Oh Shit. von m0nstellar ================================================================================ Kapitel 12: Alles auf Anfang ---------------------------- Dunkle, schwere Wolken zogen über den Dächern hinweg, verschluckten erbarmungslos jeden Sonnenstrahl und tauchten das sonst so farbenfrohe Clayton in ein tristes, schattenloses Grau. Bäume warfen ihr Blätterdach hin und her, der Wind pfiff durch Tür- und Fensterritzen und brachte so die Kälte ins Haus. Noch regnete es nicht. Doch das bedrohliche Grollen, das aus der Ferne immer näher rückte, machte unmissverständlich klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die düstere Wolkendecke aufriss und sich über der Stadt ergoss. Stellar konnte das nahende Unwetter schon riechen – jedenfalls so lange, bis der Duft von frisch aufgebrühtem Kamillentee ihn übertünchte, der den Weg aus der nahegelegenen Küche in ihr Zimmer gefunden hatte. Durch den hauchdünnen Spalt zwischen Tür und Rahmen schlüpfte er hindurch, quetschte sich durchs Schlüsselloch; genau wie das dumpfe, verwaschene Geschwätz der beiden anderen. Seit mehr als einer Stunde schon hörte sie Dylan und Moira bei ihrem vergnüglichen Kaffeekränzchen zu, auch wenn sie nicht ein Wort von dem verstand, was sie sagten – musste sie auch gar nicht. Oft genug wurde es durch feuchtfröhliches Gegacker unterbrochen und machte ihr auch so deutlich, dass sie sich prächtig amüsierten. Schwer seufzend wandte sie sich vom Fenster ab und schloss die Augen, presste das Kopfkissen fester an sich und vergrub ihr Gesicht darin. Eigentlich müsste es ihr längst besser gehen. Immerhin war ihre Übelkeit vollständig verklungen, ihre Panik endlich verpufft – doch nun bohrten sich unzählige, messerscharfe Krallen quälend langsam in ihr Gewissen und drohten es in Stücke zu reißen. Nach dem Warum brauchte sie nicht zu fragen, sie kannte die Antwort bereits. Zeit, um sich darüber im Klaren zu werden, hatte sie schließlich genug gehabt. Und eben jene Antwort darauf war auch der Grund, warum sie sich nicht mehr aus dem Zimmer traute.   Es war nicht Dylan, der diesen Vormittag in einen Albtraum verwandelt hatte. Sie war es gewesen, sie ganz allein. Und das nur, weil sie lieber paranoiden Hirngespinsten Glauben schenkte, anstatt die Situation nüchtern zu betrachten. So viel Angst, so viel Panik – wegen nichts. Inzwischen hatte sie für alles eine plausible Erklärung gefunden, selbst für den Song von Eartha Kitt. Jetzt, wo sie die Situationen und Gedanken im Einzelnen näher betrachtete … Hätte sie das mal besser vorher getan. Ihr wäre wesentlich früher in den Sinn gekommen, dass Dylan Eartha Kitt höchstwahrscheinlich deswegen kannte, weil er verdammt nochmal in einem Jazz-Club arbeitete. Selbst sie wusste, dass ein gewisses Knowhow unerlässlich war, wenn man in solch einem Schuppen wie dem Swingy’s als Pianist arbeiten wollte. Bühnenerfahrung musste vorhanden sein, Wissen über das Genre selbst, Talent natürlich auch, die Beherrschung des Instruments … Johnny hatte all das sicher genauestens überprüft. Sie kannte ihn zwar nicht sonderlich gut, aber dass er furchtbar wählerisch und penibel sorgfältig in der Auswahl seines Personals war, das wusste sie durch Moira allemal. Dylan musste ihn von sich und seinem Talent überzeugt haben. Zweiteres stand ja auch außer Zweifel. Wenn man all dies berücksichtigte, war der Gedanke, dass er sich ihretwegen für „My Discarded Men“ entschieden haben könnte, völlig absurd und fernab jeder Realität. Woher hätte er denn von ihrer Vorliebe zu der Jazz-Ikone wissen sollen? Sie hatten nie darüber gesprochen und bei dem bisherigen Missstand zwischen ihnen wäre sie auch niemals auf die Idee gekommen, es ihm zu erzählen. Und genau deshalb, weil sie trotzdem zu dieser Schlussfolgerung gekommen war, schämte sie sich bis in die Steinzeit zurück. Aber diese Angelegenheit war nur ein winziger Tropfen der schwarzen Tinte, die ihr so rein geglaubtes Gewissen besudelte. Was nach ihrer Flucht zum Klo passiert war, war der eigentliche, tonnenschwere Stein im Innern, der sie zusammen mit Vorwürfen und Selbstzweifeln im Tintenglas ertränkte. Dylan war gar nicht auf Schikane aus gewesen. Er hatte ihr nur helfen wollen – und sie hatte es dank ihrer dummen Paranoia weder erkannt, noch wirklich zugelassen. Er fragte nach ihrem Wohlbefinden; sie griff ihn tätlich an und beschimpfte ihn aufs Übelste. Er hielt ihr die Haare zurück, als ihr Essen und Trinken aus dem Gesicht fielen; sie wünschte ihm die Pest an den Hals. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, trug er sie schlussendlich noch nach Hause, weil sie es allein nicht mehr schaffte; und sie? Sie brachte dafür noch nicht mal ein „Danke“ zwischen den Zähnen hervor.   Wie gern würde sie gerade bei ihnen in der Küche stehen, ihnen versuchen alles zu erklären. Dass sie niemals solch ein Drama verursachen wollte, dass sie einfach mit der Situation überfordert gewesen war. Sie würde sogar versuchen, sich bei ihm für seine Hilfe zu bedanken und sich für alles Gesagte zu entschuldigen. Vor ein paar Wochen hätte sie das, was sie ihm heute an den Kopf geworfen hatte, noch ernst gemeint. Aber jetzt … Jetzt lag sie feige zusammengekauert auf ihrem Bett, mit dem Kopfkissen als Kuscheltierersatz und wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Für sie stand nun fest, wer von ihnen beiden wirklich ein hässlicher Mensch war. Hässlich im Umgang mit anderen. Hässlich im Charakter; es brauchte keine große Überlegung, zumal der heutige Vormittag gar kein anderes Resultat zuließ. Sie war es ja, die ihm in mehreren Sprachen an den Kopf warf, wie sehr sie ihn hasste. Sie war es, die ihn beleidigte und schubste. Sie war es, die es nicht fertigbrachte, sich für seine Hilfe zu bedanken. Und sie war es auch, die es nicht einmal jetzt schaffte, sich zu überwinden. Es gab keinen Zweifel: Sie war dieser hässliche Mensch, nicht er. Und genau das war der Grund, warum ihr Gewissen keine Ruhe gab und sie in ihrem Zimmer gefangen hielt.   Ein Blitz, ein ohrenbetäubendes Krachen und dann ein fieses, nachträgliches Donnergrollen. Zum Schluss leises Trommeln gegen die Fensterscheiben – es regnete. Endlich. Sie hatte schon darauf gewartet. Denn dieses Geräusch, das sie so liebte, war dazu in der Lage, ihr innere Ruhe zu verschaffen und ihren Kopf von unliebsamen Gedanken zu befreien. Mit etwas Glück brachte es das auch jetzt fertig. Vielleicht konnte es ja – »Stellar?« Stellar riss vor Schreck die Augen auf und ihren Kopf aus dem Kissen. Gott … So zart das Klopfen an ihrer Tür auch gewesen war: bei der Stille im Raum und im Vergleich zum Regen kam es einem Signalhorn beim Football gleich. »Schläfst du noch?« Hastig setzte sie sich auf. »N-nein …« Die Tür ging auf und Dylan kam herein, in seiner Hand eine Tasse balancierend. Der Dampf, der von ihr aufstieg, intensivierte den Kamilleduft im Zimmer. »Hey.« »Hey …« »Darf ich reinkommen?« Stellar nickte, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und knautschte das Kopfkissen fester an ihre Brust. Langsam schritt er näher und stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Geht es dir besser?« Sie zuckte mit den Schultern, dann nickte sie wieder. »Schön. Ja, manchmal hilft einfach nur ’ne Mütze Schlaf.« »Ich … hab nicht geschlafen.« »Oh.« Damit stockte kurzzeitig das Gespräch. »Na ja, ich hab dir jedenfalls ’ne Tasse Kamillentee mitgebracht. Beruhigt den Magen.« Stellar strich sich über den Arm, antwortete ihm nicht. Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte sagen sollen, zumal sie sich in seiner Anwesenheit noch mehr schämte als ohnehin schon. Also nickte sie nur, um irgendeine Reaktion zu zeigen, sah dabei aber weder ihn, noch die Tasse an. Für Dylan schien das Antwort genug zu sein. Er drehte sich um, ging zur Tür – »Dylan …?« – und blieb stehen. Scheiße. So schnell, wie sie der Mut gepackt hatte ihn anzusprechen, so schnell war er auch wieder verflogen. Sie wollte es doch sagen. Sie wollte es sagen und damit das Richtige tun. Nicht nur, um ihr Gewissen zu erleichtern, sondern auch, weil er es wirklich verdient hatte. Aber ihre Zunge lag wie ein lebloses Stück Fleisch im Mund, unfähig, sich zu bewegen. Egal ob sie ein „Sorry“ oder ein „Danke“ losbringen wollte, egal wie viel Mühe sie sich gab: Ihren Lippen blieben versiegelt. »Was ist?« »Ä-ähm, also …« Nicht mal der neue Ansatz half ihr dabei, das Siegel zu brechen. Irgendwie ging sowas per SMS wesentlich einfacher … Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. Sie sollte zumindest irgendwas sagen, immerhin stand er gerade da wie bestellt und nicht abgeholt. »Du … Du hast wirklich gut gespielt.« Dylan schwieg, blieb dort stehen, wo er war. Er sah lediglich über die linke Schulter hinweg zu ihr. Seine Miene war unergründlich. Aus ihr war nicht herauszulesen, ob er wütend war, enttäuscht oder überrascht. Dafür fing ihre Haut immer stärker zu schmerzen an, je länger sein Blick auf ihr ruhte. Sie glaubte regelrecht spüren zu können, wie sich überall Brandblasen bildeten – und ohne ein Wort zu sagen wandte er sich wieder von ihr ab, ging zur Tür und verließ den Raum. Super. Das war also ihre große Entschuldigung. Du hast wirklich gut gespielt. Was für ein dummer Satz. Sie hätte ihm genauso gut auch vom Paarungsakt der Weinbergschnecke erzählen können. Das Hochwasser stieg an und das Wegblinzeln fiel nun deutlich schwerer. Sie konnte verstehen, dass er sie einfach so sitzenließ. Wahrscheinlich hätte sie sich an seiner Stelle nicht mal zugehört, geschweige denn Tee vorbeigebracht. Ein weiterer Felsbrocken auf dem Turm seiner Nettigkeiten, der ihr Gewissen unter sich begrub. Vielleicht sollte sie einfach – »Ehrlich jetzt?« Stellar zuckte zusammen. Herrgott noch mal, wie oft wollten sie sie denn noch erschrecken?! Intuitiv setzte sie zum Lospoltern an – als sie ihn im Türrahmen stehen sah. In seiner Hand hielt er, so vermutete sie, seine eigene Tasse, abgestützt auf seinem Unterarm. »Dir hat’s echt gefallen?« Von seiner Rückkehr immer noch überrumpelt und von seinem Blick eingeschüchtert brachte sie nur ein zögerliches Nicken zustande. Unglaublich, er war zurückgekommen. Sie bekam also eine zweite Chance, sich richtig zu entschuldigen. Die musste sie jetzt auf jeden Fall nutzen, sie durfte es nicht vermasseln! Nur wie setzte sie am besten dafür an? Nervös strich sie sich ihren Pony hinters Ohr. »Ich … hab gar nicht gewusst, dass du Klavier spielen kannst.« »Wir haben bisher auch nicht darüber gesprochen.« Genau, du dumme Nuss. Was faselte sie da nur für einen Blödsinn? »Und … spielst du schon lange?« Dylan zuckte mit den Schultern. »’Ne ganze Weile auf jeden Fall, ja.« »Hört man«, murmelte sie und räusperte sich; ihre Kehle war furztrocken. »Es klingt jedenfalls sehr professionell.«  »… Vielen Dank.« Stille kam auf und verdickte den Sauerstoff in der Luft, sodass sie kaum atmen konnte. Sich mit ihm weiterhin über seine Klavierkünste zu unterhalten würde nichts helfen, außerdem machte sie sich damit nur lächerlich. Sie musste endlich den Mund aufkriegen, sonst erstickte sie noch daran. Während sie nervös ihre Finger knetete bis es knackte, kratzte sie mühevoll ihren ganzen Mut zusammen. »… Dylan?« Sie bekam von ihm keine Antwort, dafür aber einen fragenden Blick zugeworfen. In ihrer Kehle verknoteten sich die Stimmbänder und klangen geradezu jämmerlich, als sie weiter zu ihm sprach: »I-ich glaube, ich hab vorhin … ganz schön überreagiert … oder?« Schon wieder standen ihr die Tränen in den Augen, jederzeit bereit, ihre Wangen hinabzulaufen. Doch anstatt sie bitterböse anzusehen und anzuschreien, wie sie es erwartete, tat Dylan etwas, mit dem sie im Leben nicht gerechnet hätte: Er lächelte. »Ach, na ja«, seufzte er und griff sich mit der freien Hand ihren Bürostuhl, rollte ihn vom Schreibtisch zu ihr und setzte sich ihr direkt gegenüber. »’n bisschen vielleicht.« Ihr Herz klopfte wie wild. Er war ihr so nah – ihr wurde direkt flau im Magen. Prompt presste sie sich das Kissen so fest sie nur konnte an den Bauch. Auf eine neue Runde Kotzerei hatte sie wirklich keinen Bock. Verdammt, was war daran nur so schwer? Es waren drei kleine Worte, die sie sonst auch ohne Probleme aussprechen konnte. Komm schon, Mädchen. Reiß dich mal zusammen! Noch einmal atmete sie tief durch. Du schaffst das! Es ist ein ganz simpler Satz, eben nur drei kleine Worte. »T-tut mir leid.« Ein Hauch, gerade so ein Flüstern. Genuschelt, ohne ihn dabei ansehen zu können. Mehr war es nicht. Ein echtes Armutszeugnis. »Hey«, raunte er, lächelte sie tröstend an, nachdem er seine Tasse zur anderen auf dem Nachttisch gestellt hatte. »Ist doch schon längst ums Eck. Alles halb so wild.« Stellar hörte einige Sekunden auf zu atmen. Halb so wild? Wie konnte er das einfach so abtun? Gerade er müsste doch wissen, dass es eben nicht so harmlos gewesen war. Auf der Suche nach einer Erklärung sprangen ihre Augen wild durchs Zimmer. »Aber … Ich hab dich doch angeschrien, dich beschimpft –« »Stellar –« »– dich geschubst –« »Stellar –« »– dir gesagt, dass ich dich hasse!« »Stellar!« »I-ich hab dir sogar fast vor die Füße gekotzt –« »Hey, Stellar, Stellar!« Ohne Vorwarnung packte er sie kräftig an den Armen, rüttelte sie einmal kurz und sie verstummte, starrte erschrocken abwechselnd in sein linkes und rechtes Auge. Dylan starrte zurück und mit dem ersten Wimpernschlag ließ er sie ganz langsam wieder los. »Ganz ruhig. Es ist alles okay, ich bin nicht sauer oder so.« »… w-warum nicht?« Ihre Stimme zitterte. Es war ihr unbegreiflich. Wieso war er nicht wütend auf sie? Verdient hätte sie es doch. »Weil ich dich verstehen kann.« Ein Seufzer entwich ihm, dann stand er langsam auf und setzte sich mit etwas Abstand neben sie aufs Bett. Zunächst sagte er nichts, sah nur auf den hellgrauen Laminatboden und wirkte dabei sehr betrübt, fast schon beschämt. Dann, kurz bevor das Schweigen unangenehm werden konnte, erzählte er: »Weißt du, dieses ganze Beziehungsdings … Ich hab das nicht geplant. Das ist spontan im Streit entstanden. Chris hat mir mit seiner Frage, ob ich jetzt dein Freund wäre, das Ganze in den Mund gelegt und ich habe ihm einfach nicht widersprochen. Und, um ganz ehrlich zu sein, wollte ich ihm auch nicht widersprechen.« Stellar blieb der Atem weg. Sie wusste zwar nicht, was genau er damit meinte, dennoch hatte sie mit solch einem Schuldeingeständnis nicht gerechnet und mit diesem Inhalt gleich zweimal nicht. »Ich war so unglaublich wütend, verstehst du? Andauernd darf ich mir dieselben Fehler vorhalten lassen, obwohl ich mich schon X-Mal dafür entschuldigt habe. Im Franco’s war’s auch wieder so. Ich bin das inzwischen einfach leid.« Stellar kratzte sich am Unterarm, sah ihn nicht länger an. Auch wenn ihr Name nie gefallen war, so fühlte sie sich trotzdem angesprochen und unweigerlich keimte in ihr das Gefühl auf, ihn nicht nur heute, sondern generell unfair behandelt zu haben. Dass sie schon viel früher hässlich zu ihm gewesen war. »Also«, ihre Stimme war immer noch ein heiseres Krächzen, im Vergleich zu vorhin jedoch schon etwas kräftiger, »hast du mich deswegen im Franco’s vom Klo abgefangen und gesagt, ich soll so tun, als –« »– wären wir zusammen. Ja.« Erneut seufzte er schwer. »Ich wollte eigentlich kein großes Ding daraus machen. Ich wollte ihm nur eins reinwürgen, damit er endlich mit dieser Scheiße aufhört. Aber bevor ich realisieren konnte, was das für einen Rattenschwanz nach sich zieht, war’s schon zu spät. Dich hatte ich schon mit reingezogen, klarstellen konnte ich’s also nicht mehr.« »… wieso nicht?« »Na ja, ich hätte dich automatisch mit ans Messer geliefert und das wollte ich nicht. Das wäre nicht fair gewesen. Immerhin kannst du ja nichts dafür.« Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. Stellars Herz machte unvermutet einen gewaltigen Satz nach vorn. Sie schaffte es nicht, irgendeine Art von Lächeln zu erwidern, starrte ihn stattdessen einfach nur an. Er hielt diese Lüge wegen ihr aufrecht? Nur um sie zu schützen? Sie war sprachlos und das war sie nicht gerade oft. Dieses Gespräch war auf bizarre Weise unheimlich. Es krempelte ihr ganzes Denken um. Wo sie vorher noch fest davon überzeugt gewesen war, dass er sich mit Vorliebe und zu jeder Gelegenheit wie der größte Arsch benahm, war sie sich jetzt gar nicht mehr so sicher. Ebenso hätte sie noch vor ein paar Tagen felsenfest behauptet, dass er ein Mensch ohne Empathie und Skrupel war – und in diesem Augenblick bewies er ihr das komplette Gegenteil. Hatte sie ihn wirklich so falsch eingeschätzt? »Aber weißt du … Um ganz ehrlich zu sein, war ich schon ziemlich überrascht, dass du einfach so mitgemacht hast.« Wenigstens darauf wusste sie eine Antwort. »Na ja, ich … dachte, das gehört zu unserem Deal dazu. Du hast ja gesagt, ich muss dir vertrauen.« Dylan Kopf schnellte in ihre Richtung. » … nicht dein ernst?« Stellar wich verunsichert mit dem Kopf ein Stück zurück. »D-doch, eigentlich schon.«  Dylan stöhnte hörbar auf. »Oh Mann … Das war doch nicht so gemeint! Du solltest mir nur ’ne echte Chance geben und nicht blindlings alles tun, was ich dir sage.« Oh. Noch ein Missverständnis. Allmählich war sie von so vielen aufgedeckten Missverständnissen überfordert. »Und wie … hast du dir vorgestellt, soll’s jetzt weitergehen?« Dylan senkte wieder den Kopf, strich sich über den Nacken, zuckte anschließend mit den Schultern. »Keine Ahnung. Frag mich was leichteres.« Stellars Augen ruhten noch eine Weile auf ihm, ehe sie gedankenverloren die Holzmaserung des Fußbodens nachfuhr. Ihn so niedergeschlagen zu sehen … das berührte sie. Noch nie hatte er sich ihr gegenüber derart verletzlich gezeigt. Sie bezweifelte daher auch nicht, dass das, was er ihr eben erzählt hatte, auch die Wahrheit war. Und zum ersten Mal empfand sie aufrichtiges Mitleid für ihn. »Weiß Chris eigentlich, dass du jetzt als Pianist im Swingy’s arbeitest?« Dylan schüttelte den Kopf. »Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich dort anfangen soll und wollte ihm erst davon erzählen, wenn ich den Vertrag unterschrieben habe.« »Verstehe.« Das klang logisch. Vermutlich hätte sie dasselbe getan. »Dir wär’s wahrscheinlich lieber, wenn ich gleich wieder kündige, oder?« Irritiert runzelte sie die Stirn. »Wieso?« »Na ja, so wie du auf dem Klo ausgerastet bist …« Oh je. Da war er. Der unterschwellige Vorwurf, von dem sie gehofft hatte, ihm entgehen zu können. Ob es ihm bewusst war oder nicht: Mit diesem Satz hielt er ihr verbal die Pistole ins Gesicht. »N-nein, vergiss das, das … war nicht so gemeint.« »Nicht so gemeint?« Dylan hob sichtlich überrascht die Augenbrauen. »Das hat auf mich aber einen ganz anderen Eindruck gemacht.« »I-ich weiß, aber …« Verlegen strich sie sich den Pony aus dem Gesicht, knetete ihre Finger. Kurz wagte sie einen Blick zu ihm – und bereute es sofort. Mann, scheiße! Er fragte zwar nicht danach, aber er wollte eine Erklärung haben, das sah sie ihm an. Ihm, seiner in Falten gelegten Stirn und seiner vernarbten Augenbraue, die die zweite eben in die Knie gezwungen hatte. Sie kam nicht mehr drum herum; es war Zeit auszupacken. »Weißt du … Du bist einfach wie aus dem Nichts im Swingy’s aufgetaucht, spielst die Melodie von „Amélie“, meinem Lieblingsfilm, dann noch was von Eartha Kitt … I-ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.« »… und?« Sein fordernder Unterton verlieh seiner Augenbraue eine solche Bedrohlichkeit, dass ihr mühsam zusammengekratzter Mut in sich zusammenschrumpfte. Mann, wieso konnte er es nicht einfach dabei belassen? Sie schämte sich doch schon, auch ohne sein Zutun. »Bitte, versprich mir, dass du nicht ausrastest.« Nun lag Skepsis in seiner Miene. »Okay …« Er wird ausrasten, und wie er ausrasten wird … »Also … I-ich habe eben gedacht, dass du mir heimlich nachstellst.« »… wie bitte?!« Genau diese Reaktion hatte sie erwartet: Völliges Unverständnis, gepaart mit absolutem Entsetzen. »Es tut mir leid, ich … Ich dachte, das wäre irgendeine Masche, um mich leichter fertig zu machen, aber mittlerweile weiß ich ja, dass das totaler Bullshit ist. Ehrlich, ich schäme mich dafür, dass ich so von dir gedacht habe, aber mir hat das alles einfach total Angst gemacht! Für mich war’s die einzig mögliche –« Stellar sprach nicht weiter, als sie sah, wie Dylan sein Gesicht in den Händen vergrub und sich laut aufstöhnend rückwärts aufs Bett fallen ließ. »Jetzt wird mir so Einiges klar.« Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sollte sie sich jetzt darüber freuen oder musste sie sich in Acht nehmen? »Wie kommst du bitte auf so kranke Ideen?« Seine Stimme war unerwartet ruhig. »Keine Ahnung, es ist eben … Eartha Kitt kennt nun mal nicht jeder und ich liebe Eartha Kitt und als du ihren Song gespielt hast, da … ich weiß auch nicht, ich –« »Chris hat’s mir erzählt.« Stellar verstummte, guckte ihn bedröppelt an. »Chris hat mir erzählt, dass du auf Eartha Kitt stehst«, wiederholte er, ebenso ruhig wie zuvor. Ihr Herz knallte mit enormer Wucht in die Körpermitte. Chris. Die Antwort auf diese quälende Frage war also Chris. Die ganze Zeit. Gott, wie sehr sie sich jetzt schämte, noch schlimmer als bisher. Die ganze Zeit war die Antwort da gewesen, ritt Rodeo direkt vor ihren Augen – und sie bemerkte es nicht. Am liebsten hätte sie sich ihr Kissen ins Gesicht gedrückt, bis sie keine Luft mehr bekam. »Ich habe mich gestern Morgen mit ihm zum Joggen getroffen und ihn ein wenig ausgehorcht. Da hat er’s mir erzählt. Danach habe ich mir ein paar Songs von ihr angehört und sie nachgespielt.« Okay, das erklärte die Frage nach dem Wie. Die bedeutend wichtigere Frage aber war: »Warum …?« »Um zu üben.« Dylan nahm die Hände vom Gesicht und dasselbe bittere Lächeln, das zuvor schon mal da gewesen war, kam zum Vorschein. »Weißt du, als ich dich im Publikum sitzen sehen habe, da … Ich wollte diese Chance unbedingt nutzen. Ich habe die ganze Zeit verzweifelt darüber nachgedacht, wie ich dieses Pärchendings wiedergutmachen kann und als mir dann Moira die Wahl über den nächsten Song gelassen hat … Ich dachte, das wäre die perfekte Gelegenheit und die beste Art, sich für den Mist zu entschuldigen.« Stellar war sprachlos. Diesmal sogar so schlimm, dass sie sich instinktiv die Hand vor den Mund hielt. Sie hatte ja das über ihr schwebende Fallbeil der Guillotine, das über ihren Seelenfrieden richten sollte, längst bemerkt. Die Angst, dass er den Henkersspruch gegen sie aussprach, war allgegenwärtig, noch bevor er je dieses Zimmer betreten hatte. Dass aber das Seil von selbst riss und die scharfe Schneide ihr ohne Vorwarnung den Verstand spaltete – das hatte sie nicht erwartet. Was war sie nur für ein hässlicher Mensch. Sie dachte so schäbig von ihm, so böse. Dabei handelte er wie ein unschuldiger, kleiner Junge, der einem anderen Kind das Spielzeug kaputt gemacht hatte und glaubte, es mit ein wenig Kaugummi wieder zusammenflicken zu können. Nein. Nichts, was sie hätte sagen wollen, hätte diese Reinheit in seinem Denken und seinem Tun aufwiegen können. Schlagartig wurde ihr nun klar, warum er Chris’ bester Freund war. Dylans dunkles Kichern zerschnitt die vorherrschende Stille. »Tja. War dann wohl eher zum Kotzen.« Fast automatisch zogen sich ihre Mundwinkel ein kleines Stück nach oben. Sie schmunzelte, gegen ihren Willen. Wie machte er das nur? Er hatte nichts gesagt, was darauf hindeutete, dass er ihr verzieh und trotzdem fühlte sie sich allein durch diese stupide Bemerkung um ein Vielfaches besser. »Als du zur Toilette gerannt bist, bin ich dir hinterher, um mit dir über alles zu reden, aber –« »Es war nicht zum Kotzen«, unterbrach sie ihn und ließ dabei ihre Hand sinken, presste das Kissen wieder enger an sich und legte ihr Kinn darauf ab. Sie ertrug kein weiteres Wort mehr, das ihr noch besser verdeutlichte, wie unfair sie zu ihm gewesen war. Sie wollte wiedergut machen, es besser machen – ab jetzt. »Du und Moira … Ihr wart wirklich toll zusammen.« »Dir hat’s also echt gefallen?« Da war er wieder, der kleine Junge. Stellar nickte und schloss die Augen. »Mag vielleicht nicht so ausgesehen haben, aber … es war echt schön.« Sie meinte es ernst. Jetzt, wo sie imstande war, den Vormittag und die Probe frei von Angst und Panik zu reflektieren, war es ihr gar nicht mehr möglich, ein anderes Fazit zu ziehen. Es war wunderschön und sie wünschte sich, es noch einmal hören zu dürfen, nur um es diesmal genießen zu können … »… danke«, sagte er und gleichzeitig spürte sie einen sanften Druck auf ihrem Rücken, von dem eine enorme Hitze ausging. »Das bedeutet mir sehr viel.« Stellar überrannte die Gänsehaut. Trotz ihres Tops und den Hosenträgern der Latzhose brannte jeder einzelne Finger seiner Hand, als lägen sie direkt auf der Haut, so glühend heiß waren sie. Seine Hand war riesig; sie war fast so groß wie ihre obere Rückenpartie breit war. Dank ihr traute sie sich, über die Schulter hinweg zu ihm zu sehen – und blickte direkt in sein Lächeln. Ein Lächeln, das sie dazu brachte, es zu erwidern. Die Zeit schien für den Moment wie stehengeblieben. Obwohl es niemand aussprach, war es dennoch spürbar und geradezu offensichtlich: Es war vorbei. Keiner von beiden war länger von schlechtem Gewissen geplagt. Keiner von beiden hegte länger einen Groll gegen den anderen. Keiner von beiden wollte länger Krieg gegen den anderen führen. Endlich. Es war endlich vorbei.   BRRR – BRRR. Stellar schreckte hoch, fasste sich instinktiv an ihre Hosentasche, aus der das Geräusch kam. Stimmt, da war ja noch was. Durch die Aufregung hatte sie ihr Handy und die Nachricht, die sie Chris schicken wollte, total vergessen. »Entschuldige, ich …« »Schon gut. Schau ruhig nach«, entgegnete er, nahm seine Hand vom Rücken und schwang sich nach vorn. Dann schnappte er sich seine Tasse vom Nachttisch und setzte sich wieder auf den Schreibtischstuhl. Stellar dankte ihm mit einem scheuen Lächeln und strich sich eine vorgerutschte Haarsträhne zurück hinters Ohr, dann löste sie die Tastensperre und öffnete die Nachricht.   Alles in Ordnung bei dir?   Ach herrje. Chris machte sich offenbar Sorgen. In ihrer Eingabezeile sah sie noch die angefangene Antwort stehen. Die jetzt noch abzuschicken würde bestimmt seltsam wirken, zumal sie sie noch zu Ende schreiben musste. Ein Seufzer entwich ihr und sie löschte ihre eingegebene Antwort. »Alles in Ordnung?« »Hm?« Stellar sah zu Dylan auf. »Ach, ähm … Chris hat mir eine Nachricht geschickt.« »Okay. Schlechte Nachrichten?« »Nein, nicht direkt. Glaub ich … Keine Ahnung, um ehrlich zu sein.« »Darf ich mal sehen?«, fragte er und hielt ihr seine Hand offen hin. Sie wusste zwar nicht wieso, doch sie legte ihm – wenn auch zögerlich - das Handy hinein und wartete, bis er Chris’ Nachrichten gelesen hatte. »Klingt doch gut. Was willst du ihm antworten?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Eigentlich möchte ich wirklich gern Zeit mit ihm verbringen, aber ich will keine komischen Fragen mehr beantworten müssen, von denen ich nicht mal weiß, wie ich sie beantworten soll.« Wieder seufzte sie und zupfte am Zipfel vom Kopfkissen herum. »Irgendwie hat dieses Pärchending alles nur komplizierter gemacht.« Sein spöttisches Kichern ließ sie aufschauen und sie sah ihn mit gekräuselter Stirn an. »Wieso lachst du?« »Weil es nicht kompliziert ist, sondern total einfach. Eifersüchtig ist er, unser Freizeitdoktor.« Eifersüchtig? Stellar sah ihn ungläubig an und schüttelte den Kopf. »… Nee. Sorry, aber das glaube ich nicht. Kann ich mir nicht vorstellen. Chris war noch nie eifersüchtig.« »Na ja, hat ja auch nie ’nen Grund gegeben, wenn wir mal ehrlich sind.« Gut, damit konnte er Recht haben, ihre Zweifel an seiner Theorie waren deswegen aber noch lange nicht ausgelöscht. »Ich weiß nicht … Für mich klingt das nicht so wirklich überzeugend.« Dylan stellte seine Tasse ohne daraus getrunken zu haben zurück auf den Nachttisch, lehnte sich anschließend im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Erinnerst du dich noch daran, was ich dir bei unserer Shopping-Tour gesagt habe?« Sie konnte sich sogar noch ganz genau erinnern, vor allem an die Komplimente, die er ihr gemacht hatte. Allerdings glaubte sie nicht, dass er die gerade meinte. »Was davon genau?« »Ich hab dir doch gesagt, dass du ihm zeigen sollst, dass du eine Frau bist und kein Kumpel, richtig?« Stellar war irritiert. »Was hat das jetzt damit zu tun?« Dylan verdrehte die Augen. »Also manchmal habe ich echt das Gefühl, du fährst mit angezogener Handbremse durchs Leben.« »Hey!« Fing das etwa wieder von vorne an? »Überleg doch mal: Seit Chris denkt, dass wir beide zusammen sind, benimmt er sich doch komisch, oder nicht? Ich wette, dass du ihm dadurch endlich aufgefallen bist. Und zwar als Frau, nicht als Kumpel.« Jetzt fiel schließlich auch bei ihr der Groschen. Wenn das wirklich so wäre, dann … Ja, damit wäre es wirklich denkbar! Chris könnte wirklich eifersüchtig sein! Ihr Herz gab vor Aufregung endlich wieder ein Lebenszeichen von sich. »Meinst du echt?« »Warum nicht? Meiner Meinung nach wär’s gut möglich.« Erneut hüpfte es in ihrer Brust. »Okay, und was antworte ich ihm jetzt?« Dylan reichte ihr ihr Handy zurück. »Tja, das kommt jetzt eben drauf an.« Oh. »Und worauf?«  »Ob du die Fake-Beziehung aufrecht halten willst oder nicht.« Wollte er etwa sagen …? »Du hast nichts dagegen, wenn alles auffliegt?« »Was heißt „nichts dagegen haben“: Wenn du aussteigen willst, muss ich damit leben und auch damit rechnen, dass du’s auffliegen lässt.« Stellar schwieg, senkte den Kopf und dachte nach. Eigentlich müsste sie schon aus moralischer Sicht Chris die Wahrheit sagen. Er hasste Lügen mehr als alles andere, das wusste sie ganz genau. Oft genug hatte er sich bei ihr darüber ausgelassen, wie wütend es ihn machte, wenn ihn Patienten bei der Frage nach der Unfallursache anlogen und dadurch ihre Gesundheit, teilweise auch ihr Leben aufs Spiel setzten. Nur, um einer unangenehmen oder peinlichen Situation zu entgehen, obwohl ihnen so oft weit besser und schneller geholfen wäre, wenn sie von Anfang an die Wahrheit gesagt hätten. In Punkto Freundschaften reagierte er mit allergrößter Sicherheit nicht viel anders. Und dennoch – Irgendwie fühlte es sich falsch an, Dylan an Chris zu verpfeifen und ihn als Lügner hinzustellen, auch wenn es tatsächlich so war. Freilich war das Märchen von ihrer Beziehung weder klug, noch wohl überlegt gewesen – was er auch selbst zugab – und dass er sie mit in die Geschichte hineingezogen hatte, zeugte auch nicht gerade von einem Gentleman. Dennoch konnte sie verstehen, warum er es getan hatte. Verletzter Stolz war eine schmerzhafte Wunde im Fleisch. Wegen ihm tat man viele, dumme Dinge, die man oft erst nach der Tat als solche realisierte und im Anschluss auch bitterlich bereute … Nein, petzen kam nicht infrage. Schon gar nicht jetzt, wo ihre Neugier Blut geleckt hatte. Wenn an Dylans Theorie etwas dran war, dann wollte sie es wissen, unbedingt. Und wenn diese Fake-Beziehung der Schlüssel dazu war, dann würde sie einen Teufel tun und diesen einfach so wegwerfen. Außerdem – um fair zu bleiben – hatte er ihn nicht als einziger belogen. Sie selbst hatte ja auch mitgemacht und wenn Chris die Wahrheit erfuhr, war sein Kopf nicht der einzige, der rollte. »Nein, wir ziehen das durch.« »… ernsthaft? Ohne Scheiß?« In seiner Stimme lag eine hörbare Spur Begeisterung. »Ja. Aber nur unter einer Bedingung!« »… und die wäre?« »Wenn wir das wirklich glaubhaft durchziehen wollen, müssen wir beide immer dasselbe erzählen, egal was er uns fragt. Das heißt, wir müssen uns ab jetzt immer absprechen.« »Kein Problem.« »Gut.« »Sonst nichts?« Stellar kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, ehe sie ihn wieder ansah. Doch, genau eine Sache war da noch. Dieser Gedanke war ihr den letzten Tagen bereits mehrmals durch den Kopf gewummert und er war ihr so zuwider, dass es sie einiges an Überwindung kostete, um ihn auszusprechen. »Ich schätze mal, immer nur getrennt mit Chris Zeit zu verbringen und nur darüber zu reden, wie toll die Beziehung läuft, wirkt für ihn auf Dauer bestimmt unglaubwürdig.« Dylan stimmte brummend zu. »Gut möglich, ja.« »Deswegen sollten wir damit rechnen, dass wir uns irgendwann vor Chris als Liebespaar präsentieren müssen.« Dylan kratzte sich im Nacken. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht …« Immerhin war das nicht nur für sie ein unangenehmer Gedanke. »Bis es soweit ist, hätte ich gern schon mal was vorweg klargestellt: Nur weil wir das glücklichste Pärchen aller Zeiten vorgaukeln müssen, bedeutet das nicht, dass du mich ständig begrabbeln, betatschen oder küssen kannst, wie’s dir gerade passt. Verstanden?« Dylan beugte sich langsam nach vorn, bot ihr seine Hand zum Handschlag an. »Es passiert nicht mehr als nötig.« Wow. So schnell waren sie sich noch nie einig geworden. Ein Hauch Skepsis umwehte ihre Gedanken, doch sie ignorierte ihn, bewusst. Sie ergriff seine Hand und beide drückten zu. Damit war es also beschlossene Sache. »Okay. Also, was antworte ich ihm jetzt?« Dylan grinste und griff nach den Tassen, reichte ihr ihre. »Nichts.« Überrascht davon nahm sie sie nur zögerlich entgegen. »Wie ‚nichts‘? Was meinst du mit ‚nichts‘?« »Einfach nichts eben.« »Aber … Wieso?« »Du bist in einer Beziehung. Am Anfang einer Beziehung hat man immer wenig Zeit für seine Freunde, oder nicht?« Hm, da mochte was dran sein. »Aber eigentlich macht er sich doch nur Sorgen.« »Er wird schon nicht gleich die Polizei rufen und eine Großfahndung einleiten, nur weil du ihm mal nicht antwortest.« Da war auch etwas dran. Stellar fühlte sich trotzdem unwohl. Keine Antwort senden, gestellte Fragen einfach offenlassen. Etwas, was sie genauso in den Wahnsinn trieb. Und jetzt sollte sie genau das selbst tun? Stellar fühlte sich nicht wohl dabei. Nachdenklich nahm sie ihr Handy in die Hand, öffnete den Chat und las die SMS noch einmal.   Alles in Ordnung bei dir?   »Vertrau mir. Es reicht nicht, nur von einer Beziehung zu reden. Er muss schon auch spüren, dass sich was bei dir geändert hat. Und so hat er zumindest einen Grund, um um deine Aufmerksamkeit zu buhlen.« Dylan hatte Recht. Es war besser, ihm nicht zu antworten. Scheiße fühlte es sich trotzdem an. Schweren Herzens schloss sie den Chat und landete im SMS-Menü – wo ihr ein anderer Gesprächsverlauf entgegenlachte. Mit einem Fingertipp darauf öffnete er sich. Die Gespräche mit Dylan via SMS – ihre Verabredung zum Shoppen ausgenommen – verliefen recht einseitig.   DU VERMALEDEITER PENNER! ICH MUSSTE GERADE MEINEN BESTEN FREUND ANLÜGEN, IST DIR DAS KLAR?! ICH HOFFE, DASS DU EINE GUTE ERKLÄRUNG DAFÜR HAST, ANSONSTEN HAST DU EIN RIESENGROẞES PROBLEM AM ARSCH!!!   Schmunzelnd aktivierte sie wieder die Tastensperre und legte ihr Handy beiseite. »Nur mal aus reiner Neugier ... Mag auch sein, dass ich mich täusche, aber irgendetwas sagt mir, du bringst dich ganz schön oft in solche ... verzwickten Situationen, kann das sein?« Dylan zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.« Nun tat es Dylan ihr gleich. »Weißt du ... Vielleicht wäre es ganz hilfreich, wenn du hin und wieder –« »– darüber nachdenkst, bevor du etwas machst, ich weiß. Chris predigt mir das auch ständig.« Nun mussten beide lachen. Stellar genoss es, mit ihm zu lachen. So oft, wie sie sich seit ihrem Kennenlernen gestritten hatten, war das eine ausgesprochen willkommene Abwechslung. »Er meint es wirklich nur gut.« Und ich irgendwie auch. »Ich weiß, aber ... Ich bin eben so, ich kann nicht anders.« Noch einmal zuckte er mit den Schultern, dann stand er auf. »Na ja. Ich denke, ich werde langsam gehen. Wollte ja eigentlich nur auf einen Kaffee bleiben und wenn morgen die Probe ist, will ich mich noch ein bisschen vorbereiten.« Stellar nickte verstehend. »Diesmal bin ich aber nicht dabei, versprochen. Wenn’s in die Hose geht, ist es dann wenigstens nicht meine Schuld.« Dylan kicherte. »Ach was. Eigentlich finde ich es ganz gut so, wie es gekommen ist. So hatten wir wenigstens mal die Gelegenheit, miteinander zu reden.« Wie Recht er hatte. Und für dieses Gespräch war sie ihm unsagbar dankbar. »Ich bring dich noch zur Tür.« »Geht’s dir denn soweit wieder gut?« Stellar lächelte aufrichtig. »Schon lange, keine Sorge.« Gemeinsam standen sie auf und verließen ihr Zimmer. Nachdem er mühselig in seine noch verknoteten Chucks geschlüpft war – worüber sich Stellar im Stillen köstlich amüsierte –, ging er anschließend in die Küche und verabschiedete sich mit einer Umarmung von Moira. Dann begleitete Stellar ihn zur Tür. »Ruh dich am besten noch ein wenig aus. Sahst vorhin ganz schön übel aus.« »Oh, wie nett. Danke. Das mit den Komplimenten konntest du aber schon mal besser.« Wieder lachten sie zusammen. Dann tauchte wie aus dem Nichts peinliche Stille auf. Er schien wohl genauso unschlüssig über die richtige Verabschiedung zu sein wie sie. Zögerlich reichte er ihr seine Hand. »Wir sehen uns.« Stellar hingegen zögerte kein bisschen. Beherzt ergriff sie seine Hand und sah ihm frei von jedem Unwohlsein in die Augen. »Danke. Für alles.« Erleichterung spiegelte sich in seinem Lächeln wider. »Gern geschehen.« Gerade wollte sie ihre Hand zurückziehen, als er noch einmal kräftiger zupackte. »… Freunde?« Ähm, was? Stellar erstarrte. Diese Frage traf sie völlig unerwartet. Aus seinen Augen versuchte sie herauszulesen, warum er sie das fragte, hilfreich waren sie dabei jedoch nicht. Im Gegenteil: Die verschiedenen Farben sorgten nur wieder für Verwirrung, so wie sonst auch immer. Und während sie sich wie wild den Kopf darüber zerbrach, breitete sich in ihrer Brust unkontrolliert Wärme aus. Sie brauchte unglaublich lange, bis ihr klar war, was das zu bedeuten hatte. Sanft drückte sie ebenfalls etwas fester zu und lächelte ihn an. »Freunde.« Sie lösten den Handschlag, dann wandte sich Dylan von ihr ab und stieg die wenigen Stufen im Treppenhaus herunter. Stellar sah ihm nach. Der ganze Tag zog wie ein Film vor ihrem inneren Auge vorbei. All die Angst und Panik. Die Übelkeit und der Schwindel. Der Hass und die Schuldgefühle. Die Erleichterung und der Frieden. Zu guter Letzt ihre neu gewonnene Freundschaft. Eine Freundschaft mit Dylan. Und er hatte Recht: Wäre dieser Tag anders verlaufen, hätten sie sich wohl nie ausgesprochen. »Ach, Dylan?« Abrupt blieb er stehen, drehte sich zu ihr um. »Eine Frage noch, bevor du gehst: Hättest du wirklich wegen mir gekündigt?« Entrüstet schüttelte er den Kopf. »Pf, wo denkst du hin? Da muss schon mehr passieren.« Ein Zwinkern, dann ein schmutziges, schiefes Lächeln. Das, was sie bei ihm so hasste. »Bis dann, Süße.« »Bis dann, Stronzo«, murmelte sie und grinste ebenso schief zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)