeith wandte den Kopf wenige Zentimeter zur Seite, in die Richtung, aus der das fragende Fiepen gekommen war. Es wiederholte sich, gefolgt vom raschen Trippeln kleiner Füßchen. Die Ratte bewegte sich auf ihn zu, langsam zwar und unsicher, doch unweigerlich von ihm angezogen. Das Tier konnte ihn weder sehen noch wittern, es ahnte seine Anwesenheit nur. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort, da hätte er es sich vielleicht zu Nutzen gemacht. Heute Nacht fühlte er sich einfach nur gestört. Das Trippeln wurde lauter, verstummte dann. Plötzlich schoss Ordeiths Hand herab und packte die aufquiekende Ratte am Rücken. Der kleine Aasfresser wand sich in seinen Fingern und versuchte erfolglos, sich aus dem stahlharten Griff zu befreien. Die stumpfen Krallen schabten nutzlos über seinen Handschuh, die gelben, kräftigen Zähne schnappten in die leere Luft. Dann wurde das Quieken schriller und angstvoller, schließlich schmerzerfüllt. Das Winden ging in ein unkontrolliertes Zucken über, als sich der Rücken der Ratte wie unter unsichtbarem Zwang – Ordeiths Finger bewegten sich nicht – immer weiter nach hinten durchwölbte, bis ihre Wirbelsäule mit einem leisen Knacken brach. Schlagartig herrschte wieder Stille in der schmalen Gasse, nur unterbrochen vom stetigen Jaulen des Windes, der die Wolken über den Himmel jagte. Angewidert das Gesicht verziehend – so leicht zu töten – ließ Ordeith den Kadaver achtlos zu Boden fallen und richtete den Blick erneut auf die billige Hafentaverne. Das halb verwitterte Holzschild, welches an nur noch einer Angel hing und leise quietschend vor und zurück wippte, zeigte in blassen, abgeblätterten Farben ein dickes, auf zwei Beinen stehendes Pferd. Das Tänzelnde Pony war eine der am meisten verrufenen, gefährlichsten und bestbesuchten Tavernen in ganz Baleom. Wenn nicht sogar die Königin unter ihnen. Hafenarbeiter, Diebesgesindel, Schmuggler, Meuchelmörder und Schlimmeres, jeden, der ein locker sitzendes Messer zu führen vermochte und auf billigen Fusel und ein paar rasch verdiente oder gar geraubte Münzen aus war, zog es des Nachts mit Einbruch der Dunkelheit an diesen Ort. Die kaiserliche Wache hatte es längst aufgegeben, in diesem Viertel des Hafens für Recht und Ordnung zu sorgen und überließ es unangefochten dem sogenannten Abschaum der Gesellschaft. Genau hier sollte Ordeith den Mann finden, den er suchte. Seine Augen irrten nach oben. Die Hausmauern, die sich rechts und links von ihm drei Stockwerke hoch erhoben, ließen den Blick auf ein schmales Stück Himmel frei. Die Wolkendecke war dicht genug, Mond- und Sternenlicht fast vollständig zu verschlucken, und in andauernder, hektischer Bewegung. Keine Nacht, in der es anständige Menschen auf die Straße trieb. Ein abfälliges Lächeln auf den Lippen, trat Ordeith aus der Gasse und bewegte sich auf das Tänzelnde Pony zu. Auf halbem Wege erklang unweit von ihm ein drohendes Fauchen, gefolgt von einem langgezogenen, klagenden Maunzen, und eine magere, halb verhungerte Katze mit aufgeplustertem Schwanz verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit. Sie ließ den erst halb gefressenen Fisch, sicherlich seit langem die erste vernünftige Mahlzeit in ihrem herrenlosen Leben, achtlos liegen. Das Innere der Taverne hielt ein, was das Äußere ihrem Beobachter bereits versprochen hatte. Als Ordeith die knarrende Tür nach innen aufstieß, kam ihm ein Schwall warmer, übel riechender Luft entgegen. Stimmengewirr und grölendes Lachen, manchmal von einem besonders lauten Bass übertönt, schlug über ihm zusammen. Niemand beachtete ihn, als er sich in das Innere des schlecht beleuchteten Gebäudes schob und die Tür in seinem Rücken zurück ins Schloss drückte. Natürlich nicht. Genauso wenig, als er genau dort stehen blieb und seine blassen Augen über die anwesende Menge gleiten ließ. Männer unterschiedlichster Nationen und von vielfältigem Aussehen saßen an den Tischen und standen dazwischen herum, tranken billigen Alkohol oder spielten Karten, grölten und schwatzten. In einer Ecke wurden Wetten beim Armdrücken abgeschlossen, bis einer der Verlierer seinen Kontrahenten wohl des Betrugs anklagte und mit einem Messer an seiner Kehle schnell und sicher zum Schweigen überredet wurde. Frauen gab es hier kaum und die wenigen, die sich innerhalb des Tänzelnden Ponys aufhielten, taten dies entweder nicht ganz freiwillig oder aber sie hatten das Anrecht auf diese Bezeichnung fast schon verloren. Es roch nach sauerem Wein, altem Bier und selbstgebrautem Schnaps, nach Talgkerzen, Rauch und verschwitzen Körpern. Altes, verklumptes Stroh bedeckte den festgetretenen Lehmboden, auf dem da und dort noch frische rote Flecken glänzten: verschütteter Wein und Blut. Unter der hölzernen Decke mit den verrotteten Balken sammelte sich der schwarze Rauch der schlechten Kerzen und des Feuers aus dem steinernen Kamin, welcher sich an einer der langgezogenen Wänden befand, und überall starrte es vor Schmutz und Dingen, die genauer zu identifizieren sich Ordeith gar nicht erst die Mühe machte. Ihn interessierten sowieso nur die Menschen, die er hier antraf, genauer einer von ihnen. Weiter hinten kam plötzlich Tumult auf, der rasch in ein unkoordiniertes Handgemenge ausartete. Zwei bullige Hafenarbeiter mit Schultern wie Mugnukstiere erhoben sich, in ihrem Kartenspiel gestört, von ihrem Tisch und prügelten wahllos so lange auf die Beteiligten ein, bis sich nur noch einer von diesen in seinem volltrunkenen Zustand zu regen wagte und die beiden Männer mit schwerer Zunge und rollenden Buchstaben wüst, aber unverständlich beschimpfte. Er hörte auch dann nicht damit auf, als er jeweils rechts und links am Arm gepackt und wie ein nasser Sack Mehl in Richtung Ausgang gezerrt wurde. Ordeith, der noch immer suchend an der Tür stand, wich den Männern mit einer fließenden Bewegung aus, um nicht angerempelt oder gar umgerannt zu werden. Eine Bewegung, so oft ausgeführt, dass sie ihm mit Verstreichen der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Männer ignorierten ihn, als hätten sie ihn nicht einmal wahrgenommen, während er sie missachtete, weil sie für ihn schlicht uninteressant waren. Es gab nur einen Mann, der Ordeith in diesem Moment aus seiner Musterung reißen konnte … seine Augen verhielten und glitten ein Stück weit wieder zurück. Da saß er! Ein kaum sichtbares, zufriedenes Lächeln verzog seine Lippen. Das war der Mann, den er suchte, da war er sich sicher. Mühelos glitt Ordeith zwischen den übrigen Besuchern der Taverne hindurch, ohne auch nur einen von ihnen ein einziges Mal zu berühren. Niemand sah sich nach ihm um oder sprach ihn gar an – auch für die Männer, an denen er vorbei kam, schien er nicht zu existieren. Die Augen während jedes Schrittes fest auf den schwarzhaarigen Mann gerichtet, blieb er nur wenige Wimpernschläge später vor diesem stehen. Seine Stimme klang leise und schnarrend und leblos, wie eine Schlange, die sich durch totes Laub schlängelte. „Balek Raas?“ Der Mann, der vor Ordeith mit dem Rücken zur Wand an einem der fleckigen Tische saß, schaute auf. Dunkelbraune Augen, im schlechten Licht fast schwarz, musterten ihn mit einer Mischung aus vorgetäuschtem Desinteresse und gut versteckter Aufmerksamkeit. Er nickte knapp, mehr nicht. Signalisierte mit dieser Geste minimale Bereitschaft, vorerst zuzuzhören. Selbst für einen überaus geübten Beobachter wie Ordeith war kaum zu erkennen, dass sich die Muskeln im linken Arm des Mannes anspannten, während dessen Griff sich um den Dolch oder das Messer festigte, welches er zweifellos unterhalb der Augenhöhe auf dem Oberschenkel griffbereit hielt. Die rechte Hand umfasste weiterhin entspannt den noch halb vollen Krug Bier. Ordeith beglückwünschte sich schweigend für seine Wahl. Er hatte zahllose Informationen über viele Männer dieser Art eingeholt und dabei viel Zeit verloren. Doch es war notwendig gewesen – und richtig, wie sich soeben in weniger als fünf Sekunden gezeigt hatte. „Ich habe einen Auftrag für Euch“, begann er zu erklären, die Stimme nicht lauter als zuvor, ohne Eindringlichkeit. Er blieb reglos stehen, die Hände weiterhin locker und gut sichtbar an seiner Seite. Ordeith wusste, worin diejenigen, die überlebten, sich von denen unterschieden, die über kurz oder lang verstarben: sie waren wachsam. Und sie gingen keine unnötigen Risiken ein. Er verspürte keine Angst, nur nicht den Willen, den Mann vor sich zu etwas zu provozieren. Er wollte dessen Dienste, nicht mehr. Die blassen Augen ruhten nichtssagend und reglos auf dem Gesicht des Söldners. „Einen lukrativen Auftrag. Soll ich fortfahren?“ Baleks Augen bewegten sich für einen Sekundenbruchteil zur Seite, als rechts von ihnen ein spitzer Schrei ertönte, so plötzlich und sauber abgeschnitten, als hätte man eine scharfe Klinge dafür genutzt. Der übrige Körper verharrte in Reglosigkeit, nicht einmal sein Kopf war der Bewegung der Augen gefolgt, die nun wieder auf Ordeith ruhten. „Ich hör's mir an…“ Ordeith deutete ein Nicken an. Er hatte sich nicht gerührt, auch dann nicht, als der Schrei ertönt und der Mann vor ihm für den Bruchteil einer Sekunde nicht voll und ganz auf ihn fixiert war. Seine Miene blieb neutral, zeigte weder Unzufriedenheit über die ausbleibende Zusage noch ungerechtfertigten Triumph über einen vermeintlichen Sieg. Leblos. „Eine kleine Aufgabe“, fuhr Ordeith fort und hob seine linke Hand, präsentierte die leere Innenseite, griff dann langsam unter seinen Umhang. „Aber keine leichte.“ Als die blasse Hand wieder hervor kam, hielt sie ein kleines Kästchen, welches er zwischen sie auf den Tisch stellte. Es war nicht größer als eine Männerhand und von mattem Schwarz, vielleicht aus Eisenholz oder einem ähnlichen Material. Das schummrige Licht der flackernden Kerzen vermochte sich nicht darin zu spiegeln. Ordeith zog seine Hand zurück und ließ sie wieder an seine Seite fallen. „Ich suche nach einem Mann, der einen Kristall bei sich trägt. Einen Dunkelelfen.“ Er musterte den Söldner vor sich aufmerksam, ohne seinen Blick intensiver werden zu lassen, wartete auf ein Zeichen, dass dieser mit der Bezeichnung ‚Dunkelelf‘ etwas anfangen konnte. „Ich benötige den Mann nicht, nur den Kristall. In diesem Kästchen. Er ist nicht ungefährlich. Ihr bekommt das Doppelte der Anzahlung in diesem Kästchen, wenn Ihr mir den Kristall besorgt.“ Keine leichte Aufgabe, die einen hohen Preis forderte, selbst wenn es nicht um den Dunkelelfen an sich ging und dieser bei einer Konfrontation sein Leben lassen durfte. Mit diesen Wesen war nicht zu spaßen, einer der Gründe, warum er sich nicht selbst um die Angelegenheit kümmerte, sondern sich einen Jagdhund anheuerte. Auch Balek schien das bewusst zu sein, denn er verzog bei der Erwähnung des Elfen kurz den Mund. Schweigend, ohne den Blick von Ordeith zu nehmen, legte er die rechte Hand auf das Kästchen. Vielleicht wartete er auf ein kleines, verräterisches Zeichen, ob ihm der Inhalt der Schatulle nicht gefallen würde... Ordeith zumindest gab ihm keines. Langsam öffnete der Söldner das Kästchen, nur einen Spalt weit, senkte den Blick und öffnete den Deckel weiter, um dessen Inneres in Augenschein nehmen zu können. Der Innenraum des Kästchens sah aus wie der jeder anderen, mit schwarzem Samt ausgekleideten Schmuckschatulle und enthielt etwas, das genauso gut hineinpasste: eine ausgefallene Silberbrosche, bei deren Anblick nur wenige Menschen sagen können würden, mit welch seltenem Stück sie es gerade zu tun hatten. Filigrane Ranken mit zarten Blättern fassten einen bernsteinfarbenen Edelstein ein, groß wie ein Hühnerei. Hauchfeine, orange Linien durchzogen ihn wie ein Netzwerk feinster Adern und wenn Baleks Augen ihn nicht narrten, sammelte sich das wenige Licht, welches durch den geöffneten Spalt fiel, in seinem Inneren und ließ ihn pulsieren. Drachenherz, daran gab es gar keinen Zweifel. Ordeith beobachtete sein Gegenüber mit verschleierter Aufmerksamkeit, während dieses sich den angebotenen Preis besah. Die Miene des Söldners zeigte keine Regung, doch er war davon überzeugt, dass der Mann wusste, was ihm da angeboten wurde. Wenigstens vom Wert her. Drachenherz galt als unzerstörbar, ein idealer Brennpunkt für astrale Energien und es war unheimlich selten. Wenn Balek die Brosche auf dem Schwarzmarkt anbot, war es nur eine Frage von wenigen Stunden, bis sich der erste Schwarzmagier meldete, um ihm den Edelstein abzukaufen. Einmal aus den Händen gegeben, hinterließ die Brosche keine Spur, die zurück zu ihm führte – oder zu Ordeith selbst. Er kannte diese Einfaltspinsel, die glaubten, mit ihrem ausgeprägtem – pah! – Talent etwas Besonderes zu sein. Keiner von ihnen käme auch nur auf die Idee, einen Lieferanten zu verraten. Nicht einmal unter einfachen Waffenhändlern war das denkbar; ein ungeschriebenes Gesetz unter den Gesetzlosen. Man musste schließlich immer damit rechnen, von eben selbem noch einmal etwas angeboten zu bekommen, das nicht einem Messer im Rücken entsprach. „Tigraine, die letzte Königin Ishmaes vor der Zerstörung durch die Ivrit. Ein Erbstück“, erklärte er nach einigen Sekunden leise die Herkunft des wertvollen Schmuckstückes. Balek strich mit den Fingern einmal abschätzend über den Stein, schloss dann den Deckel und zog das Kästchen zu sich heran. Das Doppelte noch einmal nach abgeschlossenem Auftrag, der Preis war akzeptabel. Er nahm den Auftrag an. „Was habt Ihr sonst noch zu berichten, das dienlich sein könnte?“ Ordeith gönnte sich ein innerliches Entspannen. Nicht aufatmen. Das würde er erst, wenn er den gewünschten Kristall in den Händen hielt und seinem Meister ausgehändigt hatte. Wenn überhaupt. Da der Söldner keine weiteren Fragen in Bezug auf die zukünftige Bezahlung stellte, ging er nicht erneut darauf ein. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, übereifrig zu sein und damit das Misstrauen des Mannes vor sich noch weiter schüren. Misstrauisch war dieser sicherlich, obgleich sich nichts davon in dessen Miene oder Körpersprache zeigte – allein sein Überleben in einem Arbeitsgebiet wie diesem sprach dafür. Ordeith setzte zu einer Antwort an, schloss den Mund wieder, bevor auch nur eine Silbe über seine Lippen kam, und glitt rasch zur Seite. Anders konnte man diese fließende, eigentlich schon schlängelnde Bewegung wirklich nicht nennen. Nur einen Sekundenbruchteil später stolperte ein schlanker Mann in seinem Rücken aus der Menge und prallte haltlos gegen den Tisch, genau dort, wo er eben noch gestanden hatte. Der Krug, aus dem es streng nach kehlenverbrennendem Schnaps roch, knallte auf die schwere Tischplatte, entglitt den tauben Fingern des Betrunkenen und ergoss seinen Inhalt über das dunkle, fleckige Holz. Ein Blick aus glasigen Augen folgte dem Trinkgefäß, welches in Baleks Richtung kullerte und eine blau geäderte Hand griff nach ihm, ohne ihr Ziel jemals zu erreichen. Der Mann in der unscheinbaren, schmutzigen Leinenkleidung erstarrte. Dunkelgrüne Augen unter fettigem, rotbraunem Haar wurden aufgerissen, der Mund stand einen Spalt weit offen. Ein Gurgeln entkam seiner Kehle. Ordeith zog die gekrümmte Klinge aus der Seite seines Opfers und ließ den Mann gegen die Tischkante fallen. Dieser rutschte mit einem leisen Stöhnen erst auf die Knie, fiel dann zur Seite und blieb auf dem Boden liegen, eine Hand auf den gezackten Riss in seiner Nierengegend pressend. Seine Füße zuckten über den Boden und schoben ranziges Stroh zur Seite, der Lehm unter ihm färbte sich rot. Ohne dem Sterbenden weitere Beachtung zu schenken, folgte Ordeith dem Söldner, welcher das Kästchen in den Falten seines blutroten Mantels verschwinden ließ und aufstand, um erneut den Platz vor dessen neu ausgewählten Tisch einzunehmen. Schweigend musterte er sein Gegenüber. Für einen langen Augenblick noch herrschte Stille, dann lösten sich zwei halbwegs nüchterne Männer aus der Menge und ergriffen den Toten an Arm- und Fußgelenken. „Scheiß Gesindel!“, fluchte einer von ihnen und spuckte aus, während er und sein Kamerad sich abmühten, den Leichnam durch die gaffende Menschenmasse zu tragen. „Na, jetzt wieder einer weniger“, erwiderte der Zweite und brach in schallendes Gelächter aus. Der andere Mann fiel ein und augenblicklich löste sich die Stimmung gespannter Erwartung auf. Der kritische Moment ging vorüber, ohne zu einer größeren Schlägerei oder noch Schlimmerem geführt zu haben. Diejenigen, die den Vorfall bemerkt hatten, wandten sich erneut ihren Getränken, Spielen und den wenigen Frauen auf ihren Schößen zu, kommentierten das Geschehen und vergaßen selbiges bereits wenige Minuten später. Ordeith wartete, bis das Hintergrundgemurmel zu vieler betrunkener Menschen auf zu engem Raum wieder eingesetzt hatte, bevor er ohne Umschweife auf die zuvor gestellte Frage des Söldners einging. Als wäre zwischenzeitlich nichts geschehen. „Sein Name lautet Alvaron. Für einen Dunkelelfen keinerlei Besonderheiten in seinem Aussehen, schwarze Haare, goldene Augen, durchschnittlicher Körperbau. Er ist über die Almoth-Ebene nach Thalbon geritten und hat dort die Städte Barut, Finjol und Murdan passiert. Ohne sie zu betreten, er meidet wie die meisten seiner Art selbst größere Siedlungen. Die Spur, der man folgte, verlor sich nahe den Wasserwäldern in der Gegend von Thulman. Es gibt nur ein paar kleine Dörfer und Siedlungen dort, einige Meilen von den Wasserwäldern entfernt.“ „Wann verlor sich diese Spur?“ „Vor zwei Tagen. Drei, mit Beginn des nächsten Morgens.“ Unnötig, den Mann darauf hinzuweisen, dass seine Beute damit noch keinen allzu großen Vorsprung hatte und für einen guten Fährtenleser sehr wohl noch aufspürbar war. Oder darauf, dass sich ein baldiges Beginnen der Suche als sinnvoll erweisen könnte. Ordeith hatte nach einem Meister seines Fachs Ausschau gehalten, nicht nach einem blutigen Anfänger. Und er hatte keine weiteren Informationen mehr zu vergeben. „Ich werde hier auf Euch warten. Übergebt mir den Kristall und Ihr bekommt den Rest Eurer Bezahlung. Was mit dem Mann passiert, interessiert mich nicht.“ Wieder nickte der Söldner knapp und stand auf. Es gab nichts mehr zu sagen, der Rest lag bei Balek. Dass dieser sich samt dem Drachenherz aus dem Staub zu machen versuchen könnte, bereitete Ordeith keine Kopfschmerzen. Auch darauf hatte er bei seiner Suche geachtet, der Söldner war nicht dumm genug, seinen exzellenten Ruf unter seinesgleichen zu riskieren und das Doppelte der erhaltenen Bezahlung auszuschlagen, nur um etwas unangenehmer Arbeit aus dem Weg zu gehen. Balek schob sich grob durch die Menge der schmutzigen Körper, ohne auch nur ein böses Wort zu ernten. Ein Blick auf seine Gestalt reichte, die eben noch aufgerissenen Münder sicher wieder zu verschließen. Bereits nach wenigen Augenblicken hatte er die Tür erreicht und trat hinaus in die kalte, feuchte Nachtluft. Ihm folgte ein stilles Lächeln, nicht mehr als ein flüchtiges Verziehen des rechten Mundwinkels. Ordeith war mit dem Verlauf der Dinge wirklich sehr zufrieden. tbc Der Stein wurde ins Rollen gebracht. Zeit, die Protagonisten auf die Bühne zu bitten... Kapitel 2: Der holden Maid Ruh' ------------------------------- Der Striegel glitt mit langsamen, rhythmischen Bewegungen über das glänzend schwarze Fell. 300 Pfund Muskelmaße kombiniert mit einem unberechenbaren Temperament machten die Shadshas zu einem beliebten Statussymbol für den Adel, und zum schlagkräftigen Albtraum für die Pferdepfleger. Dieser Hengst aber stand vollkommen entspannt in seiner Box, mit hängendem Kopf, angewinkeltem Hinterbein und nach vorne gestellten Ohren. Gelegentlich füllte ein zufriedenes Blubbern die Stille im Stall, wenn der weiche Striegel über eine juckende Stelle strich. Dazwischen war nur das durchgehende Kauen eines Dutzend weiterer Hengste zu hören, die geputzt in ihren Boxen standen und ihren Hafer fraßen, ohne sich an der Anwesenheit des neuen Pflegers zu stören. Im Gegenteil. Lyone strich ein letztes Mal über die kräftige Kuppe, trat einen Schritt zurück und musterte das pechschwarze Pferd von oben bis unten, bevor er aus der Box trat und auch diesem Hengst seine Ration Hafer in den Trog füllte. Das letzte der Tiere für heute, um die er sich seit etwa fünf Wochen zu kümmern hatte. Draußen berührte die Sonne bereits den Horizont und das erste Grau am östlichen Himmel kündigte die Dämmerung an. Für den Halbelfen wurde es Zeit, runter in die Stadt zu kommen, bevor die Tore für die Nacht geschlossen wurden und man zwar noch leicht hinaus, hinein jedoch nur noch schwer gelangte. Das Gestüt, umgeben von saftig grünen Weiden und sandigen Reit- und Abrichtplätzen, lag etwas nördlich der steinernen Mauern Ankrams und wurde nur durch einen Streifen von unzähligen Füßen und Hufen fest getretener Erde mit der Stadt verbunden. Rechts und links erstreckten sich weite Felder und die dahinter liegenden, niedrigen Berge. Dass Lyone jeden Abend den weiten Fußweg vom Gestüt nach Ankram und zurück unternahm, geschah nicht grundlos: Lysander. Der – natürlich nur inoffiziell als solcher bekannte – Dieb war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass er eine Arbeit in den Ställen des angesehensten Gestüts innerhalb der nächsten 250 Meilen bekam. Und ihn schon bei ihrer ersten Begegnung vor einer ziemlichen Dummheit bewahrt hatte, die Lyone ohne weiteres den Kopf hätte kosten können. Seitdem er zwei Tage später selbst Zeuge einer Situation geworden war, ähnlich der, die ihn erwartet hätte, kroch es ihm jedes Mal kalt über den Rücken, sobald er daran dachte, in welches Gasthaus er beinahe gestolpert wäre: Es war spät gewesen und die Tore der Stadt bereits geschlossen, als der Halbelf müde und mit nur wenigen Münzen in der Tasche durch die Straßen geschlichen war. Ungewöhnlich später und heftiger Schneefall sowie die eisige Kälte trieben selbst ihn des Nachts in die Städte, um sich wenigstens einen trockenen Schlafplatz zu suchen. Für mehr reichte das Geld, welches er mit sich führte, meist nicht aus. Auf der Suche nach einem Gasthaus, dessen Aussehen bereits darauf schließen ließ, dass es nicht viel kosten würde, war er vor einem Gebäude mit dem Namen Der Königin Segen stehen geblieben. Königlich sah die Fassade mit ihrer abblätternden, schmutzig gelben Farbe wahrlich nicht aus, und das laute Grölen, das bis auf die Straße hinaus zu hören gewesen war, passte genauso wenig zu diesem Namen. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf hatte Lyone geraten, einfach weiter zu gehen und im schlimmsten Fall einmal mehr hinter irgendeiner Häuserecke Schutz vor dem eisigen Wind zu suchen. Er war es schließlich gewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen. Doch Müdigkeit und ein langsam aber stetig wachsendes Gefühl der Gleichgültigkeit sich selbst und anderen gegenüber hatten ihn mehrere Minuten vor der Tür aus stellenweise morschem Holz festgehalten, hin und her gerissen zwischen Gehen und Bleiben. Letztendlich mochte es auch das unbewusste Gefühl der Einsamkeit gewesen sein, welches ihn dazu verleitet hatte, ihn die Nacht in Der Königin Segen verbringen lassen zu wollen. Dort drinnen gab es wenigstens Licht, Wärme und Stimmen. „Wenn ich du wäre, würde ich dort jetzt nicht hineingehen, es sei denn, dir sind deine Elfenohren nicht viel wert.“ Die Stimme war aus dem Dunkel gekommen und hatte Lyone vollkommen überrascht. Seinem Zusammenzucken und dem hastigen Zurückweichen von der Tür war ein dunkles Lachen gefolgt, welches amüsiert und nicht unfreundlich geklungen hatte. Der Mann, der sich gleich darauf aus den Schatten geschält hatte – ein anderer Begriff fiel dem Halbelfen auch heute noch nicht ein, wenn er zu beschreiben versuchte, wie der Dieb urplötzlich aus einer dunklen Ecke oder Nische auftauchte – hatte im Folgenden recht anschaulich erklärt, warum Lyone sich genau dieses Gasthaus nicht aussuchen sollte, und im gleichem Atemzug seine Hilfe angeboten. Gegen eine kleine Bezahlung, verstand sich. So hatte der Halbelf Lysander kennengelernt, zu dem sich im Laufe der Wochen zwar keine Freundschaft, doch durchaus so etwas wie ein gewisses Wohlwollen entwickelt hatte. Der Dieb hatte seine Beziehungen genutzt, um Lyone als Pferdepfleger auf dem Gestüt unterzubringen und im Gegenzug nur verlangt, dass seine neue Bekanntschaft Abend für Abend in die Taverne Der holden Maid Ruh' einkehrte, um ihn über die neuesten Gerüchte zu informieren, die außerhalb Ankrams so ihre Runden machten. Angestellte und Diener waren schließlich für ihre guten Ohren und ihren Hang zum Tratschen bekannt. Der holden Maid Ruh‘ war eine Taverne, deren Ruf schlechter war, als es den Tatsachen entsprach. Ayaina Thelmandred führte sie in Lysanders Auftrag mit harter Hand, unterstützt von vier Männern in grober Kleidung, deren bullige Oberkörper so manchen Hafenarbeiter schlank aussehen ließen. Sie hielten die zahlreichen Gauner und Halunken, Tagelöhner und Aufschneider in Schach, welche hier einkehrten, um einen Humpen Bier zu leeren, etwas Warmes in den Magen zu kriegen oder einfach nur ihre Zeit tot zu schlagen. Seltener schlug ein Gast hier auch sein Nachtlager in einem der kleinen Zimmer im ersten Stock auf. Wem diese Taverne gehörte und wer letztlich das Sagen über die Geschicke dieses Hauses hatte, war den meisten Gästen freilich unbekannt und auch Lyone wusste nur davon, weil er allabendlich zum Essen herkam und im Laufe der Besuche eins und eins zusammengezählt hatte. Wie jeden Abend konnte der Halbelf Lysander zwischen den Gästen nicht ausmachen. Das konnte er nie, so aufmerksam er sich auch umschaute. Von Seiten der anwesenden Menschen wurde er inzwischen kaum noch beachtet, als er zwischen den Tischen hindurch zur Theke schritt. Besucher, die nicht so häufig in dieses Haus einkehrten, blinzelten ihm ein wenig überrascht nach, die Stammgäste hatten sich an seine für diese Stadt eher ungewöhnliche Erscheinung gewöhnt und beachteten ihn gar nicht mehr. Zu einem großen Teil lag das sicherlich an der offen zur Schau getragenen Fürsorge Lysanders, woher auch immer diese rührte. Der Dieb besaß in Ankram mehr Einfluss, als er zugab, da war Lyone sich ziemlich sicher. „Elfchen!“ Ayainas laute, raue Stimme war mühelos über das stetige Murmeln, zu welchem sich die einzelnen Gespräche vermischten, hinweg zu hören. Sie war wohl das, was man allgemein als Pfundsfrau bezeichnete: groß wie ein Mann und breiter als so mancher von ihnen, mit drallen Rundungen und schwungvollem Gang. Das rotbraune Haar trug sie zu einem strengen Dutt am Hinterkopf zusammengefasst und der Blick aus ihren dunkelgrünen, ein wenig schräg stehenden Augen wirkte hellwach. Es dauerte stets einen Moment, bis ihre Körpermassen vollkommen zur Ruhe kamen, nachdem sie einmal in Bewegung geraten waren, und Lyone wurde sich einfach nicht ganz einig, ob ihre Miene nun Mütterlichkeit oder den Charme einer hungrigen Hyäne ausstrahlte, wenn sie ihn so anschaute wie jetzt. Zudem war Ayaina nicht weniger wissbegierig als Lysander und leider viel, viel sturer, was diesen verhassten Spitznamen anging. Wenigstens störte die Wirtin sich nicht an Lyones zurückhaltenden Art, und so gab sie sich auch jetzt vollauf damit zufrieden, dass er sich mit einem halbherzigen Lächeln zu ihr gesellte. +°+ Balek Raas ließ sein Pferd einen Moment stehen bleiben und seinen Blick über das Tal schweifen. Sein Gesichtsausdruck blieb undeutbar, wie schon die gesamten letzten Tage über. Nicht, dass jemand da gewesen wäre, dem sein Gesichtsausdruck auffallen hätte können. Ruhig sah er hinab in das Tal, auf die Stadt, welche auf dem Rückweg zu seinem Auftraggeber sein Ziel für die Nacht bildete. Der Kristall ruhte in dem dafür vorgesehenen schwarzen Kästchen unter seinem Mantel. Es war kein Kinderspiel gewesen, den Dunkelelfen ausfindig zu machen und ihm das begehrte Stück abzunehmen, doch die Bezahlung blieb ausreichend, um Balek angemessen für den Aufwand zu entschädigen. Er musste den Kristall jetzt nur noch seinem neuen Besitzer übergeben und den Rest seines Lohnes entgegen nehmen. Der Söldner beugte sich vor und gab seinem Pferd die Sporen. Die Nacht würde in weniger als zwei Stunden vollends hereinbrechen und er wollte sich noch ein wenig in Ankram umsehen, bevor er sich für einen Schlafplatz entschied. Die Bauern auf den noch kahlen Feldern, zwischen denen er entlang ritt, hoben kurz den Blick, als das Pferd mit fliegenden Hufen an ihnen vorbei jagte. Kaum waren Ross und Reiter aus ihrer Sicht verschwunden, schüttelten sie die Köpfe und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, bevor die Dunkelheit sie zu Heimkehr zwang. Eine merkwürdige Woche, in der merkwürdige Personen vor der Stadt auftauchten, da fiel einer mehr gar nicht ins Gewicht... Der Menschenstrom, der sich aus Ankram heraus und in die Stadt hinein über die mächtige Brücke schob, welche sich in kühnem Bogen über einen Fluss schwang, zwang Balek dazu, das Pferd im Schritt weitergehen zu lassen. Obgleich sich die Menge zwischen den rechts und links angebrachten Geländern gegenseitig auf die Füße trat und in dem anhaltenden Schieben und Schubsen mehr als ein böses Wort fiel, blieb direkt um den Söldner wie zufällig eine Schulterbreite Platz. Frauen zogen fröstelnd ihre Stolen enger um die Schultern, während sie gleichzeitig versuchten, einen besseren Blick auf den Mann im roten Mantel zu erhaschen, nicht einig, ob die stille Ahnung von Gefahr und Abenteuer, welche ihn umgab, sie faszinieren oder ängstigen sollte. Die Männer betrachteten Balek weit weniger offen und mit mehr Härte im Blick, so manche Hand legte sich auf einen Schwert- oder Messergriff, und doch wichen sie dem Pferd genauso schnell aus wie ihre Damen. Jene, die mehr mit dem Hunger in ihrem Bauch oder den Sorgen aufgrund des vorangegangenen harten Winters und die mageren verbliebenen Vorräte bis zur Ernte beschäftigt waren, Bauern und Tagelöhner also, folgten lediglich dem allgemeinen Strom, ohne dem Söldner auch nur wahrzunehmen, und zwei oder drei Händler vor der Stadtmauer näherten sich ihm mit hoffnungsvollen Gesichtern. Einen Blick in die undurchdringliche Miene später hielten auch sie bereits wieder nach anderen Kunden Ausschau. Dann passierte Balek die hölzernen Stadttore. Innerhalb der Mauern wurde es nicht viel besser. Bunt gekleidete Menschen schritten über die breiten Straßen, gingen ihren Geschäften nach oder spazierten ziellos durch die Gegend. Von der einfachen Wollkleidung der Bauern über das schlichte Leinen der Kaufleute bis hin zur Seide der feinen Lords und Ladys war alles vertreten. Da und dort ragte die Gestalt eines Ritters oder der Leibwache eines Adeligen hoch zu Ross aus der Menge, Mietkutschen und aufwendig geschmückte Vierspanner, deren Fenster mit Stoffen verhangen waren, teilten sich den Platz mit Heuwagen und Handkarren. Die Fahrer wichen Balek genauso aus wie die Reiter und zu Fuß gehenden Menschen, ein Strom, der sich wie von Geisterhand vor ihm öffnete und hinter ihm wieder zusammen floss. Der Söldner trieb seinen Fuchs durch die Straßen, auf der Suche nach einer Bleibe, die seinen Ansprüchen genügte. Obgleich er die Menschen um sich herum nicht zu beachten schien, verfolgte er aufmerksam die Bewegung der Menge um sich herum, registrierte jede Unregelmäßigkeit, jeden zu abschätzenden Blick. Allzu schnell endete man andernfalls in einem solchen Gedränge mit einem Messer im Rücken oder wurde von einer anderen Überraschung angesprungen. Überraschungen waren in seinem Beruf selten erfreulich. Es kamen nicht viele Gasthäuser oder Tavernen für Balek in Frage: etwas abseits gelegen, fern dem Stadtmittelpunkt und dem dichtesten Gedränge. Weder besonders gediegen noch besonders heruntergekommen, Unauffälligkeit war das, wonach er suchte. Die meisten waren entweder das eine oder das andere und so brauchte es eine gute halbe Stunde, bis er endlich fand, wonach er suchte. Die ehemals weiße Farbe der Taverne wies einen schmutzig grauen Ton auf, als sei sie lange nicht mehr gestrichen worden und die Holzläden vor den Fenstern schienen doppelt so lange nicht mehr durch neue ersetzt worden zu sein, doch insgesamt machte das Gebäude mit dem Namen Der holden Maid Ruh' einen wenn schon nicht gerade gepflegten, so doch instand gehaltenen Eindruck. Neben der schweren Tür, die ins Innere der Taverne führte, stand ein grobschlächtiger Kerl mit nur einem Auge, der Balek mit vor der Brust verschränkten Armen musterte. Jemand, der für Ruhe und Ordnung im Haus sorgte und unpassende Gäste schon abwies, bevor sie hier absteigen konnten. Noch ein Grund, sich für diese Taverne zu entscheiden. Der Söldner schien die stumme Musterung zu bestehen, denn kaum dass dieser abgestiegen war, nickte der dunkel gekleidete Mann und bellte ein ruppiges „Jun!“ über die Schulter. Nur wenige Augenblicke später kam ein dürrer Junge um die Ecke gerannt, dessen Kleidung wie ein Zelt an seinen dünnen Gliedern hing. Sein Gesicht war sauber und die Haare ordentlich gekämmt. Er blieb vor Balek stehen und lächelte schüchtern zu diesem hoch. „Ihr Pferd, Herr?“ Balek drückte dem Jungen wortlos eine Münze in die Hand und reichte ihm die Zügel. Es war wahrscheinlich, dass der Bursche von dem Besitzer dieses Hauses oder einem der Angestellten unterhalten wurde und man nicht erwartete, dass ein Gast für die Versorgung und Unterbringung seines Pferdes noch einmal extra bezahlte. Die Münze sollte lediglich einen wirksamen Anreiz bieten, sich gründlich um den Fuchs zu kümmern. „Noch eine, wenn du deine Arbeit ordentlich machst.“ Mit diesen Worten ließ der Söldner den Jungen samt Pferd stehen und schritt zum Haupteingang des Gebäudes. Der Mann neben der Tür verfolgte aus den Augenwinkeln jeden seiner schweren Schritte, die auf dem Kopfsteinpflaster der Straße ein dumpfes Geräusch verursachten. Hätte Balek gewusst, welch einschneidende Wirkung das Übertreten eben dieser Türschwelle auf sein Leben haben sollte, er wäre augenblicklich umgedreht und weiter geritten. Das Innere des Gebäudes entsprach seinen ungefähren Vorstellungen. In dem vielleicht 15 mal 20 Schritt messendem Raum befanden sich mehrere Tische, bis auf zwei in der hintersten Ecke nahe der Treppe alle besetzt. Eine Tür hinter der Theke gleich gegenüber des Eingangs führte den Gerüchen nach zu urteilen in die Küche, in welcher bereits das Abendessen vorbereitet wurde. Rechterhand brannte ein kräftiges Feuer in einem steinernen Kamin und an der linken Wand befand sich die Treppe hinauf in den ersten Stock. Wachskerzen, in Tavernen eher eine Seltenheit, brannten an den Wänden und auf den Tischen, auf dem Boden lag wenige Tage altes Stroh. Zwar roch es nach Bier, deftigem Essen und Schweiß, doch alles in einem machte die Taverne einen akzeptabel sauberen und hellen Eindruck. Wenn die Zimmer sich im selben Zustand befanden und die Decken so weiß waren wie die Schürzen der Kellnerinnen, dann ließ es sich hier übernachten. Baleks Aufmerksamkeit richtete sich nun vollends auf die anwesenden Gäste. Er war zu erfahren, um sie zuvor vollkommen außer Acht gelassen zu haben, aber jetzt musterte er auch Einzelne von ihnen aufmerksam. Die Männer – er konnte außer den Kellnerinnen keine Frauen ausfindig machen – machten ganz den Eindruck, den man an einem Ort wie diesem erwartete: sie waren grobschlächtig, trugen derbe Kleidung und lachten zu laut. Keiner von ihnen hatte bereits den Pegel der Betrunkenheit erreicht, bei dem ein Mann Dummheiten zu begehen anfing und Balek konnte sich sicher sein, dass solche Gäste ohnehin schnell und sauber entfernt wurden. Die drei Männer, die wie zufällig an verschiedenen Wänden des Raumes lehnten und den Blick aufmerksam in die Menge gerichtet hielten, konnten nur Angestellte sein, die dafür bezahlt wurden, Schlägereien zu beenden und Störenfriede vor die Tür zu setzen. Nur eine Gestalt, die offensichtlich knapp vor ihm die Taverne betreten hatte und sich nun der Theke näherte, passte nicht in das Bild, dass sich dem Söldder bot. Selbst unter dem dunkelblauen Wollumhang wirkten die Schultern des Mannes – der Kleidung nach musste es wohl einer sein, ungeachtet des hellen Haares, das ihm bis zur Hüfte über den Rücken fiel – zu schmal, seine Kleidung war etwas zu sauber und die Haare schienen frisch gewaschen zu sein. Bestätigt wurde sein erster Eindruck durch eine raue Frauenstimme, welche ein erfreut klingendes „Elfchen!“ durch den Raum schickte. +°+ Genau jener Mann, den Lyone bei seinem Eintreten nicht bemerkt hatte, beobachtete im Gegenzug den Halbelfen kurz und intensiv. Lysander saß im tiefen Schatten unterhalb der Treppe auf einem Schemel und verfolgte von hier aus schon seit einer ganzen Weile ungesehen das Treiben in seiner Taverne. Lyone sah müde aus, wie jeden Abend, wenn er die Maid betrat. Die Arbeit auf dem Gestüt ging nicht ohne körperliche Anstrengung vonstatten, doch wenn er der Einschätzung seines Verbindungsmannes Glauben schenken konnte, dann war die Beschäftigung mit den temperamentvollen Pferden wie geschaffen für den Halbelfen. Lysander stellte nicht ganz ohne Zufriedenheit fest, dass die Gestalt, die da gerade zwischen den Gästen hindurch zur Theke schritt, so gut wie nichts mehr mit der gemein hatte, die er vor fünf Wochen in den Straßen Ankrams aufgelesen hatte: abgerissen, verschmutzt und alarmierend gleichgültig, trotz des allgegenwärtig scheinenden Misstrauens in den eisblauen Augen. Seit ein paar Tagen glaubte er sogar, so etwas wie Zufriedenheit bei Lyone ausmachen zu können. Lysander ließ seine Augen weiter wandern und gedachte gerade, sich erneut dem übrigen Geschehen innerhalb des Schankraums zuzuwenden, als die Tür ein weiteres Mal und mit wesentlich mehr Schwung geöffnet wurde. Ein Blick auf die ihm Rahmen stehende Person reichte aus, ihn samt Schemel unweigerlich tiefer in den Hohlraum unterhalb der Treppe rutschen zu lassen. Rasch und akribisch tastete er mit den Augen die Gestalt im blutroten Mantel ab, deren Aussehen und Auftreten nicht den Anschein erweckten, es mit einem mittellosen Tagelöhner zu tun zu haben. Dafür strahlte der Mann eine zu große Selbstsicherheit aus. Der weite Mantel aus dicker Wolle war sauber, nicht sonderlich zerschlissen und konnte zahlreiche Dinge verbergen, wertvolle als auch gefährliche oder seltene... Die Neugier des Diebes war schon in den ersten Sekunden geweckt und es juckte ihm förmlich in den Fingern, den seltsamen Gast ein wenig besser in Augenschein zu nehmen. Aufmerksam verfolgte er den Weg des Söldners hinüber zur Theke. Aufrechter Gang, geradlinig, schwere aber nicht plumpe Schritte. Dunkle Augen, die hierhin und dorthin huschten, ohne länger als eine Sekunde an einem Punkt zu verweilen. Wie Lysander und seine drei bulligen Angestellten den Fremden abschätzten, so sondierte dieser schon auf dem Weg zu Ayaina seine Umgebung. Etwas Gefährliches haftete dem Mann an, etwas Ungewöhnliches, und beides reizte den Dieb so treffsicher, wie ein Wollfaden die Pfoten einer Katze zucken ließ. Es wurde Zeit, dass er sich zu Lyone gesellte und den Fremden einmal aus nächster Nähe betrachtete. Es musste sich einfach lohnen, das sagte ihm sein Instinkt. Und der hatte ihn noch nie getäuscht. Sollte es auch dieses Mal nicht. Ganz im Gegenteil... tbc Aller Anfang ist ruhig. Doch nicht mehr lange. Drei Wege stehen im Begriff, sich zu kreuzen. Drei Geschichten, die sich fortan zu einer einzigen verbinden könnten. Sechs werden es irgendwann sein. Mit welchem Ziel? Zu welchem Preis? Ein wenig mehr möget ihr erfahren. Beim nächsten Mal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)