The House Jack Built von S_ACD (Supernatural / The Shining – Crossover) ================================================================================ Kapitel 3: Omeletts ------------------- === Sam wachte mit demselben unguten Gefühl auf, mit dem er eingeschlafen war – dem Gefühl, dass Dean irgendwas beschäftigte. Umso beunruhigender war es deshalb, als er die Augen aufschlug und feststellen musste, dass das Bett seines Bruders leer war. Dann erst bemerkte er, dass ihm jemand mit Klebeband einen Notizzettel an die Stirn geheftet hatte. Ungehalten riss er ihn herunter. Die Nachricht war kurz und bündig und ließ keinen Zweifel darüber offen, wer sie verfasst hatte. „Küche. Wenn du aufwachst, schuldest du mir wahrscheinlich schon 20$. Dean, 7:58 am“ Der Brauch, die aktuelle Uhrzeit bei solchen Notizen dazuzuschreiben, war uralt und irgendwann während Sams Highschoolzeit entstanden. Er konnte sich nicht mehr genau an die Umstände erinnern, die dazu geführt hatten, war sich aber ziemlich sicher, dass es etwas mit einem Job zu tun gehabt hatte. Die meisten Angewohnheiten zwischen ihm und Dean hatten ursprünglich etwas mit dem Familiengeschäft zu tun gehabt. „Wenn du aufwachst, schuldest du mir wahrscheinlich schon 20$.“ Er runzelte die Stirn. Das bedeutete doch wohl hoffentlich nicht das, was er dachte, dass es bedeutete. Keine fünf Minuten sprintete er die Treppe hinunter. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich: Die Küche glich einem Schlachtfeld. Besser gesagt, der eine Edelstahlblock, auf dem Dean sich ausgebreitet hatte, glich einem Schlachtfeld, während der Verursacher selbst auf wundersame Weise weitgehend unversehrt geblieben war. Gut, dachte Sam, bei aller Fairness musste man sagen, dass Dean durchaus keine absolute Katastrophe in der Küche war. Sein Bruder konnte kochen, oder zumindest konnte er das, was man in einer Studenten-WG darunter verstanden hätte. Er schaffte Nudeln, über die man dann Fertigtomatensoße aus der Dose kippen musste oder er warf sämtliche Reste, die der Kühlschrank hergab, in eine Topf. Auch alle möglichen Variationen von Suppe bekam er tadellos hin. Die zweifelhafte Kochkünste rührten daher, dass Sam, und daran konnte er sich noch ziemlich gut erinnern, als kleines Kind sehr wählerisch gewesen war. Fertigpizza war gut und schön, und auch die ganzen asiatischen Take-Outs hatte er gemocht (was vor allem an den wundersam geformten Schachteln und den beigelegten Stäbchen lag, mit denen er in diesem Alter zwar noch nicht viel hatte anfangen können, die ihn aber trotzdem fasziniert hatten), aber irgendwann kam immer der Punkt, an dem er, trotziges Kind, das er nun einmal gewesen war, das alles satt gehabt hatte. War dieses Maß erreicht, hatte er sich einfach geweigert, weiterhin irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen und da ihr Vater oft über mehrere Tage hinweg verschwunden gewesen war, war es in neun von zehn Fällen sein großer Bruder gewesen, der diese Ausbrüche hatte ausbaden und irgendeine passable Lösung finden müssen. Und schon als Achtjähriger war Dean mit demselben Elan an die Sache herangegangen, den er auch heute noch zeigte, wenn sich etwas als notwendig herausstellte, von dem er keinen blassen Schimmer hatte. Er stellte sich an den Herd und begann zu improvisieren – und das so lange, bis er es geschafft hatte, etwas zu fabrizieren, das einigermaßen essbar war und die Zustimmung seines quengelnden, vierjährigen Bruders gefunden hatte. Jetzt sah er auf, als Sam mit gemischten Gefühlen die Küche betrat und grinste triumphierend. „Na endlich! Dachte schon, ich muss hochkommen und dich eigenhändig runtertragen. Mann, du bist doch sonst so ein Frühaufsteher.“ „Sorry.“ Sam kam neben dem Edelstahlblock zum Stehen. Auf dem Herd stand eine Pfanne und daneben ein Teller, auf dem sich ein wahrer Berg von Omeletts türmte. Dean sah ihn aufmerksam an. „Und? Was geträumt?“ Der sorgfältig neutrale Tonfall entging Sam keineswegs. „Nein“, sagte er und musste nicht einmal lügen, „Gar nichts.“ Er deutete auf den Teller. „Ist das nicht ein bisschen viel?“ Dean zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich wusste nicht wirklich, wie viel Teig ich...“, mit einer schwungvollen Bewegung schaltete er den Herd ab und die zischende Gasflamme erlosch, „Egal. Dann ist für morgen wenigstens auch noch was da.“ Sam war sich nicht sicher, ob er diese Begeisterung teilen sollte. „Ah ja.“ „Überschlag dich mal nicht“, sagte Dean trocken und drückte ihm eine Flasche Ahornsirup in die Hand, die er irgendwo im Lager ausgegraben haben musste, „Los, da rüber, jetzt wird gegessen. Du schuldest mir so was von zwanzig Dollar, Sam.“ Neben einem der zahlreichen anderen Edelstahlblocks standen zwei Barhocker, die Dean wohl aus der Colorado Lounge hergeschleift hatte. Sam wusste nicht recht, warum, aber er war erleichtert, dass sie hier frühstücken würden und nicht im Speisesaal. Der große leere Raum mit den vielen Tischen, die alle mit Plastikfolie abgedeckt worden waren... Sogar Teller standen schon da, zusammen mit Tassen und einer Thermoskanne, die recht vielversprechend aussah. „Was ist das?“ Dean verdrehte die Augen. „Hustensaft“, sagte er, „Mal ehrlich, was denkst du denn, was das ist?“ Und das waren doch tatsächlich gute Nachrichten. „Kaffee?“, fragte Sam hoffnungsvoll. „Kaffee“, bestätigte Dean, „Kann aber sein, dass er ziemlich stark ist... hatte vorher ’ne kleine, uhm... Meinungsverschiedenheit mit der Kaffeemaschine. Warte, irgendwo da drüben muss noch Milch rumstehen.“ Er sprang wieder auf und durchstöberte das ganze Zeug, das er im Laufe des Kochvorgangs auf der Stahlplatte ausgebreitet hatte, nach der Milchtüte. Sam verbiss sich ein Grinsen. Er hatte keine Ahnung, woher dieser ganze Enthusiasmus auf einmal kam, aber es tat gut, seinen Bruder so begeistert bei der Sache zu sehen. „Ha-ha!“, machte Dean, zog die viereckige, mit Flecken übersäte Packung hervor und staubte etwas herunter, das nach Mehl aussah, „Na, wer sagt’s denn!“ „Gratuliere“, sagte Sam trocken. Dann wandten sie sich den Omeletts zu. Sie waren durchaus essbar. Ein bisschen zu mehlig und eine Spur zu dick, aber wenn man großzügig Sirup darüber schüttete, störte das absolut nicht. Für ein exklusives Restaurant hätte es wahrscheinlich nicht gereicht, aber für das Hier und Jetzt war es mehr als genug. Nach ein paar Bissen bemerkte Sam, dass Dean ihn verstohlen beobachtete. Ihm war klar, dass er nur einmal abfällig das Gesicht zu verziehen oder eine kritische Bemerkung zu machen brauchte und das begeisterte Grinsen würde in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. So unangreifbar und selbstsicher sein Bruder auch immer tat, Sams Meinung war ihm wichtig und er nahm sie sich zu Herzen – so sehr, dass Sam sich schon mehr als einmal dafür hätte ohrfeigen können, dass er seinen Mund aufgemacht hatte, ohne vorher darüber nachzudenken, was er da eigentlich anrichtete. Er griff nach der Thermoskanne und dann nach der Milchtüte, die genau so klebrig war, wie sie aussah, während Dean kaute und versuchte, so auszusehen, als wäre ihm das alles vollkommen egal. Sam schob sich den nächsten Bissen in den Mund und gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Gar nicht übel“, nuschelte er, weil es irgendwie einfacher war, das mit vollem Mund zu sagen, „Ich meine, reich werden wirst du damit sicher nicht, aber ernsthaft... nicht übel.“ Dean zuckte gespielt desinteressiert mit den Schultern und strahlte in seine Kaffeetasse. „Also?“, hakte er nach, nachdem sie fertig gegessen hatten – Sam hatte extra noch zweimal zugelangt, obwohl er eigentlich schon satt gewesen war, „Was ist jetzt mit dem Geld?“ Sam blinzelte ihn unschuldig an. „Welches Geld?“ Aber Dean fiel nicht darauf herein. „Meinem Geld, Sam“, sagte er grinsend, „Du erinnerst dich? Zwanzig Dollar, wenn ich Omeletts hinkriege.“ „Einigermaßen essbare Omeletts“, korrigierte Sam, „Nicht einfach irgendwas.“ Die gefährlichen Klippen waren umschifft. Jetzt konnte er ohne schlechtes Gewissen wieder Witze über Deans Kochkünste reißen. „Die waren mehr einigermaßen essbar“, sagte Dean wie zur Bestätigung selbstgefällig, „Die waren köstlich, okay? Du hast ja keine Ahnung.“ Sam murmelte grinsend etwas von wegen, er wäre sich nicht ganz sicher, wer von ihnen beiden hier keine Ahnung habe. Deans gute Laune war ansteckend. Was auch immer es gewesen war, das ihn gestern beschäftigt hatte, jetzt schien es ihm kein Kopfzerbrechen mehr zu bereiten. Und auch das ungute Erlebnis mit dem Fahrstuhl schien er einigermaßen verdaut zu haben. (Sam wusste nur zu gut, wie es seinem Bruder mit engen Räumen ging.) Immerhin hatte er gekocht. Das war ihm die mickrigen zwanzig Dollar allemal wert. „Bitte, meinetwegen“, sagte er, „Ich geb sie dir nachher, in Ordnung?“ Dean winkte ab. „Lass dir Zeit. Ich weiß so oder so, dass ich gewonnen habe. Also...“, er schlug geschäftsmäßig die Hände zusammen, „Wie sieht’s aus? Pläne für den Tag?“ Darüber hatte Sam sich bereits Gedanken gemacht. „Weißt du...“, sagte er zögernd, „Eigentlich würde ich mir gern mal den Keller ansehen.“ Er erntete ihm einen befremdeten Blick. „Den Keller? Wozu?“ „Na ja...“ Seine Gedanken schweiften ab zu der Hotelführung, die sie vor zwei Tagen bekommen hatten, bevor sich der Manager in seinen protzigen Angeber-BMW gesetzt hatte, um in wärmere Gefilde zu verschwinden. Der Hausmeister hieß Watson, war steinalt und brabbelte dermaßen viel Unsinn vor sich hin, dass man unwillkürlich den Verdacht bekam, er wandelte hart an der Grenze zur Unzurechnungsfähigkeit. Die einzigen verständlichen Dinge, die er von sich gab, betrafen den gigantischen Heizofen im Keller, der mit Erdgas betrieben wurde und den Boiler, der das Wasser erhitzte. Während des Vorstellungsgesprächs hatte der Manager am Rande erwähnt, dass Watsons Ur-Urgroßvater oder so ähnlich das Overlook-Hotel hatte errichten lassen. Damals war die Familie offenbar noch steinreich gewesen, aber das ganze Geld war im Laufe der Jahre verloren gegangen. Das war anscheinend auch der einzige Grund, warum dieses lebende Museumsobjekt weiterhin als Hausmeister beschäftigt wurde und noch nicht entlassen worden war – Watson kannte das Gebäude in- und auswendig, mitsamt seinen Macken und Eigenheiten. Im Großen und Ganzen, erklärte er ihnen, bereite einem die Heizanlage hier unten überhaupt keine Probleme, denn sie sei vor ein paar Jahren im Zuge einer Runderneuerung komplett ausgetauscht worden. Offenbar war das Hotel davor von einer komplett veralteten Anlage versorgt worden, die richtiggehend gefährlich werden konnte, wenn man nicht regelmäßig den Druck abließ. Doch das sei ja nun vorbei, sagte Watson, dem Herrn sei’s gedankt, sogar das Umschalten der Heizwärme auf die einzelnen Flügel des Hotels funktioniere jetzt automatisch. Mehr, als von Zeit zu Zeit hier herunterzukommen, um nach dem Rechten zu sehen, bräuchten sie nicht zu tun. Sam hatte ihm die ganze Zeit ohnehin nur mit halbem Ohr zugehört, denn etwas anderes hatte ihn in seinen Bann gezogen. Der Keller war überschwemmt mit unordentlich übereinandergeschichteten Kartons, die randvoll gestopft waren mit Papieren, Zeitungen und Akten. Dass sie sich alle um das Overlook-Hotel drehten, schien die einzige Gemeinsamkeit zu sein. Am liebsten hätte er auf der Stelle damit begonnen, sie nach brauchbaren Informationen durchzusehen, aber das war aus naheliegenden Gründen schwer möglich gewesen. Auf Deans Gesicht machte sich so etwas wie Verstehen breit. „Oh Mann, Sammy“, sagte er genervt, „Erzähl mir bitte nicht, du willst wegen dem ganzen alten Krempel da runter.“ Sam spürte einen Anflug von Ärger in sich aufsteigen, war sich aber nicht ganz sicher, ob es an Deans offensichtlicher Missbilligung lag oder einfach daran, dass er so einfach durchschaut worden war. „Dean, dieser alter Krempel könnte uns immerhin weiterhelfen“, es klang heftiger, als er eigentlich vorgehabt hatte, „Ich meine, nach dem, was gestern Nacht mit diesem Fahrstuhl passiert ist... Nur für den Fall, dass du’s vergessen hast, wir sind nicht zum Spaß hier!“ Die Anspielung auf die Omeletts war eindeutig und in der nächsten Sekunde hätte Sam am liebsten beides wieder zurückgenommen – den unfairen Angriff und die Tatsache, dass er die Geschichte mit dem Fahrstuhl erwähnt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Dean ehrlich verletzt aus, dann hatte er sich wieder perfekt im Griff. „Tja“, sagte er unbekümmert, „Wenn das die Dinge sind, aus denen deine feuchten Träume bestehen, Sam, dann will ich dich natürlich nicht davon abhalten. Aber du siehst sicher ein, dass ich mit meiner Zeit was Besseres anfangen kann.“ „Klar“, war alles, was Sam sagte, obwohl er sich am liebsten entschuldigt hätte, „Was machst du inzwischen?“ Dean zuckte betont lässig mit den Schultern. „Aach“, sagte er, „Dachte, ich sehe mal nach, ob das EMF noch zu retten ist. Könnte nämlich eventuell sein, dass wir das noch brauchen werden, weißt du.“ Sam schluckte. Na ganz toll. Jetzt war sein Bruder auch noch der Meinung, ihm etwas beweisen zu müssen. Er hätte die Sache mit dem Fahrstuhl wirklich nicht auf den Tisch bringen sollen. Dean sprach nicht über seine Ängste. Dean ignorierte sie und erwartete von der restlichen Bevölkerung, dass sie dasselbe tat – etwas, das Sam soeben unterlassen hatte und das wiederum bedeutete, zumindest in Deans kleiner Welt, dass er hinzugehen und sich dem Fahrstuhl zu stellen hatte. „Weißt du was, ich komme mit.“ Dean sah ihn spöttisch an. „Auf einmal? Vergiss es, Sam. Ist nicht nötig.“ „Ich will aber.“ „Wozu?“, Dean klopfte abwesend gegen seine inzwischen leere Kaffeetasse, „Ich meine, mal ehrlich, wäre doch Zeitverschwendung. Vergrab du dich ruhig in deinen Zeitungen und ich sehe zu, dass ich die Technik wieder hinkriege... ist ja nicht so, als ob du besonders viel Ahnung davon hättest.“ Autsch. Das tat weh, auch wenn die Spitze ersten absolut der Wahrheit entsprach und zweitens vollkommen gerechtfertigt war. „Gut“, sagte Sam langsam und stand auf, „Also dann... ich bin im Keller, falls irgendwas sein sollte.“ Dean erhob sich ebenfalls. „Alles klar. Pass auf, wo du hintrittst, okay? Da unten ist es finster.“ Sam grinste nur schief. „Keine Panik.“ === Das Neonlicht flackerte einen Moment lang unschlüssig, bevor es leise summend zum Leben erwachte und kaltes, nüchternes Licht über dem Keller ausschüttete. Sam stieg die Treppe hinunter und verharrte auf der letzten Stufe. Wow. Das waren noch mehr Kartons, als er in Erinnerung gehabt hatte und kurz überlegte er, ob er nicht doch den Laptop holen sollte. Eines war jedenfalls sicher, das hier würde eine ganze Weile dauern. Hoffentlich machte Dean in der Zwischenzeit keinen Unsinn. Er unterdrückte den Drang, wieder nach oben zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Geste würde mit ziemlicher Sicherheit bloß missverstanden werden... zumindest jetzt noch. Wenn er aber in einer halben Stunde wie nebenbei einmal auftauchte, würde Dean ihm das erfahrungsgemäß durchgehen lassen. Er wandte sich wieder den übereinandergeschichteten Kartons zu. Bestimmtes System schien es keines zu geben, deshalb griff er einfach nach dem nächstbesten Papierstapel – alte verblichene Zeitungen. Er überprüfte das Datum und schnaubte ungläubig. 1939... sehr zeitgemäß, wirklich. In Ermangelung eines Stuhls setzte er sich auf einen Fleck am Boden, der einigermaßen sauber aussah und lehnte sich gegen die angenehm warme Wand, die direkt an den Heizraum angrenzte. Wenigstens an ein paar Marker hatte er gedacht. Er zog die Beine an, seufzte verhalten und begann zu lesen. === Dean ging absichtlich langsam und überlegte. Der Aufzug steckte fest, und das gut einen halben Meter unter der Einstiegsstelle, also würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als hineinzuklettern, wenn er das zerstörte EMF-Meter wirklich bergen wollte. Der Gedanke behagte ihm ganz und gar nicht – und das auch aus einer ganzen Reihe von Gründen, die nichts mit seiner Abneigung gegen enge, geschlossene Räume zu tun hatten. Er war ganz ehrlich nicht besonders scharf darauf, wieder in diese winzige Kabine zu steigen. Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen, als er um die Ecke bog und der offene Fahrstuhl genau dort auf ihn wartete, wo er eigentlich nicht hätte sein sollen. Exakt auf einer Höhe mit dem Flur, seelenruhig, so als wäre nie irgendwas gewesen. „Was zum...?“ Er näherte sich vorsichtig. Okay, was zum Henker war hier los? Die Kabinentür stand offen, die Knöpfe leuchteten freundlich, die ganze Maschine wirkte so zuverlässig und harmlos, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Als hätte sie Zeit ihres Lebens noch nie etwas anderes getan, als tadellos zu funktionieren. Das schrottreife EMF und die zerbrochenen Plastikstücke, die den Kabinenboden pflasterten, waren der einzige Beweis dafür, dass vergangene Nacht überhaupt irgendetwas passiert war. Dean blieb stehen. Für wie blöd hielt ihn das Ding eigentlich? Noch einmal würde er da auf keinen Fall reingehen. Er musterte den von Bruchstücken bedeckten Boden eingehend. Metall und Plastik. Kein Konfetti, keine Luftschlangen. Genau wie er vermutet hatte. Schon heute Morgen war er zu dem Schluss gekommen, dass ihm seine Augen gestern einen Streich gespielt haben mussten. Kein Wunder, bei der Panik, die er da plötzlich geschoben hatte... Es war schon schlimm genug, dass er aus keinem nachvollziehbaren Grund beinahe die Nerven verloren hatte... aber nein, das hatte natürlich nicht gereicht, er hatte sich auch noch vor Sammy blamieren müssen und das war vollkommen inakzeptabel. Was aber noch lange nicht hieß, dass er vorhatte, dieses mörderische Ding jemals in seinem Leben wieder zu betreten. Mutig zu sein war eine Sache, völlig grundlos und dämlich das Schicksal herauszufordern eine andere. Aber das EMF musste er haben. Er sah sich suchend um, dann fiel ihm der Besen ein, der in der Vorratskammer in einer der Ecken gelehnt hatte. Damit müsste es gehen... Zwei Minuten später war er wieder da und fischte vorsichtig nach dem zertrümmerten Gerät. Es schabte über den Boden und fast kam ihm der Nachhall, den das Geräusch in der Kabine verursachte, unnatürlich laut und beinahe unwillig vor – so als wäre die Maschine selber nicht einverstanden mit dem, was er da tat. Meine Fresse, dachte er, ging das schon wieder los? Er musste sich zusammenreißen. Das war pure Einbildung, sonst gar nichts. Als er das EMF-Meter endlich in der Hand hatte, genügte ein Blick darauf, um festzustellen, dass nicht mehr viel zu retten war. Verdammt. Dass sie das Ding „eventuell noch brauche könnten“ war eine Untertreibung gewesen. Sie würden es ziemlich sicher noch brauchen, wenn nicht bei diesem Job, dann eben beim nächsten. Abwesend drehte er es in der Hand. Er fühlte sich seltsam schutzlos, jetzt, da es weg war. Unvorbereitet. Na ja, Schwamm drüber. Sie würden es überstehen und außerdem... er hatte es einmal gebaut, das konnte er wieder tun. Das EMF war nicht alles. Kein Weltuntergang. Blieb die Frage, was er jetzt unternehmen sollte. Sam saß im Keller bei seinen verstaubten Zeitungsausschnitten und wenn eines sicher war, dann die Tatsache, dass er da nicht so schnell wieder hervorkommen würde. Dean musste schmunzeln. Freak. Er entschloss sich, noch einmal alle Zimmer durchzusehen. Zwar hatten sie das das gleich am Tag ihrer Ankunft getan, und das noch dazu verdammt gründlich, aber schaden konnte es schließlich nicht. Laut Vertrag hätten sie in den Gästezimmern abgesehen von akuten Notfällen sowieso nichts verloren gehabt, aber hey- wenn man ihnen schon den Generalschlüssel gab... Was konnten sie dafür? === Das leise Rauschen hörte er schon, als er noch draußen im Flur stand. Die Zimmernummer verkündete 217 in hübschen Goldziffern. Er runzelte die Stirn und schloss die Tür auf. Das Zimmer sah aus wie jedes andere auch. Geschmackvoll, aber doch hart an der Grenze zum Protzigen. Das Rauschen hier drin war deutlich zu hören und jetzt erkannt er auch, was es war – Wasser. Irgendwo lief Wasser. Als er die Badezimmertür öffnete, stellte er fest, dass der Wasserhahn der Badewanne voll aufgedreht war. Er näherte sich vorsichtig, denn seiner Erfahrung nach konnte das von einer kaputten Dichtung bis hin zum blutrünstigen Rachegeist schlichtweg alles sein. Jetzt wäre es zum Beispiel schon wieder ganz praktisch gewesen, ein funktionierendes EMF-Meter dabeizuhaben. Der Abfluss der Wanne war frei und das Wasser lief ungehindert hab, einfach so, sssshhh... Okay... Er streckte die Hand aus, langsam, und erwartete dabei halb, dass jemand oder etwas ihn anfallen würde. Das Chrom der Armaturen fühlte sich kalt und feucht an unter seinen Fingern. Er drehte den Hahn zu – und nichts passierte. Das Wasser hörte auf zu fließen und verschwand fröhlich gurgelnd, dann herrschte Stille. Ein paar Sekunden lang stand er da und betrachtete nachdenklich die winzigen, glitzernden Tropfen, die zurückgeblieben waren. Er hatte den Hahn nicht aufgedreht und Sam ganz sicher auch nicht, denn mal abgesehen davon, dass er das mitbekommen hätte – warum in alles in der Welt hätten einer von ihnen beiden das tun sollen? Andererseits weigerte sich alles in ihm, den Vorfall einfach als unwichtige Kleinigkeit abzutun. Das wäre dumm gewesen, dumm und unvernünftig und noch dazu gegen alle freiwilligen und unfreiwilligen Lektionen, die ihm Zeit seines Lebens erteilt worden waren. Aber das Zimmer um ihn herum blieb, wie es war. Nichts tauchte plötzlich auf oder verschwand oder schien überhaupt das Bedürfnis zu haben, ihn um die Ecke zu bringen. Er wusste ja nicht, was hier sonst noch so vor sich ging, aber das war jedenfalls schon mal gut. === Sam öffnete den Marker mit den Zähnen und umkreiste die Schlagzeile. Gedankenverloren betrachtete er die neonblauen Kringel, bevor er den Zeitungsausschnitt langsam auf dem Stapel neben sich platzierte, der inzwischen eine respektable Größe erreicht hatte. Sein Rücken spannte unangenehm und seine Beine fühlten sich taub an, weil er viel zu viel Zeit im Schneidersitz verbracht hatte, ohne einmal die Position zu wechseln. Er drehte den Stift zwischen den Fingern. Mann. Die Geschichte, die dieser Kasten vorzuweisen hatte, reichte beinahe aus, um die Spanische Inquisition alt aussehen zu lassen. Mafia-Morde, ungeklärte Todesfälle, Unfälle, Selbstmorde... ganz abgesehen von den Familien Grady und Torrance. Er warf einen resignierten Blick auf die Flut an Material, die noch vor ihm lag. Irgendwie schien der Berg nicht kleiner zu werden. Egal, es half alles nichts. Wenn sie die Geschichte hier jemals erfolgreich zu Ende bringen wollten, würden sie alle Informationen brauchen, die sie kriegen konnten. Er griff nach dem nächsten vergilbten Papierstapel, diesmal ein Packen alte Rechnungen, der von einer verbogenen Klammer zusammengehalten wurde. Sah nicht besonders vielversprechend aus. Die Ränder waren von irgendjemandem in unleserlich kleiner Schrift bekritzelt worden – schien nicht so, als wären die Notizen geschäftlicher Natur. Er kniff die Augen zusammen. Was stand da? Zwei Zeilen, dicht nacheinander, die unter Anführungszeichen gesetzt worden waren und so wirkten, als gehörten sie zusammen. Vielleicht ein Zitat... Mit einiger Mühe entzifferte er „verlassen“, dann etwas, das unter Umständen „Feuer“ sein konnte. Er brachte das Blatt näher an sein Gesicht heran. In der rechten Ecke stand nur ein einziges Wort. Hieß das „Ahnherr“? Nein, eher „Alptraum“ ...oder möglicherweise auch- „Und, spannend?“ Er zuckte zusammen und fuhr halb in die Höhe, was sich als keine seiner besseren Ideen herausstellte, denn seine Knie, zu lange still und regungslos gehalten, protestierten empört. Etwas unfreiwillig sank er wieder zurück in seine ursprüngliche Haltung. Sein großer Bruder stand auf der untersten Stufe und grinste leicht spöttisch auf ihn herab. Hätte Sam genauer hingesehen, hätte er auch den beinahe liebevollen Ausdruck in Deans Blick bemerkt, aber er war zu beschäftigt damit, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Verdammt, er war ja heute wirklich auf der Höhe. Wieso hatte er die Schritte nicht gehört? Er konnte es sich nicht erlauben, so unachtsam zu sein, prinzipiell nicht und hier in diesem Hotel schon gar nicht. Kurz überlegte er, die Wahrheit zu sagen, aber er brachte es nicht über sich, Dean nach diesem Überraschungsmoment auch noch die Genugtuung zu lassen, dass er mit seinen Bedenken dem Keller gegenüber vollkommen Recht gehabt hatte. „Nicht uninteressant“, sagte er, „Ich meine... das meiste ist ziemlich alt, aber es waren ein paar nützliche Sachen dabei.“ Irgendwo in seinem Hinterkopf konnte er mit einem Mal die ärgerliche Stimme ihres Vaters hören, der ihm vorhielt, dass er so nicht erzogen worden war. Er war nicht auf der Hut gewesen. Er hatte es versaut. Mal wieder. „Verdammt noch mal, Sam, pass gefälligst auf! So was kann dich den Kopf kosten! Hast du mich verstanden?“ „...ja.“ „Ob du mich verstanden hast, will ich wissen!“ „Ja, Sir.“ „Hm“, Dean nickte langsam, „Okay... und? Schon irgendwas rausgefunden?“ Klang das etwa skeptisch? Sam sah ihn finster an. „Ja“, sagte er bissig, „Das ganze große Geheimnis, mit Exorzismus und allem Drum und Dran. Stand im Overlook für Dummies, gleich auf Seite eins. Sonst noch was?“ Dean hob abwehrend die Hände. „Tut mir leid“, sagte er, „Hatte ja keine Ahnung, dass du schon wieder deine Tage hast.“ „Leck mich.“ „Uh...“, Dean verzog das Gesicht, „Danke, lieber nicht.“ Sam hatte das dringende Bedürfnis, nach ihm zu treten, aber erstens wäre das unreif gewesen und zweitens stand sein großer Bruder ein paar Zentimeter zu weit entfernt. Und nichts sah lächerlicher aus als ein erfolgloser Versuch. Er gab sich mit genervtem Augenverdrehen zufrieden. „Willst du irgendwas Bestimmtes?“, hakte er nach und war zufrieden mit dem gereizten Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, „Abgesehen davon, mir unoriginelle Beleidigungen an den Kopf zu werfen, meine ich.“ Dean zuckte mit den Schultern. „Vergiss es“, sagte er missmutig, „Wollte eigentlich nur wissen, ob du... na, egal.“ Er machte Anstalten sich umzudrehen und plötzlich wusste Sam selber nicht mehr, wo seine schlechte Laune auf einmal hergekommen war. „Hey“, sagte er, „Dean, warte. Was?“ Zugegeben, es klang selbst bei objektiver Betrachtung nicht besonders freundlich, aber die erwünschte Wirkung trat trotzdem ein und der Angesprochene blieb stehen. Sein Glück, dachte Sam, dass Dean noch nie allzu viel auf Objektivität gegeben hatte, wenn es um seinen kleinen Bruder ging. „Was?“, wiederholte er um einiges versöhnlicher, „War irgendwas los?“ Sekundenlang schien es, als wollte Dean ihm etwas sagen, aber dann entschied er sich anscheinend dagegen. „Nah“, sagte er und das breite Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, war zumindest zur Hälfte echt, „Dachte bloß, du hast vielleicht Hunger.“ Sam runzelte die Stirn und versuchte, sich auf seinen Magen zu konzentrieren. Das Bedürfnis zur Nahrungsaufnahme hatte er nicht unbedingt. Die ganzen Omeletts... sein Bruder konnte doch nicht schon wieder etwas essen wollen. „Eigentlich...“, setzte er etwas vorsichtig an, denn die Frage konnte auch ein versteckter Hinweis darauf sein, dass Dean schlicht und einfach Gesellschaft wollte, „Uhm, also... jetzt schon?“ Der verdutzte Gesichtsausdruck überraschte ihn dann doch etwas. „Was soll das heißen, jetzt schon?“, Dean schob seine Hände in die Taschen, „Sam, es ist gleich halb fünf.“ Wie bitte? Sam verzog verwirrt das Gesicht. „Nachmittags?“, fragte er. Dean schüttelte grinsend den Kopf. „Nein, Idiotenzeit“, sagte er, „Natürlich nachmittags, Sammy, was denn sonst?“ „Huh“, machte Sam überrascht. Das war wirklich mehr Zeit, als er gedacht hatte. Um einiges mehr Zeit, als er gedacht hatte. Dean schüttelte den Kopf. „Freak...“, murmelte er, aber das Wort war von einer Beleidigung so weit entfernt, als hätte es nicht einmal die leiseste Ahnung davon, dass etwas Derartiges überhaupt existierte. „Ich...“, sagte Sam, weil Dean immer noch auf eine Antwort zu warten schien, „Gleich, okay? Gib mir noch ’ne halbe Stunde. Ich gehe das hier fertig durch und dann ist Schluss.“ „Klar, kein Problem. Ich bin dann mal im Erdgeschoss. Nachsehen, ob die da irgendwo was Anständiges zu lesen rumliegen haben.“ Sam grinste. Aber sicher doch. Was Dean darunter verstand, war ihm hinlänglich bekannt. „Sicher“, sagte er, „Die Artikel sind ja schließlich der einzige Grund, warum du dir die Dinger überhaupt ansiehst.“ Dean gab sich Mühe, unschuldig auszusehen und versagte auf ganzer Linie. „Natürlich“, sagte er grinsend und begann damit, die Treppe hochzusteigen, „Die Artikel, was auch sonst? Jeder Mann liest den Playboy bloß wegen der Artikel. Die sind klasse, das ist knallharter Journalismus.“ „Was auch immer du sagst.“ Auf halber Höhe wandte sich Dean noch einmal um. „Halbe Stunde, Sam“, sagte er, „Sonst bin ich verhungert. Und wenn wir schon mal beim Thema Artikel sind – sieh zu, dass du dich mit deinen langweiligen nicht übernimmst.“ Und weg war er. Sam sah ihm nach und hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Die Worte hatten etwas bewirkt, irgendetwas in ihm wachgerüttelt. Mit einem Mal war sein Kopf angefüllt mit Erinnerungen. ... „-ich hab dir doch gesagt, dass du dich übernimmst.“ „Dad, ich hab alles unter Kontrolle!“ „Schluss jetzt. Dean, Abmarsch, deine Aufgabe. Sam, du kommst mit mir.“ „Aber-“ „Ja, Sir.“ ... ... „Du bleibst hier.“ „Ich will mitkommen, Dad, ich kann-“ „Was ist, rede ich etwa undeutlich? Du bleibst HIER.“ „Warum muss ich immer- Dean!“ „Sammy, Herrgott noch mal, lass es doch endlich gut sein...“ Die Bilder wurden mehr und mehr, beschleunigten wie Wasser, das langsam zu kochen begann. Keine konkreten Situationen, nur noch Gesprächsfetzen, einzelne Sätze, die für sich allein genommen nichts Besonderes waren, aber dafür schlichtweg alles repräsentierten, was ihn damals von Zuhause fortgetrieben hatte. „Du wartest hier.“ „Dean kann das übernehmen.“ „Spar dir das.“ „Packt eure Sachen, in zwei Stunden fahren wir.“ -es war immer schon so gewesen, schon von Anfang an, er hatte bloß erst erwachsen werden müssen, um es endgültig zu begreifen- „Weil ich das sage.“ „Keine Fragen.“ „Keine Diskussionen.“ „Ich will nichts mehr davon hören.“ Der Raum schien sich um sich selbst zu drehen und wie nebenbei nahm er war, dass er flach atmete. Seltsam, dachte er verschwommen, eigentlich bekam er doch mehr als genug Luft, warum hatte er- „Du hörst mir gefälligst zu!“ „Du hast das nicht zu entscheiden.“ „Dean kann das erledigen-“ „Dean, schaff deinen Bruder hier raus.“ -immer wieder Dean, der perfekte Soldat, ein Klon, der sich letztendlich immer für dieses Leben entscheiden würde, ganz egal, was Sam auch sagte oder tat- -aber IHM wurde vorgeworfen, egoistisch zu sein, er war das schwarze Schaf, das gegangen war, während die sich aufspielten und so taten, als wäre der Grund, aus dem sie wie nebenbei Menschenleben retteten, reine Selbstlosigkeit- Seine Umgebung bewegte sich zu stark, er musste die Augen schließen. Alles war verkehrt, die Bilder, die Gedanken, aber dann waren sie doch wieder seltsam rational und vernünftig, sie ergaben Sinn- -es würde sich nicht ändern, niemals, denn Dean war noch da und hatte ihren Vater in sich aufgenommen- -er wusste, dass etwas nicht stimmte, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht dazu aufraffen, etwas dagegen zu unternehmen- -hatte ihn, seine Ideen und Gewohnheiten und Ansichten richtiggehend absorbiert- „Sammy?!“ Jemand rüttelte ihn an der Schulter und er blinzelte benommen. „W-was...?“ Der Raum bewegte sich nicht. Alles war starr und steif an seinem Platz. Bis auf Dean, der irgendwie über ihm schwebte und ihn immer noch leicht schüttelte. „Mann, sag doch was. Alles okay?“ Erst jetzt wurde ihm bewusst, das er auf dem Boden lag und hastig richtete er sich auf. Dass Dean ihm dabei half, bekam er gar nicht richtig mit. Kurz verschwammen die Konturen wieder ineinander, als er von der Horizontale in die Vertikale wechselte, aber die schwarzen Flecken vor seinen Augen verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Verdattert schüttelte er den Kopf. Was zum Teufel... war er etwa eingeschlafen? Es hatte sich nicht danach angefühlt. Es fühlte sich auch jetzt nicht danach an. „Ja“, murmelte er, obwohl Dean gar nichts mehr gesagt hatte, sondern ihn bloß durchdringend musterte, „Sorry, ich glaub, ich bin...“ Er wollte sich mit einer Hand durch die Haare fahren und bemerkte bei der Gelegenheit, dass Deans Hände immer noch auf seinen Oberarmen lagen. „Uhm... bin wohl eingepennt oder so was.“ Dean sah ihn zweifelnd an. „Eingepennt? Sam, ich weiß, wie du aussiehst, wenn du schläfst und glaub mir, das-“ „Ah ja?“, sagte Sam und stellte fest, dass ihm das Grinsen nicht halb so schwer fiel, wie er befürchtet hatte, „Du weißt, wie ich aussehe, wenn ich schlafe? Alter, tut mir leid, aber irgendetwas an diesem Satz klingt einfach mordsmäßig verkehrt.“ Das Neonlicht war eine Spur zu hell, sein Mund etwas zu trocken und alles fühlte sich seltsam schwammig an, aber im Großen und Ganzen ging es ihm gut. Wahrscheinlich war er wirklich nur kurz weggenickt. Sekundenlang sah Dean so aus, als hätte er gute Lust, ihm gegen den Hinterkopf zu schlagen, aber er ließ es bleiben und alleine das war schon ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er sich immer noch Sorgen machte. Er zog sanft an Sams Hemd. „Komm, hoch mit dir. Ist gleich Viertel sechs, vielleicht bist du bloß umgekippt, weil du seit ’ner halben Ewigkeit nichts mehr getrunken hast.“ Sam schüttelte den Kopf. „Kann sein“, gab er widerwillig zu und beeilte sich, auf die Beine zu kommen, bevor Dean seine Hand ausstrecken konnte, „Können wir?“ „Alles wartet nur auf dich, Samantha“, Dean deutete eine Verbeugung an, „Nach dir.“ Sam ignorierte ihn und bückte sich stattdessen, um seinen Papierstapel aufzusammeln. Toll. Jetzt konnte er den ganzen Abend damit verbringen, das Zeug in seinem Ordner einzuschlichten. Hoffentlich hatte Dean keinen seiner nervigen Tage. Das Papier raschelte, als er es hochhob. Zuoberst lag die verblichene, bekritzelte Hotelrechnung. Er warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. Rechts oben in der Ecke prangte eindeutig das Wort „unaufmerksam“. Seltsam. Warum noch mal hatte er vorhin solche Schwierigkeiten damit gehabt, es zu lesen? Dann wurde ihm klar, dass Dean ihn beobachtete – sein Bruder sah aus, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er ungeduldig dreinschauen oder sich vielleicht doch lieber dazu bereitmachen sollte, Sam aufzufangen, weil der ja immerhin jede Sekunde bewusstlos umfallen konnte. Sam rang sich ein Lächeln ab. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er möglicherweise doch so was wie Hunger. „Nichts“, sagte er, „Ich dachte irgendwie nur, ich... nichts. Lass uns gehen.“ Und dieses Mal kam erntete er keine blöde Bemerkung. === Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)