Oh Shit. von m0nstellar ================================================================================ Kapitel 4: Plitsch Platsch Gluck -------------------------------- Als die Nachmittagshitze ihren Höhepunkt erreichte, brachen sie die Shopping-Tour ab. Länger hätte es Dylan auch nicht ausgehalten. Kein einziges Wölkchen war am Himmel, nicht einmal ein Lüftchen wehte. Gefühlt waren es fünfzig Grad Celsius und es gab absolut nichts, das den Verbrennungsgrad der Haut von Stufe drei auf Stufe eins senken konnte. So der prallen Sonne ausgesetzt kochte es ihm das Hirn matschig und die aufgeheizte Luft schrumpfte ihm die Lungenflügel zusammen. Vom Schwitzen einmal ganz abgesehen; Seine Haare waren klitschnass, ihm lief es in Rinnsalen die Stirn, teilweise auch den Rücken hinunter und seit einer halben Stunde war sein T-Shirt vollständig durchnässt. Er sah wie ein getauftes Kind aus, dem man einen ganzen Eimer Wasser übergekippt hatte. Madame hingegen brauchte sich nur hin und wieder mit dem Handrücken die Stirn trocken zu wischen. Sie war ja auch nicht diejenige, die die Plastiktüten rumschleppte, folglich musste sie auch deren abstrahlende Hitze nicht zusätzlich ertragen. Nichtsdestotrotz war er in gewisser Weise stolz auf Stellar. Sie hatte sich – nach anfänglichen Überwindungen – auf die Typveränderung eingelassen und sich zum Schluss sogar zwei neue BHs gekauft. Zu schade, dass er bei der Auswahl und Anprobe nicht dabei sein durfte …   »Sag mal, warum gehen wir eigentlich durch den Park? Mit der U-Bahn ist es doch viel kürzer nach Hause«, fragte sie und wedelte sich mit der flachen Hand ein wenig Luft ins Gesicht. »Wir gehen nicht nach Hause. Ich habe dir doch eine Abkühlung versprochen, oder?« »Willst du schon wieder zum „Eis-Dealer“?« Dylan lachte lauthals auf. »Vergiss es. Du hast mir heute den letzten Cent aus der Tasche gezogen. Wenn ich Glück habe, ist der alte Putzschwamm im Müll noch nicht ganz verschimmelt. Dann komme ich diesen Monat damit über die Runden, wenn ich ihn mir gut einteile.« »Du hast Putzzeug zuhause?«, scherzte sie, kicherte und grinste ihn dann schadenfroh an. »Du bist selbst schuld, wenn du mir so ein Angebot machst. Hättest eigentlich damit rechnen müssen, dass ich das ausnutze und so viel war’s jetzt auch nicht.« Ihren Blick erwiderte er mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem Schmunzeln. »Kannst du nicht wenigstens so tun, als ob du Mitleid für mich übrighättest?« Statt auf seine Frage zu antworten, kam sie auf ihre ursprüngliche Frage zurück: »Wenn wir nicht zum „Eis-Dealer“ gehen, wohin geht’s dann?« »An den See, eine Runde schwimmen. Sonst bin ich tot, bis ich zuhause bin.« »An den See?« Ohne Vorwarnung blieb sie einfach stehen. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte einen nervösen Unterton wahrzunehmen. Auch er blieb nun stehen und wandte sich zu ihr um. »Wieso nicht? Oder hast du keine Lust auf baden?« »Doch, schon, aber …das ist jetzt schon ein bisschen sehr spontan. Ich habe gar keinen Bikini dabei.« »Na und? Dann schwimm in Unterwäsche, das macht keinen Unterschied. Außerdem haben wir dir gerade neue Klamotten gekauft. Kannst dich also danach umziehen.« »Aber … wir haben gar keine Handtücher.« Fing das etwa schon wieder an? Eigentlich hatte er gedacht, dass die Zeit für Nonsens-Diskussionen schon längst passé war. »Mann, Stellar … Ich war jetzt vier Stunden mit dir shoppen, bin bestimmt krebsrot auf meiner Rückseite und ich habe die ganze Zeit deine Tüten getragen, alles ohne rumzujammern. Ich finde, ich habe mir das verdient.« »Du wolltest doch unbedingt shoppen gehen, nicht ich! Das war ganz allein deine Idee!« Dylan verdrehte die Augen. »Jetzt komm schon, sei keine Spielverderberin, ja? Du schwitzt genauso wie ich und eine Abkühlung wird uns beiden guttun.« Schweigen machte sich breit und Stellars Lippen waren wie zugenäht. Aus ihr kam kein einziges Wort. Sie strich sich lediglich ihren Pony hinters Ohr und sah ihn hilflos an. »Kannst ja auch nur die Füße reinhalten, wenn du nicht schwimmen willst.« Keine Antwort, keine Reaktion. Dass man sie aber auch wirklich zu allem überreden musste … »Ich trage dir die Tüten auch bis zu deinem Kleiderschrank, wenn’s dich glücklich macht, aber entscheide dich schneller, ich krieg bald ’nen Sonnenstich.« »… okay, schon gut. Ich komme mit.« »Danke. Das wollte ich hören.« Und damit sie es sich nicht doch noch anders überlegte, legte er einen Arm um sie und zog sie mit sich.   Nach einem zehn minütigen Fußmarsch erreichten sie den See. Dylan fackelte auch nicht lange: Die Tüten warf er achtlos auf einen Haufen, dann schälte er sich aus Schuhen und Socken, Shirt und Cargo-Shorts, ließ alles einfach ins Gras fallen und rannte in den See hinein, tauchte ab. Im ersten Moment durchfuhr seinen überhitzten Körper eine Kältewelle und sämtliche Muskeln spannten sich an, doch nach wenigen Sekunden bot das kühle Nass die reinste Erfrischung. Nachdem er aufgetaucht war, musste er enttäuscht feststellen, dass sich Stellar lediglich ins Gras gesetzt hatte. Genierte sie sich vor ihm? In Unterwäsche sah er von ihr auch nicht mehr als im Bikini. »Jetzt komm endlich rein, das Wasser ist herrlich!« »Schon okay, ich passe auf unsere Sachen auf«, schrie sie zurück, deutete dabei auf die Tüten und machte keine Anstalten, diesen Sitzplatz zu verlassen. Wahrscheinlich würde sie sich dort verwurzeln, nur um nicht schwimmen zu müssen. Aber darum würde er sich später kümmern. Erst einmal wollte er sich selbst etwas Gutes tun.   Die ersten Schwimmzüge legte er tauchend zurück, dann aber stieg er aufs gemütliche Brustschwimmen um und sinnierte über die vergangenen paar Stunden. Seit er ihr das Kleid gezeigt und ihr zur Seite gestanden hatte, war Stellar wie ausgewechselt. Sie blieb offen für seine Ratschläge, zettelte selbst keinen Streit an, wie sie es sonst üblicherweise tat, und überraschte ihn mit einer Eigenschaft, die er erst innerhalb der letzten Stunden kennenlernen durfte: Stellar besaß Humor. Sie konnte sogar über sich selbst lachen – sogar mit ihm zusammen. Wenn er all das richtig interpretierte, herrschte aktuell unausgesprochener Waffenstillstand.   So in seinen Gedanken vertieft stellte er auf dem Rückweg erst fest, dass Stellar klammheimlich ihr holdes Plätzchen verlassen hatte. Stattdessen saß sie in Shirt und ohne Latzhose bis zum Bauchnabel im Wasser und wackelte mit ihren Füßen. »Na, wen haben wir denn da?« Kaum hatte er sie erreicht, setzte er sich direkt neben sie. »Unfassbar. Da ist aus dem kleinen Zeh fast die ganze Stellar geworden«, spottete er. »Doch zu heiß in der Sonne, hm?« »Ein bisschen«, räumte sie ein und träufelte sich eine Hand voll Wasser über ihren Arm. »Aber so reicht mir das schon.« »Und warum schwimmst du nicht?« »Zum Schwimmen ist mir das Wasser zu kalt.« Hä? Sie saß doch schon halb drin! »Also … du sitzt hier gerade mit mir, im See, und willst mir weismachen, dass dir das Wasser zum Schwimmen zu kalt ist. Habe ich dich richtig verstanden?« Stellars Nicken kam zögerlich, aber ihre Miene war entschlossen. »Komm schon, du verarscht mich doch. Einmal eingetaucht und dann bist du drin!« »Dylan, ich will jetzt nicht schwimmen, okay?« »Warum denn nicht?« »Weil ich einfach keine Lust habe!« Den Blödsinn konnte sie jemand anderem erzählen, aber ihm nicht. Wahrscheinlich war sie bloß zu eitel, als dass sie mit nassen Haaren nach Hause laufen wollte. »Gut …«, murmelte er, stand auf und stellte sich hinter sie. »… Dann helfe ich eben ein bisschen nach.« »Was –« Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie schon gepackt, hochgehoben und ein paar Schritte tiefer ins Wasser getragen. »Was machst du? Nein! Lass mich sofort runter!«, kreischte sie, als hätte sie die Tollwut gepackt. Sie wirbelte ihren Kopf umher, strampelte mit Armen und Beinen, um sich loszulösen, doch es half nichts. Für Dylan wurde es dadurch nur kniffliger, sie ins Wasser zu kriegen, aber nicht unmöglich. Ein eineinhalb Köpfe kleinerer Giftzwerg musste schon mehr aufbringen, um ihn davon abzuhalten. »Nein! Bitte! Lass mich –« PLATSCH – Da lag der Giftzwerg vollständig im Wasser. Bis eben hatte Dylan noch gelacht. Als er ihr dann dabei zusah, wie sie schwamm, wurde er leichenblass und ihm blieb das Lachen in der Kehle stecken.   Unkontrolliert schlug sie mit ihren Armen um sich, versuchte an der Wasseroberfläche zu bleiben, hustete, da sie wohl Wasser geschluckt hatte, ging unter, kämpfte sich erneut nach oben, rang nach Luft und schluckte dabei anscheinend nur noch mehr davon ... Und dann war sie weg. Panik machte sich bei ihm breit. Scheiße. Ihm schlug die Pumpe gegen den Kehlkopf, seine Ohren dröhnten und sein Atem stockte. Warum hatte sie nichts gesagt? Scheiße, scheiße, scheiße! Nachdem er aus seiner Versteinerung erwacht war, hechtete er ihr hinterher und erwischte ihren Arm, zog sie daran nach oben. Wieder hustete sie, japste nach Luft. Schnell griff er unter ihren zweiten Arm, mit dem sie immer noch um sich schlug, und zog sie, so gut es ihm bei ihrer Zappelei gelang, an Land. Als sie den Boden unter ihren Füßen spüren konnten, riss sie sich aus seinem Griff los, stellte sich auf alle Viere und hustete und hustete … Hilflos stand er neben ihr, wusste nicht, was er tun sollte. Das Dröhnen wurde lauter, der Knoten im Hals verdickte sich und erfüllte jedes Schlucken mit Schmerz. Allein das Husten war so fürchterlich mit anzuhören, dass es Dylan eine Gänsehaut verpasste. Erst, als sich ihr Hustenreiz verflüchtigte, traute er sich wieder, sich ihr zu nähern. Vorsichtig kniete er sich zu ihr herunter, griff ihr unter den Arm und –  BAM! Die Ohrfeige kam überraschend und mit ordentlichem Schwung, vor allem aber treffsicher und schmerzhaft. Er konnte jeden einzelnen ihrer Finger in seinem Gesicht spüren. Sie wummerte sogar noch in seinem Kopf. Oder war das sein Herzschlag, den er hörte? »Fass mich bloß nicht an!«, ächzte sie, mit einer Stimme, die sogar das schlimmste Reibeisen in den Schatten stellte. »Deinetwegen wäre ich fast ertrunken!« Während er noch immer kein Wort herausbrachte und zu begreifen versuchte, was sich im See abgespielt hatte, richtete sie sich auf und quälte sich auf wackeligen Beinen zu ihrem Platz zurück. Dylan hingegen war in Schockstarre. Unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen, stand er da. Dazu verdammt, Stellar dabei zuzusehen, wie sie ihre Latzhose und ihre Tasche einsammelte, sich die Tüten griff und sich so schnell wie es in ihrem Zustand möglich war davonmachte. Er versuchte erst gar nicht ihr hinterherzulaufen. Instinktiv wusste er, dass es besser war, sie ziehen zu lassen.   Stellar war längst außer Sichtweite, als er seine Gliedmaßen wieder spüren und bewegen konnte. Er rieb sich kurz die Wange, die glühte und feuerrot sein musste, und setzte sich neben seinen Klamotten ins Gras, mit leerem Blick auf den See. Seinetwegen wäre sie fast ertrunken. Nur, weil er sie gegen ihren Willen in den See geworfen hatte. Ob gut gemeint oder nicht, das spielte keine Rolle. Je tiefer diese Tatsache in sein Bewusstsein drang, desto mehr erschrak er vor sich selbst. Er wollte ihr nie etwas antun. Er wollte einfach nur ein bisschen Spaß. Sich für die Sache von gestern entschuldigen und es wieder gut machen. Dass er dabei eine derart ernste Grenze überschritt – woher hätte er das wissen sollen? Andererseits: Warum wunderte er sich eigentlich noch? Das zwischen ihnen würde nie eine andere Basis als Feindseligkeit finden. Sie waren einfach zu verschieden. Er hatte es versucht. Er hatte es versucht und es war gewaltig schiefgelaufen. Gar nicht erst daran zu denken, wenn Chris erfuhr, was hier und heute passiert war … Zeit, um nach Hause zu gehen. Die Situation konnte er im Augenblick eh nicht ändern und die Schuldgefühle wurden von jetzt auf gleich auch nicht weniger.   Die schienen einen reizend perfiden Humor zu besitzen, wie Dylan fand. Sie hatten ihm das Bild, wie Stellar im Wasser um ihr Leben strampelte, in die Netzhaut eingebrannt und ließen es während des gesamten Nachhausewegs vor seinem inneren Auge wie einen schlechten Film in Dauerschleife ablaufen. Er hatte gehofft, dass zumindest der Umweg von mindestens einer Stunde quer durch den Park ihm dabei half, es abzustellen; Fehlanzeige. Nur kurz befreite ihn die stickige, abgestandene Luft, die schwer in seiner Wohnung hing und ihn als Willkommensgruß daheim erschlug. Doch sobald er sich daran gewöhnt hatte, war der Horrorstreifen wieder präsent. Ununterbrochen lief ihm die Gänsehaut rauf und runter. Der Anblick, das Husten … In solchen Momenten waren ihm gute Vorsätze, wie das Rauchen aufzuhören, scheißegal. Ihm wirklich helfen, sich besser zu fühlen, konnte da jetzt nur eins: eine Zigarette. Und ein Bier, am besten kalt. Ohne Schuhe auszuziehen ging er zielstrebig durch den Flur in die Küche und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Sein Blick verharrte auf dem Etikett. Wut stieg in ihm auf. Wut über das, was passiert war. Wut über sich selbst. Mit voller Wucht knallte er die Kühlschranktür zu und hielt sich das Bier an die Stirn. Warum? Warum hatte er ihr „Nein“ nicht einfach akzeptieren können? Warum nur musste er immer seinen Dickkopf durchsetzen? Chris hatte schon immer zu ihm gesagt, dass er vorher darüber nachdenken solle, bevor er etwas tat. Schon immer. Und eigentlich müsste er es doch allmählich begriffen haben, dass er damit Recht hatte. So oft, wie er sich bei Stellar schon entschuldigen musste ... Das letzte, was er wollte war, dass sie Angst vor ihm hatte. Wer aber konnte es ihr jetzt, nach dieser Glanzleistung, schon verdenken?  Dylan nahm die Packung Zigaretten mitsamt Feuerzeug vom Kühlschrank herunter, steckte sie sich in die Gesäßtasche und watete im Wohnzimmer durch die verstreuten Kleidungsstücke bis zum Balkon.   Endlich war Wind aufgekommen, die Hitze ein wenig abgeflaut und es dämmerte inzwischen. Die Kinder, die Dylan von seinem Balkon aus im Innenhof spielen sah, machten ihn wehmütig. Noch einmal Kind sein, noch einmal unbeschwert durchs Leben springen. Das wünschte er sich gerade. Einfach nur rutschen, wippen und schaukeln. Vielleicht noch ein paar Sandburgen im Sandkasten bauen oder auf den Kletterbaum klettern. Als Kind hätte er nicht solche Probleme am Arsch, wie jetzt. Allerdings gäbe es auch kein Bier. Ein kräftiger Druck mit dem Daumen gegen den Bügel und der Verschluss seiner Bierflasche ploppte auf. Es war ein sehr großer, erster Schluck. Ein Drittel des Inhalts fehlte, und wirklich besser fühlte er sich nicht, so erfrischend das Bier auch war. Auch das Flaschenglas auf der Stirn brachte keine Besserung. Warum konnte man Gedanken nicht einfach einfrieren? Oder einfach in Alkohol ertränken? Ertränken … Ihm entwich ein schwerer Seufzer. Jetzt schmeckte ihm auch das Bier nicht mehr. Er stellte es auf den Boden und mit einem Griff in die Gesäßtasche holte er die Schachtel Kippen und das Feuerzeug hervor. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und wollte sie gerade anzünden, da vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Eine SMS: Hey stronzo. Das vorhin war unfair von mir. Sorry. Stellar   Hä? Stronzo? Sorry? Was sollte das bedeuten? Bevor er lange tippte, nahm er die Fluppe aus dem Gesicht und rief sie einfach an. Nach fünf Freizeichen hörte er keines mehr, die Gesprächszeit aber lief. Sie hatte also abgehoben, nur noch nichts gesagt. Oder war die Leitung kaputt? »… Hallo? Bist du dran?« Ein zögerlich zustimmendes Summen drang durch die Leitung. »Sorry für was? Und was soll dieses „stronzo“ heißen?« Keine Antwort. »Hallo?« »… Mann, keine Ahnung.« Ihre sonst so kraftvolle Stimme verdünnte sich, zitterte und schoss zum Ende schlagartig in die Höhe. Diesmal war es Dylan, der schwieg. »… Ich hatte einfach Panik und … eigentlich wolltest du mir ja nur helfen.« Er war nach wie vor von ihrer Entschuldigung verwirrt, auch davon, dass sie deutlich hörbar zu weinen begonnen hatte. Jetzt wusste er, warum sie nicht angerufen, sondern eine SMS geschickt hatte. Was sollte er nur sagen? »Tut mir leid, das war unfair. Auch die Ohrfeige.« Ihre Stimme klang gepresst, als kämpfte sie gegen die Tränen an. »Schon gut, vergiss es. Ich habe sie ja verdient ...« Er musste ihr einfach die Frage stellen: »Warum … hast du nicht einfach gesagt, dass du nicht schwimmen kannst?« Diese Frage brannte ihm schon die ganze Zeit wie Feuer auf der Zunge. »Weil …« Ein Schniefen unterbrach den Satz. »Weil das peinlich ist. Damit geht man nicht hausieren, okay? Jedes kleine Kind kann schwimmen, sogar Babys. Und ich bin schon fünfundzwanzig Jahre alt und kann’s nicht. Das ist nichts, was man jedem erzählt. Chris weiß es ja auch nicht …« Stille baute sich auf, die immer dicker zu werden schien, immer mehr die Leitung vereinnahmte, je länger sie vorherrschte. Nur ihr Schniefen schaffte es sie zu durchdringen. Im Trösten hatte er noch nie geglänzt, zumal ihm eh niemand die Floskeln abkaufte, nicht einmal er selbst. Was sollte er also darauf antworten?   »Also … Ich kann bis heute keine Schleifen binden«, sagte er und zerschnitt damit das neu aufgekommene Schweigen. Das trompetenartige Geräusch, das folgte, war so laut, dass er sich in dem Moment das Handy weiter vom Ohr weghalten musste. Das war aber ein sehr kräftiges Naseputzen … »Was?« »Ja, ehrlich! Ich kann keine Schleifen binden. Ich mach zwar einen Knoten, aber den Rest von den Schnürsenkeln stopf ich nur noch in die Schuhe. Meine Mutter hat zwar versucht, es mir als Kind beizubringen, aber ist schier daran verzweifelt. Mein Vater meinte, dass ich das dümmste Kind der Welt bin, zumindest in dieser Angelegenheit.« Erst schien sie nicht zu wissen, was sie davon halten sollte. Außer dem ständig wiederkehrenden Schniefen war nämlich nichts zu hören, dann aber tauchte ein kleines Lachen auf. Ja, so gefiel sie ihm schon viel besser. Kurz stieg er in ihr Lachen mit ein, dann aber wurde er wieder ernst. »Stellar … Es tut mir wirklich leid. Wenn ich das gewusst hätte … Ich … Wirklich, ich hätte dich niemals in den See geschmissen.« Schon wieder Trompeten. »Schon okay … Ich hätte einfach was sagen sollen«, entgegnete sie. Das hätte es bestimmt verhindert, ja. Den Gedanken aber sprach er besser nicht aus. »Geht’s dir denn gut? Du … hast mir vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« »Ja, danke. Mir geht es gut. Hat vielleicht schlimmer ausgesehen, als es war.« »Eher schlimmer angehört …« Puh. Gott sei Dank. Damit sagte er endgültig: Bye bye, Schuldgefühle. Wieder wurde das Gespräch durch Schweigen geführt, bis es Stellar mit gefassterer Stimme unterbrach. »Danke, dass du mir geholfen hast.« »Oh bitte, nicht dafür.« Soweit kam es noch! Dass sie sich dafür entschuldigte, dass er sie aus einer Notsituation retten musste, die er eigenhändig verursacht hatte. »Okay … Können wir die Sache vielleicht für uns behalten? Ich will nicht, dass Chris davon weiß.« Er hatte sich so etwas schon gedacht. Ihm war das nur Recht. Dann musste er sich vor ihm auch nicht rechtfertigen. »Vergessen wir das Ganze einfach, okay? Das ist nie passiert.« »Okay. … Danke.« »Nicht der Rede wert.« »Cool, dann … dir noch einen schönen Abend.« »Dir auch. Danke, dass du angerufen hast.« Stellar zögerte. »Ich habe doch gar nicht angerufen.« Stimmt, das war ja er. »Ich meine, für die SMS.« Ihr Kichern ließ ihn lächeln. »Bis dann.« »Ach, Stellar? Was heißt denn jetzt „stronzo“?« Tut. Tut. Tut. Einfach aufgelegt.   Dylan nahm das Handy vom Ohr und sah auf das schwarze Display. Wow. Dieser Tag hielt wirklich jede Menge Überraschungen bereit. Insbesondere mit Stellar. Mit dieser Frau erlebte er wirklich eine ganz persönliche und einzigartige Stimmungsachterbahn. Wie schaffte es Chris nur, mehrere Tage mit ihr Zeit zu verbringen? Ihm war ein Nachmittag schon zu viel Action. Trotzdem konnte er nicht aufhören, sein Handy anzugrinsen. Diese Frau hatte bei ihm gerade drei Dinge verhindert: Erstens, mit dem Gefühl schlafen gehen zu müssen, dass er durch sein unüberlegtes Handeln beinah eine Frau auf dem Gewissen hatte. Zweitens, dem Drang nachzugeben, seine Wohnung aufzuräumen; den er eh nur gehabt hätte, wenn er keine anderweitige Beschäftigung hätte finden können. Und drittens, einen Rückfall in Punkto Rauchen. Ziemlich starkes Resultat. In Gedanken immer noch bei dem Gespräch steckte er die Zigarette wieder in die Schachtel, ebenso das Feuerzeug. Vielleicht hatten sie sich zu Anfang wirklich nur falsch eingeschätzt. Und vielleicht brauchten sie nur eines: Zeit, um sich besser kennenzulernen. In einer Sache war er sich völlig sicher: dass sich heute zwischen ihnen etwas verändert hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)