[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 59: Unter der Zeit -------------------------- Unter der Zeit   Es gibt kein Entrinnen vor den Tagen und Stunden. Kein Entrinnen vor dem Gestern und Heute. Ein Meilenstein auf der ausgetretenen Spur der Jahre. Wenn Kira nur etwas mehr Zeit bliebe, um sein Werk zu vollenden, dann würde er gewiss nicht versäumen, es mit dem Stempel der Gegenwart und Zukunft zu brandmarken. Beides erschien ihm so alltäglich wie klar. Kira würde darin den Menschen einen viel größeren Platz einräumen, einen unermesslich ausgedehnten Stellenwert, anstatt sie mit jenem beschränkten Raum zu versöhnen, der ihnen spärlich zugeteilt ward. Er würde das Leid der Menschen lindern, sogar auf die Gefahr hin, ihnen das Aussehen von Ungeheuern zu geben und sich selbst in das Gewand des Bösen zu kleiden. Ins Visier genommen von den japanischen Polizisten verharrte Light unbewegt in der Mitte der Halle und überlegte, ob es noch eine Chance gab, dieser Situation zu entkommen. In seinem Inneren hatte sich die deformierte Unberührbarkeit seiner Person wie ein flüssiges Tuch aus Ruhe und Gelassenheit über seine Gliedmaßen gelegt. Es gab vielleicht eine Chance. Er hatte noch Zeit. Er hatte noch immer seine Armbanduhr. Unterdessen trottete L im Weitersprechen zu der Sitzgruppe hinüber. „Auf meiner Suche nach einem Ausweg aus der verzwickten Lage, in die du mich manövriert hast, musste ich mich in vielerlei Hinsicht mit dem Tod auseinandersetzen, was ich im Übrigen nicht nur auf Rem bezogen meine.“ Ungelenk stieg L auf einen der schwarzen Ledersessel und legte die Hände auf seine angewinkelten Knie. Light verzog keine Miene, obwohl ihm bewusst war, wovon der Andere sprach. „Unter deiner Anleitung war auch Misa-san äußerst vorsichtig“, sagte L ein wenig verdrossen, „weshalb wir sie spät abends, nachdem sie ihre mörderische Stellvertreterarbeit erledigt hatte, im Schlaf zusätzlich betäuben mussten, um das Death Note unbehelligt auszutauschen.“ „Das ist unrechtlich“, kritisierte Light gegenüber den anwesenden Polizisten. Sie würden der Beweisführung des Meisterdetektivs sicherlich nicht hinreichend und in allen Einzelheiten folgen können. Womöglich zweifelten sie sogar jetzt noch an Lights Schuld, unter der Vorannahme, er sei von Kira manipuliert worden. „Ihr habt das zugelassen?“ „Wir wussten nichts davon“, rechtfertigte sich Matsuda unnötigerweise. „Ryuzaki hat das ganz allein durchgeführt und wir haben erst heute...“ „Das Death Note fanden wir ohnehin nicht“, unterbrach L den überflüssigen Wortschwall. Nichtsdestotrotz genügte Light diese Information. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren die hier anwesenden Personen die einzigen, die vom Ermittlungsstand und der derzeitigen Situation wussten. Kira musste sie bloß alle umbringen. „Auf deine Anweisung hin besaß Misa-san nur ein paar ausgerissene Seiten, was zugegeben auch ein Vorteil war, da es sich innerhalb der kurzen Zeit für Watari als einfacher zu fälschen herausstellte als ein vollständiges Buch. Beim Berühren der Seiten...“ „...war es unumgänglich, dass der Todesgott sichtbar wurde“, folgerte Light an Ls Stelle, „was euch wiederum den Beweis über die Echtheit des Papiers lieferte und nachdem...“ „...Misa-san gestern gegangen war“, fuhr L bestätigend fort, „und im Bewusstsein der Informationen, die ich daraufhin von Rem erhalten hatte, teilte ich Watari mit, er solle Wedy unterstützen und sich über die Anwesenheit des Todesgottes erkundigen.“ „Nachdem Misa...?“ Aufmerkend durchdachte Light das Geschehen des gestrigen Abends und suchte zugleich nach einem Weg, Zeit zu schinden. „Hast du Watari nicht bloß gebeten, dir von McDonalds einen Matcha-Milchshake mitzubringen?“ „Äh, ja“, gestand L etwas zerstreut, „das auch. Es ist wohl nichts Ungewöhnliches, wenn man ein bisschen gegen ein Mikrofon tippt, schätze ich.“ Light schloss verstehend die Augen und seufzte leise. „Morsezeichen? Das kam mir nicht in den Sinn.“ Er tat, als würde er ernsthaft darüber nachgrübeln. Im Moment hatte er noch relative Bewegungsfreiheit. Seine Hände waren nicht gefesselt, aber den in seiner Armbanduhr versteckten Trumpf konnte er jetzt schlecht verwenden. „Zudem deine Angewohnheit, manches auf Latein oder Altgriechisch zu sagen, was ich nur bedingt übersetzen konnte.“ Würde man ihm die Uhr bald abnehmen oder hatte er später noch Gelegenheit, sie zu benutzen? Sollte er sein Mordwerkzeug besser vorher entfernen und es irgendwo am Körper verbergen? Da jedoch mittlerweile alle über das Death Note Bescheid wussten, würde selbst der kleinste Schnipsel verdächtig erscheinen. Hinzu kam die Tatsache, dass sich auf dem Papier nach wie vor Higuchis Todesurteil befand, geschrieben mit dem Blut seines Mörders. „Wie ich dir bereits mitteilte“, erwiderte L, „habe ich in meiner Ausbildung verschiedene Sprachen erlernt. Gestern wollte ich von Watari wissen, ob der Gott des Todes wie erwartet bei Misa-san war. Du dachtest, du könntest verhindern, dass ich Aufträge erteile. Aber genauso wenig wie ich verhindern oder bemerken konnte, dass du Higuchi umbringst oder dich unbemerkt mit Misa-san austauschst, genauso konntest du mich nicht rund um die Uhr bewachen, an allen sieben Tagen der vergangenen Woche, in jeder Minute der vierundzwanzig Stunden eines Tages.“ Das entsprach unglücklicherweise der Wahrheit. Allerdings würden Light ebenfalls einige Lücken vergönnt sein, sobald man ihn in Haft nahm. Sicher, er kannte Ls wahren Namen nicht und konnte ihn noch nicht töten. Hätte der Meisterdetektiv seinen eigenen Namen in das Death Note eingetragen und es seinem Hauptverdächtigen triumphierend unter die Nase gerieben, selbst dann hätte Light mit diesem Wissen rein gar nichts anfangen können. Eine Person konnte nur einmal durch die Macht des Notizbuchs sterben. „Sogar in deiner Anwesenheit“, fuhr L in der Zwischenzeit fort, „gab es weitere Optionen, über einen Computer zu kommunizieren. Würfelspiele zum Beispiel.“ Light runzelte die Stirn, als ihm die bislang vergessene Anomalie wieder einfiel. „Diese merkwürdigen Sechserwürfelketten... Brailleschrift?“ Es konnte sein, dass nur zwei der Polizisten ihn abführten. Idealerweise konnte er dabei auf der Rückbank eines Streifenwagens unbemerkt an seine Uhr gelangen. Wenn er es geschickt anstellte, schaffte er es, mit dem winzigen Papierstück seine Freilassung zu bestimmen. Das sollte nicht schwieriger sein als die Ermordung Higuchis im Hubschraubercockpit. Danach würde Light weitersehen. „Und jetzt rückst du damit heraus wie ein Ganove, der seinen Masterplan verrät, um seinen Sieg auszukosten, oder wie darf ich das verstehen?“ „Kurz nachdem ein Gangster seinen Plan verrät“, formulierte L erstaunt, „wird er doch letzten Endes immer aufgehalten. Bist du da nicht ein wenig zu hoffnungsvoll?“ Unbewusst zuckten Lights Finger in Richtung seines Handgelenks, während sich die beiden Männer eindringlich taxierten, bis L schließlich leise sagte: „Ich meine das auch in Bezug auf das, was du vermutlich gerade über deine Armbanduhr denkst, Light-kun.“ Aus der Fassung gebracht riss jener die Augen auf, seine Hand schnellte zu dem Tötungswerkzeug, zur gleichen Zeit, wie auch einer der Polizisten seine Waffe sofort im Anschlag hatte. „Nein, Matsuda-san!“, rief L in aggressiver Panik. „Lassen Sie das!“ Unentschlossen, beinahe verstört wechselte Matsudas Blick von dem Meisterdetektiv zu Yagami Light, dem Sohn seines Vorgesetzten, den er stets bewundert und von dem er eigentlich angenommen hatte, er würde ihn kennen. Seine Beine zitterten, dagegen blieb die Schusswaffe in seinem verkrampften Griff völlig ruhig. Auf der Hut und höchst angespannt nickte Matsuda ruckartig, um zu zeigen, dass er sich unter Kontrolle hatte. L hob in einer Geste der Jovialität die Hand und bedeutete Light damit, er solle sich an seinem Vorhaben nicht gehindert fühlen. Dieser zog daraufhin in unheilvoller Ahnung viermal rasch hintereinander an dem seitlich angebrachten Verstellrad seiner Uhr. Leise klickend sprang unter dem Ziffernblatt die präparierte Rückseite hervor. Entgegen seiner Erwartung war das winzige Schubfach in der Armbanduhr jedoch nicht leer. Darin befand sich ein sorgsam gefaltetes Stück Bonbonpapier. Verfluchte Scheiße, wie konnte er das wissen? Und wann hat er...? „Ich frage mich“, mutmaßte L, wobei er zwischen zwei Fingern ebenjenes vermisste Notizblatt hochhielt, „was uns ein Bluttest darüber verrät, um wessen Blut es sich hier handelt. Damit haben wir nicht nur einen Indizienbeweis, Light-kun.“ Regungslos und von einem Moment auf den anderen ohne Hintertür oder Handlungsspielraum stand Light wie erstarrt im Kreis der Sondereinheit. „Legen Sie ihm bitte Handschellen an, Mogi-san“, forderte L den breitschultrigen Polizisten auf, welcher dienstbeflissen an Light herantrat, um ihn festzunehmen. Dieser wand sich unter der übermächtigen Kraft des stämmigen Mannes. „Komm, sei vernünftig“, sagte Mogi ruhig, packte ihn versiert an den Armen und drehte sie Light auf den Rücken. Das längst vertraute Geräusch der sich schließenden Handschellen hallte in dessen Ohren nach wie eine in Rotation versetzte Revolvertrommel. „Ryuk!“, brüllte Light zornentbrannt. „Ryuk, du hast mich verraten!“ „Ich habe dir gesagt, ich stehe auf keiner Seite.“ Der kratzige, stets leicht amüsierte Stimmklang kündigte den Todesgott bereits an, bevor dieser neben dem Eigentümer des Death Notes auftauchte. „Wenn du keine Partei ergreifst, hättest du mich niemals verraten dürfen!“ „Nicht ganz, Light. Ich habe dir geholfen, sobald ich dafür etwas bekam und sei es auch nur meinen Spaß. Zu dem Zeitpunkt hattest du sowieso schon den Kürzeren gezogen.“ „Todesgötter essen nur Äpfel“, warf plötzlich L in die Debatte ein und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eine der Fotografien in die Luft, die skizzierte, wie Kira einst mit Hilfe diverser Verbrecher Botschaften an seinen Feind verschickt hatte. „Du bist damals nicht auf die Idee einer vierten Nachricht gekommen, weil du wusstest, dass es nur drei gab, ist es nicht so, Light-kun? Todesgötter sollen nur Äpfel essen? Rem hat das revidiert, aber in jeder kindischen Provokation steckt auch ein Funken Wahrheit. Du hättest deinen Todesgott vielleicht nicht wie ein Haustier umsorgen sollen. Dann wäre nicht aufgefallen, dass Misa-san ausgerechnet mit Äpfeln in den Wald zog. Äpfel sind eine Obstsorte, die sehr viel Zucker enthält, für ein figurbewusstes Model wie Amane Misa eine ungünstige Wahl, zumindest war es ein weiterer merkwürdiger Zufall auf einer ganzen Liste an erstaunlich unzusammenhängenden Phänomenen. Bemerkenswert, wie oft die Welt voll ist von offensichtlichen Dingen, die zufällig nie jemand bemerkt. Bei so viel Evidenz konnte ich schlecht davon ausgehen, dass Misa-san Rotkäppchen spielen und ihre Großmutter besuchen wollte.“ Also lag Light mit seiner Befürchtung richtig. Ryuk war der Einzige, dem er von der Armbanduhr und ihrer Funktionsweise erzählt hatte. Nicht einmal Rem wusste davon. Und um Ryuk zu beeinflussen, gab es nur eine Variante: Bestechung. „Ich traf nach Mitternacht bei Misa-san ein“, erklärte L, augenscheinlich unbeschwert, „und führte, während wir die Seiten austauschten, mit deinem Shinigami ein kleines Gespräch, mit dem ich ihn davon überzeugte, dass wir genug gegen dich in der Hand hatten, um dein Verlieren quasi zu besiegeln. Wie gesagt, ich schloss darauf, dass Kira irgendwie beide Todesgötter zur Kooperation bewegt hatte, den einen aus Zuneigung für Misa-san, den anderen...“ Kaum sichtbar lächelte L. „Ich fürchte, Light-kun, durch meine Überzeugungsarbeit war deinem Todesgott schnell klar, dass er seinen Annehmlichkeiten bald abschwören musste. Denn dies wiederum war ein Anhaltspunkt, den Rem mir gänzlich kopflos offenbarte, dass es in der Welt der Todesgötter kaum Nahrungsmittel gibt und sie sich das Essen daher abgewöhnt haben, vermutlich weil das Vorhandene nicht allzu nahrhaft sein dürfte. Ich kann das gut verstehen. Auf süßes Essen verzichten zu müssen ist eine unangenehme Vorstellung.“ Der Anflug des Lächelns verschwand, stattdessen musterte L seinen jungen Delinquenten mit der Schärfe seiner leblosen Pupillen. „Irgendwo musstest du etwas von dem Death Note versteckt haben, womit du Higuchi töten konntest. Ich wusste nur nicht, wo. Darum hatte ich letzte Nacht ein paar Äpfel dabei, während ich bloß einige, sagen wir, unverbindliche Fragen stellte.“ Sorglos zuckte L mit den Schultern und setzte abschließend hinzu: „Wer hätte das gedacht, Light-kun? Ein paar Äpfel für das Geheimnis um eine Uhr.“ Light versuchte die Wut niederzuringen, die in seinem Inneren rumorte. Nun wurde ihm vollends bewusst, dass L die gleiche Strategie angewandt hatte wie er selbst. L hatte den personifizierten Tod für sich arbeiten lassen. In Folge dessen hatten sich beide Todesgötter gegen Kira gewandt und seinen Plan sabotiert. Er hätte gewonnen, wenn diese verfluchten Wesen ihm gehorcht hätten! Es war alles ihre Schuld. „Ryuk!“ „Hey, was sollte ich machen?“, verteidigte sich der in schwarze Fetzen gekleidete Todesgott mit einem Grinsen. „Es hat mich noch nie gejuckt, was du wolltest, Light. Ich habe dir nur erzählt, worauf ich gerade Lust hatte. Wieso sollte ich jemandem seine Fragen nicht beantworten? Schließlich rede ich gern mit Menschen, erst recht mit welchen, die mir Äpfel geben.“ Dann jedoch fügte er fast ein wenig kleinlaut hinzu: „Außerdem waren das Nicoter, nicht immer nur Fujis. Wie er da wohl rangekommen ist...?“ „Im Grunde genommen war das dein eigener Fehler, Light-kun“, verkündete L unbekümmert, „du hast mich mit deiner leichtsinnigen Provokation auf die Idee mit den Äpfeln gebracht. Leider konnte ich nur darauf spekulieren, dass mich der eine Todesgott nicht belügen und der andere sich meinem Plan anschließen würde. Insbesondere Rem war wie immer sehr verschlossen, nahezu entnervend verschwiegen. Du wolltest also den Todesgott benutzen, um mich zu töten, anstatt es Misa-san zu überlassen oder es selbst zu tun. Findest du das nicht ein bisschen feige?“ „Wie soll ich denn dein Vorgehen bezeichnen?“, zischte Light abwertend. „Du hast es doch genauso gemacht.“ „Um dich zu überführen, hätte ich mich von dir töten lassen.“ Ls Gesicht nahm einen dunklen, unergründlichen Ausdruck an. „Ich habe ernstlich überlegt, meinen eigenen Namen in das Death Note zu schreiben, bevor ich dir meinen Tod vorspiele, um sicher zu sein, dass ich deine Überführung miterlebe, allerdings hatte ich noch... eine vage Hoffnung, solange nicht alles festgelegt war. Vielleicht hätte mich Rem getötet oder dir tatsächlich meinen Namen verraten, vielleicht hätte Amane Misa meinen Namen gesehen und ihn auf einen Papierfetzen geschrieben, der uns entgangen war. So oder so hätte ich mich selbst als Beweis verwendet. Der jetzige Ausgang beruhte eher auf Zufall, Glück und Spekulationen, obschon ich mich auf solcherlei Ungenauigkeiten nicht gern verlasse. Ich konnte nur meine Spielzüge vorbereiten, verschiedene Lösungen bereitstellen und beobachten, was passiert, genauso wie du. Welch Ironie, dass eines dieser halb geplanten Resultate ohne die Hilfe der Todesgötter meinen Tod bedeutet hätte. Doch letzten Endes kam der Beweis deiner Schuld nicht durch dieses kleine Stück Papier in deiner, wie ich zugeben muss, sehr clever präparierten Uhr, sondern durch dich selbst, deine persönliche Offenlegung und... das Aufschreiben des Namens von deinem eigenen Vater.“ Der Meisterdetektiv schloss damit die Aufnahme des Tatbestandes und legte die Fotografie sowie den blutigen Papierschnipsel zu den restlichen auf dem Glastisch ausgebreiteten Beweismitteln, die ein lückenloses Bild zur Überführung Kiras boten. Dieser Fall war der bisher schwierigste und spannendste in Ls ganzer Karriere gewesen. Zum ersten Mal hatte er sich derart in Beschlag nehmen lassen. Und zum ersten Mal erfüllte ihn der Abschluss seiner Beweisführung nicht mit Zufriedenheit, sondern mit einem unguten Gefühl der Selbstverleumdung. Doch genau wie Kira hatte er keine Wahl. L musste tun, was er für richtig hielt. „Light“, meldete sich endlich Herr Yagami zu Wort und unterbrach das unangenehme Schweigen im Raum. Vater und Sohn begegneten einander unverwandt und fremd, durch erbschaftliches Blut verbunden, durch mörderisch vergossenes Blut getrennt. „Du sagtest, dass ich es verstehen würde, Light, dass du versuchen würdest, für uns eine neue Welt zu erschaffen. Aber ich kann es absolut nicht verstehen. Das ist keine Gerechtigkeit!“ Konsterniert nahm Light das Unwissen dieser armseligen Ignoranten hin. Warum sträubten sie sich so sehr dagegen, Kira die Fürsorge um das Wohlergehen der Menschheit zu überantworten? Warum vertrauten sie nicht auf seine Weitsicht und Führung? Bevor Light etwas erwidern konnte, sagte L ohne tadelnden Tonfall, allerdings auch ohne Zurückhaltung: „Yagami Light besaß ungefähr drei Monate lang keinerlei Erinnerungen an das Death Note. Trotzdem konnte ich währenddessen in unseren zahlreichen Diskussionen und bei meinen Beobachtungen Aspekte von Kira in ihm entdecken. Seine Anlagen. Kiras Ursprung. Vermutlich mit dem Berühren des Death Notes sind seine Erinnerungen zurückgekehrt. Doch auch im Umkehrschluss habe ich im wiedererwachten Kira die Persönlichkeit von Light erkennen können. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Yagami-san, Sie können nichts dafür. Lights Moralempfinden und seine Ideale sind so stark ausgeprägt, dass sie sich durch die Macht dieses Notizbuchs abnorm in etwas verkehrten, das bei einem weniger idealistischen Menschen niemals denkbar gewesen wäre. In meiner zweimonatigen Analyse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Yagami Light jederzeit, auch ohne Erinnerungen, wieder in ein ähnliches Muster verfallen kann. Ein solcher Soziopath darf nicht auf die Menschheit losgelassen werden.“ „Behandle mich nicht wie einen dreckigen Verbrecher!“, rief dieser erbost. „Light, zügle deine Zunge!“, ging der Inspektor schneidend dazwischen und erntete einen abgehackten Laut des Spottes. „Du willst mich jetzt noch zurechtweisen?“ Light lachte gequält, mehr gespielt als höhnisch. „Deinen missratenen Sohn, auf den du immer so stolz warst? Bis zuletzt hast du es nicht wahrhaben wollen, Vater, dass dein eigen Fleisch und Blut jener bösartige Dämon sein soll, den du seit einem Jahr unermüdlich gejagt hast. Dabei trifft alles zu.“ Auf Lights verzerrten Gesichtszügen, entstellt von Euphorie und abtrünniger Verzweiflung, spiegelte sich seine Hybris, als er mit bebender Stimme sagte: „Ich bin Kira. Der Gott einer neuen Weltordnung.“ „Einer Ordnung, die deinetwegen im Chaos versinkt!?“ Herr Yagami war außer sich. „Was du getan hast, war egoistisch!“ „Egoistisch?“ Light reagierte verblüfft, seine braunen Augen waren leer und entrückt. „Natürlich, ich verstehe, wie blasphemisch und selbstherrlich von mir, nicht wahr? Aber ist ein Gott nicht bloß ein Schöpfer, ein Führer und Bewahrer? Habe ich denn die Menschheit gezwungen, sich mir zu unterwerfen? Noch bevor ich auch nur ein einziges Wort an sie richtete, erhoben die Menschen ihren Messias von ganz allein, weil sie ihn ersehnten und lange ohne Hoffnung waren. Was war die Welt denn für ein Ort, bevor Kira auftauchte? Überall Verbrecher, die von der Justiz nicht belangt werden, Opfer und Betroffene, im Stich gelassen von unserem Rechtssystem, einem System, das viel häufiger scheitert, als unser Staat es zugeben will. All das hat Kira geändert. Durch ihn ist die Verbrechensrate um siebzig Prozent gesunken. Ist das nicht die Welt, die du immer wolltest, Vater?“ „Ich wollte niemals einen Mörder zum Sohn.“ Herr Yagami trat drohend einen Schritt nach vorn. „Genau genommen sind die Verbrechen nicht zurückgegangen, zählt man die massenhaften Morde hinzu, die du begangen hast.“ „Der Tod des Bösen im Tausch gegen das Glück des Guten. Ich finde, das ist ein durchaus fairer Tausch. Das verbrecherische Potenzial zentriert sich nunmehr auf eine einzige Person.“ Light machte eine Pause und lächelte grimmig. „Nämlich auf mich. Ich allein trage jetzt noch die Schuld als meine Verantwortung.“ „Menschen zu töten ist keine Lösung für irgendetwas!“ „Ist die Todesstrafe in Japan also keine Variante, um sich die unliebsamen Individuen vom Hals zu schaffen?“ „Light, du hast Unschuldige ermordet.“ Der Chefinspektor schritt auf seinen Sohn zu und versuchte ihm seine irrige Anmaßung begreiflich zu machen. „Du hast sogar meinen Namen in das Death Note geschrieben. Du wolltest mich töten! Wie konntest du nur!?“ „Es mag sein, dass jeder von uns sich für die ganze Welt hält“, entgegnete Light kühl, „sobald wir jedoch fragen, wie der Rest uns sieht, wird uns klar, dass wir unter diesem Aspekt nichts weiter als ein unbedeutender Teil der Welt sind. Auch wenn für jeden von uns das eigene Glück wichtiger ist als das aller anderen, aus objektiver Perspektive ist es nicht wichtiger als das Glück eines jeden. Der Wert eines Menschen hängt davon ab, was für einen Nutzen er hat, was er für die Gesellschaft tun kann. Das hast du mir doch beigebracht, oder nicht? Darum ist Ls Wert nicht geringer als der von Kira. Wir sind stets angehalten zu entscheiden, was richtig oder falsch, was wertvoll oder entbehrlich ist und welche Opfer nicht vermieden werden können.“ Light registrierte das Unverständnis im Gesicht des älteren Mannes und seufzte. „Vater, angenommen, man würde dich vor die Wahl stellen, ob du deine Familie opferst, wenn du damit hundert andere Menschenleben retten könntest. Was würdest du tun?“ „Light!“ „Bitte antworte“, forderte dieser selbstbewusst. „Wie kannst du mich so etwas fragen?“ Aufgewühlt ballte Herr Yagami die Hände zu Fäusten und suchte nach einer überzeugenden Antwort. „Ich weiß es nicht... aber du, deine Mutter, deine Schwester, ihr seid mir sehr wichtig. Ich fühle genau, dass ihr mir mehr bedeutet als hundert andere Menschen. Dennoch kann man niemanden gegeneinander verrechnen.“ „In Ordnung“, erwiderte Light gleichgültig, „wenn man dich zu einer Entscheidung zwingt, würdest du also auf den Kategorischen Imperativ oder den Bushido verweisen und aus idealistischem Prinzip heraus einfach alle sterben lassen, habe ich das so weit richtig verstanden? Wie nobel, Vater.“ „Untersteh dich, Junge!“ Herr Yagami packte seinen Sohn schmerzhaft an den Armen und schüttelte ihn heftig, sodass Mogi seinem Vorgesetzten beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legte. Light ließ es über sich ergehen und sprach unbeeindruckt weiter: „Ich bezweifle, dass du dich sogar unter diesen geringen Bedingungen für uns entscheiden würdest. Aber was ist, wenn jemand dir gegen das Leben von Mutter, Sayu und mir anbieten würde, über einer beliebigen Großstadt der Welt, meinetwegen direkt über Tokyo, eine Atombombe von mehreren Megatonnen Sprengkraft zu zünden?“ Das Gesicht des Chefinspektors wurde aschfahl. Light bemerkte es mit einer absurden Mischung aus Genugtuung und Bitterkeit. „Siehst du? Ab einem bestimmten Punkt hat jedes Leben seinen Preis. Und der liegt bei einem Menschen, nüchtern betrachtet, sogar unter dem Wert einer Patronenkugel.“ „Wie kannst du...?“ Der Chefinspektor bebte vor Zorn, sein Übergriff wurde energischer. „Ich bin dein Vater!“ „Yagami-san, beruhigen Sie sich“, beschwor L ihn mit Nachdruck und wandte sich gleichzeitig an die restlichen Polizisten. „Halten Sie ihn zurück.“ „Wenn ich dich verschone“, fuhr Light unbeirrt fort, „würde das bedeuten, dass ich mich selbst und die mir wichtigen Menschen über das Wohl der Gesamtheit stelle. Ich bewundere dich für das, was du tust. Ich bewundere die Arbeit der Polizei. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Gegen die wahre Ungerechtigkeit seid ihr machtlos.“ „Du machst dich über unsere Arbeit lustig!“ Seinen Griff brutal verstärkend rüttelte der Ältere erneut an den Armen seines Sohnes. Mogi versuchte ihn mit sanfter Gewalt zurückzuhalten und auch Matsuda kam angespannt näher. „Unser ehrenhaftes Streben ist eine Bestimmung, mit der wir die Sicherheit dieses Landes und Volkes gewährleisten!“ „Ich habe niemals meine Achtung vor eurer Bestimmung verloren, Vater. Ich achte dich ebenso, wie ich bedaure, dass dir oftmals die Hände gebunden sind. Das sture Befolgen von Regeln, ohne jemals zu hinterfragen, ist selbstverständlich schwierig. Damit macht man es sich bestimmt nicht leicht. Wie oft hast du mich um meine Meinung oder Mithilfe gebeten? Mutter meinte, du hättest dein Temperament noch nie gut unter Kontrolle bringen können. Wie oft hast du dich darüber aufgeregt, dass den Opfern kein Recht widerfuhr und sie stattdessen Schmähungen zu erdulden hatten? Wie oft hast du gewettert gegen die Unverschämtheit freigelassener Verbrecher, gegen die Unzulänglichkeit von Justiz und Behörden? Das einzige Verdienst deiner Mühen war die geduldige Hinnahme von Fußtritten, ist es nicht so?“ Einmal in Rage geredet, fiel es Light schwer, wieder aufzuhören, als würde all das aus ihm hervorbrechen, was er sich jahrelang zu sagen verboten hatte. „Ich wollte einmal von dir wissen, wie du das aushältst, warum du das alles pflichtgetreu erträgst. Du sagtest damals zu mir, ich solle niemals, unter keinen Umständen aufhören, Fragen zu stellen, doch eines dürfe ich dabei nicht vergessen... wer viel fragt, der viel irrt. Am Ende müsse ich mit mir selbst ins Reine kommen und eine Entscheidung darüber fällen, was ich für richtig hielte. Genau das habe ich getan. Ich habe mich entschlossen, euch auf meine eigene Art beizustehen. Kira sollte niemals die Polizei verdrängen, sondern euch helfen, sobald ihr an eure Grenzen geratet. Ich wollte euch die Verantwortung abnehmen, damit ihr euch nicht die Hände schmutzig machen müsst, damit es dich nicht mehr zermürbt, Tag für Tag der Ungerechtigkeit ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Ist es nicht das, was du dir immer gewünscht hast?“ „Das Gesetz ist nicht perfekt“, antwortete Herr Yagami erschüttert, seinen Sohn weiterhin schmerzhaft festhaltend, „noch sind es die Menschen, die es erschaffen haben. Aber es entsteht aus dem ewigen Streben nach dem Guten. Es ist ein langer Prozess, um den wir jeden Tag kämpfen. Das ist der einzige Weg. Nur so erlangen wir durch Recht und Ordnung, durch Justiz und Polizei am Ende Gerechtigkeit!“ Light lachte leise und nachsichtig. „Denkst du das wirklich, Vater?“, fragte er mit unverhohlenem Mitleid. Es war zu seinem Bedauern unumgänglich, seinen Vater schonungslos zu desillusionieren. „Denkst du, ihr könntet es alleine schaffen? Dann muss ich dich wohl auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Die Polizei war gegen Kira völlig hilflos und hätte ihn auf legitime Weise niemals geschnappt. Wenn die Mittel unseres Rechtssystems ausreichen würden, hättet ihr nicht L gebraucht, um mich zu fangen.“ Herr Yagami schlug seinem Sohn hart ins Gesicht. Nie zuvor hatte er die Hand gegen ihn erhoben. Light schmeckte Blut, noch bevor ihn sein Vater erneut schlug. „Haltet ihn auf!“, schallte Ls Stimme fast panisch durch den großen Raum, doch Mogi, Matsuda und Aizawa waren längst bei ihrem Vorgesetzten, um diesen von Light fortzuzerren, was ihnen selbst zu dritt kaum gelang. Wie in Raserei verfallen packte Herr Yagami seinen Sohn am Kragen. Der nächste Schlag traf Light mit solcher Wucht, dass er in die Knie ging. Kurz darauf spürte er die eiserne Umklammerung von Händen an seiner Kehle. „Hören Sie auf! Yagami-san!“ „Light!“, schrie Misa ängstlich, da sie nicht sehen konnte, was vor sich ging. Watari hatte sich neben sie gestellt und nahm sich geflissentlich ihrer an. Light bekam keine Luft, ein stechender Druck baute sich in seinen Schläfen auf. Reflexartig versuchte er seine Hände zu befreien und sich vor dem Angriff zu schützen, doch die Handschellen verhinderten jede Verteidigung und raubten ihm zusätzlich das Gleichgewicht. „Lasst mich los!“, brüllte Herr Yagami hitzig, als es den anderen Polizisten endlich gelang, ihn von seinem Sohn wegzuziehen. Light fehlten daraufhin Orientierung und Kraft, um sich weiter aufrechtzuhalten. Er fiel vorwärts auf den kalten Fliesenboden, hustete und schluckte krampfhaft, während es in seinem Schädel unnachgiebig hämmerte. So sehr hasste ihn sein Vater also schon für die Entehrung, die er ihm zumutete. „Lasst mich!“ Impulsiv bäumte sich Herr Yagami zwischen den anderen Männern auf, wehrte sich heftig, schlug und trat um sich. „Ich werde ihn töten! Er muss seine Schuld bereinigen und seine Ehre wiederherstellen. Wir werden gemeinsam für diese Schmach in den Tod gehen!“ „Ich bitte Sie, ziehen Sie sich zurück.“ Ls Anweisung klang streng und entschieden, begleitet von einer Spur tiefster Betroffenheit. Die drei Polizisten nickten ihm ernst zu, nachdem sie ihren Vorgesetzten unter Kontrolle gebracht hatten und ihn umsichtig Richtung Ausgang führten. „Seien Sie versichert, Yagami-san“, teilte L dem Älteren abschließend mit, „Light wird seiner Bestrafung nicht entgehen. Sein Leben findet hiermit ein Ende. Das Death Note kommt an einen unzugänglichen Ort. Rem hat sich dazu bereit erklärt, Misa-san das Besitzrecht über das ihrige zu entziehen. Wir werden dieses arme manipulierte Mädchen von ihrer Schuld freisprechen. Denn schon die Thebaner im antiken Griechenland sagten, als Rechtsbrecher gelten die Führer, nicht die Gehilfen.“ L hatte sich seit dem Ausbruch des Chefinspektors vom Sessel erhoben. Nun ging er von der Mitte des Raumes hinüber zur Fensterfassade der Halle, den Polizisten, die wartend an der Tür standen, den Rücken zugekehrt. „Fortan ist die Sonderkommission aufgelöst“, erklärte er mit schwerer Stimme. „Wahrscheinlich wird Interpol die Identität Kiras in der Öffentlichkeit verschleiern und auch der japanischen Polizei keine Informationen darüber zukommen lassen, um Protesten oder sogar einer Massenhysterie vorzubeugen. Zum Wohle Ihrer eigenen Familie, Yagami-san, würde ich vorschlagen, Sie teilen der NPA mit, dass Light bei seiner Ermittlungsarbeit von Kira getötet worden ist. Watari wird als mein Vertreter vor der ICPO zeitnah Stellung beziehen, bevor wir Light aushändigen. Anhand des japanischen Rechtssystems wissen Sie, dass eine Exekution unter Ausschluss der Angehörigen stattfinden kann. Erwarten Sie bitte nicht, davon in Kenntnis gesetzt zu werden, falls die Todesstrafe vollstreckt wird.“ „Light!“, rief der Chefinspektor aufgelöst und wand sich vergeblich. Vor Wut und Trauer liefen ihm ungehindert Tränen über das Gesicht. „Mein Sohn!“ Nach wie vor lag Light auf dem Boden, das kühlende Material der Fliesen an seiner pochenden Stirn. Seine Wangenknochen brannten, als würde er noch immer geschlagen werden, genauso wie seine Kehle, als würde sie noch immer umklammert werden, genauso wie sein Herz, als würde es noch immer Liebe für jenen Vater empfinden, den Light soeben verloren hatte. „Yagami-san“, hörte er Ls besänftigende Stimme, bevor die vier Polizisten endgültig den Raum verließen. „Behalten Sie bitte immer in Erinnerung, um welches Versprechen ich Sie einst bat. Geben Sie niemals Ihre Berufung auf. Ich bitte Sie inständig. Und... vielen Dank für alles. Leben Sie wohl.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)