Oh Shit. von m0nstellar ================================================================================ Kapitel 14: Sowas wie ein Date ------------------------------ Die Gabel schwebte vor ihrem offenen Mund, darauf einen Happen von Chris’ selbstgemachtem Tiramisu. »Der Typ hat sich mit einem Rasenmäher-Roboter die Zehen amputiert?!«, rief Stellar entsetzt aus und ihrem Gesicht nach zu urteilen wusste sie nicht, ob sie sich ekeln oder staunen sollte. »Er wollte ausprobieren, was passiert, wenn man seinen Fuß drunter hält«, erklärte er, den Mund selbst mit einem Bissen Nachtisch gefüllt. Stellar senkte die Gabel und legte sie auf den Teller ab. »Ist nicht dein Ernst!« »Doch, ist es«, entgegnete er schmunzelnd. »Ach Quatsch! So doof ist doch keiner?!« »Wenn ich’s dir aber sage ...« Sie schüttelte den Kopf. »Und der Typ war nüchtern?« »Jap, nüchtern. Kein Alkohol, keine Drogen. Reine Dummheit.« »Oh Gott«, keuchte sie und hielt sich die Hand vor Fassungslosigkeit an die Stirn. »Und dann? Was habt ihr dann gemacht?« Er schob sich abermals eine Gabel voll Tiramisu in den Mund, ehe er antwortete: »Na ja, viel machen kannst du in solchen Fällen nicht. Wir haben ihm einen Druckverband angelegt, ihm Schmerzmittel gegeben –« »– und ihn in die Klinik gefahren.« Chris schürzte die Lippen und wippte mit dem Kopf hin und her. »Jaaa ... aber nicht sofort. Dem werten Herren gingen schließlich noch die Zehen ab.« Nun legte sie endgültig die Gabel weg und ließ sich rückwärts in den Stuhl zurückfallen, rieb sich die Stirn. »Oh dio ...« »Eins muss man diesen Rasenmäher-Robotern echt lassen: Dafür, dass sie eher mittelprächtig mähen, haben sie eine heftige Fliehkraft. Die Zehen waren echt weit verstreut.« Stellar schüttelte es kurz, verzog erneut das Gesicht. »Bah. Wenn ich mir vorstelle, im Vorgarten rumzukriechen, nur um ... bah, nee. Ich könnte das nicht.« Die letzten Reste wanderten in Chris’ Mund und er sah ihr amüsiert zu, wie sie sich seinen Einsatz bildlich ausmalte. Keiner, dem er je von seiner Arbeit erzählt hatte, hing so gefesselt an seinen Lippen wie Stellar, und war es noch so ekelerregend. »Wie lange habt ihr dafür gebraucht?« »Puh, schwer zu sagen. Vielleicht fünf Minuten oder so?« »Ganze fünf Minuten?!« Und wieder platzte es aus ihr heraus. »Gott, der arme Kerl ...« Chris kicherte lautlos in sich hinein, schluckte hinunter. »Was heißt hier ‚armer Kerl‘? Wenn er nicht so dumm gewesen wäre, seinen Fuß da reinzuhalten, wäre das alles erst gar nicht passiert.« »Ja schon ... Aber wenn ich mir vorstelle: Du liegst da im Rettungswagen, deine Zehen von diesem Ding in deinem Vorgarten verstreut, hast Schmerzen ohne Ende und du kommst nur deswegen nicht los, weil sich dein kleiner Zeh nicht auffinden lässt ... Gott, das muss der absolute Horror sein.« »Steck deinen Fuß in keinen Mäh-Roboter, dann passiert dir sowas schon mal nicht.« Prompt verdrehte sie die Augen und stöhnte genervt auf »Du ...!« Plötzlich spürte ihn einen Schmerz am Unterschenkel. »Hey! Kein Grund mich gleich zu treten!« Stellar kniff die Augen zusammen und streckte ihm als Antwort die Zunge raus. Dann beugte sie sich wieder vor zum Tisch, nahm die Gabel und stocherte damit im Tiramisu herum. »Was macht man eigentlich mit ... abgetrennten Körperteilen? Kann mir nicht vorstellen, dass man die einfach so in die Hosentasche steckt.« Trotz des ernsten Themas kam beiden bei dem Bild ein kurzes Lachen aus. »Also, das Optimum wäre, wenn du sie in einen Gefrierbeutel packst. Dann nimmst du dir noch einen, legst dort Eiswürfel rein oder irgendwas, was die abgetrennten Körperteile kühlt – im Zweifel tut’s auch eine Packung Tiefkühlgemüse – und in diesen Beutel kommt der mit dem amputierten Körperteil. So kann kein Gefrierbrand durch den direkten Kontakt mit dem Eis oder der Kälte entstehen und die Chance, ihn wieder anzunähen, stehen so am besten. Und dann natürlich so schnell wie möglich ins Krankenhaus damit.« Stellar nickte verständnisvoll. »Habt ihr es bei ihm noch rechtzeitig in die Klinik geschafft?« »Ja klar. Er hat gute Chancen, dass er alle seine Zehen wieder angenäht kriegt. Ist ja heutzutage für Chirurgen kein Problem mehr.« Ihr Blick fiel auf ihren immer noch halb gefüllten Teller. »Ich glaube, es ist ganz gut, dass ich kein Paramedic bin. Wenn ich das hätte machen müssen ... ich glaube, ich hätte gekotzt. Mir hat damals die Sache mit Mrs. Jenkins schon vollkommen ausgereicht und ich glaube, das fällt noch in die Kategorie der eher harmloseren Einsätze.« Bei dem Gedanken an die alte Dame kam ihm ein Seufzer aus. »Ach ja, unsere Mrs. Jenkins ... War schön, sie mal wieder zu sehen.« Stellar grinste schief. »Ja ... sie war auch ganz begeistert.« Chris runzelte die Stirn und sah sie fragend an. War da ein sarkastischer Unterton? »Dir ist es echt nicht aufgefallen?« Offenbar war ihm da etwas entgangen. »Was denn?« Langsam beugte sie sich wieder nach vorn, grinste noch breiter. »Also manchmal frage ich mich wirklich, wo du mit deinen Gedanken bist. Alles um dich herum kriegt mit, wie heftig sie auf dich abfährt, nur du nicht.« »Auf mich?!« Völlig überrascht riss er die Augenbrauen in die Höhe. »Wieso auf mich? Wie kommst du darauf?« Ein Schulterzucken war ihre Antwort. »Da brauche ich nicht erst darauf kommen, das ist offensichtlich«, erklärte sie und griff nach ihrem Weinglas, trank einen Schluck daraus. »Außerdem gibt es keinen Tag, an dem sie dich nicht zum Thema macht. Hättest mal sehen sollen, wie hibbelig sie gleich gewesen ist, als sie erfahren hat, dass du heute in den Salon kommst. Da konnte es mit ihrem Styling gar nicht schnell genug gehen. Wenn ich nicht bei dem Telefonat selbst dabei gewesen wäre, hätte ich schwören können, du bist mit ihr verabredet.« Au weia. »Und ich dachte, sie freut sich einfach nur mich wiederzusehen.« Stellar lachte kurz auf. »Hat sie doch. Ganz außerordentlich sogar.« Dann redete sie in verstellter Stimme weiter: »Also wenn ich noch einmal in Ihrem Alter wäre, würde dieser Mann seine Uniform bestimmt nicht lange tragen. Das glauben Sie mal.« Eieiei ... Verlegen kratzte sich Chris im Nacken. Offenbar hatte die gute, alte Mrs. Jenkins seine Freundlichkeit völlig missverstanden. »Tja. Was soll ich sagen: Ich muss wohl umziehen.« Stellar lachte. »Ich glaube, so schlimm ist es dann doch nicht.« »Wollen wir’s mal hoffen. Andernfalls hätte ich dann das erste Mal einen Grund, vor einer Frau Angst zu haben.« »Angst? Vor Mrs. Jenkins?« Ungläubig hob sie eine Augenbraue. »Hast du mir nicht eben noch gesagt, sie will mir regelrecht die Klamotten runterreißen?« »Nur wenn du eine Uniform anhast«, entgegnete sie und zwinkerte ihm zu, ehe sie lachte. »Hm. Dann ist es wohl sinnvoller, wenn ich meinen Namen ändere und mir einen neuen Job suche, ohne Uniform.« »Ich glaube, dafür ist es auch schon zu spät. Wir reden hier immerhin von Mrs. Jenkins. Sie findet dich, wenn sie das will.« Chris seufzte gekünstelt dramatisch auf. »Es ist aber auch wirklich nicht leicht, so begehrt zu sein.« »Oh, bitte«, stöhnte Stellar und verdrehte schmunzelnd die Augen. »Was denn? Du hast damit angefangen«, erwiderte er und kicherte, zwinkerte ihr zu. Dann fiel sein Blick auf ihren Teller. »Sag mal ... Was ist eigentlich mit deinem Tiramisu? Schmeckt’s dir nicht?« Es sah fürchterlich aus, regelrecht durch die Gabel malträtiert. Hastig winkte sie ab. »Doch, nur ... So leid es mir tut, aber ich krieg nichts mehr runter«, erklärte sie und ließ sich erneut in die Lehne zurückfallen. »Du isst doch sonst auch immer zwei Portionen?« »Ja, schon. Aber ...« Sie schob ihm den Teller zu. »Ehrlich. Rein geschmacklich würde ich so lange essen, bis nichts mehr da ist, aber ... ich kann einfach nicht mehr.« Innerlich seufzend nahm er ihr den Teller ab und begutachtete den Igel-artig aussehenden Kakao-Mascarpone-Klumpen. Schade. Dabei hatte er ihn extra für sie gemacht. Irgendwie versetzte ihm das einen kleinen Stich. »Sicher?« Sie nickte und sah ihn bedauernd an. »Tut mir leid.« »Schon in Ordnung«, log er und brachte das Geschirr zur Spüle. Dort öffnete er die darunterliegende Schranktür und zog den Küchenabfalleimer hervor, schabte Stellars kulinarisches Horrorgebilde in den Abfall. Währenddessen registrierte er aus dem Augenwinkel, wie sie mitsamt dem restlichen Tiramisu zum Kühlschrank marschierte. »Was schauen wir uns heute eigentlich an?« Chris öffnete den Geschirrspüler und zog das oberste Fach heraus. »Mal ganz spontan gefragt: Was hältst du stattdessen von einem Mario Kart Battle? Haben wir schon ewig nicht mehr gemacht.« Ein diabolisches Kichern war zu hören, als sie das Tiramisu im Kühlschrank verstaute. »Und du bist dir sicher, dass du das auch wirklich willst?« »Wieso nicht?« »Weil ich dich die letzte Male auch schon abgezogen habe?« Chris schnaubte auf. »Nur weil ich dich gewinnen hab lassen.« »Stimmt doch gar nicht!« »Wollen wir wetten?« Plötzlich blinkte etwas neben der Spüle wie wild immer wieder auf. Es war Stellars Smartphone-Taschenlampe, die einen Anruf anzeigte. Er nahm es in die Hand, sah aufs Display – und seine Laune schlug augenblicklich um. Echt jetzt? »Stellar?« Diese schloss gerade den Kühlschrank und wandte sich anschließend zu ihm. »Hm?« Er reichte ihr ihr Handy. »Anruf für dich. Ist Dylan.« In seiner Stimme schwamm weitaus mehr Abneigung darin als gewollt. Hoffentlich hatte sie davon nichts bemerkt. Mit gerunzelter Stirn nahm sie ihm das Handy ab und mit einem Daumenwisch den Anruf entgegen. »Hallo?« Offenbar war sie davon selbst etwas irritiert. Doch dann hellte sich ihre Miene auf. »Oh hi!« Diese freudige Begrüßung bereitete ihm regelrecht Sodbrennen. »Nein, nein. Du störst nicht. Bin gerade bei Chris. Was gibt’s denn?« Ach, wie schön. Bis vor kurzem war Dylan noch wahnsinnig lästig und jetzt kam es ihm so vor, als wäre das niemals Thema gewesen. Wann genau das passiert war, hatte er wohl auch verpasst. »Am Wochenende?« Ihr Blick wanderte einige Sekunden lang zu ihm, dann aber wieder gen Boden. »Oh, okay.  ... Kannst du das denn?« Zu gern hätte er gewusst, worüber sich die beiden unterhielten. Leider ging ihn das nur nichts an. Chris wandte ihr deshalb den Rücken zu und versuchte, seine volle Aufmerksamkeit dem Geschirrspüler zu widmen. Er schob den obersten Schubladen zurück und zog den Nächsten hervor. »Also ich weiß nicht ...« Ob er sie wohl zum Sport überreden wollte? Oder versuchte er gerade, einen seiner Tipps umzusetzen? Zu raten wäre es ihm. Ihnen beiden. Nur warum stieß ihm selbst dieser Gedanke so sauer auf? Er wagte einen Blick zu Stellar. Sie wirkte ein wenig verunsichert, zumindest machte ihre Spielerei an ihren Haaren den Eindruck. »Na gut, meinetwegen. Aber ich muss Samstag arbeiten.« Sie ließ sich darauf ein? So schnell? Wenn er versuchte, sie von etwas zu überzeugen, redete er gefühlt Stunden auf sie ein. Aber bei Dylan ... Muss ja was ganz was Besonderes sein ... Er schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch war nicht für ihn bestimmt. Zähneknirschend drehte er den Wasserhahn voll auf und hielt sämtliches Kochgeschirr unter laufendes Wasser, bevor er es unsanft in die Spülmaschine stopfte. »Und was ist mit Moira und der Probe?« Sofort hielt er für einen Moment inne. Wie – er kannte Moira? Was zum Teufel lief hier eigentlich?! Wut kroch allmählich in ihm hoch. »Na schön. Dann sehen wir uns Samstag?« Dann sehen wir uns Samstag, äffte er sie in Gedanken nach und drückte immer rabiater das restliche Geschirr in die Maschine. Gott. Er hatte keine Ahnung, was genau sein Problem war, aber er wünschte sich nichts mehr, als dass dieses Telefonat endlich sein Ende fand. »Ich schreibe dir rechtzeitig, wenn meine letzte Kundin da ist«, erklärte Stellar und grinste dabei; es war unüberhörbar. Inzwischen spürte er die Kraft, mit der er die Kochutensilien in Körbchen und Halterungen presste, in seiner Hand schmerzlich widerhallen. Eigentlich war es absurd. Sie waren ein Paar. So, wie sie miteinander umgingen, war es richtig. Und trotzdem – dieses ‚richtig‘ fühlte sich für ihn einfach falsch an. Aktuell war er davon hochgradig genervt. Ein kurzes Lachen war von ihr zu hören. Ist okay. Ihr seht euch ja am Samstag, könnt ihr eure Liebeleien nicht dort fortsetzen?! »Ist gut, mache ich. Bis dann!« Sie nahm das Smartphone vom Ohr und grinste das Display an. Na endlich. Mit mehr Schwung als nötig knallte er die Tür des Geschirrspülers zu, so dass der Inhalt nachschepperte. Stellar sah zu ihm, strich sich ihren Pony aus dem Gesicht und legte das Handy beiseite – und schwieg. Von selbst würde sie wohl nicht erzählen, was es mit diesem Anruf auf sich hatte. »Und ...? Was wollte er?«, fragte er und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenarbeitsplatte. Sie winkte sofort ab. »Er will wohl so etwas wie eine Überraschung am Wochenende für mich organisieren oder so. Keine Ahnung. Ist auch nicht so wichtig.« »Okay.« So, so. Nicht so wichtig, ja? Netter Versuch. Ihm war durchaus bewusst, dass es ihm nicht zustand, so nachzubohren. Dennoch wollte er sich nicht so einfach abspeisen lassen. »Ich weiß, das geht mich im Grunde nichts an, aber ... Habe ich das richtig verstanden? Er kennt Moira?« Stellars Hand schnellte in ihr Gesicht und strich erneut ihren Pony hinters Ohr, der sich seit eben nicht von der Stelle bewegt hatte. »J-ja, das stimmt.« »Okay. Und ... du weißt nicht zufällig, wie das kommt?« Prompt wich sie seinem Blick aus und schwieg, presste die Lippen aufeinander. »Ich meine, nicht mal ich kenne Moira persönlich und wir beide kennen uns schon ein bisschen länger als du und Dylan.« Sie haderte mit sich, das sah er ihr an. Sie knetete bereits ihre Finger, bis sie knackten. Schließlich seufzte sie laut auf und lehnte sich gegen den Esstisch. »Du weißt es aber nicht von mir.  Er wollte es dir selbst sagen.« Aha? Na da war er aber gespannt. »Dylan hat in der Jazzbar, in der Moira arbeitet, einen Job als Pianist angenommen. Eventuell kellnert er dort auch, so wie sie. Sicher bin ich mir da jetzt allerdings nicht ...« Einen Moment lang sah sie nachdenklich in die Luft, schüttelte dann aber den Kopf. »Na ja, jedenfalls arbeiten die beiden seit gestern deshalb zusammen.« Chris wusste darauf nichts zu sagen. War das zu fassen? Von allen Bars in dieser Stadt suchte er sich ausgerechnet in der Bar einen Job, in der Stellars beste Freundin arbeitete. »Das war übrigens auch der Grund, warum ich dir auf die SMS nicht mehr geantwortet habe. Ich habe selbst nicht damit gerechnet und war mit der Situation auch ziemlich überfordert.« »Ach, dir hat er auch nichts davon erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich ja auch wegen Moira mitgegangen, um für sie den neuen Kollegen abzuchecken. Ich habe ja auch nicht damit gerechnet, dass dann Dylan vor mir steht.« Das konnte er sich lebhaft vorstellen. »Und die beiden verstehen sich?« »Lustigerweise sind die zwei ein Herz und eine Seele. Die beiden verstehen sich bestens, als wären sie schon jahrelang befreundet.« Es war ihm ein Rätsel. Wie stellte der Kerl das bloß an? Auch wenn er Moira nicht persönlich kannte: Diese Frau war ihm vom Hörensagen schon zu viel. Ständig dieses Drama, diese krampfhafte Suche nach einem Partner ... Und dann ihre spitze Zunge, die sie gern und ungefragt zu benutzen schien. Wenn er sich vorstellte, dass sich Dylan selbst mit ihr blendend verstand ... Vermutlich war es das Beste, nicht weiter nachzufragen. Er bekam davon allmählich Kopfschmerzen. Innerlich seufzend senkte er den Blick. Diese Entwicklung mit den beiden ging ihm einfach zu schnell. Genau genommen kam es ihm so vor, als irrte er als Einziger allein und hilflos umher, ohne zu wissen, wohin mit sich selbst. »Alles okay?«, fragte Stellar und sah ihn verunsichert an. Was sollte er darauf antworten? Eigentlich war gar nichts okay. Ihm stank es, dass sich die beiden so gut verstanden – was völlig absurd war, denn genau das war ja sein ursprüngliches Ziel gewesen. Nur eine Beziehung, die hatte er dabei nicht im Sinn gehabt. Auch, dass Dylan wieder mal ihre Zweisamkeit unterbrochen hatte, ging ihm gewaltig gegen den Strich; Moment. Nein. Die Tatsache, dass er überhaupt so empfand, war es. Es machte ihn geradezu rasend. Schließlich wäre es ihm ohne Stellar so nie in den Sinn gekommen, es als störend aufzufassen. Aber das, was ihn am allermeisten beschäftigte, war, dass Dylan keine Woche brauchte, um sich schneller in ihr Leben einzufügen als er. Was genau machte er falsch? »Ja, alles okay. Ich bin nur etwas überrascht davon.« »Kann ich mir vorstellen.« In ihren Augen stand pures Mitgefühl geschrieben. Dennoch bezweifelte er, dass sie sich auch nur im Ansatz ausmalen konnte, was gerade in ihm vorging. Er hatte ja selbst keine Ahnung. Stille kehrte zwischen ihnen ein, die unangenehm drückte. Dann aber klatschte sie energetisch in die Hände. »So, Vorschlag: Du baust im Wohnzimmer die Konsole auf und ich schenke uns noch Wein nach.« Chris quälte sich ein Lächeln ab. »Klingt nach einem guten Plan.« »Sehr gut. Dann mal los!« Sicher doch. Er löste die Arme, stieß sich von der Kante der Arbeitsplatte ab und ging ins Wohnzimmer, gab sich dabei alle Mühe, sein abgequältes Lächeln aufrecht zu halten. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie geknickt er tatsächlich war und dadurch dafür sorgen, dass dieser Abend ähnlich in die Hose ging wie der letzte. Aus dem TV-Sideboard holte er eine alte Spielekonsole und zwei klobige Controller hervor, während er versuchte, alles Gesagte zu verdrängen. Denn Fakt war nun mal: Er konnte an der Situation nichts ändern. Er musste sie hinnehmen, ob er wollte oder nicht. Seufzend setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, schaltete den Fernseher ein. Mit sanfter Gewalt, die es bei dem Gerät inzwischen brauchte, steckte er die Controlleranschlüsse in die Konsole und die Spielekassette in den dafür vorgesehenen Schlitz. Dann schob er den Schieberegler nach oben. Schon erschienen das Intro und das Startmenü des Spiels. Gerade als er einen der Controller nehmen wollte, tauchte vor seiner Nase ein Glas voll Wein auf. »Hier. Aber ich sage dir gleich: Wirklich helfen wird er dir beim Gewinnen auch nicht.« Ein Schmunzeln – diesmal ein ehrliches – kam ihm aus und er nahm ihr das Glas ab, stellte es neben sich auf dem Boden. »Das brauche ich auch nicht.« Stellar platzierte ihr Weinglas auf den Wohnzimmertisch, anschließend hockte sie sich ebenfalls im Schneidersitz neben ihn und griff sich den zweiten Controller. »Wirst schon sehen, dich mache ich ohne Mühe fertig.« »Ja, das zeig mir mal«, murmelte Chris und schmunzelte. Jeder von ihnen wählte sich durch das Menü und schnappte sich seinen üblichen Avataren, dann stellte Chris die Strecken zusammen und das Spiel begann.  Schon bei der ersten Strecke rauschte er kurz nach dem Start an ihr vorbei und übernahm die Führung. Stellar versuchte mit allen Mitteln, ihn einzuholen, doch die Mühe war vergebens. Mehr als zu einem kurzweiligen Vorsprung führte es nicht. Genau dasselbe spielte sich auf Strecke Nummer zwei ab. Dort schien er obendrein eine Art Glückssträhne zu haben, was die Actionfelder betraf. Entweder erhielt er rote Panzer oder Bananenschalen – und Stellar war die Leidtragende. »Ach komm schon!«, schimpfte sie lautstark, nachdem sie wieder einmal auf einer Banane ausgerutscht war. Schweigend, aber amüsiert grinsend lugte er aus dem Augenwinkel zu ihr rüber. Energisch ruderte sie mit dem Controller in die Kurven mit, teilweise legte sie sich mit dem gesamten Oberkörper hinein, in der Hoffnung, es nützte etwas. Typisch Stellar. Wenn sie einmal der Ehrgeiz packte ... Nachdem er sie bei der vierten Strecke umrundet hatte, drückte sie die Pause-Taste und funkelte ihn böse an. »Du schummelst doch?!« Er jedoch zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe dir ja gesagt: Ich habe dich die letzten Male nur gewinnen lassen.« Trotzig schmiss Stellar den Controller zu Boden, verschränkte wie ein bockiges Kind die Arme. »Che merda! Das ist echt so unfair.« Chris hingegen grinste schadenfroh. »Was ist daran bitte unfair?« »Nur weil du mich die letzten Male angeschwindelt hast, fühle ich mich jetzt doof!« »Wieso denn angeschwindelt? Ich wollte dir lediglich auch mal einen Erfolg gönnen«, erwiderte er und legte den Controller beiseite. »Sowas fällt aber auch in die Kategorie ‚nicht ehrlich sein‘.« Beleidigt streckte sie ihm die Zunge raus. »Das nimmst du mir ernsthaft übel? Ich hab’s nur gut gemeint.« »Als ob.« Sie griff nach ihrem Wein und kippte sich den restlichen Inhalt in den Rachen. »Sternchen ... komm schon. Wenn du willst, gebe ich dir gern eine Chance auf Revanche.« Pausbäckig nickte sie und stellte ihr Glas beiseite. »Und wie ich die bekommen werde«, verkündete sie, nachdem sie alles hinuntergeschluckt hatte. »Gut, dann –« »Kann ich dich vorher noch etwas fragen?« Chris ahnte, was nun kommen würde. »Du willst lieber den Battle-Modus, oder?« »Nee, was anderes.« Verlegen verzog sie das Gesicht. Etwas anderes? Er sah sie erwartungsvoll an. »Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich eigentlich nicht so viel darüber reden möchte, aber ... Weißt du zufällig, woher Dylan so gut Klavierspielen kann?« Sein Hirn setzte für einen Moment aus. War das ihr ernst? Gerade als er dachte, mit dem Thema Dylan wären sie für heute durch, wärmte sie es wieder auf? Glücklicherweise hatte er seinen Körper so weit im Griff, dass er nicht genervt aufseufzte oder gar die Augen verdrehte. »... wie kommst du da jetzt drauf?« »Na ja ... Als ich gesehen habe, was er auf dem Kasten hat, war ich echt baff. Das war wirklich beeindruckend. Drum ...« Ürgs. Stellars Bewunderung für Dylan schmeckte ekliger als verkorkter Wein. »Dylans Vater ist Klavierbauer. Er hat ihm das Spielen beigebracht.« Verdutzt sah sie ihn an. »Oh, wow. Ich wusste gar nicht, dass es dafür einen speziellen Beruf braucht. Ich dachte immer, sowas wird industriell hergestellt.« Aktuell war es ihm ziemlich egal, ob Klaviere gebaut oder industriell hergestellt wurden. Er wollte einfach nicht länger über Dylan reden. »Sein Vater muss unglaublich stolz auf ihn sein.« Aber, da er ja musste ... »Kann schon sein. Sicher bin ich mir da nicht und ich glaube, er auch nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass sein Vater ihm das wirklich mal gesagt hätte. Ich glaube nicht mal bei unserem letzten Auftritt in der Schulaula.« »Warte, warte, warte – eurem Auftritt? Heißt das, ihr hattet eine Band oder so?« Oh Mann. Hätte er doch nur mit ‚ja‘ geantwortet. »Ja. Also, nein. Sozusagen. Wir haben eben zu zweit Musik gemacht. Er mit Gitarre oder Klavier, ich mit Gitarre und Gesang. Nichts Weltbewegendes.« »Du spielst Gitarre?« Ihre Augen wurden immer größer. Chris nickte. Ein kleiner Funken Freude glühte in ihm auf – »Und er auch?« – und erlosch. Wieder nickte er. »Wie gesagt, nichts Weltbewegendes.« Stellar lachte auf. »Von wegen! Ich wünschte, ich hätte das mal sehen können!« Er fühlte sich zunehmend unwohler. Vermutlich wäre es das Einfachste, wenn er sich darauf einließ. Mit etwas Geschick war die Sache so schneller ausgestanden, als wenn er sich dagegen wehrte. »Ich glaube, unser letzter Auftritt kursiert noch irgendwo im Archiv der Schulhomepage rum. Wenn du willst, kann ich ja mal schauen, ob ich das Video finde.« »Oh bitte, ja! Ich würde das echt zu gern sehen!« Der Pegel seiner Frustration schwappte immer höher. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass der Abend, so wie er ihn sich vorgestellt hatte, hier die Kurve machte. Leise seufzend stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch, nahm seinen Laptop und setzte sich damit aufs Sofa. Stellar folgte ihm und platzierte sich direkt neben ihn. Nachdem er den Internetbrowser geöffnet hatte, gab er auf der Schulhomepage als Schlagwortsuche ‚The Outsiders‘ ein und war überrascht, dass besagtes Video sogar als erster Treffer angezeigt wurde. Mit einem kurzen Doppelklick öffnete es sich. »Ist das hier etwa Dylan?«, fragte Stellar belustigt und deutete auf den kleinen Jungen mit übergroßer Akustik-Gitarre im Arm, zerzaustem Haar und einer deutlich zu erkennenden Narbe im Gesicht, trotz schlechter Aufnahmequalität. Chris nickte stumm. »Gott, wie niedlich!« Seine Kiefer mahlten. »Meintest du nicht eben noch, dass du gesungen hast?« Er musste sich extra anstrengen, um die Zähne auseinanderzubekommen. »Überwiegend schon, ja. Dylan hat aber auch hin und wieder gesungen. Wir hatten keine wirklich feste Struktur. Wir haben einfach gemacht, wie und wonach uns der Sinn stand.« »Okay. Und wo ist das?« »In der Aula unserer alten Schule, wie gesagt. Kurz vor Weihnachten.« Mehr widerwillig startete er den Videoclip und gemeinsam sahen sie dabei zu, wie zwei Zehnjährige unter grellem Scheinwerferlicht ‚The Sound of Silence‘ performten. »Wow. Ich hätte nicht erwartet, dass er so gut singen kann.« Chris schielte heimlich zu Stellar hinüber. Wie gebannt starrte sie auf den Bildschirm. Seine Schultern wurden schwer. Als das Video vorbei war, schloss er den Browser. »Gibt es noch mehr Videos von euch?« Er schüttelte sofort den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Wenn du willst, kannst du ja mal Dylan fragen, ob er noch etwas hat, von dem ich nichts weiß.« Zuzutrauen wäre es ihm. Im selben Moment hasste er sich für diesen Gedanken. Denn eigentlich dachte er gern an diese Zeit zurück. Immerhin war das eine der schönsten und unbeschwertesten Zeiten in seinem Leben. Sie sich selbst und Dylan jetzt so mies zu reden ... Er schämte sich ein wenig dafür. »Dann werde ich ihn Samstag gleich mal fragen«, sagte sie und grinste ihn an. Chris lächelte nur kurz zurück, immer noch bemüht dabei, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen. »Okay, dann auf in die nächste Runde, ich will meine Revanche«, sagte sie und schwang sich aus der Couch. Er jedoch blieb sitzen und schloss langsam den Laptop. »Sei mir nicht böse, aber ... mir ist irgendwie nicht mehr so nach Mario Kart.« Verwundert sah sie ihn an. »Du hast mir doch eben noch eine Revanche angeboten?« »Ja schon, aber ... ich werde langsam müde, weißt du?« Oh Mann. Schon das dritte Mal, dass er sie heute anlog. Allmählich bekam er ein Gefühl dafür, warum Dylan hier und da gerne mal zur Notlüge griff ... »Okay ...« Nachdenklich den Mund spitzend sah sie sich im Zimmer um. »Dann also doch wie geplant DVDs gucken?« Er nickte erleichtert. »Such dir einfach aus, wonach dir der Sinn steht.« »Alles klar.« Sie machte erst einen Schritt nach vorn, drehte sich dann aber wieder zu ihm um. »Ist wirklich alles okay?« Schnell winkte er ab, schob ein kleines Lächeln hinterher. »Alles gut, wirklich. Wie gesagt, ich werde nur müde, ich schätze mal wegen dem Tiramisu. Macht immer ein bisschen träge.« Stellar lächelte sanft zurück, fragte nicht weiter nach und ging nun zielstrebig auf Chris‘ DVD-Sammlung zu. Offenbar gab sie sich mit seiner Antwort zufrieden. Gott sei Dank. Er hatte keine Ahnung, wie standhaft er auf weiteres Nachfragen bei seiner Lüge geblieben wäre. Hoffentlich gewöhnte er sich diese Notlügerei nicht an, so wie Dylan ... Da! Schon wieder! Dylan hier, Dylan da! Er wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und seufzte. Er musste dringend auf andere Gedanken kommen. Und zwar sofort. Mit einem Ruck hievte er sich aus der Couch und räumte seinen Laptop an seinen Platz zurück, dann sammelte er die Weingläser ein. »Willst du noch eins?«, fragte er und hob demonstrativ eines der Gläser in ihre Richtung. »Hm?« Sie drehte sich vom DVD-Regal zu ihm um und verzog nachdenklich das Gesicht. »Hm ... Nee, ich glaube nicht. Aber was zu Knabbern wäre nicht schlecht ...« »Ihr Wunsch ist mir Befehl«, antwortete er und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung. Als er wieder aufrecht stand, lächelte sie ihn an. »Ich danke Euch, wehrter Herr«, nasalierte sie gekünstelt, neigte vornehm ihren Kopf und deutete einen Hofknicks an. Gut, sie nahm ihm die Scharade ab. Und lustigerweise stimmte ihn dieser Blödsinn auch etwas besser. Mit ehrlich erhellter Miene marschierte er in die Küche, wo er die Gläser in die Spüle stellte. Dann schloss er die Augen und atmete einmal kräftig durch. Es war alles in Ordnung. Es gab keinen Grund, sich seltsam zu fühlen. Sie war hier und nichts anderes zählte im Moment. Er griff zum Hochschrank, öffnete die Türen und holte eine Packung Chips heraus. Aus einer der Schubladen nahm er eine Schüssel und füllte die Chips hinein. Die leere Tüte warf er in den Mülleimer unter der Spüle. Schluss jetzt mit der Grübelei. Zum einen führte sie zu nichts und zum anderen tat er dadurch gerade so, als wäre das hier so was wie ein Date. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, er sei eifersüchtig. Einen Moment lang durchfuhr ihn eine merkwürdige Wärme, die sich schlagartig in einen kalten Schauer verwandelte und abwärts sackte. Puh. Vielleicht war das doch etwas zu viel Alkohol für einen Abend ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)