Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 4: 5 ------------ „Nhhhgg!“ Ihre Handflächen gegen die Schläfen gepresst, taumelte sie auf einem unsichtbaren Pfad durch das Unterholz. Susannas Kopfschmerzen sprengten alle Dimensionen und aus Ermangelung an Aspirin musste sie auf wenig erfolgreichere Methoden zurückgreifen, wie zum Beispiel Reibungswärme, die sie mit Hilfe ihrer Handinnenflächen erzeugte, und Druck, indem sie ihre Fingerspitzen gegen ihre Kopfhaut drückte. Doch der wirklich stechende Schmerz umging diese Gegenmittel mit Leichtigkeit. Susanna hatte ein Megajetleck. Unter normalen Umständen hätte sie sich jetzt längst in medizinischer Überwachung befunden und morgen nach einem ausgiebigen und kohlenhydratreichen Frühstück das Muskelwiederaufbau-Programm angetreten. Die Umstände waren aber nun alles andere als normal, damit musste sie sich abfinden. Simon war nicht mit Kopfschmerzen, Prellungen und Verstauchungen davon gekommen. Wahrscheinlich hatten die ersten Wildtiere ihn entdeckt und das, was von ihm übrig war, erfolgreich wieder verwerten können. Ein Würgelaut entfloh ihrer trockenen Kehle. Und konnten diese verdammten Grillen nicht endlich aufhören zu zirpen. Die Biester waren anscheinend überall. Im Laub am Boden, in den Büschen und ab und zu sah Susanna eine an einem Baumstamm kleben. Die schrillen Laute verstärkten ihr Leid. Mittlerweile war ihr Kopf so empfindlich geworden, dass es sich mit jedem Schritt so anfühlte, als ob ihr Hirn und die Flüssigkeit, in der es schwamm, Anlauf nahmen und gemeinsam gegen die Schädelwand klatschten. „Scheiße!!!“, schrie sie frei heraus, als das dumpfe Geräusch von Holz und der auf der Stelle folgende Schmerz im linken Fuß und im Kopf, ihren inneren Zähler eine Nummer höher springen lies. 32! 32 ungeschlagene Male hatten es ihre Füße nicht geschafft sich höher als diverse Baumwurzeln zu heben und somit der unangenehmen Strafe aus dem Weg zu gehen. Hayden schlug ihre Faust gegen die Baumrinde des Baumes, der ihr am nächsten war. Ihre Knöchel glitten jedoch an der feuchten Moosschicht ab und sie selbst prallte, da sie das Gleichgewicht verlor, mit dem ganzen Oberkörper gegen den Riesen. Während sie noch darauf wartete, dass der Schmerz im Schulterblatt nachließ, begann einige Meter über ihrem Kopf prompt ein Zirpkonzert. Das war zu viel. Sie stieß sich von der Borke ab, mittlerweile Tränen der Pein in den Augen und brüllte: „Seid verdammt noch mal still, ihr Scheißdinger!!! Ich will endlich meine RUHEEEE!!!“ Ruhe. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war die Stille dermaßen absolut, dass Susanna ihr eigenes Echo zwischen den Bäumen hören konnte. Kein Nachtvogel, kein knackendes Geäst, keine Grillen. Fassungslos rang sie nach Atem. Dann entspannte sich ihr Blick, nur um kurz darauf verwundert die Augenbrauen zu heben. Sie lauschte in die Nacht hinein. Als sich auch nach weiteren Minuten nichts an der Kulisse änderte, wirkte sie zwar noch erleichtert und erfreut über ihren seltsamen Sieg, aber zwischen ihren Organen manifestierte sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Instinkt warnte sie: Einen Dschungel ohne Geräusche gibt es nicht, Susanna. Und kaum hatte sie das begriffen, vernahm sie etwas. Es wurde immer lauter. Entsetzt drückte sie sich zurück an die gegerbte Rinde. Menschliche Stimmen! Nur ein Flüstern, kein verständliches Wort. Aber dennoch menschlicher Art. Es glich einem Wind, so wie es sich durch den Wald bewegte. Die Stimmen waren neben ihr, vor ihr, hinter und über ihr. Sie umwehten sie, schlossen sich um sie und entfernten sich wieder, nur um ein weiteres Mal heran zu eilen und genau in dem Moment, wo sie fast unerträglich laut zu werden drohten, abrupt zu verstummen. „Wer ist d-da? Wer seid ihr???“, rief sie gebrochen in die Richtung, in der das Geräusch verschwunden war, „Bitte!!! Wer seid --“ „Du solltest nicht so laut schreien.“ Ihr Körper und ihr Herz machten einen Satz. Susanna Hayden hatte sich so schnell umgedreht, wie es einem Menschen nur möglich war. Selbst das erschrockene Keuchen war auf halber Strecke zurückgeblieben. Hinter ihr, drei Meter nur entfernt und genau in entgegen gesetzter Richtung in der das Flüstern verschwunden war, stand eine Gestalt zwischen einer Ansammlung feuchter Farne und blickte sie an. Sie war weiblich und etwas kleiner als sie. Ihre Augen leuchteten schwach in der Dunkelheit und das Mondlicht brach sich flüssig auf blonden, langen Lockenhaaren. Susanna, erstarrt vor Schreck, brachte keinen Ton heraus. Die junge Frau lächelte. „Du solltest dich lieber beeilen. Er wartet auf dich.“ Susanna löste ihre Zunge aus der Umarmung des Schreckens: „Wer? Wer wartet?“ Die Blonde schüttelte leicht den Kopf: „Du musst nach Süden und das Meer noch in den verbleibenden zwei Stunden zum Sonnenaufgang erreichen. Es ist besser du folgst den Sternen, wenn du sicher ankommen willst.“ Ungläubig nahm sie die Worte auf. Warum sollte sie zum Strand? „Wer zum Teufel bist du?“ „Ich heiße Claire und ich bin hier, um dir zu helfen. Versuche nicht so viele Fragen zu stellen. Die Zeit wartet nicht.“ Susanna kniff die Augen zusammen, als sie der vergessen geglaubte Kopfschmerz erneut heimsuchte, und fragte gequält: „Oh, Gott. Ich verstehe nicht warum … Gibt es dort eine Siedlung?“ Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie erneut ihre Augen. Das Mädchen war weg. Dort, wo sie gestanden hatte, bewegte sich kein Grashalm. Kein Rascheln hatte ihr Verschwinden angedeutet, so als ob sie der Wald verschluckt hätte. Kalter Schweiß rann Susannas Stirn hinunter. Der Kopfschmerz war verflogen. Fast so, als ob ihn diese seltsame Person mit sich genommen hatte. Dennoch hallten die Worte der Fremden in ihren Gedanken wider. Stumm richtete die Zurückgelassene ihren Blick nach oben. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie auf einer Lichtung stand. Der Himmel über ihr war frei. Und in dem nur wenige Quadratmeter großen Fenster im Blätterdach befand sich der Polarstern. Genau in diesem Moment, an diesem Ort hatte sie ausgerechnet freies Blickfeld auf den Stern, den man brauchte, um sich erfolgreich zu orientieren. Mit flachem Atem beobachtete sie diesen einige Minuten lang, bis sie sich sicher war, dass er sich von ihr aus nach rechts bewegte. Das hieß, sie stand bereits in Richtung Süden. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen. Möglicherweise war es auch eine Halluzination gewesen. Immerhin hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen, getrunken und auch nicht geschlafen. Sie hatte einen Absturz aus denkbar größter Höhe überlebt, hatte die Leiche eines Freundes gesehen und hatte selbst eine Vielzahl an Verletzungen. Die Möglichkeit einer Einbildung übertraf die Wahrscheinlichkeit einer echten Begegnung bei Weitem. Aber, ob sie wollte oder nicht, sie musste früher oder später sowieso den Weg zurück zum Strand einschlagen, wenn sie nicht darauf bestand, dass sie langsam im Dschungel verreckte. Ohne jegliches Zeitgefühl folgte sie den Sternen bis diese langsam so verblasst waren, dass sie sie nur noch schwer lesen konnte. Bevor dies jedoch geschah, drang das bekannte Meeresrauschen an ihre Ohren und der Salzgeruch erfüllte ihre Nase. Sie schleppte sich auch die letzten Schritte aus dem Dickicht und ging auf dem Sand keuchend in die Knie. „Heilige Scheiße …“, brachte sie zwischen zwei Atemzügen hervor. Sie hätte schon vor Stunden eine zweite Pause gebraucht, aber die Worte von Claire hatten keine Unterbrechung ihrer Wanderung zugelassen. Er wartet auf dich. Egal, wer er war. Er sollte besser etwas Wasser dabei haben und ein funktionierendes Handy, ansonsten würde sie ihn nicht sehr freundlich empfangen. Sie knickte ihre Beine seitlich so weg, dass ihr Hintern auf dem hellen Sand zum sitzen kam. Lange hielt sie das nicht mehr durch. Entweder fand sie hier wirklich jemand oder sie würde an Entkräftung und Durst sterben. Sie legte den Kopf nach hinten und genoss die kleine Briese, die vom Pazifik heran wehte. Verärgert stellte sie fest, dass sie einen Tinnitus hatte. Sie stopfte sich ihre Finger in beide Ohren, aber es wurde nur noch schlimmer. Beunruhigt musste sie feststellen, dass es sich nicht um ein Ohrgeräusch handelte, sondern dass es eine reale Schallquelle war, die die Luft um sie herum zum schwingen brachte. Ein unfassbar hoher und klarer Ton. Je lauter er wurde, umso heller wurde es um Susanna. Der Himmel begann zu glühen. Während sie schrie und beide Hände auf die Ohren presste, musste sie auch die Augen vor dem gleißend weißen Licht schließen, was von einem Moment auf den anderen alles verschlang: Das Meer, den Strand, die Vögel, den Wald, sie. Das erste, was sie hörte, war ihr eigener Herzschlag. Der Himmel war wieder normal. Strand, Meer und Wald waren wieder da. Im Hintergrund sangen die Vögel wie zuvor und auch Susanna saß genau dort, wo sie sich gesetzt hatte. Was war das gewesen? Eine Explosion? Warum lebte sie dann noch? Sie rieb sich mit den Händen, die nach Schlamm und Gras rochen, über das Gesicht und strich dann ihr rotes Haar, welches ihr in die Augen gefallen war, mit der Rechten zurück. Klick. Sie lies ihre Hand zurück in den Schoss fallen und drehte ihren Oberkörper, um hinter sich zu schauen. Einen Liedschlag später hatte sie den kalten Lauf einer Pistole auf der Stirn. An der Waffe vorbei erkannte sie einen jungen Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er trug eine sandfarbene Uniform mit einem seltsamen Emblem unter dem Namensschild. Seine kalten Augen fixierten sie wütend durch die runden Brillengläser hindurch und sein Finger zuckte gefährlich am Abzug, als er sie anfuhr: „Wer sind Sie?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)